Alfred Hermann
Gedenken für einen verlorenen Kopf
Roman
Leseprobe
MeaLittera – Verlag
E-Book, 495 Seiten
MSBN 100-0-005-5282913
Gegen den Mond über Havanna kommt das Lied aus dem Radio nicht an. Die Stimme der Sängerin klingt dürftig, Melodie und Text, na, Schwamm drüber. Wahrscheinlich haben Terzett und Produzent die Nacht gemeinsam in einem Bett verbracht.
Nicht dass er jemals Kuba bereist hätte, doch dafür ist der Balkon unbezahlbar, bei großzügiger Schätzung knapp zwei Quadratmeter in der Fläche, und ermöglicht einen ungehindert freien Ausblick nach oben. Und der lohnt, denn Frau Luna hat sich herausgeputzt, dass man Mühe hat, nicht geradewegs zu einem guten Menschen zu werden.
Prolog
Warum möchten Sie seinen Namen erfahren? Weshalb wissen, wie er heißt? Wenn etwas eine Nichtigkeit ist, dann ein Name. Kaum etwas ist vergänglicher, nichts flüchtiger. Außer einem Feuerwerk. Kurzum, Sie sind dabei, sich nach einer Bedeutungslosigkeit zu erkundigen. Am besten wäre es, Sie würden nicht fragen. Schon gar nicht nach dem Namen. Ein Blick von der Seite, aus dem Augenwinkel, einverstanden. Das mag angehen. Doch vermeiden Sie es, ihn anzustarren, sich überrascht zu zeigen, oder gar die Unhöflichkeit zu begehen, eine angewiderte Grimasse zu schneiden. Mit Faxen und herausgestreckter Zunge würden Sie ihn beschämen. Mehr als das, mit solchem Getue würden Sie ihn ins Mark treffen. Wenn den Kopf etwas aus der Fassung bringt, dann die Vorstellung, sein Aufzug könne für den Jahrmarkt taugen. Auch wenn er sich für die normalste Erscheinung der Welt hält, ist er schnell verunsichert. Das war nicht immer so. Schließlich hat er während seines Aufenthalts in Sansibar durchaus gelernt, gleichmütig zu bleiben. Wenn es danach ginge, dann wäre er höchstwahrscheinlich noch immer die Gelassenheit in Person. Doch das Lackkästchen hat ihm mächtig zugesetzt. Eine solche Behausung zerrt an den Nerven.
Der Schatten nennt den Kopf Hutzel, manchmal auch Tropf oder Schrumpf, je nach Laune und Verlauf der Unterhaltung. Auch wenn der kleine Schatten unbedingt davon überzeugt ist, dass er sich auskennt, weiß er längst nicht alles. Nicht dass er seine Unkenntnisse gerne zugeben würde, doch im Gegensatz zu Leo ist er sich zumindest in dieser Angelegenheit nicht sicher. Schatten sind sich stets bewusst, dass die Kenntnisse, die ihnen zur Verfügung stehen, mehr als lückenhaft sind. Für Leo ist der Kopf Enrico.
Enrico war in Batavia und gilt als verschollen. «Jetzt ist er zurück», sagt Leo und verbittet sich jedes Widerwort. In diesem Fall lässt er nicht mit sich handeln. Der Schatten hat keinen Namen und ist Leos Zwilling. «Der klügere Zwilling», flüstert der Schatten, denn immerhin war er es, der sich rechtzeitig weigerte, Luft zu schöpfen, Atem zu holen. Die Tat eines Weisen nennt der Schatten seine Verweigerung. Eine Entscheidung, die eines Philosophen würdig wäre, eines Wissenden, der sich weder von Masken noch Versprechungen verführen lässt. Welche Eigenschaft könnte für das Verhalten eines überlegenen Geistes wichtiger sein, als der Wirklichkeit der Dinge auf den Grund zu gehen. Nicht dass er die Erkenntnisse seines pränatalen Scharfsinns für sich behalten hätte, aber bereits damals in der mütterlichen Brutkammer wollte Leo nicht auf ihn hören. Leo weiß immer alles besser. Daran hat sich bis auf den Tag nichts geändert. «Purer Trotz», sagt der Schatten. Leo hat es nie verwunden, dass sich der Zwilling vordrängeln musste. Doch damit nicht genug, denn kaum war die Abnabelung erfolgt, hielt er zu allem Überfluss auch noch die Luft an.
