Alfred Hermann
Max lacht.
Erzählung
© Alfred Hermann
Entwurf Titelblatt: Alfred Hermann
Hinter dem Horizont wird die Welt besser. «Aber nur dann», meint Karl, «wenn man es vermeidet, sich in Richtung Provinz zu bewegen.» Wie auch immer, wenn Sie einen Auftrag zu vergeben haben, dann sollten Sie nicht lange zögern und den direkten Weg zur nächsten Postagentur suchen. Die Adresse wird Ihnen der Angestellte nicht mitteilen können. Solche Hoffnung wäre übertrieben und zudem gänzlich unangemessen, aber immerhin werden Sie dort die Briefmarke erhalten, die Sie benötigen, um Ihre Anfrage ausreichend zu frankieren. Dieser Schritt ist unverzichtbar, denn Sendungen mit ungenügenden Wertzeichen werden nicht angenommen. Die Anschrift zu ermitteln ist nicht ganz einfach, aber unumgänglich und eine unabdingbare Voraussetzung, falls Ihnen ernsthaft an Hilfe und Beistand gelegen ist. Geben Sie nicht voreilig auf, denn selbstverständlich erhalten Sie auch in dieser Angelegenheit Unterstützung. Wer mit der Bewältigung von Proble-men bestens vertraut ist, dem wird der Weg zur richti-gen Antwort wenig Mühe bereiten. Neulingen, die schnell resignieren und Verzicht üben, sei geraten, sich der Lösung mit geduldiger Beharrlichkeit und Phantasie zu nähern. Sie sind die besten Verbündeten, um diese Hürde zu überspringen. Ein kleiner Hinweis soll Sie bestärken, den sinkenden Mut wieder aufzurichten. Lesen Sie aufmerksam und bedächtig, dann wird es eine Kleinigkeit, das versteckte Rätsel zu lösen. Doch Vorsicht, sollten Sie im Verlaufe Ihrer Bemühungen auf Grönland kommen, dann sind Sie auf der falschen Route unterwegs.
Das Gestein unter dem Eis ist kein übler Ort. Jedenfalls nicht schlechter als jeder andere Platz. Sogar nördlich von Upernavik lässt es sich aushalten. Die Temperaturen sind weit weniger frostig als gemeinhin angenommen wird und mit der passenden Kleidung leicht zu ertragen. Auch Packeis, Robben und Lebertran stellen kein Unglück dar, an dem man zerbrechen könnte. Sie sehen, es liegt nicht an der Wildnis, dass die Bezirke hinter der Hecke in Verruf kamen. Schließlich stehen auch die größten Städte auf offener Flur, aber im Unterschied zum Sprengel fällt es dort nicht auf. Vor allem aber gibt es dort keine Kühe. Wenn doch, dann liegen sie entweder zerstückelt und portioniert als Filetstücke in den Schaufenstern von Metzgereien oder hygienisch in Cellophan verpackt und etikettiert in der Auslage von Kaufhäusern. Wenige Exemplare, die der Fleischeslust geopfert wurden, mutieren zu bunt bemalten Plastikkolossen, um mit ihrer Leibesfülle eilige Passanten zu verärgern oder Grünflächen feinsinnig angelegter Parkanlagen zu zieren. An Begründungen, die eine Hinterfragung überdauern könnten, wird noch gearbeitet. Selbst rhetorisch geschulten Kunsthistorikern gehen die Argumente aus, wenn sie die Anwesenheit dieser Ungetüme erklären sollen. Erst letzthin protestierten Professoren der Universität gegen die Aufstellung eines mit goldenen Sternchen verzierten Rindviehs auf dem Rasen ihres ehrwürdigen Instituts. Der Hinweis einiger um Ausgleich bemühter Stadträte, dass es sich bei dem zur Anschauung ausgestellten Objekt um die Arbeit der örtlichen Volkshochschule handle, mochten die gelehrten Herren nicht zur Entlastung annehmen und fanden den Hinweis auf mögliche Assoziationen zwischen nährender Milch und den vermittelnden Obliegenheiten der Lehranstalt ebenso geschmacklos wie an den Haaren beigezogen.
