Die Heimat-Fantasy-Geschichte geht weiter. Nimhil der Drachenreiter hat sich mit seiner Tochter Miria bei seinem Drachen in den Feuerbergen sein Leben so gut es noch geht eingerichtet. Das Ende des Zeitalters der Elfen ist ein gutes Stück näher gerückt. Im ganzen Land der Elfen von den Hohen Schneebergen im Süden bis zum Meer im Norden sind die Menschen eingedrungen. Die meisten Elfen haben sich in die Nordländer jenseits des Meeres zurück gezogen. Geblieben sind nur alte Elfen und Kobolde. Plötzlich erhält Nimhil unerwarteten Besuch. Er erfährt endlich, was ihn zum Drachenreiter gemacht hat - ein Schicksal mit dem er immer mehr haderte, je sinnloser es wurde zu versuchen das Ende des Zeitalters der Elfen irgendwie aufzuhalten. - Nun ändert sich sein Leben.
Nimhil könnte als Drachenreiter bei den vielen Kriegen der Menschen kämpfen, die sie ständig gegeneinander führen. Dafür zahlen die Fürsten der Menschen einen guten Lohn. Davon könnte er wie ein Fürst leben. Er ist aber Elfe. Und ein Elfe lebt nicht in Prunk und Pracht von dem, was ein Fürst seinen Untertanen weg nimmt.
Die Elfen haben während fast ihres gesamten Zeitalters immer friedlich in den Wäldern gelebt. Dabei hatte jeder sein Auskommen. Die Fürsten der Menschen beuten aber ihre Untertanen aus und lassen die Wälder für ihr Acker- und Weideland abholzen. Die Menschen vermehren sich explosionsartig. Wo soll das hin führen? Nimhil versteht es nicht. Deshalb ist der große berühmte Drachenreiter einfach nur zutiefst unglücklich.
Wir wissen heute, wo dieses ständige Wachstum und die Vermehrung hinführen. Die Kulturen entwickeln sich, erreichen eine Blütezeit und vergehen schließlich wieder. Um das Mittelmeer herum waren die größten davon in den letzten Jahrtausenden Sumer, Babylon, Ägypten, Griechenland und Rom. Bei Kriegen wird der produzierte Überfluss immer wieder zerstört und muss dann mit viel Arbeit und Mühe wieder neu geschaffen werden.
Deshalb gibt es auch heute nie wirklich Frieden in der Welt. Seit dem zweiten Weltkrieg gab es Kriege in Israel, Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak und noch einige mehr. Was wird aber kommen, wenn unsere heute weltweite Hochkultur wieder vergehen wird? Kommen dann vielleicht sogar die Elfen wieder zurück? Wie lange wird unser Zeitalter der Menschen noch dauern? Niemand weiß es.
Wünschen sich nicht die meisten von uns ein dauerhaft friedliches Leben wie das der Elfen? Warum erreichen wir es dann nicht, obwohl wir doch eigentlich bei unseren demokratischen Staaten mit bestimmen dürfen? Verstehen wir vielleicht einfach nur die Welt falsch? Und welche Rolle spielen dabei die Religionen? - Das sind schwierige Fragen, mit denen sich kaum jemand wirklich gerne beschäftigt.
Ich möchte daher mit meiner Geschichte - wie schon mit dem Drachenreiter - einfach nur zeigen, wie es lange vor unserem Zeitalter die Elfen machten, bevor sie von einer erdrückenden Übermacht der Menschen zurück gedrängt wurden. In dieser Zeit des Umbruchs, zu der sich diese Geschichte abspielt, existieren die Lebensweisen der Elfen und Menschen nebeneinander.
So werden die Unterschiede besonders deutlich. Die Geschichte spielt irgendwann in einer längst vergangenen Zeit. Da kann man gewissermaßen alles als Beobachter von außen betrachten. Man kann sich beim lesen zurück lehnen und braucht sich nicht betroffen zu fühlen.
Lassen Sie sich also wieder in die Welt der Elfen, Kobolde und Drachen verführen. Lesen sie, wie die Elfen und Menschen damals gelebt, gedacht und empfunden haben. Ich denke, Sie werden vieles davon bei sich selbst oder bei ihren Mitmenschen wieder erkennen. Wie bei der Geschichte des Drachenreiters können Sie auch in dieser Fortsetzung die Orte der Handlung auf einer Landkarte unseres Heimatlandes wieder finden. Neue Begriffe und Namen aus der Sprache der Elfen und frühen Menschen sind wieder ins deutsche übersetzt und kursiv hervorgehoben. Wer den Drachenreiter nicht gelesen hat, erhält knapp wiederholt genügend Informationen um diese Geschichte zu verstehen.
Also wünsche ich wieder viel Spaß beim lesen.
Ihr Nikolai Fritz.
Das Zeitalter der Elfen ging zu Ende, und das der Menschen begann. Im ganzen Land der Elfen von den Hohen Schneebergen im Süden und dem Mündungsdelta des Alten Flusses an der Küste des Meeres im Norden siedelten nun Menschen. Sie vermehrten sich schnell und holzten die großen Wälder, den Lebensraum der Elfen, nach und nach für ihre Äcker und Weiden ab. Tief in den Wäldern der Gebirge, wo es unwegsam und zu steinig für den Ackerbau war, lebten nur noch wenige alte Elfen und Kobolde. Die übrigen Elfen hatten sich bereits in die Nordländer jenseits des Meeres zurück gezogen.
Wenn man dem Alten Fluss von seinem Mündungsdelta nach Süden hin folgte, erreichte man auf der Westseite ein Gebirge mit vielen Vulkanen, die Feuerberge. Im Süden trennte der Krumme Fluss die Feuerberge vom Gebirgszug des Großen Elfenwaldes. Der Krumme Fluss floss durch ein enges Tal mit vielen Windungen in Richtung Nordosten und mündete dann in den Alten Fluss. Dort in den Feuerbergen lebte Nimhil der Drachenreiter, der vor langer Zeit mit seinem Drachen für die Elfen gegen die Menschen gekämpft hatte, zusammen mit seiner Tochter Miria.
Die beiden wohnten in einem typischen Elfenhaus aus Holz mit großen Kristallfenstern in den Nähe eines großen Flugplatzes für Elfenflügel. Mit Elfenflügeln, großen Segelflugzeugen, transportierten die Elfen Personen und Waren überall durch ihr Land. Dieser Flugplatz wurde aber schon lange nicht mehr benutzt. Nimhil und Miria flogen nur noch gelegentlich mit einem Elfenflügel zum Krummen Fluss. Auf einem Flugplatz dort trafen regelmäßig kunstvoll gefertigte Gegenstände aus Keramik und Schmuck ein.
Diese wurden von den wenigen alten Elfen gefertigt, die noch im Großen Elfenwald lebten. Am Krummen Fluss wurden sie bei den Menschen gegen andere Dinge eingetauscht. Die Menschen transportierten von dort aus alles mit Booten auf dem Krummen Fluss weiter. Der Drache lebte in einer Höhle, die etwa eineinhalb Stunden zu Pferde vom Haus und vom Flugplatz entfernt war. Er kam regelmäßig am Haus angeflogen, so als ob er nach dem Rechten sehen wollte. Sonst blieb er bei der Höhle, jagte Büffel und sammelte Holz für sein Feuer in den Höhle.
Miria und Nimhil hatten gerade den Tisch draußen vor der Tür gedeckt und wollten sich ihr Abendessen aus dem Haus holen, als plötzlich ein Elfenflügel von Süden her angeflogen kam, einige Platzrunden drehte und dann auf dem einsamen Flugplatz landete. Es war keiner der Elfenflügel, die zwischen dem Krummen Fluss und dem Großen Elfenwald für den Warentransport von und zu den Menschen im Einsatz waren.
Miria und Nimhil liefen sofort zum Flugplatz. Drei Elfen waren bereits ausgestiegen: der Pilot, ein älterer Mann und eine ältere, aber noch sehr attraktive Frau.
Der ältere Mann sagte: „Seid gegrüßt, Nimhil, großer Drachenreiter und du, schöne Miria. Ich bin - Aransil.”
Die ältere Frau sah den Mann fragend an und sagte: „Aransil? Was erzählst du denn da, Elrom?”
Der Mann schaute zu ihr hinüber und entgegnete: „Ja, da werde ich dir, liebe Samadrin, Nimhil dem Drachenreiter und Miria, meiner Enkelin, einiges erklären müssen.”
Die Frau rief: „Elrom, was bedeutet das? Diese junge Frau ist deine Enkelin? - Aber du bist doch Elrom und nicht Aransil. - Du bist doch nicht dieser Aransil, der die Elfen in den Krieg schicken wollte? Aber der ist doch tot! was erzählst du denn da? ...”
Nimhil unterbrach die Rede der Frau und sagte: „Wir sollten in mein Haus gehen. Dann wird uns Aransil oder Elrom sicherlich alles erklären. Seid erst einmal gegrüßt. Der Pilot ist natürlich auch eingeladen. - Wir sollten aber erst einmal den Elfenflügel in die Halle schieben. - Miria, öffne doch bitte das Tor an einem freien Stellplatz.”
Miria öffnete das Tor an einer der Hallen. Dann schoben alle zusammen den Elfenflügel hinein. Miria und Nimhil sahen, dass er mit allem möglichen Hausrat geradezu vollgestopft war. Sie fragten sich, wo Samadrin und Elrom oder Aransil mit den Sachen hin wollten.
Dann gingen alle zum Haus. Miria holte noch drei weitere Teller, drei Gläser für Honigwein und das Essen. Da es für fünf Personen kaum ausreichte, brachte Miria noch zusätzliches Obst und Käse. Dann setzten sich alle draußen an den Tisch. Es war ein warmer Sommerabend. Nimhil sagte: „Also, greift alle zu. Es ist nicht viel, aber wir haben nicht mit Besuch gerechnet. - Nach dem Essen erzählst dann du, Aransil oder Elrom, was das mit eurem Besuch zu bedeuten hat.”
Während alle aßen, fragte sich Nimhil, ob es wirklich Aransil war, der Vater seiner Frau Marit, oder ob sich da jemand einen üblen Scherz erlaubte. Er hatte Aransil nur ein mal bei der Schlacht am Felsentor gesehen. Das war sehr lange her und Aransil war damals noch jung. Er erkannte ihn nicht wieder.
Als Nimhil seine Frau Marit vor langer Zeit kennen gelernt hatte, lebte sie mit ihrer Mutter alleine in einem Dorf der Menschen in den östlichen Drachenbergen, weit östlich des Alten Flusses und der Feuerberge. Aransil hatte seine Frau und seine Tochter Marit verlassen. Was wollte er nun in den Feuerbergen? Und was bedeutete dieser mitgebrachte Hausrat? Wollten die beiden vielleicht bei ihm einziehen?
Endlich waren alle mit den Essen fertig und Aransil begann zu sprechen: „Ich musste mich lange dazu durchringen, endlich hier her zu kommen. Samadrin und ich wollen zu den Nordländern fort ziehen. Wir haben erfahren, dass vom Großen Elfenwald aus wieder dort hin geflogen wird. Also führt es uns hier vorbei. Wir kommen vom Ufer des Großen Sees am Fuß der Hohen Schneeberge. Dort haben wir lange gelebt. - Nimhil, ich weiß nicht, was du von allem, was ich dir nun erzählen will, bereits geahnt hast. Es fällt mir sehr schwer, es dir mitzuteilen. Was meine Mutter und ich dir angetan haben - wenn du mich jetzt dafür tot schlägst, dann habe ich das mehr als verdient.”