Wie auch immer, Enrico ist zurück, liegt auf einem Kissen und schaut in die Nacht. Würde, um genau zu sein, wenn er sehen könnte. Leo hat ihn befreit, aufs Schiff getragen und auf die Ablage neben dem Ruder gelegt. Leo ist ein Ignorant, zumindest häufiger als es ihm nützlich wäre, aber er meint es gut, und der Kopf soll seine Rückkehr genießen. Früher hat Leo oft mit dem Zwilling gesprochen. Jetzt nicht mehr, denn jetzt weiß Leo, was er will. Endlich, auch wenn man über seine Entscheidung streiten kann. «Grundsätzlich kann man über alles streiten», sagt Leibniz. «In der Tat», stimmt Freud zu. Praktisch und theoretisch auch. Nicht einmal die Mathematiker sind sich einig. In gewissen Dingen jedenfalls nicht. Doch das versteht der Schatten nicht. Er nicht und Leo noch weniger. Für Leo ist Mathematik eine Widerwärtigkeit.
Eigentlich wäre es an dem Schatten gewesen, Leo zu heißen, aber weil er sich verweigerte, erfolgreich auflehnte, ist der Schatten namenlos geblieben. Große Schatten erhalten einen Namen, oder richtiger, um Missverständnissen vorzubeugen, sie tragen ihre alten Namen mit sich herum. Manche sind stolz darauf, andere schämen sich. Das ist abhängig von Verdienst und Verständnis. «Enrico», sagt Leo, «und damit basta.»
Enrico hat Humor und ist mit Hutzel oder Schrumpf völlig einverstanden. Beide Vorschläge findet er rundweg in Ordnung. Angemessen. Andere mögen sich empören, aber er hat dagegen nichts einzuwenden, weil er es nach eigener Aussage bevorzugt ungezwungen mag. Außerdem verweist er nachdrücklich darauf, dass diese Empfehlungen von ihm stammen. Es dauert eine ganze Weile, bis der Schatten versteht, denn Enrico nuschelt. Die undeutliche Modulation entschuldigt er mit seiner Sonderheit und den vielen Jahren, die er im Ausland zubrachte. Zudem versteht er nicht, weshalb sich der Schatten derart verblüfft zeige. «Schließlich», meint er, «kenne ich niemanden, dessen Aussprache von dieser Behandlung nicht erheblich beeinträchtigt würde. Einer verminderten Klarheit muss sich das Feingefühl jedoch nicht anschließen.» Kurzum, er bittet von Solidaritätsbekundungen abzusehen.
Wie dem auch sei, jetzt ist Enrico zurück. Er ist bereits seit einer ganzen Weile wieder da, ganz genau weiß das niemand. Trollmann vielleicht, aber Trollmann wird sein Wissen niemals preisgeben. Nicht ums Verrecken. Bei ihm liegt Hutzel in einem Lackkästchen, einer japanischen Arbeit. «Eine Kostbarkeit», sagt Trollmann, «eine billige Nachbildung», Leo. Ob echt oder falsch ist für diese Geschichte jedoch nebensächlich.
«Weit weniger wichtig», meint der Kopf, «als die Tatsache, dass es Leo war, dem er seine Freiheit verdankt, der ihn aufgestöbert und gefunden hat.» Er hält Leo für einen feinen Kerl, weil er nach ihm suchte, wie man nach einem guten Freund sucht. Ihn stört es wenig, dass sich sein Befreier offensichtlich im Moor der Wirrnisse verlaufen hat. An seiner Beurteilung lässt er nicht rütteln. «Jeder», sagt der Kopf, «braucht einen Stock, an dem die Zuversicht ranken darf.»