Keine Ahnung, was nach dem Ende der Kuh mit ihren Augen geschieht. Max vertrat die Ansicht, dass ihre Entsorgung als Abfall eher unwahrscheinlich wäre. Vieles deute darauf hin, dass sie als unauffällige Beimengung dem Mastfutter für Schweine zugeführt würden. Nicht alle. Einige Exemplare, die besonders prächtig ausgefallen, kämen in ein Glas mit Formalin, um den Biologieunterricht der gymnasialen Oberstufe aufzulockern. Ohne Umschweife, damals war Max noch ein in sich gefestigter Mann. Vordem wollte er Lehrer für Ethik und Sport werden, aber nachdem er lange und vergeblich nach einer Anstellung gesucht hatte, kam er in die Firma. Anfänglich benahm er sich ein wenig seltsam, aber die Sonderheit glättete sich bald, und er entwickelte sich zu einem richtigen Streber. Seine Erfolgsquote liegt bei hundert Prozent. Jetzt nicht mehr, um genau zu sein, aber vor Nairobi schon. Im Gegensatz zu Karl, der direkt nach Schulabschluss als Lehrling der Gilde beitrat, ist Max noch nicht lange dabei. Höchstens vier, fünf Monate. Doch er war anstellig und geschickt und konnte bereits im Sommer auf mindestens ein gutes Dutzend Aufträge verweisen, die er abgewickelt hatte. Der Häuptling war mehr als zufrieden. Während des Betriebsausfluges nahm er Max zur Seite, um mit dem Neuen ein paar Worte zu wechseln. «Vergessen Sie die Ethik», sagt er, «wenn sie für etwas sorgt, dann für einen leeren Magen und ein schlechtes Gewissen. Wir haben eine Mission zu erfüllen, und das ist schließlich auch nicht zu verachten.»
Nein, die Furcht vor der Einöde ist nicht in tiefgekühl-ten Gefilden zu suchen. Gegen die Steppe der Esel und die Brache der Gänse ist die frostige Insel eine Bastion ungetrübter Erquickung.
Max kam aus Nairobi. Er machte einen ziemlich be-drückten Eindruck, als er aus dem Flugzeug stieg. Ein paar halbseidene Burschen hatten an der Börse gezockt. Öl, Getreide oder Fliegendreck, wenn das umlaufende Gerücht stimmt. Keinen Schimmer, welchem Oberförster sie die Jagd verdorben hatten und in die Quere gekommen waren, Max wurde beauftragt, die Unebenheit zu begradigen. Eine alltägliche Sache, die nicht mehr Aufwand erfordert, als es die übliche Vorgehensweise vorgibt. Man führt zwei, drei Telefonate, bestellt, was man braucht, bucht ein Ticket und besteigt den Flieger. Am vereinbarten Treffpunkt übergibt der regionale Agent das gewünschte Handwerkszeug und macht den Ankömmling mit den Gewohnheiten von Land und Leuten vertraut. Max ist jedoch kein Ethnologe, der befremdlichen Bräuchen und Sitten nachstellt. Wenn er sich nach Gepflogenheiten erkundigt, dann meint er die üblichen Verhaltensweisen des Probanden. Golfclub, Tennis, diese und jene Geliebte, wie häufig und zu welcher Gelegenheit er sie besucht, wann er im Büro anwesend ist und welchen Weg er zur Arbeit nimmt. Ob er selbst fährt oder von einem Chauffeur kutschiert wird, unter dem Schutz eines Aufpassers oder mehrerer Leibwächter steht. «Keine Tat», sagt sein Vorgesetzter und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. Eigentlich ist Nairobi eine gute Ecke, um sich zu verkriechen. Vorausgesetzt, man hat es mit der Polizei zu tun. Kommt das Unternehmen ins Spiel, dann stehen die Chancen wesentlich schlechter.
Mit ein wenig Frechheit hätte es der Bursche vielleicht geschafft, aber der Hasardeur wollte unbedingt auf Schlauberger machen und schlüpft in der übelsten Ecke der Stadt unter. Das sorgt für Gesprächsstoff und macht schneller die Runde, als man zählen kann. Da hilft es auch nicht, sich als Abgesandten eines Vereins für Gutmenschentum vorzustellen und den Marktfrauen von Kibera beim Aufbau ihrer Stände zu helfen.