Alle am Tisch wurden plötzlich blass. Samadrin schaute ihren Elrom an, als wäre er für sie plötzlich ein Fremder.
Dann sagte er zu ihr: „Nun erfährst du liebe Samadrin, warum ich dir nie etwas aus meinem früheren Leben erzählt habe. Es war nicht mein Leben, es war das Leben meiner Mutter. Es war ihre Rache an den Menschen. Die haben weit im Osten ihr Dorf überfallen und ihre Eltern getötet. Ich sollte deshalb Drachenreiter werden und gegen die Menschen kämpfen. Nur dafür hat sie mich zur Welt gebracht. Ich wollte das aber nicht und habe dafür gesorgt, dass mein Halbbruder Nimhil der Drachenreiter wurde. Ich habe damit sein ganzes Leben kaputt gemacht. Als meine Mutter starb, habe ich meinen Tod vorgetäuscht und bin als Elrom weit nach Süden zum Großen See gegangen. Im Norden musste ich weg, da dort alle Aransil, den Verkünder des Drachenreiters, kannten. Von einem Krieg der Elfen gegen die Menschen wollte ich nichts mehr wissen. Der war schon lange sinnlos, nur meine Mutter hat es nie eingesehen.”
Am Tisch war es nun ganz still. Samadrin machte ein sehr ernstes Gesicht. Es zeigte sich bei ihr aber auch so etwas wie eine Erleichterung, da sie nun das über ihren Lebensgefährten erfuhr, was er verschwiegen hatte, seit die beiden sich vor langer Zeit kennen gelernt hatten.
Nimhil zweifelte nun nicht mehr daran, dass dieser Mann wirklich Aransil war. Genau so, wie Aransil es kurz angesprochen hatte, stellte er sich vor, wie er dazu kam, Drachenreiter zu werden.
Es bestätigte sich auch das, was vor langer Zeit sein Vater erzählte, als er ihn fragte, ob er möglicherweise einen Halbbruder haben könnte. Diese geheimnisvolle Frau, mit der sein Vater kurz zusammen war, bevor er Nimhils Mutter kennen lernte, war Aransils Mutter. Sie wollte nur einen Vater für den Drachenreiter. Deshalb verschwand sie spurlos, als sie von Nimhils Vater schwanger war.
Aransil sprach weiter: „Das Ganze ist eine schrecklich lange Geschichte. Ich glaube, wenn ich jetzt anfange, alles genau zu erzählen, bin ich morgen früh noch nicht damit fertig. - Alles begann vor sehr langer Zeit in einem Dorf weit im Osten, dort wo der Breite Fluss zwischen den Bergen hervor kommt und ins Flachland fließt. Dort wurde meine Mutter geboren. - soll ich nun versuchen, alles irgendwie erst einmal zusammen zu fassen? - Ich denke ich muss es später dann doch alles ganz genau erzählen. Wie soll ich es am besten machen?”
Nimhil überlegte einen Moment und antwortete: „Ich denke, es genügt, wenn du die Geschichte einmal genau und vollständig erzählst. Du solltest also heute Abend nur so weit erzählen, wie du kommst. Dann wirst du aber sicher noch mehr als einen Tag dafür brauchen. Man kann ja nicht stundenlang aufmerksam zuhören. Und wir wollen ja alles vollständig erfahren. - Ich denke, wir sollten uns einfach Zeit lassen. Gibt es irgend etwas, das du und Samadrin in den Nordländern verpassen könntet? Ich denke nicht. - Ich schlage also vor, dass wir morgen früh den Elfenflügel entladen und mit dem Piloten zum Großen See zurück fliegen lassen. Wenn du dann alles erzählt hast, bringen wir euch mit einem unserer Elfenflügel zu den Nordländern. Dann spielt es keine Rolle, wie lange das hier dauert.”
Aransil entgegnete: „ja, so machen wir es. Ich erzähle gleich nur so weit, wie ich komme. Alles weitere erzähle ich dann morgen oder übermorgen.”
An diesem Abend und den nächsten Tagen erzählte Aransil seine Geschichte ausführlich und vollständig. Am nächsten Morgen wurde der Elfenflügel wie besprochen entladen und mit seinem Piloten zurück zum Großen See geschickt. Man ließ sich Zeit mit der Geschichte. Miria und Nimhil sorgten für gutes Essen und zeigten Samadrin und Aransil den Flugplatz und die Umgebung. Erzählt wurde dann immer wieder zwischendurch.
So hatten Miria, Samadrin und Nimhil genügend Zeit, alles geistig zu verarbeiten, was Aransil erzählte. Trotzdem war es für Nimhil nicht leicht, mit dem allen fertig zu werden, was er nun erfuhr. Auch Samadrin war oft fast genau so geschockt wie Nimhil. Miria konnte aber einfach nur interessiert zuhören.
Was Aransil erzählte, betraf zwar auch ihr Leben, sie war aber als Elfe noch jung und hatte im Gegensatz zu Nimhil den größten Teil ihres Lebens noch vor sich. Sobald der Drache sterben würde, wollte sie wie Aransil und Samadrin zu den Nordländern fort ziehen und dort ein neues Leben anfangen. Der Drache war bereits alt. Es sollte also nicht mehr lange dauern. Miria hoffte, dass ihr Vater Nimhil dann zu den Nordländern mit kommen würde. Den Drachen hätte er aber niemals alleine zurück gelassen. Deshalb wollte Miria so lange warten und in den Feuerbergen bleiben.
Die Geschichte, die Aransil erzählte, begann lange Zeit zurück weit im Osten, wo der Breite Fluss aus den Bergen hervor kam und Richtung Nordwesten durch flaches Land zum Meer floss. Der Breite Fluss mündete östlich der Alten Flusses und westlich einer Landzunge in das Meer, die sich weit nach Norden zu den Nordländern hin erstreckte, die jenseits des Meeres lagen. Zwischen dieser Landzunge und den Nordländern gab es auf der Ostseite mehrere Inseln. Über diese Inseln hinweg konnte man die östlichen Nordländer erreichen, ohne dass man weit über das Meer hinweg musste.
An der Mündung des Breiten Flusses lag ein gutes Stück flussaufwärts der größte Hafen der Elfen. Von dort aus fuhren sie mit ihren Doppelschiffen über das Meer, vor allem zu den westlichen Nordländern, die sich aus vier Inseln zusammen setzten. Zwei dieser Inseln lagen weit im Westen und waren teilweise mit den Gletschern des Nordeises bedeckt. Auf der kleineren dieser beiden Inseln gab er erheblich aktivere Vulkane als in den Feuerbergen. Die Doppelschiffe waren große Katamarane mit gewaltigen Segeln, die weit draußen auf dem Meer den stärksten Stürmen standhalten konnten.
Die Berge, aus denen der Breite Fluss hervor trat, waren im Westen die Eisenberge. Am diese schlossen sich weiter westlich die Drachenberge an, die sich bis zum Alten Fluss erstreckten. In den östlichen Drachenbergen entsprang der Lange Fluss, der nach Norden floss und etwas westlich des Breiten Flusses in das Meer mündete. An der Mündung des Langen Flusses lag der zweite große Hafen der Elfen. Die beiden Gebirgszüge der Eisenberge standen in einem nahezu rechten Winkel zueinander mit der Spitze dieses Winkels im Süden.
Etwas südlich dieser Spitze entsprang der Drachenfluss, der in großen Schleifen nach Westen floss und südlich der Drachenberge in den Alten Fluss mündete. Ab dieser Einmündung bog der Alte Fluss nach Westen ab, floss am Fuß der Drachenberge entlang und dann nach Norden durch die Tiefe Klamm zwischen den Drachenbergen und dem Großen Elfenwald hindurch. Aus ihren Bergwerken im westlichen Gebirgszug der Eisenberge holten die Zwerge die streng geheimen Zutaten für das Eisen ihrer magischen Schwerter.
Wenn man eine heutige Karte der Bodenschätze in diesem Gebiet betrachtet, erfährt man, was das für Zutaten waren: Mangan, Kobalt, Wolfram, Molybdän, Vanadium. Wer etwas von Stahl versteht, dem dürfte klar sein, warum diese Schwerter damals als magisch galten. Sie waren scharf wie Rasierklingen, wurden kaum stumpf und waren dabei leicht und biegsam. Alle Gebirge, in denen es Erze gab, waren zur Zeit der Elfen und Menschen fest in der Hand der Zwerge. Sie hatten dort ihre Bergwerke, Schmelzöfen und Schmieden.
Östlich des Breiten Flusses lagen die Trollberge. Sie erstreckten sich sehr weit nach Osten bis in die Nähe des Ostmeeres. Nach Südwesten hin gab es zunächst einen weiteren Gebirgszug, die Wolfsberge. Dann folgten der Große Fluss, eine ausgedehnte hoch gelegene Ebene und schließlich im Süden die Hohen Schneeberge. Der Große Fluss kam von Westen her, floss entlang der Hohen Schneeberge, dann weit im Osten am südlichen Zipfel der Trollberge vorbei und mündete schließlich mit einem breiten Delta in das Ostmeer.
Das Dorf in dem Amandrin, Aransils Mutter, geboren wurde und aufwuchs, lag im Tal des Breiten Flusses zwischen den Eisenbergen und den westlichen Trollbergen. Es lag etwas oberhalb des Flusses am Anfang eines Seitentales, das sich zu den Trollbergen hin erstreckte. Die Elfen bauten ihre Dörfer üblicherweise nicht dicht an die Flüsse heran. Man suchte immer einen höher liegenden Platz, der auch bei extremem Hochwasser nicht überschwemmt wurde. Alles was man in der Nähe eines Flusses errichtete, gestaltete man so, dass es bei einer Überschwemmung möglichst wenig schaden nahm.
Da die Elfen fast alles mit Elfenflügeln durch die Luft transportierten, griffen sie nicht in den Lauf eines Flussbettes ein um einen Fluss schiffbar zu machen. Mit Schiffen oder Booten fuhr man nur dort, wo es der natürliche Lauf des Flusses zuließ. In der Regel fuhren Elfen auf einem Fluss mit einem Boot um zu fischen und nicht um etwas zu transportieren.
Dieses Dorf am Breiten Fluss war ein typisches Dorf der Elfen. Um einen zentralen Platz herum und entlang einer Dorfstraße gab es zweigeschossige Holzhäuser mit großen Kristallfenstern. Die Häuser waren mit kunstvoll gefertigten und bunt bemalten Schnitzereien verziert. Auf den Dächern gab es nach Süden hin ausgerichtet Sonnenkristalle. Mit ihnen fing man tagsüber das Sonnenlicht ein, speicherte es in Lichttöpfen und beleuchtete dann abends mit dem eingefangenen Licht das Ganze Dorf. Dazu gab es überall in den Häusern, an der Dorfstraße und um den Dorfplatz herum Lampen mit leuchtenden Kristallen.