«Leo hat ihn gefunden. An dieser Tatsache gibt es nichts zu bestreiten», sagt der Schatten, «aber nicht absichtlich, eher nebenbei.» Eigentlich war Leo hinter Siegfried her. Aber das kommt erst später. Jetzt befindet sich der Schatten an Bord der Katharina. Die Katharina ist ein Schiff, ein kleines Schiff und Leo ist der Kapitän. Offiziell müsste er sich als Schiffsführer bezeichnen. Schließlich ist die Katharina nur ein winziges Schiff bescheidener Abmessungen und schwimmt auf einem Fluss. Zugegeben, der Fluss ist ein ansehnlicher Fluss, keine Frage, aber Leo flunkert gern und ist zudem der Meinung, dass die Bezeichnung Schiffsführer sogar für den letzten Hilfsmatrosen eine Zumutung sei. Kapitän passt besser. Streng genommen ist der Kapitän auch kein Schiffsführer, denn um Schiffsführer zu werden, muss man eine Prüfung ablegen. Leo ist nicht einmal Matrose. «Um ein Schiff zu navigieren», sagt Leo, «muss man weder Matrose noch Kapitän sein.»
Die Katharina ist ein altes Schiff, Giovannis Schiff, und an Giovanni kann sich der Kopf erinnern. Nicht deutlich, aber wer Giovanni kannte, wird nie vergessen, wie stolz der Alte auf sein Schiff war. «Er hat es geschafft», meint der Kopf. Wie man immer über Giovanni urteilen mag, an der Tüchtigkeit des Alten gibt es nichts zu beanstanden. Leider wurde Leo von diesem Teil des Erbes ausgeschlossen. «Dennoch hat er den Kahn renoviert», sagt der Schatten. Das war keine Kleinigkeit und wer Leo kennt, hätte Frau und Kind darauf gewettet, dass er scheitert, denn wenn sich Leo auf etwas versteht, dann darauf.
Als Leo das Kästchen öffnet, erkennt er sofort, wer ihn angrinst. Leo ist neugierig, und deswegen öfters dort anzutreffen, wo er weder sein sollte noch sein dürfte. Niemand hat die Rückkehr des Reisenden bemerkt. Es hat gedauert, aber endlich wurde er doch von Leo entdeckt. Er war es, der ihn suchte, aufspürte und befreite, der die morsche Katharina renovierte, die Reste des Abenteurers beim Schopf packte und auf das Schiff trug. Jetzt befinden sie sich auf großer Fahrt, vorausgesetzt, man kann auf einem Fluss auf große Fahrt gehen. Leo neigt zu Übertreibungen und ist voreilig genug, seinen Fund allen Unwägbarkeiten zum Trotz gleichwohl Enrico zu nennen. Wenn es nach Einschätzung des Kopfes geht, dann kann man sich auf Leo verlassen.
«Wenn du zweifelst und es obendrein mit der Wahrheit derart buchstäblich nehmen willst», flüstert Enrico, «dann rufe mich Hutzel oder Schrumpf.» Beides ist genehm und Hutzel kein knochentrockener Korinthenkacker. «Nebenbei, Tropf geht auch.»
Allerdings muss Enrico zugeben, dass er sich keineswegs absolut sicher ist, wirklich und wahrhaftig Enrico zu sein. Doch Leo ist überzeugt und hat ihm eingetrichtert, dass er der verlorene Verwandte sei, auch wenn sich seine Vermutungen auf kaum mehr als vagen Annahmen stützen. Enrico selbst könnte nicht beschwören, dass er auf diesen Namen getauft wurde. Folglich nennt er sich wie vorgeschlagen. «Schließlich», meint er, «ist es kein übler Brauch, sich nach der Erscheinung zu benennen.»
Trotz der Unsicherheit, der Einwände und Widersprüche, der Bedenken, weist Leo alle Vorbehalte von sich. Als er das Kästchen öffnet, steht fest, dass Enrico gefunden ist. Über Enrico weiß er alles, was ein Mensch von einem fernen Angehörigen, der, um genau zu sein, trotz der praktizierten Zugehörigkeit nicht mit den Mattinos verwandt ist, wenn man Giovanni glauben darf, nur wissen kann.
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2010
Alle Rechte vorbehalten