Max trifft ein, nimmt die Sporttasche in Empfang und fährt los. Er findet eine geeignete Stelle, packt aus, zielt, trifft und verdrückt sich. Wenige Stunden später wird er die Gangway herunterkommen. «Gute Arbeit.» Die Geschäftsleitung schätzt Präzision und spart nicht mit Lob.
Doch nichts ist prima, denn erstens muss Max eingestehen, dass er nur mit Mühe entkommen ist, und zweitens, dass die Testperson den Eingriff überlebt hat. «Sehr weise, dass Sie sich danach ein paar Tage Ruhe gegönnt haben», erstirbt dem Direktor auf den Lippen und der Prämienscheck bleibt in der Innentasche seines Jacketts. Der Hinweis, dass der eklatante Fehlschlag einer Verkettung unglücklicher Umstände zu verdanken sei, die nicht vorhersehbar waren, kann den Sinkflug der Stimmung nur unwesentlich abbremsen. Die Kugel war bereits unterwegs, als sich das Zielobjekt bückte und die Bahn auf eine riesige Melone freigab. Der Wert eines Menschen ist schwer berechenbar und schwankt zwi-schen fünf Cent und unbezahlbar, doch wenn es den Marktweibern an die Früchte ihrer Arbeit geht, werden sie zu Bestien. Die Vetteln bemerken den Unhold und treiben ihn durch Gassen und Schlammlöcher. Es gelang ihm nicht, seinen Wagen zu erreichen. Im Hinterhof einer Spelunke schlägt er einen Einheimischen nieder, der vor einer Hofwand damit beschäftigt ist, seine Blase zu erleichtern, streift sich dessen verschwitzte Landestracht über und entkommt auf Schleichwegen. Mit dem Bus schafft er es bis Daressalam. Dort entwendet er einem Touristen Pass und Ticket. In Tanger trifft er auf den dortigen Vertreter der Genossenschaft und lässt sich mit einem winzigen Boot zur spanischen Küste schippern. Den Rest des Weges ist er getrampt. Nicht ganz, denn in der Nähe von Basel trifft er eine gute Bekannte und pumpt sie an. Daher die verdrückte Miene. «Ich verstehe», knurrt der Vorgesetzte und bittet Max zu einer Unterredung in sein Büro.
Der Vorsteher ist umgänglich und verständig, aber wenn sich die Kompanie etwas nicht leisten kann, dann unzufriedene Kunden. Flickwerk spricht sich herum, und der Ruf der Unzuverlässigkeit läutet den Beginn des Niedergangs ein. Max entschuldigt sich und schlägt vor, der Gefahr schwindender Aufträge mit Sonderangeboten und Niedrigpreisen vorzubeugen. Doch davon will der Senior nichts wissen. Er entscheidet, dass Karl den Spieler übernehmen wird, während Max durch die Pampa zieht. Dort kann er sich beweisen. Er muss mit Ge-päck anreisen und wird auf sich gestellt sein. Unter Schafen und Enten ist man allein. Zugegeben, eine Schwachstelle, die es zu verbessern gilt, aber man kann nicht an jedem Flecken eine Vertretung unterhalten. Das Dienstleistungsgewerbe hat Mühe, sich auf dem Markt zu behaupten.