Die Bewohner dieses und der anderen Dörfer dort am Breiten Fluss versorgten die Zwerge in den Eisenbergen mit allem, was sie nicht selbst produzierten. Aus dem Holz der großen Wälder und aus Keramik fertigten sie kunstvoll verzierte Gebrauchsgegenstände. Entlang der Flusstales, zum Teil innerhalb der Überschwemmungsgebiete, gab es große Gärten für Obst und Gemüse. Man hielt Vieh: Schafe, Ziegen, Schweine und Hühner. Aus der Wolle der Schafe und aus anderen Naturfasern stellte man Textilien und Bekleidung her. Gegenstände aus Holz und Keramik, Trockenfrüchte, Räucherfleisch, geräucherten Fisch und Bekleidung tauschte man bei den Zwergen gegen Gegenstände aus Metall ein.
Diese transportierte man, wenn man sie nicht selbst brauchte, mit Elfenflügeln überall hin zu den anderen Elfen. Zu diesem Zweck gab es etwas oberhalb des Dorfes an einer Breiten Stelle im Flusstal einen großen Flugplatz. Als Start- und Landebahn diente eine große runde ebene Wiese, sodass man immer gegen den Wind starten und landen konnte. Am Rand des Tales, ein gutes Stück höher als die Landebahn, standen die Hallen für die Elfenflügel und das Windenhaus, von dem aus Seile zu Umlenkrollen an allen Seiten der Wiese führten.
Die Elfenflügel wurden mit Seilen über Rampen zu den Hallen hinauf und wieder hinunter bewegt. Bei Hochwasser, meistens im Frühjahr bei der Schneeschmelze, war die Wiese überflutet. Dann wurde der Flugbetrieb eingestellt. Außerhalb des Flusstales gab es in der Nähe des Dorfes kein ebenes Gelände, das sich für einen Flugplatz eignete. Die Startwinde und die Winden an den Rampen wurden mit eingefangenem Sonnenlicht angetrieben. Dafür gab es Sonnenkristalle auf den Dächern der Hallen und Lichttöpfe.
Amandrins Eltern betrieben einen großen Garten im Flusstal. Sie pflegten ihre Obstbäume und bauten Gemüse an. Nach der Ernte wurden die meisten Früchte getrocknet. Aus sehr reifen Äpfeln machten sie auch Wein - eine besondere Spezialität der Gegend. Das Gemüse verwendeten sie im Sommer frisch und kochten oder salzten es für den Winter ein. Als Haustiere hatten sie zwei Pferde und mehrere Esel. Mit den Eseln transportierten sie alles von und zu den Gärten. Auf den Pferden ritten sie in die Wälder um dort zu jagen oder Beeren und Pilze zu sammeln.
Die Eisenberge waren das Land der Zwerge. Dort waren ihre Bergwerke, Schmieden und Schmelzöfen. Elfen gingen nur dort hin, wenn sie mit Pferden oder Eseln Waren von und zu den Zwergen transportierten. Für ihr Holz und zum Jagen und Sammeln nutzten die Elfen die Wälder in den Trollbergen und in den niedrigeren Bergen im Süden weiter flussaufwärts. Diese waren wild und weitgehend unbewohnt. Dort lebten Bären und Wölfe.
Tief in den Wäldern gab es dort nur einige Dörfer der Kobolde. Die kamen immer wieder in die Dörfer der Elfen und plünderten deren Magazine, in denen alles bereit stand, was man zum Leben brauchte.
Vor sehr langer Zeit hatte es einen Krieg zwischen Elfen und Kobolden gegeben. Die Elfen hatten aber eingesehen, dass es ein viel größerer Aufwand war, die Kobolde tief in den Wäldern zu verfolgen und zu bekämpfen, als es der Schaden ausmachte, den sie anrichteten. Kobolde verletzten oder töteten keine Elfen. Sie nahmen ihnen einfach nur das weg, was sie für sich selbst brauchten.
Die Elfen dort in den Bergen am Breiten Fluss gehörten zu einem Elfenvolk, das in einem weiten Gebiet zwischen den Hohen Schneebergen im Süden und dem Meer im Norden siedelte. Das Zentrum ihrer Verwaltung lag am Alten Fluss im Langen Auental. Am Fuß der Hohen Schneeberge lag der Große See. Von dort aus floss der Alte Fluss zunächst nach Westen.
Dabei stürzte er einen mächtigen Wasserfall hinab. Dann bog er nach Norden in das Lange Auental ab und mäanderte in unzähligen Schleifen auf die Drachenberge zu. Das Zentrum der Verwaltung lag etwas näher an den Hohen Schneebergen als an den Drachenbergen.
Die Dörfer in den Bergen am Breiten Fluss waren zu einem Bezirk mit einer eigenen Verwaltung zusammengefasst. Alles, was nicht das gesamte Volk betraf, regelte für diese Dörfer der Bezirksrat, für den jedes Dorf einen Vertreter wählte. Der Bezirksrat wählte wiederum einen Vertreter für den Verwaltungsrat im Langen Auental, der sich um die Belange des gesamten Volkes kümmerte.
Über dem Verwaltungsrat stand der Rat der Weisen, der für sehr wichtige Angelegenheiten wie Krieg und Verteidigung zuständig war. Wie die jeweiligen Räte gewählt wurden und was sie entscheiden durften, war in einer Grundordnung festgelegt.
Das Vorstehende soll zum Thema Verwaltung bei den Elfen erst einmal genug sein. Auf Details wird jeweils später eingegangen, wenn es für das Verständnis der Geschichte notwendig ist.
Als Amandrin aufwuchs, breiteten sich die Menschen im Flachland weit nördlich der Trollberge immer weiter nach Westen aus. Sie besiedelten zunächst nur das steppenartige Grasland, das in der damaligen Zeit weite Flächen des Flachlandes bedeckte. Dort gab es kaum Wald. Es war daher kein Elfenland und auch kein Land der Kobolde. Es gab dort auch keine Erze im Boden. Also siedelten dort auch keine Zwerge.
Da die Menschen sich aber stark vermehrten und immer mehr Weiden und Ackerland benötigten, begannen sie überall um das Grasland herum die Wälder abzuholzen. So kamen sie immer näher an das Land der Elfen heran. Bald erreichten sie den Breiten Fluss und siedelten auch im Flachland nördlich der Eisenberge. Immer wieder gab es Kriege zwischen den Fürsten der Menschen. Jeder Fürst versuchte dabei so viel Land an sich zu reißen, wie er konnte.
Die Zwerge profitierten davon, da sie den Menschen die Waffen dafür lieferten. Um nicht selbst von den Menschen angegriffen zu werden, errichteten sie eine Kette aus Wachtürmen entlang der Eisenberge und im Tal des Breiten Flusses. Überall bei diesen Türmen stationierten sie Krieger, die immer wieder ausgetauscht wurden. Jeder männliche Zwerg leistete dort regelmäßig einen Dienst ab. So wollte man verhindern, dass die Aufmerksamkeit der Wachen mit der Zeit nachließ. Durch diesen Schutzwall der Zwerge fühlten sich die Elfen im Tal des Breiten Flusses sicher.
In den Trollbergen und den nördlich von ihnen gelegenen Wäldern des Flachlandes gab es keine Zwerge. Also gab es entlang der Trollberge nach Norden hin auch keine Wachtürme und keine Krieger. Da die Menschen das steinige und unwegsame Bergland mieden, und sich ein großes Waldgebiet nördlich der Trollberge erstreckte, sahen die Elfen von dieser Seite her keine Bedrohung - ein fataler Fehler, wie sich bald heraus stellen sollte.
Kommen wir also zu Amandrin zurück. Als sie noch klein war, nahmen sie ihre Eltern immer mit in den Garten, wenn sie sich um die Obstbäume kümmerten und Gemüse anpflanzten. Dann kam sie mit den anderen Kindern im Dorf nicht zusammen. Also musste sie sich oft mit sich selbst beschäftigen. Ihre Eltern hatten ja mit dem Garten genug zu tun.
Das änderte sich erst, als sie alt genug war um zu einem Lehrer zu gehen. Schulen, so wie wir sie heute kennen, gab es bei den Elfen nicht. In jedem Dorf gab es einen Lehrer, der in seinem Haus den Kindern alles beibrachte, was für ein Leben bei den Elfen notwendig war. Dazu gehörte neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch einiges Wissen über das Volk und die Lebensweise der Elfen.
Wer mehr lernen wollte, als ein solcher Lehrer vermittelte, musste zu einer zentralen Bibliothek reisen. Dort wurden alle Bücher der Elfen aufbewahrt und standen für jeden zum lesen bereit. Zentrale Bibliotheken gab es im Norden in der Nähe der Mündung des Breiten Flusses, am Großen See, im Langen Auental und am Krummen Fluss.
Ein Lehrer unterrichtete immer mehrere Schüler, die unterschiedlich alt waren. Diese teilte er in drei oder vier Altersgruppen ein, die er abwechselnd nacheinander abfertigte. In einer Gruppe gab es meistens nicht mehr als drei Schüler.
Bei Amandrin hatte der Lehrer elf Schüler. In ihrer Altersgruppe gab es noch einen Jungen, den sie nicht leiden konnte. Der Lehrer war ziemlich streng und hatte fast immer schlechte Laune. Das alles spornte Amandrin nicht gerade zum Lernen an. Als sie dann lesen und schreiben und eher schlecht als recht rechnen konnte, interessierte es sie herzlich wenig, was der Lehrer erzählte, und was sie in den Büchern lesen sollte, die ihr der Lehrer gab.
Der tadelte sie dafür häufig bei ihren Eltern. Die schafften es aber auch nicht, sie dazu zu bringen, dass sie mehr lernte. Ein Benotungssystem für Prüfungen und eine Versetzung in eine höhere Klasse gab es nicht. Jeder lernte so viel, wie es der Lehrer schaffte ihm beizubringen. Bei Amandrin tat der Lehrer wirklich alles was er konnte. Es hatte aber wenig Erfolg.
Zwei Dörfer weiter flussaufwärts gab es eine kleine Bibliothek. Dort lagen die wichtigsten Bücher der Elfen zum lesen aus. Üblicherweise durfte ein Elfe nur die Bücher nach hause mit nehmen und behalten, die er für seine Tätigkeit brauchte. Die Bücher einer Bibliothek wurden aber regelmäßig gegen neue ersetzt. Das geschah, wenn es eine neue aktuelle Fassung gab oder wenn die Bücher bereits stark abgenutzt waren. Dann wurden die alten Bücher an interessierte Leser abgegeben.
Amandrin konnte immer nur auf einem Esel zu der Bibliothek reiten, wenn der Unterricht bei dem Lehrer zu Ende war. Dann blieb kaum noch Zeit um dort etwas zu lesen, bevor die Bibliothek schloss. Als sie einmal dort in den Büchern stöberte, stieß sie auf ein Buch über Drachen und Drachenreiter. Sie war so fasziniert von Geschichten in diesem Buch, dass die Bibliothekarin sie regelrecht hinaus werfen musste, als sie abends die Bibliothek schließen wollte.
Amandrin fragte, ob es noch mehr Bücher zu diesem Thema gab. Die Bibliothekarin schickte daraufhin Briefe zu den zentralen Bibliotheken und fragte nach, ob sie alte Bücher zu diesem Thema erhalten könnte. Einige Zeit später standen mehrere Kisten mit Büchern bereit, die Amandrin behalten durfte. Als sie dann einmal spät abends von der Bibliothek nach hause kam, war der Esel mit den Kisten voll gepackt und sie lief zu Fuß nebenher.
Statt ihren Eltern in ihrem Garten zu helfen, saß Amandrin nun immer irgendwo herum und las eins dieser Bücher nach dem anderen. Die Eltern ermahnten sie zwar immer wieder zur Arbeit im Garten, waren aber doch auch froh, dass sie etwas gefunden das sie gerne las. Sie hofften, dass sie so vielleicht doch noch ein wenig Bildung erlangte.
Aus den Büchern erfuhr sie, dass es die ersten Drachenreiter bereits vor sehr langer Zeit gab und nicht erst, seit dem die Fürsten der Menschen gegeneinander Krieg führten, wie es allgemein bekannt war. Als die Kobolde gegen Bezahlung in den Kriegsdienst bei den Menschen eintraten, erinnerten sie sich an eine sehr lange zurück liegende Zeit.
Es war die Zeit, als Elfen, Kobolde und Trolle nach der Langen Dunkelheit begannen, sich in den riesigen Wäldern anzusiedeln, die damals die ganze Erde bedeckten. Als ein gewaltiges Feuer vom Himmel gefallen war, fast alles verbrannt, die Sonne lange Zeit verdunkelt und damit fast alles Leben auf der Erde zerstört hatte, konnten sich die Bäume, deren Samen das Feuer und die Kälte während der Dunkelheit nicht zerstören konnte, auf der verbrannten Erde ungehindert ausbreiten.
Die großen Pflanzen fressenden Echsen aus der Zeit vor der Langen Dunkelheit gab es nicht mehr. Nur kleine Tiere und die großen flugfähigen Drachen hatten das Feuer, die Kälte und die Dunkelheit überlebt. Der Wald bot nun Lebensraum für verschiedene Tiere und auch für Elfen, Kobolde und Trolle. Die damals noch zahlreichen Drachen waren aber eine große Bedrohung.
Auf der Suche nach Nahrung, die in dieser Zeit sehr knapp war, flogen sie überall umher und stürzten sich auf alles, was sich am Boden bewegte. Schutz boten nur die dichten Wälder, in denen große Bäume so dicht beieinander standen, dass die Drachen dort nicht starten und landen konnten. In jeder Lichtung und auf jeder freien Fläche war aber jedes Lebewesen in größter Gefahr.
Als sich die Elfen, von denen es erheblich mehr als Kobolde und Trolle gab, überall in den dichten Wäldern breit gemacht hatten, wurden die vor Drachen sicheren Plätze für Kobolde und Trolle knapp. Man begann sich mit den Elfen um die dichten Wälder zu streiten. Das war die lange zurück liegende Zeit der Kriege der Elfen gegen Trolle und Kobolde.
In den dichten Wäldern brauchte man für wenige Elfen viel Platz. Man konnte zwischen den hohen alten Bäumen kaum etwas anpflanzen und nur wenig Vieh halten, meistens nur einige Hühner und Schweine. Also ging man auf die Jagd und sammelte Beeren und Pilze. Dafür brauchte man aber sehr viel Platz. Mit den damaligen Waffen, Pfeil und Bogen, Speere und Äxte, konnte man gegen einen Drachen nichts ausrichten. Also hielt man sich immer nur in den dichten Wäldern auf.
Es waren schließlich die Kobolde, die das Problem mit den Drachen lösten. Sie beobachteten, dass jeder Drache sein Jagdrevier hatte, aus dem er alle anderen Drachen vertrieb. Wenn es also gelang, sich mit einem Drachen anzufreunden, konnte man in seinem Revier auch auf freien Flächen sicher leben.
Wie sollte man sich aber mit einem Drachen anfreunden? Die Kobolde wussten, dass ein wildes Tier zahm wird, wenn man es von klein auf groß zieht und an sich gewöhnt. Also mussten sie an ein Drachenei heran kommen und dann einen Drachen aus dem Ei heraus groß ziehen.
Amandrin verschlang regelrecht die spannenden alten Geschichten von den Kobolden, die mutig los zogen um mit List und Tücke ein Drachenweibchen zu töten und so an ein Ei heran zu kommen. Man konnte einen Drachen nur töten, wenn man ihn in eine Falle lockte. Dann musste man dicht an ihn heran kommen und ihm einen Speer direkt ins Herz rammen. Alles andere hätte ihn nur verletzt und wütend und böse gemacht.
Drachen waren aber sehr schlau und bemerkten es meistens, wenn man versuchte, ihnen eine Falle zu stellen. Mit viel Todesmut gelang es schließlich einigen Kobolden ein Drachenweibchen zu töten. Sie zogen dann den kleinen Drachen groß und waren schließlich in seinem Revier vor anderen Drachen sicher. Die alten Geschichten mit den verschiedenen Strategien zum Überlisten eines Drachen waren also sehr interessant und spannend.
Von den Drachen bei den Kobolden profitierten auch die Elfen. Sie kamen aus den dichten Wäldern hervor, begannen Vieh zu halten und Gärten für Obst und Gemüse anzulegen. Kobolde hielten aber nichts von Gartenarbeit und wollten auch kein Vieh hüten. Also nahmen sie einfach den Elfen alles weg, was sie brauchten. Wenn die Elfen nichts abgeben wollten, drohten sie mit Krieg. Dann setzte sich einer von ihnen auf den Drachen und flog mit ihm eine Axt schwingend über die Elfen hinweg.
Das waren vor sehr langer Zeit die ersten Drachenreiter. In diesem frühen Zeitalter der Elfen gab es neben Trollen und Drachen auch noch einige riesige Ungetüme aus der Zeit vor der Langen Dunkelheit. Das waren gewaltige Fleisch fressende Echsen, die irgendwo in einem Versteck Feuer, Dunkelheit und Kälte überlebt hatten. Wenn so ein Ungetüm auftauchte, rannten sogar die großen und starken Trolle in Panik davon. Man konnte es nur mit einem oder oder besser mit mehreren Drachen bekämpfen.
Dazu schlossen sich oft mehrere Drachenreiter zusammen. Es konnte manchmal mehrere Mondumläufe dauern, bis die Drachen es schafften, das Ungetüm zu vertreiben oder zu töten. Im Gegensatz zu den Drachen, die während des gesamten Zeitalters der Elfen recht zahlreich waren, gab es von diesen Fleisch fressenden Echsen nur wenige. Trotzdem dauerte es noch eine lange Zeit, bis schließlich keine mehr von ihnen auftauchten.
Je mehr Zeit seit der Langen Dunkelheit vergangen war, desto mehr und größere Tiere gab es. Schließlich war das Nahrungsangebot für alle Drachen mehr als ausreichend. Also blieben die Drachen in der Nähe ihrer Höhlen in den einsamen Gebirgen. Dort entstand dann das typische Drachenland: Berge mit viel Grasland und Wäldern dazwischen.
Das war ein idealer Lebensraum für Büffel. Das Gras bot den Büffeln genug Nahrung und die Wälder Deckung vor den herum fliegenden Drachen. Da die Drachen nun mehr als genug Büffel jagen konnten, bedrohten sie die Elfen und Kobolde nicht mehr. Ungetüme aus der Zeit vor der Langen Dunkelheit tauchten auch nicht mehr auf.
Man brauchte also keine Drachenreiter mehr um sicher leben zu können. Mit der Zeit wurden es daher immer weniger Kobolde, die einen Drachen aus dem Ei heraus groß zogen und als Drachenreiter mit ihm lebten. Schließlich hörten Elfen und Kobolde auch damit auf, immer wieder gegeneinander Krieg zu führen. So begann die große Zeit der Elfen, in der sie die vielen Dinge erschufen, die ihnen das Leben erleichterten: eingefangenes Sonnenlicht, Elfenflügel, große seetüchtige Schiffe und vieles mehr.
Was Amandrin in ihren Büchern las, widersprach irgendwie dem, was der Lehrer seinen Schülern über das frühe Zeitalter der Elfen beigebracht hatte. Wenn diese alten Geschichten wahr waren, woran Amandrin nicht zweifelte, waren es die Drachenreiter der Kobolde, die es den Elfen erst ermöglichten, alles das zu erschaffen, was das Leben eines Elfen ausmachte.
Ohne die angeblich so bösen und hinterlistigen Kobolde, wären die Elfen vielleicht gar nicht aus den dichten Wäldern heraus gekommen. Dann wären sie immerzu mit Jagen und Sammeln beschäftigt gewesen und hätten keine Zeit dazu gehabt, darüber nachzudenken, wie man sich das Leben leichter machen kann. Der Lehrer hatte aber immer nur von den großen Errungenschaften der Elfen gesprochen, die sie sich in der langen Zeit seit der Langen Dunkelheit erarbeitet hatten.
Amandrin überlegte: Wie lange war das überhaupt her? Die Zeitrechnung der Elfen begann mit der Langen Dunkelheit. Die lag mehrere tausend Epochen zurück. Eine Epoche dauerte wiederum viele tausend Jahre. Das ergab für Amandrin und ihre recht bescheidenen Rechenkünste eine unvorstellbar lange Zeit.
Im täglichen Leben gaben die Elfen bei einen Datum immer nur die Jahreszahl in der aktuellen Epoche an. Nur bei einem lange zurück liegenden Datum nannte man auch die Epoche. Für Amandrin lag damit die Lange Dunkelheit und die alte Zeit der Drachenreiter so gut wie unendlich lange oder eine Ewigkeit zurück. Was faszinierte sie dann aber so an dieser Zeit? Gab es da vielleicht noch etwas, was niemand wissen sollte?
In der alten Zeit nach der Langen Dunkelheit konnten die Elfen noch nicht lesen und schreiben. Die alten Geschichten wurden also eine lange Zeit nur mündlich in Form von Liedern und Gedichten weiter erzählt. Dabei halfen immer wieder die Melodien, Reim und Rhythmus beim auswendig Lernen dieser Geschichten. Später ritzte man Zeichen für die verschiedenen in den Liedern und Gedichten vorkommenden Begriffe in Holzbrettchen, die Runen.
So konnte man grob nachlesen um was es dort ging, damit man sich besser an das Lied oder Gedicht erinnern konnte. Jedes Zeichen stand dabei für ein Wort oder einen Begriff. Mit der Zeit wurde dieses System aus Runen für Begriffe immer ausgefeilter und komplexer, sodass man schließlich mit Hilfe von Reim und Rhythmus auch unbekannte Lieder oder Gedichte aus den Runen heraus lesen konnte.
So entstand eine Runen-Kurzschrift, die als Kunstform bei den Elfen sehr beliebt war. Für den Alltag benutzte man in späterer Zeit die Runen als Zeichen für verschiedene Laute, so wie man das bei unserer Schrift heute auch macht. Die alten Lieder und Gedichte wurden dann in der Schrift für den Alltag als Geschichten nacherzählt und so einfach lesbar für die Nachwelt erhalten.
In diese Geschichten fügte man dann jeweils die Urform als Lied oder Gedicht in Runen-Kurzschrift mit ein. Die sehr alten kommentierte man noch, da sie auch mit Hilfe von Reim und Rhythmus kaum lesbar waren. Die Runen dienten ja ursprünglich nur als Gedächtnisstütze für das auswendig gelernte.