Max reist mit dem Zug. Die Kreisstadt ist eher ein Kreisdörfchen, und niemand wird ihn am Bahnhof in Empfang nehmen. Der Taxiunternehmer ist Monopolist und bedauert, aber sein Fuhrpark steht zur Inspektion in der Vertragswerkstatt. Es wird später Nachmittag, bis ein Bus vorfährt, der ihn zum Zielort bringen wird. Als er aussteigt, ist es stockfinster, und beginnt zu nieseln. Kühler Wind kommt auf und es stinkt nach Ammoniak. Die einzige Straßenlaterne ist entweder defekt oder aus Gründen der Sparsamkeit abgeschaltet. Immerhin findet er in ihrer Nähe eine Bank, auf der er sich erschöpft niederlässt. Inzwischen hat das Nieseln aufgehört. Die Schlussfolgerung auf eine Verbesserung seiner Lage kommt verfrüht. Max denkt an Nairobi, und ab jetzt wird es Bindfäden regnen. Nach einer Weile klopft er gegen die Tür eines Wohnhauses und bittet um Einlass. Drinnen bellen Hunde und eine Stimme fordert den Bittsteller auf, umgehend und sofort zu verschwinden. Man droht mit der Polizei. Der Regenschirm liegt wahrscheinlich noch immer im Gepäcknetz des Busses. Ob Fische schlafen, weiß Max nicht, aber bei Menschen, sogar wenn sie pitschnass sind, ist er sich sicher. Gegen Morgen wird er geweckt. Nicht vom Zimmerservice sondern dem Beamten einer Streife. Max stellt sich als Hubert vor und erläutert die Umstände seiner missli-chen Lage. Der rotwangige Landmann lacht und weist ihm den Weg. «Quer über den Markt.» Als Hubert anklopft, erkennt er die Tür wieder. Hunde bellen, doch ehe er sich zurückziehen kann, dreht sich ein Schlüssel.
Der Butterberg erfüllt mühelos die EU – Norm und ist die Inhaberin der Pension. Das Logierhaus ist die beste Unterkunft der Gegend, doch nur, weil es keine Konkurrenz gibt. «Hubert», stellt sich Max vor. «Ach, Sie sind das», die Frau. «Die Treppe hoch, zweiter Stock.» Er erhält keinen Zimmerschlüssel, weil es keine gibt. «Wir vertrauen uns», sagt die Frau und lässt ihn stehen. Frühstück gibt es zwischen sechs und sieben, das Gasthaus befindet sich im Nachbardorf. Dort ist das Essen einfach, aber gesund und sättigend. Das Gasthaus stellt sich als ein Imbissmobil heraus. Für den Weg wird Hubert eine knappe Stunde benötigen. «Nicht mehr.» Letztere Bemerkung rechtfertigt den stattlichen Übernachtungspreis. Seine Frage an den Betreiber der mobilen Verköstigung, warum sein vorübergehender Wohnort von der Fahrstrecke ausgeschlossen sei, wird ihm nicht beantwortet werden. «Geht nicht», sagt der Mann und verriegelt die Braterei. «Pünktlich sein.» Damenbesuch ist verboten und abgeschlossen wird um neun.
Die Treppe ist eine knarzende Stiege und das Zimmer mit Aussicht eine zweckentfremdete Abstellkammer unter dem Dach. Das Fenster hat die Größe eines Mauselochs, entschädigt jedoch mit einem famosen Ausblick. In diesen Genuss kommt er jedoch erst, nachdem es ihm gelang, das Kippfenster zu öffnen, auf einen Stuhl zu steigen und Kopf und Hals durch das Nadelöhr zu schrauben. Beim Versuch, die Aussicht zu genießen, klemmt er sich ein und wird über das Bemühen sich zu befreien, den Imbisswagen verpassen. Als er anlangt, sieht er nur noch die roten Schlusslichter aufleuchten. Hubert kommt seit drei Tagen ohne feste Nahrung aus und spürt erste Anzeichen einer unguten Schwäche. Auch der Flachmann in der Jackentasche ist leer. In der Nacht wird er sich in die Küche schleichen und Brot, Butter und Käse entwenden. Der Plan ist gut, aber nicht gut genug, denn als er vor dem Kühlschrank in die Hocke geht, um die Vorfreude auf eine zünftige Mahlzeit auszukosten und seine Wahl zu treffen, fordert ihn eine dunkle Stimme auf, die Hände zu heben. Den Bass ordnet er der abweisenden Schallquelle der letzten Nacht zu. Er wird von einem Männchen erzeugt, das bestenfalls vierzig Kilo auf die Waage bringt. Allerdings mit Knochen und Wintermantel. Hubert erkennt die Situation und erklärt, dass er nach einer Karte gesucht habe. «So, so, eine Karte», fistelt das Sahnetörtchen aus dem Nebenzimmer, «im Kühlschrank.» Irgendwie hat Hubert den Eindruck, dass sein Erklärungsversuch durchsichtiger als eine geputzte Fensterscheibe ist und kein günstiges Licht auf die Städter wirft. Die zwei Doggen überragen den Zwerg um Haupteslänge und fletschen mit den Zähnen. «Vertrauen», grollt der Bass, «schließt Vorsicht nicht aus.»