Da die alten Geschichten zunächst nur mündlich weitergegeben wurden, sah man sie mehr als Sagen oder Legenden an und nicht als wahre Geschichten. Man traute nur dem, was in späterer Zeit schriftlich festgehalten wurde. So konnte es also sein, dass die Kobolde mit ihren Drachenreitern den Elfen ihre Errungenschaften erst ermöglicht hatten, so wie es Amandrin vermutete.
Vielleicht hatten die Kobolde das aber nur erzählt um sich wichtig zu machen. Da es keine schriftlichen Belege oder Beweise gab, rechnete man diese alten Überlieferungen nicht zur Geschichte der Elfen. Die begann erst viele hundert Epochen nach der Langen Dunkelheit, als man anfing alles schriftlich festzuhalten.
Enthielten die alten Geschichten aber vielleicht Wahrheiten, die man nicht wahr haben wollte? Warum gab es überhaupt Kobolde? Sie waren doch eigentlich auch Elfen, nur nicht schön und gut, sondern hässlich und böse. Gab es vielleicht ganz am Anfang eine Art Ur-Elfen, aus denen sich dann Elfen und Kobolde entwickelten? Gingen sie damals im Streit auseinander?
Die Quelle für das umfangreiche Wissen der Elfen war ein geistiger Kontakt mit fernen Welten weit draußen im Weltraum - oder im Himmel, wie die Elfen sagten. Der Himmel fing für die Elfen dort an, wo die Luft in einem Elfenflügel zu dünn zum atmen wurde.
Die Elfen wussten, dass die Sterne Sonnen waren, um die wie bei unserer Sonne Planeten kreisten. Auf einigen dieser fernen Planeten gab es hoch entwickelte Lebewesen, deren Wissen manchmal noch größer war als das der Elfen. Von dort kamen die Ideen für das Einfangen von Sonnenlicht mit Kristallen, für das Fiegen mit Elfenflügeln und viele andere Dinge, mit denen sich die Elfen ihr Leben leichter machten.
Es gab einige Elfen mit einer besonders ausgeprägten Fähigkeit für den geistigen Kontakt zu diesen Welten, die Weisen Seher. Sie brachten immer wieder neue Ideen zu den Handwerkern, die diese dann umzusetzen versuchten, oder berieten Leute in der Verwaltung bei schwierigen Problemen. Oft waren Angehörige des Rates der Weisen, der über die wichtigsten Dinge zu entscheiden hatte, Weise Seher.
Wenn ein Elfe einmal in seinem Leben nicht so recht weiter wusste, suchte er einen Weisen Seher auf. Auch normale Elfen besaßen die Fähigkeit, mit anderen Personen geistig in Kontakt zu treten. Nur war es bei ihnen nicht so stark ausgeprägt und reichte meistens auch nicht bis in den Weltraum hinaus.
Wenn Elfen mit anderen geistig in Kontakt treten wollten, suchten sie gerne einen Magischen Ort auf. Das konnte ein besonderer Felsen, eine Quelle oder eine alte Eiche sein. An solchen Orten wurden auch wichtige Feste gefeiert, wie der Jahreswechsel bei der Sonnenwende im Winter.
Nach dem Kalender der Elfen begann dann das neue Jahr am ersten Neumond nach der Sonnenwende. Dann zählte man jeweils die Tage nach dem Neumond. Bei einem vollständigen Datum nannte man also Epoche, Jahr, Neumond und Tag.
Zu jeder Mondphase - Neumond, zunehmender Mond, Vollmond, abnehmender Mond - gab es einen Mondtag, der bei den Elfen als Ruhetag galt. Da man sich streng nach der Bewegung des Mondes richtete, konnten zwischen zwei Mondtagen sieben oder acht Tage liegen. Und ja nachdem, wann nach der Sonnenwende Neumond war, konnte es in einem Jahr zwölf oder dreizehn Mondumläufe geben.
Im Tal des Breiten Flusses gab es ein Stück flussabwärts von dem Dorf, in dem Amandrin lebte, einen besonders wichtigen magischen Ort. Dort ragten mehrere Steile Felsen dicht nebeneinander senkrecht nach oben. Sie sahen aus wie dicht beieinander stehende Säulen. Am Fuß dieser Felsen versammelte man sich zur Sonnenwende, zündete ein Feuer an und erwartete mit Musik und Gesang das neue Jahr.
Das ganze Jahr über kamen immer wieder Elfen dort hin, wenn sie die magische Kraft dieses Ortes nutzen wollten, um mit jemandem geistig in Kontakt zu treten. Wenn Amandrin dort hin kam, fühlte sie sich immer in die alte Zeit der Kobolde, Trolle und Drachen zurück versetzt. Dabei hatte sie das Gefühl als ob Drachen über den Felsen kreisen würden und jeder Zeit Trolle zwischen den Felsen hervor kommen könnten.
Natürlich gab es dort keine Drachen und Trolle. Es fühlte sich aber tatsächlich so an. Es war eben ein magischer Ort, der eine seltsame Kraft ausstrahlte. Amandrin ging häufig dort hin, manchmal mit ihren Eltern, aber meistens alleine.
Da die Elfen ein sehr langes Leben hatten, verteilten sich bei ihnen die Geburten der Kinder über einen langen Zeitraum. Also gab es in einem Dorf immer nur wenige Kinder, die etwa gleichaltrig waren. Ein Elfenkind hatte folglich mehr Kontakt mit jüngeren, älteren oder Erwachsenen. Statt also miteinander zu spielen, zeigte man einem jüngeren etwas, ließ sich von einem älteren etwas zeigen oder schaute den Erwachsenen bei ihrer Arbeit zu.
Besonders an Mondtagen, wenn sie nicht zu dem Lehrer musste, streifte Amandrin durch das ganze Dorf und beobachtete, was die Bewohner machten. Da Mondtage Ruhetage waren, war das Magazin geschlossen und in den Werkstätten wurde nur selten gearbeitet. Auf dem Flugplatz startete oder landete nur ab und zu einmal ein Elfenflügel.
Die meisten Elfen beschäftigten sich zu hause mit persönlichen Dingen. Auch Amandrins Eltern arbeiteten nur dann in ihrem Garten, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Also brauchte Amandrin auch nicht im Garten zu helfen, worüber sie sehr froh war.
Oft nahmen ihre Eltern Amandrin auch mit in den Wald. Sie zeigten ihr, welche Beeren und Pilze man sammeln und essen konnte, welche Kräuter es dort gab, ob sie berauschend oder giftig waren und wofür man sie verwenden konnte. Das alles gehörte zum Allgemeinwissen eines Elfen einfach dazu.
Wenn ihr Vater auf die Jagd ging, hätte Amandrin auch mit kommen können. Dafür interessierte sie sich aber nicht. Da Mädchen üblicherweise eher selten auf die Jagd gingen, drängte ihr Vater sie auch nicht dazu. Bei einem Jungen gehörte es dagegen einfach dazu, dass man lernt, wie man auf die Jagd geht. Auf einem Pferd zu reiten lernte jedes Elfenkind von seinen Eltern, Mädchen wie Jungen. Amandrin schaute sich also im Dorf alles an, was es dort zu sehen gab. Ein besonderes Interesse zeigte sie aber nur für die alten Geschichten in ihren Büchern.
Amandrin hätte gerne das Kämpfen mit Pfeil und Bogen und mit einem Schwert geübt. An solche Waffen ließ man Kinder aber nur unter der strengen Aufsicht Erwachsener. Unter Aufsicht wollte sie das aber nicht. Also übte sie den Schwertkampf - oder besser das, was sie für Schwertkampf ansah - mit einem Stock, wenn sie alleine im Wald war. Bei ihren Versuchen, sich aus Holz einen Bogen anzufertigen, hatte sie wenig Erfolg. Alle Exemplare hatten wenig Wirkung und brachen nach kurzem Gebrauch durch.
Wenn sie aber unter der Aufsicht ihres Vaters hätte schießen wollen, so hätte sie einen echten Elfenbogen bekommen können, der zu ihrem Körperbau und ihrer Kraft gepasst hätte. Damit hätte sie aber nicht einfach so im Wald herum streifen dürfen. Ein Elfenbogen war eine sehr gefährliche Waffe.
Wenn aber jemand Interesse zeigte und man erkannte, dass er sich als Bogenschütze eignete, durfte er schon früh als Kind den Umgang mit einem Bogen lernen. Das galt sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Amandrin hätte den Bogen ihres Vaters, den er für die Jagd verwendete, nicht einmal spannen können. Obwohl ihr Vater viel stärker als Amandrin war, konnte er das nur mit einer besonderen Technik der Bogenschützen, die er von seinem Vater gelernt hatte.
Das zuvor beschriebene sollte das wichtigste sein, was über Amandrins Kindheit zu erzählen ist. Man erkennt, dass sie vor allem immer nur das interessierte, was sie nicht wissen und nicht tun sollte. Was ihre Eltern oder ihr Lehrer von ihr erwarteten, ödete sie einfach nur entsetzlich an. Dazu passt auch gut das Ereignis, von dem der Rest dieses Kapitels erzählt.
Amandrin war gerade auf den Weg von ihrem Lehrer nach hause, als sie dort, wo sich das Magazin des Dorfes befand, ein lautes Geschrei hörte. Alle Elfen liefen von dort weg. Amandrin schlich sich von hinten an das Magazin heran. Sie versteckte sich hinter der Hauswand auf der Rückseite.
Vor dem Eingang standen viele Pferde und Esel. Durch die Fenster konnte sie sehen, wie Kobolde durch das Haus liefen und alles durchsuchten. Sie riefen alles mögliche wild durcheinander. Einige probierten Kleidungsstücke an und andere trugen die verschiedensten Sachen hinaus und verluden alles auf die Pferde und Esel.
Während die meisten von ihnen alles leer räumten, sangen und tanzten einige andere draußen wie bei einem großen Fest. Sie hatten Rüstungen angelegt und waren mit Schwertern und Äxten bewaffnet. Es dauerte nicht lange, bis sich alle Kobolde mit den voll bepackten Pferden und Eseln auf den Weg machten. Während sie laut miteinander sprachen und einige sangen, verließen sie das Dorf zu dem Seitental hin, das in die Trollberge führte.
Als es dann einige Zeit ruhig blieb, kam Amandrin vorsichtig nach vorne zum Eingang. In dem Gebäude sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Die Regale waren ausgeräumt und am Boden lag alles wild durcheinander herum, was die Kobolde nicht haben wollten. Nun konnte jeder Elfe froh sein, der sich zu hause einen Vorrat angelegt hatte. Nach solchen Plünderungen dauerte es immer einige Zeit, bis neue Waren mit Elfenflügeln eintrafen.
Nachdem Amandrin durch die große Tür nach innen geschaut hatte, sah sie die vielen Flaschen mit Braunem Würger, die die Kobolde rechts und links neben dem Eingang hin gestellt hatten. Insbesondere den Kindern erzählte man, dass der Braune Würger extrem gefährlich, ja sogar giftig sei, und sich kein ordentlicher Elfe daran vergreifen würde. Nach einer Plünderung rührte auch niemand diese Flaschen an. Am nächsten Morgen waren sie aber immer alle verschwunden. In den Tagen nach einer Plünderung waren dann immer einige Elfen krank und verließen ihr Haus nicht, was sonst nur äußerst selten einmal vorkam.