«Sie müssen doch nicht heimlich suchen», säuselt die Cremeschnitte und will glauben, dass der Gast mit ländlichen Sitten nicht vertraut ist. In wenigen Stunden wird sie in die luftige Zelle eintreten und Hubert an die Wäsche gehen. Hubert kann sich nicht wehren, denn als er aufwacht und mitbekommt, was ihm geschieht, ist es zu spät. «Nicht übel», ächzt die Zimmerwirtin. Während sie sich anzieht, muss Hubert ihren Klagen über den Zustand der Ehe lauschen. «Dreimal ist doch nichts», sagt sie, «dafür kann er doch noch nicht zu alt sein.» Sie treiben es jede Nacht und haben es auf diese Weise zu zehn Kindern gebracht. Aber die sind mittlerweile allesamt erwachsen und aus dem Haus. «Auf Montage, Hoch- und Tiefbau.» Sie ist mit der Entwicklung sehr zufrieden, nur um den Jüngsten sorgt sie sich. Der Junge will Priester werden. Das wäre ganz in Ordnung, aber dass sich ein gelernter Protestant vor dem Papst in den Staub wirft, empfindet sie als Schande. «Es wird Zeit», seufzt sie und meint damit, dass jetzt das Frühstück zubereitet wird. Hubert eilt sich und wird zwei Scheiben Schwarz-brot mit Limburger vorgesetzt bekommen. In der Mitte des Tisches liegt ein schmaler Hering auf Zeitungspapier. Das winzige Fischlein hat sein Leben deutlich zu früh ausgehaucht, wird aber nach Einschätzung der Wirtin mühelos den Hunger dreier Personen stillen. Die neue Liebhaberin zeigt ihm, wie richtig geteilt wird. Weil Hubert der Gast ist, erhält er das Schwanzstück. Dazu gibt es eine Kanne Tee. Er fragt nach Zucker und Milch. «Heute ist Dienstag», erklärt die Wirtin und lächelt ihn an. Hubert denkt an die Köstlichkeiten, die er während seiner Exkursion entdeckt hat, und ahnt, dass sie ausschließlich zur privaten Verwendung vorgesehen sind. Die Hunde schlappern eine trübe Suppe aus ihren Näpfen. «Sie sollen die Karnickel von den Rüben halten», hallt es aus dem Keller.
Die Besitzerin des Fremdenzimmers heißt Lisa und mahnt zur Vorsicht. Offensichtlich möchte sie ihn noch einige Tage benutzen. Der Rosthof befindet sich hinter dem Moor. Ein falscher Schritt genügt, und man versinkt im Sumpf. Der Morast kennt keine Gnade und lässt niemanden los. Den Weg in der Nacht oder bei Nebel zu gehen, grenzt an Selbstmord. Hubert sieht sich bereits als Moorleiche in die Annalen der Geschichte eingehen. Eines fernen Tages wird er von Anthropologen untersucht werden. Schon jetzt klingt ihm ihre Verwunderung im Ohr, wenn sie sich in den Streit über die Frage vertiefen, ob der Frühmensch bereits Anzüge und Krawatten kannte oder nicht. Dr. Ames aus Chicago ist ein streitbarer Verfechter dieser Annahme und schätzt das Alter des erstaunlichen Findlings auf zwanzig Jahrtausende. Dieses Gesicht passt nicht in die Neuzeit, und wenn doch, darf man ihn Emas rufen.
Möge es geschehen, wie es geschieht, der Rosthof immerhin ist neu. Neu bedeutet, er wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg von Flüchtlingen erbaut. Protestanten aus dem Süden, die hier eine neue Heimstätte fanden. «Ein gutes Stück Weg», sagt der Polizist und lässt Hubert erschaudern. Er rechnet mit mehreren Stunden Fußmarsch, und diese Befürchtung ist nicht übertrieben. Der Name der Örtlichkeit deutet auf einen antiken Grillplatz hin, der dem auf der Durchreise befindlichen Henker der zuständigen Gerichtsbarkeit als Arbeitsstätte diente. «Fahrräder gibt es», sagt der Beamte. Die Traktoren werden für die tägliche Arbeit gebraucht und auf ein Auto muss er nicht hoffen. Das gibt hier niemand her. Nicht für Geld und Leben.