Amandrin sollte bestimmt wieder nach dem Abendessen mit ihren Eltern in den Garten mit kommen und beim Unkraut rupfen helfen. Sie hasste das. Es war ein warmer sonniger Tag und einen großen Hunger hatte sie nicht. Was wollte sie also zu hause? Da war es doch im Wald viel schöner. Sie würde zwar nun Ärger mit ihren Eltern bekommen, aber den hatte sie ja sowieso dauernd.
Nun lachten sie die vielen Flaschen vor der Tür regelrecht an. Sie sagte sich: giftig mag das Zeug ja vielleicht sein, aber daran gestorben ist ja wohl noch keiner. Also nahm sie sich eine der Flaschen und ging in die gleiche Richtung, in der die Kobolde das Dorf verlassen hatten. Der Weg führte in das Seitental und dann in den Wald der Trollberge. Die Elfen saßen noch in ihren Häusern und trauten sich noch nicht zum Magazin zurück zu kommen. Also beobachtete niemand, wo Amandrin hin ging.
Am Rand einer Lichtung an einem Westhang machte sie es sich bequem. Die Abendsonne spendete eine angenehme Wärme. Wie bekam sie aber nun den Stopfen aus der Flasche. Als Elfenkind hatte man üblicherweise kein Stöpseleisen in der Tasche. Ohne ein solches spiralförmiges Gerät konnte man den Stopfen nicht heraus ziehen. Was sollte sie also tun?
Dann hatte sie eine Idee. Mit einem dünnen Stock drückte sie den Stöpsel einfach in die Flasche hinein. So spritzte zwar etwas von dem Braunen Würger hinaus, und es floss dann auch nicht so schön, aber der Abend war für Amandrin erst einmal gerettet. Sie roch erst einmal an der Flasche und probierte dann. Der erste Schluck brannte wie Feuer und es schmeckte grauenhaft. Was sollte man daran nur finden? Irgendwie erinnerte der Geschmack aber an Apfelwein, nur mindestens zehn mal so stark und schrecklich bitter.
Amandrin erinnerte sich an den Tag bei ihrem Lehrer. Der war wieder schlecht gelaunt gewesen, wie immer. Dann hatte sich der Junge, mit dem sie lernen sollte, auch noch über sie lustig gemacht. Es war also so ein Tag, auf den man gut verzichten konnte. Also nahm sie noch einen kräftigen Schluck von dem Braunen Würger. Nun wurde ihr innerlich ganz warm. Dieser blöde Tag rückte plötzlich irgendwie ganz weit in die Ferne.
Amandrin dachte an die alten Geschichten von den Drachenreitern. Sie nahm noch einen kräftigen Schluck. Nun tauchte sie ganz in die alte Zeit der Drachenreiter ab. Sie sah im Geiste, wie sie auf einem Drachen ritt und dabei auf die ganze Welt von oben sehen konnte. Es war wie ein wunderschöner Traum. Also setzte sie die Flasche noch einmal an. Dann saß sie einfach nur da, schaute in die Abendsonne und fühlte sich auf unerklärliche Weise irgendwie wohl.
Als die Sonne dann fast untergegangen war und sie die Flasche halb ausgetrunken hatte, wollte sie nach hause gehen. Sie schaffte es aber nicht, nach dem Aufstehen aufrecht stehen zu bleiben. Alles um sie herum drehte sich plötzlich. War das Zeug also wirklich giftig? Und was für eine Wirkung hatte dieses Gift sonst noch? Wie sollte sie nun den Weg nach hause finden?
Statt aber nun Angst zu bekommen, empfand sie ihre Lage eher als lustig. Grölend und lallend torkelte sie dann den Weg zurück, auf dem sie in die Lichtung gekommen war. Wie sie den Weg nach hause fand, war ihr vollkommen unklar, aber irgendwie fand sie ihn.
Sie erwartete, dass ihre Eltern sehr schimpfen würden, wenn sie zuhause ankam. Als die aber Amandrin sahen, machten sie nur entsetzte Gesichter und ließen sie einfach ins Bett gehen. Sie wussten von der Plünderung der Kobolde und kannten die Wirkung des Braunen Würgers. Es hatte also keinen Sinn zu schimpfen.
Als Amandrin im Bett lag, kam es ihr vor, als würde sich das ganze Haus um sie herum drehen. Es wurde ihr entsetzlich schlecht. Sie musste mehrmals hinaus laufen und sich übergeben. Irgendwann gegen Morgen konnte sie dann endlich einschlafen und wurde erst am Nachmittag wieder wach. Nun schmerzte ihr Kopf, so als wenn ihr jemand mit einer Bratpfanne darauf geschlagen hätte.
Dann kam ihr Vater herein und sagte: „Na, Amandrin, wie hat dir der Braune Würger geschmeckt?”
Die Worte dröhnten in ihrem Kopf. Sie rief: „Schrei mich nicht so an.”
Nun dröhnte ihre eigene Stimme im Kopf. Sie hielt sich die Ohren zu. Ihr Vater sagte dann leise: „Ich hoffe, du weißt jetzt, was du von dem Braunen Würger zu halten hast. Du kannst dir doch denken, dass die Kobolde nichts wirklich gutes für uns da hin stellen. Die freuen sich doch, wenn es uns von diesem Zeug so schlecht geht.”
Amandrin dachte nun an das angenehme Gefühl, das sie nach diesem unerfreulichen Tag in der Lichtung hatte. Schade, dachte sie, wenn es da nicht diese entsetzlichen Nebenwirkungen geben würde. Sie überlegte, ob sie es irgendwann noch einmal vorsichtig mit dem Braunen Würger probieren sollte. Vielleicht half es ja gegen die Nebenwirkungen, wenn man vorher etwas ordentliches aß.
Es stimmte ja wohl einiges nicht, was die Elfen versuchten, ihren Kindern beizubringen. So gefährlich konnte der Braune Würger doch gar nicht sein. Den Kobolden schadete er doch wohl eher nicht, dachte sie.
Es vergingen noch einige Jahre, bis Amandrin alles gelernt haben sollte, was ein Lehrer in einem Dorf den Kindern beibrachte. Nun war es an der Zeit, sich eine Tätigkeit zu suchen, mit der sie einen Beitrag am Zusammenleben der Elfen leistete. Damit niemand etwas machte, was er nicht gerne tat oder wozu er wenig geeignet war, war es bei den Elfen üblich, dass man so lange als Suchender umher zog, bis man etwas passendes gefunden hatte.
Es gab nicht wenige Elfen, die immer wieder mit einer neuen Tätigkeit anfingen und diese dann jedes mal schnell wieder aufgaben. Die waren wenig angesehen und wurden Ewig Suchende genannt. Wenn man drei oder vier mal im Leben die Tätigkeit wechselte, galt das als angemessen. Wechselte man häufiger, machte das keinen guten Eindruck. Alternativ hätte sich Amandrin auch als Lernende bei einer zentralen Bibliothek einquartieren können. In den Gästehäusern dort konnte man bleiben, so lange man wollte.
Dort hatte man aber nur ein kleines Zimmer. Man war also mehr oder weniger ständig mit den anderen Gästen zusammen. An den Bibliotheken pflegte man also das Leben in der Gemeinschaft. Wer dagegen eine Tätigkeit ausübte, durfte eine Wohnung oder ein ganzes Haus beziehen. Wenn jemand eine Ausbildung zu einer Tätigkeit machte, reiste er auch häufig für eine längere Zeit zu einer zentralen Bibliothek um dort für diese Tätigkeit zu lernen.
Amandrin hatte fast alle Geschichten über die alte Zeit und die Drachenreiter gelesen. Sonst gab es aber nichts, was gerade irgendwie ihr Interesse geweckt hätte. Was sollte sie also dann an einer zentralen Bibliothek? In der Gegend herum zu ziehen, vielleicht sogar noch mühsam zu Fuß, passte ihr aber auch nicht. Ihre Eltern drängten sie aber immer mehr.
Amandrin war wütend. Endlich war diese nervtötende Zeit vorbei, wo sie jeden Tag zu diesem Lehrer musste um irgendwelche Sachen zu lernen, die sie sowieso nicht verstand, und nun sollte sie als Suchende umher ziehen. Reichte es denn nicht, wenn sie ihren Eltern im Garten half? Das machte sie aber nicht gerne und versuchte ständig, sich davor zu drücken. Immer wieder einmal hatten ihre Elten gesagt: „Wenn dir das hier bei uns Elfen nicht passt, dann geh doch zu den Kobolden.”
Nun dachte sie ernsthaft darüber nach, ob sie das tatsächlich machen sollte. Waren die Kobolde wirklich so böse und hinterlistig, wie das immer erzählt wurde? Gut, sie plünderten. Aber schlimmeres taten sie doch nicht. Waren sie nicht vielleicht sogar so etwas wie Helden, so wie in der alten Zeit die Drachenreiter? Amandrin beschloss, sich das Leben der Kobolde wenigstens einmal anzusehen. Wenn sie schon als Suchende herum zog, warum sollte sie nicht auch einmal bei den Kobolden vorbei schauen? So wollte sie es machen, aber den weiten Weg tief in den Wald zu einem Dorf der Kobolde wollte sie nicht zu Fuß gehen.
Also sagte sie zu ihren Eltern: „Gebt mir bitte eins von den Pferden. Dann ziehe ich durch die benachbarten Dörfer und sehe mich nach einer Tätigkeit um, so wie ihr das gerne haben wollt. Zu Fuß gehe ich aber nicht. Das ist mit zu anstrengend. Dann gehe ich euch lieber weiter auf die Nerven.” Die Eltern redeten nun immer wieder auf Amandrin ein und versuchten ihr das mit dem Pferd auszureden. Sie erreichten aber nichts. Eigentlich waren sie aber froh, dass Amandrin wenigstens zu Pferde los ziehen wollte, und willigten schließlich ein.
An einem Morgen packte Amandrin einige Sachen zusammen, verabschiedete sich von ihren Eltern und ritt los. Im Magazin ihres Dorfes nahm sie sich Proviant für mehrere Tage mit. Es ging zunächst flussaufwärts zum nächsten Dorf hin. Aber bereits hinter dem Flugplatz nahm sie einen Weg am Waldrand entlang, der in das Seitental führte, an dessen Ende ihr Dorf lag.
Als sie das Seitental erreichte, ritt sie an dem Bach in diesem Tal entlang in die Trollberge hinein. Es war Sommer. Also war es warm und trocken. Es regnete immer nur kurz, wenn es ein Gewitter gab. Amandrin hatte eine Zeltplane dabei, unter der sie sich bei Gewitter vor dem Regen schützen konnte. Sie hatte sich überlegt: Vielleicht leben die Kobolde ja gar nicht so schlecht; dann könnte ich sogar gleich da bleiben und gar nicht mehr zurück kommen.
Sie war immer noch fasziniert von den Geschichten aus der alten Zeit. Also folgte sie dem Bach bis zu seiner Quelle. Dort streifte sie eine Weile herum, bis sie einen Trampelpfad entdeckte. Das musste einer der Wege sein, die zu einem Dorf der Kobolde führten. Also folgte sie dem Trampelpfad. Es wurde ihr alleine im Wald etwas unheimlich. Überall gab es ungewohnte Geräusche. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf. Das Pferd blieb aber ruhig. Also riss sie sich zusammen und ritt weiter.