«Ein Fahrrad», fragt Lisa, schaut sich um und küsst ihn. «Er ist eifersüchtig», haucht sie. Hubert hat Glück, denn Fahrräder sind da. Drei sogar. Das Mountainbike gehört dem Sohn, dem künftigen Kaplan, ein Jammer, steht aber trotz der Verfehlung des abtrünnigen Knaben nicht zur Verfügung. Er kann zwischen einem Herren- und Damenrad wählen. Früher sind sie oft mit den Rädern unterwegs gewesen. Nichts geht über eine Nummer unter Wacholder. Hubert entscheidet sich für den betagten Zelter. Notgedrungen, denn einen Rahmen ohne Zubehör kann man bestenfalls tragen. «Gute Wahl», sagt die Wirtin und verweist darauf, dass es sich bei dem Modell um Vorkriegsware handelt. Das Ding muss ein Jahrhundert hinter sich haben. Nach dem Versprechen, das betagte Strampeltier zu schonen, darf er die Miete entrichten. Für die Möglichkeit eines Unfalls fordert sie eine Sicherheit. «Man weiß nie.» Die Erinnerungen, die an der Liebesschaukel hängen, sind nicht aufzuwiegen.
Die Kongregation hat große Ohren. Sogar ein harmlo-ser Durchreisender, der in höchster Not auf dem Rosthof lediglich das Klo benutzt, bleibt den Lauschern nicht verborgen. «Das könnte unser Mann sein», sagt der Vorstand. «An die Arbeit.» Der Alte hasst Versager und will erst wieder etwas von ihm hören, wenn die Unannehmlichkeit aus der Welt ist.
Als Hubert den Weiler hinter sich lässt, denkt er darüber nach, sich in Wien nach dem Job eines Fiakers umzuschauen. Er hofft, solche Überlegungen könnten helfen, die Wirklichkeit weniger deutlich wahrzunehmen. Die Realität ist das Gefilde der Freudlosigkeit und wenn etwas furchtbar ist, dann das. Doch weder die Rückbesinnung auf die Wurzeln noch der Gedanke, dass die Realität ausschließlich aus verarbeiteten Sinneseindrücken besteht, kann ihn mit der Misslichkeit der Gegebenheiten versöhnen. Die in großspuriger Unwissenheit als Straße angekündigte Fahrspur ist ein unbefestigter Pfad, an dessen Rändern Kornblumen, Disteln und Klatschmohn zu exotischen Ausmaßen gedeihen. Die tiefen Furchen, die von schwerem Ackergerät in den lehmigen Grund eingegraben wurden, erleichtern das Fortkommen nicht, und ihr Muster als verschlüsselte Botschaften außerirdischer Besucher zu deuten, weigert er sich. Links und rechts des Weges weiden wiederkäuende Kühe, deren Augen ihn distanziert betrachten. Doch ehe Hubert einsehen kann, dass er den falschen Ausdruck benutzt, denn obwohl die Tiere in seine Richtung schauen, blicken sie eigentlich durch ihn hindurch, bemerkt er, dass er vor einem Gatter steht. Hubert löst die Schlaufe und steht auf der Weide. Den Durchgang hat er, der schriftlichen Bitte des Besitzers entsprechend, wieder geschlossen. Trotzdem kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hat. Er denkt an den Aufstand der Marktfrauen und ehe er sich fragen kann, weshalb ihm ausgerechnet in dem Augenblick, als er die Schlaufe über den Torbalken streift, die Meute der kreischenden Hyänen in den Sinn kommt, sieht er die Kuh. Das Vieh hält den Kopf gesenkt und rast auf ihn zu. Die aufgerissenen Augen lassen jede Hoffnung auf eine gütliche Übereinkunft schwinden. Eine Sekunde später wird es Nacht, und er stürzt in einen bodenlosen Abgrund. Während er fällt, lachen sich die hinterhältigen Biester die Euter ab und tanzen einen Ländler. Der Harmonikaspieler muss sich außerhalb seines Gesichtsfeldes aufhalten.
Als Hubert wieder zu sich kommt, befindet er sich noch immer im freien Fall. Er ist benommen und beschließt, liegen zu bleiben. Erstens hat er Schmerzen und zweitens wagt er es nicht, sich zu rühren, denn das Vieh steht über ihm und leckt seine Stirn ab. Höchstwahrscheinlich enthält der Schweiß seiner Angst ausreichend Salz, um den Tagesbedarf abzudecken. Gegen Abend wacht er erneut auf und nimmt zur Kenntnis, dass sich die Nebelschwaden lichten. Die Viecher grasen weitab, und seine Hand fasst in einen Haufen grünlicher Scheiße. Das Fahrrad ist hin und hat den Zustand erreicht, an den er vordem nicht zu denken wagte. Der Rahmen ist gebrochen und die Speichen verbogen. Trotzdem wagt er es nicht, den geschändeten Drahtesel bei den Kühen zu lassen. Ächzend schultert er die Teile des urzeitlichen Kadavers und tritt vorsichtig den Rückweg an. In der Ferne vermeldet eine Kirchturmuhr, was die Stunde geschlagen hat. Er zählt mit und kommt bis zehn.
Hubert stolpert mehrmals, aber wenigstens wird es in dieser Nacht nicht regnen. Dafür gibt es Frost. Ehe er dazu kommt, den Reif auf Baum und Strauch zu be-wundern, rüttelt ihn der uniformierte Knecht an der Schulter. Zur Erleichterung des Beamten hat der Frei-schläfer die Minusgrade unbeschadet überstanden. Tote, die auf einer Parkbank aufgefunden werden, bedeuten, dass es eine Menge Verwaltungskram zu erledigen gibt. Wald- und Wiesenbüttel ist sein Traumberuf, nur mit Papier und Formularen hat er es nicht.
«Pflege haben wir nicht», sagt Lisa. Sie ist wütend. Wütend und enttäuscht. Erstens hat er die Erinnerungen beschädigt und zweitens war er nicht auf seinem Zimmer. Das allein stellt kein Vergehen da, aber dass sie unverrichteter Dinge wieder die Treppe hinunter musste, empfindet sie als Beleidigung. «Das gehört sich nicht», sagt sie. Der Faden arbeitet im Schuppen und schüttelt vorwurfsvoll den Kopf, als Hubert die Leichenteile gegen die Holzwand lehnt. «Vorsicht», röhrt der Bass und spaltet Brennholz. «Wenigstens nicht mit der Handkante», denkt Hubert und schleicht die Stiege hoch. «Hier», ruft Lisa und steckt ihm ein Scheibchen Wurst in den Mund. Die Dankbarkeit legt sich, als hinter ihm die Stufen knarren. Freund Johann beurteilt die Situation anders. Als sie die Decke aufschlägt, protzt der Kerl mit bester Verfasstheit. «Siehst du», flüstert Lisa eine Stunde später, «jetzt wird alles gut.» Doch damit hat es offensichtlich keine Eile, denn auch an diesem Tag wird er den Imbisswagen nicht rechtzeitig erreichen. Im Gegenteil, es kommt noch schlimmer. Diesmal darf er sich nicht einmal an dem Anblick der aufleuchtenden Bremslichter laben.
«Der falsche Weg», erklärt Lisa und räumt die Teller vom Tisch. Es stört sie nicht, dass Hubert noch nicht fertig ist. Er kaut vorsichtig und bedächtig, denn der Kiefer schmerzt, und zwei Backenzähne wackeln. Ein Huftritt muss das Gesicht getroffen haben. Gegen die Schwellung der Wange empfiehlt Lisa, Dung aufzulegen. Mist gibt es auf der Weide, wenn er mag, darf er sich bedienen. «Kostet nichts», sagt sie. Diese Auskunft geht ihr nicht leicht über die Lippen, begünstigt jedoch den Eindruck, dass sie ein geradliniges Verhältnis zur Ehrlichkeit hegt. Die gebrochene Nase behandelt er mit einem Pflaster. «Gestoßen», fragt der Gnom und setzt die Flinte zusammen. Der Spargel will vorbereitet sein. Nicht umsonst hat die Buschtrommel vor einem gewalt-tätigen Ausbrecher gewarnt. Die Nachbarn warten bereits.