Die Sonne stand bereits tief, und im Wald war es schon so dunkel, dass man kaum noch dem Pfad folgen konnte. Amandrin überlegte, ob sie übernachten und am nächsten Morgen weiter reiten sollte. Sie setzte sich erst einmal an einen Baum und aß etwas von ihren Proviant. Aus der Ferne kamen eigenartige Geräusche. Es waren nicht die Tierstimmen, die sie bereits den ganzen Tag von allen Seiten her vernahm. Es klang so, als würde man sich in der Ferne etwas zurufen. Dazwischen polterte oder klapperte es immer wieder.
Plötzlich waren mehrere Äxte beim Holz hacken zu hören. Es konnte also zum Dorf der Kobolde nicht mehr weit sein. Amandrin folgte weiter dem Pfad. Das Klopfen der Äxte wies ihr nun den Weg, wenn sie den Pfad am Boden nicht mehr erkennen konnte. Bald erreichte sie das Dorf. Die Häuser standen um einen großen kreisrunden Platz herum. Sie waren aus Holz und zweigeschossig wie die Häuser der Elfen. Das schwache Licht der Abendsonne spiegelte sich an einigen Stellen in den Wänden. Das mussten Kristallfenster sein.
Amandrin ließ ihr Pferd zurück und schlich sich an das Dorf heran. Zwischen einer Hauswand und einem dichten Gebüsch kroch sie so weit an den Dorfplatz heran, dass sie ihn überblicken konnte. In der Mitte hatte man dort ein Lagerfeuer aufgeschichtet. Daneben stand ein Gestell mit einem Grillrost. Um den Platz herum in der Nähe der Häuser hatte man Tische und Stühle aufgestellt. An einem Haus waren Kisten aufeinander gestapelt. Davor standen auf einem Tisch viele Flaschen. Auf einem weiteren Tisch lag das Fleisch für den Grill.
Die Kobolde liefen herum und trugen alles zusammen, was man für ein Fest benötigte. Sie sahen alle abartig hässlich und schrecklich böse aus. Es war bereits fast dunkel, als man des Feuer anzündete. Dann wurde es plötzlich fast taghell. Große Lampen strahlten nun von allen Seiten auf den Platz. Es waren Lampen der Elfen, mit eingefangenem Sonnenlicht betrieben.
An einer Seite des Platzes fanden sich nun Musiker zusammen. Sie hatten große Trommeln, Trompeten, Fanfaren und Sackpfeifen. Bald trommelte, trötete und näselte alles durcheinander, so als wollte jeder Musiker für sich alleine erst einmal üben. Es war sehr laut und hörte sich schrecklich an. Keiner der Kobolde störte sich aber daran. Amandrin hatte die ganze Zeit große Angst. Sie blieb regungslos unter dem Gebüsch liegen und traute sich kaum zu atmen.
Nach und nach kamen nun die Kobolde auf dem Dorfplatz zusammen. Als das Feuer herunter gebrannt war, begann man das Fleisch zu rösten. Dann wurde gegessen und getrunken. Apfelwein, Honigwein und Brauner Würger flossen dabei in Strömen. Danach begannen die Musiker zu spielen. Nun ging es nicht mehr so durcheinander, es war aber wieder sehr laut und in den Ohren eines Elfen wenig melodisch.
Während man wie wild trommelte und die Trompeten, Fanfaren und Sackpfeifen spielten, führten die Kobolde wilde Tänze auf. Dabei zogen sie immer mehr Kleidungsstücke aus, bis sie schließlich alle nackt waren. Sie brüllten und schrien dabei wild durcheinander. Bei den Elfen wäre so etwas unmöglich gewesen.
Dann rannte eine Koboldfrau mit Krallen und Hörnern dicht an dem Gebüsch vorbei hinter die Häuser. Ein Kobold mit einer hässlichen Fratze, der am ganzen Körper behaart war, rannte hinter ihr her.
Er rief: „warte doch auf mich, du süße kleine Krallenziege.”
Die Frau rief: „krieg mich doch, du Wuschelbärchen.”
Die beiden rannten dann zwischen dem Dorf und dem Wald um die Häuser herum. Als sie einmal fast herum waren, erwischte der Mann die Frau und riss sie auf den Boden. Er stürzte sich auf sie. Dann lag sie breitbeinig auf dem Boden und der Mann ritt regelrecht auf ihr herum. Dabei schrie und stöhnte sie so laut sie konnte. Sie rief immer wieder: „Tiefer Bärchen, tiefer.”
Amandrin hatte sich umgedreht und war auf die Rückseite des Hauses gekrochen. Nun bot das Gebüsch keine Deckung mehr. Die Krallenziege und der Wuschelbär waren aber so mit sich beschäftigt, dass sie die junge Elfe nicht bemerkten. Amandrin war vor Angst und Schrecken erstarrt und regungslos. Sie wagte es gar nicht sich vorzustellen, dass der Wuschelbär auch über sie her fallen könnte.
Eine schöne junge Elfe würde ihn sicherlich noch wilder werden lassen als diese hässliche Frau mit Hörnern und Krallen. Nachdem dieser Ritt immer schneller geworden war und die Frau immer heftiger geschrien und gestöhnt hatte, ließen sich die beiden auf den Boden fallen. Sie blieben eine Zeit lang liegen. Dann sprangen sie lachend und grölend auf und liefen davon. Amandrin erholte sich langsam von ihrem Schrecken. Dann wollte sie nur noch weg.
Sie stand auf und schlich zum Wald hinüber. Am Waldrand stolperte sie fast über zwei Koboldfrauen, die nackt im Unterholz lagen und aneinander herum fummelten. Sie stöhnten dabei genüsslich. Mit ihren Händen machten sie sie sich dabei an Körperteilen zu schaffen, die die Elfen immer bedeckt ließen.
Irgendwie sahen sie dort anders aus, als es Amandrin von ihrem eigenen Körper kannte. Sie hatten dort keine Haare und auch sonst war es irgendwie seltsam. Die Neugier trieb Amandrin dazu, stehen zu bleiben und länger dort hin zu sehen, obwohl sie Angst hatte, dass die beiden Frauen sie entdecken könnten. Die waren aber so mit sich beschäftigt, dass sie von Amandrin keine Notiz nahmen.
Schließlich schlich Amandrin weiter in den Wald zu ihrem Pferd. Nun wollte sie endgültig weg. Es war aber viel zu dunkel um den Pfad wieder zu finden, auf dem sie her gekommen war. Nur eine schmale Mondsichel spendete durch die Bäume hindurch etwas Licht. Das stand in einem starken Kontrast zu dem grell beleuchteten Dorfplatz.
Amandrin entschloss sich also, etwas zu schlafen und am nächsten Morgen den Weg zurück nach hause zu suchen. Zunächst war aber an Schlaf nicht zu denken. Auf dem Dorfplatz gab es ein lautes Geschrei. Dann krachte und schepperte es dort. Offensichtlich gab es eine schreckliche Prügelei.
Einige Zeit später schrie einer der Kobolde: „Schluss jetzt mit eurer blöden Streiterei. Ihr seit ja alle total besoffen. Geht endlich nach hause.”
Dann ging das Licht aus. Es gab ein Gemurmel auf dem Platz und kurze Zeit später wurde es still. Endlich konnte sich Amandrin zur Ruhe begeben. Sie legte sich zusammen mit ihrem Pferd auf den Waldboden und kuschelte sich ganz dicht an das Pferd heran. Kurze Zeit später schlief sie ein.
Als sie aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Das Pferd war schon lange vorher vorsichtig aufgestanden und hatte sie auf dem Waldboden weiter schlafen lassen. Sie schaute sich um. Vor ihr stand nun in einer Rüstung mit Pfeilen, Bogen und Schwert der Wuschelbär und grinste sie an. In seinem Arm hielt er die Krallenziege. Sie trug ein Kleid, das viel zu schön für so eine hässliche Koboldfrau war. Hinter ihm standen die anderen Kobolde aus dem Dorf, Frauen und Männer.
Der Wuschelbär begann zu sprechen: „Was verschafft uns die Ehre für so einen reizenden Besuch? Sei gegrüßt, schöne Elfe. Warum hast du dich denn gestern bei uns nicht vorgestellt? Du hättest mit feiern können. Es gab Röstfleisch, Apfelwein, Honigwein und Braunen Würger - und eine herzerfrischende Prügelei. Jetzt hast du bestimmt Hunger und Durst. - Schade, wir Kobolde hätten alle gerne einmal eine so schöne Elfe in den Armen gehalten”
Die Krallenziege warf dem Wuschelbär einen bösen Blick zu. Amandrin entgegnete: „In den Armen gehalten? Auf mir rum geritten meinst du wohl, damit ich stöhne und schreie. Ich will jetzt nur noch hier weg. Lasst mich bitte gehen.”
Der Wuschelbär schaute Amandrin streng an und sagte: „Geehrte Elfe, wir sind Kobolde und keine wilden Tiere. Wir wären nur dann auf dir herum geritten, wie du es zu nennen pflegst, wenn du es ausdrücklich gewollt hättest. Uns Kobolden macht das jedenfalls unheimlich viel Spaß. Vielleicht solltest du es einfach einmal ausprobieren. - Ich möchte dir vorschlagen, dass du jetzt in unser Dorf kommst und erst einmal ordentlich frühstückst. Dein Pferd könnte auch mal wieder etwas zu sich nehmen. Dann schaust du dir unser Dorf an und sprichst mit uns. - Du bist doch nicht den weiten Weg hier her gekommen um sofort wieder weg zu gehen.- Wenn du aber gehen willst, kannst du natürlich gehen.”
Amandrin zweifelte, ob sie den Kobolden trauen konnte. Sie hatte ja gelernt, dass Kobolde hinterlistig und böse waren. Wie weit wäre sie aber gekommen, wenn sie versucht hätte weg zu laufen? Also stand sie auf und ging mit den Kobolden in das Dorf.
Der Dorfplatz sah immer noch aus wie ein Schlachtfeld. Überall lagen Flaschen und abgenagte Knochen herum. Man war aber dabei alles weg zu räumen. Auf einem Tisch waren geröstetes Fleisch und verschiedene Beeren aus dem Wald angerichtet. Daneben stand ein Becher mit einer dampfenden dunkelbraunen Flüssigkeit. Amandrin setzte sich an den Tisch.
„Was ist das?” fragte sie und zeigte auf den Becher.
Eine Koboldfrau antwortete: „Das machen wir aus gerösteten Eicheln und Buchäckern. Davon werden wir wieder wach, wenn wir zu viel von dem Braunen Würger getrunken haben. Das gehört bei uns zu einem Frühstück immer dazu.”
Amandrin nahm einen Schluck. Es schmeckte streng aber süß, nach Honig. Das heiße Getränk brachte sie tatsächlich in Schwung. Nun griff sie auch bei dem Fleisch und den Beeren zu. In der Zwischenzeit versorgten die Kobolde ihr Pferd.
Das Dorf wirkte auf Amandrin recht trostlos, Es gab keine bunt bemalten Schnitzereien an den Häusern und keine Gärten. Alles war dort einfach und funktionell. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man sich dort wohl fühlen konnte. Und was sie von dem wilden Fest am letzten Abend halten sollte, wusste sie auch nicht.
Sie hatte bei den Elfen von wilden Gelagen der Kobolde gehört, bei denen es angeblich im Vollrausch von dem Braunen Würger jeder mit jedem treiben würde. Es wurde auch erzählt, dass die Kobolde bei einer Verlosung festlegen würden, wer jeweils der Vater war, wenn dann später die Kinder auf die Welt kamen. Zumindest bei dem Wuschelbär und der Krallenziege schien es aber anders zu sein.