«Ich muss los», sagt Hubert und macht sich auf den Weg zum Rosthof. Aber auch diesmal wird er sein Ziel nicht erreichen. Trotzdem hat er Glück. Die Nacht darf er in seinem Bett verbringen. Doch bevor ihm diese Wohltat vergönnt wurde, musste er sich mit heruntergezogenen Hosen bäuchlings auf den Küchentisch legen. Lisa beugt sich über ihn und pult Schrotkugeln aus dem Gesäß. «Meine beste Haarnadel», mault sie und stochert im malträtierten Fleisch. «Falsche Richtung», grunzt der Bass. Den Rest des Hergangs muss der Unglücksrabe erahnen. Wozu besitzt man ein Hirn. Später wird Hubert wieder fähig sein, an der Verwechslung zu zweifeln, freut sich aber dennoch, dass er vor Einbruch der Nacht als wimmerndes Elend gefunden wurde. Der Knirps lässt eine Bahre bauen. Er war immer dafür, kurzsichtige Leute von der Jagd auszuschließen.
«Heute darfst du mal nach oben», sagt das eigenmächtige Schätzchen. Alles in allem ist sie eine rücksichtsvolle Person. Zudem ist es dem Wicht gelungen, der Spange die alte Form zurückzugeben. Sie wird ihn unter ihre Fittiche nehmen und nicht mehr vor die Tür lassen. Am nächsten Morgen hat Hubert keinen Hunger. «Bist du krank», fragt Lisa. Als Hubert das Haus verlassen möchte, hält ihn der Krümel zurück. Hubert fügt sich, denn mittlerweile hat er vor Wundärzten Respekt.
Karl ist siebzig und die Stütze der Zunft, aber für afri-kanische Abenteuer ist er inzwischen zu alt. Daran lässt er keine Zweifel aufkommen. Es bedarf keiner Hervorhebung, dass der Auftrag erledigt ist. Auch Karl ist nicht frei von Irrtümern, das ist menschlich, aber unverrichteter Dinge hat er noch nie aufgegeben. Doch Hitze und Insekten hat er über. «Der Kreislauf», sagt er, «das Alter.» Der Chef versteht und signalisiert Einsicht. «Bleibt die Ausnahme, Karl, Notfall», verspricht er. Doch jetzt muss er ins Reich der Verbannten. Max ist überfällig, ein bisschen labil, hat auf Lehramt studiert.
Karl versteht und findet. Die freundliche Obrigkeit hat er abgefüllt, und ein Däumling mit Flinte ist kein Hin-dernis. Jedenfalls nicht für ihn. Auch Speckrollen schrecken ihn nicht. «Berufserfahrung», sagt er. «Oder Talent.» Max erkennt den Kollegen nicht wieder. Auf der Rückfahrt lacht Max jede volle Stunde gellend auf. «Punktum», sagt Karl, «man kann die Atomuhr danach stellen.»
Professor Furtmann bekommt ihn wieder hin. Das hat er versprochen. Karl hat Zweifel, denn der alte Knabe ist für seine unverbrüchliche Zuversicht bekannt und denkt in großen Zeiträumen. Mittlerweile hat Max zugenommen, aber er lacht noch immer. Seine neue Tätigkeit als Zeitmesser scheint ihm zur Berufung zu werden. In den Pausen zwischen den Anwendungen malt Max Kuhaugen. Er zeichnet den Umriss fein säuberlich mit Bleistift vor und koloriert dann mit Aquarellfarben. Für den nächsten Besuch nimmt sich Karl vor, den Mediziner nach dem Namen der Krankheit zu fragen. Er nimmt an, dass Max eigentlich völlig gesund ist und lediglich seine Freude über die gelungene Rettungsaktion nicht unterdrücken kann. Er weiß, wovon er redet. Denn Karl war da und hat sich umgeschaut. Erfreulicherweise kann einen Mann wie ihn auch das ungeschminkte Grauen nicht beeindrucken.
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2009
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