Amandrin aß von den Fleisch und den Beeren und leerte den Becher mit dem heißen Getränk. Dabei starrte sie in Gedanken versunken in die Luft.
Ein Kobold fragte sie: „Schöne Elfe, erzähl uns doch bitte, warum du hier her gekommen bist, zu uns hässlichen, bösen und hinterlistigen Kobolden.”
Amandrin antwortete: „Wir Elfen sagen oft zu unseren Kindern: wenn du dich nicht ordentlich benehmen willst, dann geh doch zu den Kobolden. Meine Eltern wollten nicht mehr, dass ich weiter in ihrem Garten mit helfe. Ich sollte mir in einem anderen Dorf eine Beschäftigung suchen. Da habe ich gedacht: das will ich nicht, dann schaue ich mir lieber einmal an, wie die Kobolde leben. Also bin ich hier her geritten. - Aber hier gefällt es mir auch nicht, ich reite wieder zurück.”
Der Kobold entgegnete: „Schade, wir würden uns sehr freuen, wenn du hier bleiben würdest, aber wir halten niemanden gegen seinen Willen hier fest. Also lebe wohl, schöne Elfe, und finde bald, was du suchst.”
Amandrin stand auf und rief: „Also lebt wohl, Kobolde.”
Dann ging sie zu ihrem Pferd, stieg auf und ritt davon. Sie folgte wieder dem Pfad, auf dem sie her gekommen war. Dabei ging ihr einiges durch den Kopf. Irgendwie waren die Kobolde ganz anders, als man es ihr immer erzählt hatte. Die schreckliche Angst am Abend bei dem Fest war wohl völlig unbegründet.
Ihr wurde nun klar, dass es zwischen Mann und Frau bei den Elfen auch nicht wesentlich anders zuging als bei den bei den Kobolden. Nur Elfen redeten über so etwas nicht. Von anderen älteren Kindern hatte sie schon hier und da einiges gehört. Etwas seltsam war nur das, was die beiden Frauen da miteinander gemacht hatten. Konnte es aber vielleicht sein, dass es auch bei den Elfen so etwas gab und man darüber auch nicht redete?
Es gab jedenfalls immer einmal ein Paar zweier Jungen oder Mädchen, die eine sehr enge Freundschaft pflegten. Da musste es mehr geben, als das, was eine normale Freundschaft ausmachte. Amandrin hatte den Eindruck, dass sie an diesem einen Tag bei den Kobolden mehr gelernt hatte, als die ganzen langweiligen Jahre bei ihrem ständig schlecht gelaunten Lehrer.
Da sie ziemlich spät am Tag bei den Kobolden fort geritten war, wurde es bald dunkel. Es war nicht mehr hell genug um den Pfad zu erkennen. Also übernachtete sie erst einmal. Sie legte sich wieder neben ihr Pferd auf den Waldboden und schlief bald ein. Dann ging es recht früh am nächsten Morgen weiter. Amandrin war nun sehr gut gelaunt.
Sie dachte wieder an die alte Zeit mit Kobolden und Drachenreitern. Aus voller Brust sang sie das alte Lied von Scharanthurim dem Drachenzähmer. Es war ein typisches altes Lied mit einfacher Melodie und einfachem Reimschema, das man leicht auswendig lernen konnte. In den Büchern war es, wie die meisten Lieder und Gedichte der Elfen, in Runen-Kurzschrift verfasst. Der Name Scharanthurim bedeutet Mut eines Bären (Scharan = Mut, Thur = Bär). Also sang sie in der Sprache der Elfen:
Mit Kraft und Mut ritt er hinfort
weit weg zu einem Drachenort.
Den Drachen wollte er bezwingen,
sein Ei dann mit nach hause bringen,
ein braves Tier daraus zu machen,
das Koboldland dann zu bewachen.
Scharanthurim, so hieß der Reiter
trotz Grauen ritt er immer weiter.
Er hatte nur Axt, Schwert und Speer,
den Drachen töten, das war schwer.
Nun hoffte er auf großes Glück,
nur mit dem Ei wollt' er zurück.
Ins Drachenherz den Speer zu bringen,
welch' große Tat sollt' ihm gelingen?
Er sah sich in der größten Not,
traf nicht der Speer, so war er tot.
Doch siegte er mit List und Kraft,
und hat das Ei nach haus' geschafft.
Ein kleiner Drache wuchs heran,
und eine gute Zeit brach an.
Kein Drache flog mehr über's Land,
kein Kobold so sein Ende fand.
Scharanthurim wurd' Drachenreiter,
sein Ehr' und Ruhm erzählt man weiter.
Das Seitental führte Richtung Westen und wurde immer schmaler. Nicht weit vom Bach ragten dicht bewaldete steile Hänge nach oben. Bald erreichte Amandrin eine Weggabelung. Nach Norden führte dort ein Weg zu einem Wasserfall. Das Rauschen des Wasserfalles war in der Ferne zu hören. Nun waren es nur noch etwa zwei Stunden Fußmarsch bis zu ihrem Dorf.
Selten vorher hatte Amandrin einen so starken Drang verspürt, wieder nach Hause zu kommen. Sie trieb ihr Pferd ein wenig an, damit es schneller laufen sollte. Das Pferd hatte es aber nicht eilig. Als sich das Tal wieder erweiterte, roch es plötzlich irgendwie nach Rauch.
Es war nicht mehr weit zum Dorf. Durch den dichten Wald in dem Seitental war aber von dem Dorf noch nichts zu sehen. Aber wer machte da mitten am Tag im Hochsommer Feuer? Wenn man Fleisch röstete, machte man das abends und nicht tagsüber in der Mittagshitze. Dann hörte sie vom Tal des Breiten Flusses her lautes Geschrei und galoppierende Pferdehufe. Was hatte das nun zu bedeuten?
Das Geschrei und das Getrappel der Hufe wurden immer lauter. Eine Große Schar Reiter kam offensichtlich das Seitental herauf gestürmt. Amandrin ließ ihr Pferd zurück und näherte sich dem Dorf zu Fuß. Dabei suchte sie Deckung in dem dichten Wald. Bald erreichte sie die Weiden für das Vieh, die es überall um das Dorf herum gab. Nun sah sie auch die ersten Häuser.
An verschiedenen Stellen im Dorf steig dichter Rauch auf. Am Waldrand blieb sie nun in der Deckung und wartete ab. Aus dem Dorf kam nun ein gewaltige Schar Krieger der Menschen in voller Rüstung mit Speeren und Schwertern in vollem Galopp an geritten. Als die Krieger auf sie zu kamen, bekam Amandrin schreckliche Angst, dass sie über sie hinweg reiten könnten. Zum weg Laufen war es aber zu spät. Also suchte sie nur dichtes Unterholz hinter einem besonders alten Baum, in dem sie sich verstecken konnte.
Als sie einen passenden Platz entdeckt hatte, wollte sie die Reiter noch so lange wie möglich beobachten und dann ganz schnell in das Unterholz kriechen. Sie hoffte, dass die Reiter dann einfach an ihr vorbei galoppieren würden. Die Reiter folgten zuerst dem Seitental, verschwanden aber dann zwischen den Bäumen am nördlichen Rand des Tales in die Berge hinein. Als sie im Wald verschwunden waren, atmete Amandrin erst einmal auf.
Nun hörte sie vom Dorf her wieder galoppierende Hufe. Das Getrappel war aber jetzt schneller und irgendwie intensiver. Es waren also keine großen Pferde, wie es sie bei den Elfen und Menschen gab, sondern Zwergenponys. Dann kam eine große Schar Krieger der Zwerge an geritten, ebenfalls in voller Rüstung mit Schwertern, Äxten und Speeren. Da keine Krieger der Menschen mehr zu sehen waren, hielten sie am Waldrand an und riefen sich gegenseitig etwas zu. Sie hatten nicht beobachten können, wo die Menschen hin geritten waren. Nun suchten sie den Waldrand nach Spuren ab.
Also würden sie auch bald auf Amandrin stoßen. Was sollte sie also tun? Sollte sie sich vor den Zwergen verstecken? Was war überhaupt vorgefallen? Dann sah sie zwischen den Zwergenponys einige große Pferde, auf denen Elfen saßen, die keine Rüstung trugen und nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren. Es waren Elfen aus ihren Dorf.
Also nahm Amandrin allen Mut zusammen und kam aus dem Wald hervor. Dabei rief sie laut: „Tut mir nichts, Zwerge, ich bin nur ein Elfenmädchen. Ich bin alleine. Bei mir ist nur mein Pferd.”
Die Zwerge sahen erstaunt zu ihr herüber. Dann ritt einer der Elfen auf sie zu. Es war Thurian, der mit seiner Frau und seinem Sohn nicht weit vom Haus ihrer Eltern wohnte.
Er fragte erstaunt: „Amandrin? wo kommst du denn jetzt her?”
Amandrin rief nur: „Was ist passiert? Was haben die Menschen hier gemacht?”
Thurian machte ein sehr ernstes Gesicht. Dann sagte er: „Ja Amandrin, heute haben die Menschen früh am Morgen unser Dorf überfallen. Sie sind von Norden her über die Trollberge gekommen. Damit hat keiner gerechnet. Wer Pfeil und Bogen hatte, hat sich entweder im Haus verschanzt oder ist in den Wald geflüchtet um von dort aus die Menschen zu bekämpfen. Die Menschen haben dann Branntpfeile auf die Häuser geschossen, aus denen ihnen Pfeile entgegen kamen. Wer es nicht geschafft hat, das Feuer immer wieder zu löschen, dem ist sein Haus abgebrannt. Ich war mit einigen anderen im Wald. Wir haben einen von uns los geschickt, damit er die Zwerge zur Hilfe holt. Ohne Rüstung und Schilde konnten wir nur mit Pfeil und Bogen, Messern und Äxten nicht viel ausrichten. Die Zwerge sind dann bis zum frühen Nachmittag von ihren Posten am Verteidigungswall nach und nach eingetroffen. Dann haben sie die Menschen angegriffen und vertrieben. Wir müssen sie jetzt noch im Wald weiter verfolgen, damit wir sicher sein können, dass sie nicht wieder zurück kommen.”
Amandrin rief: „Ich habe gesehen, wo sie in den Wald geritten sind. Da drüben.” Sie zeigte dort hin, wo die Krieger im Wald verschwunden waren.
Thurian entgegnete: „Die Zwerge haben ihre Spuren schon entdeckt. Die sind jetzt hinter ihnen her. Die Zwerge sind erfahrene Krieger. - Ich hoffe nur, meine Frau und mein Sohn haben sich in Sicherheit bringen können. Sie waren zu hause. Ich hatte Dienst auf dem Flugplatz.”
Inzwischen waren auch die anderen Elfen zu Thurian und Amandrin gekommen. Ein Zwerg rief in einer holprigen Elfensprache: „Geht zurück zu eurem Dorf, Elfen. Helft dort den anderen. Das mit den Angreifern erledigen wir jetzt. Im Wald werden die uns nicht angreifen. Da sind wir Zwerge die besseren Krieger. Die Menschen wissen das. Die können ja nur mit lautem Gebrüll auf andere los stürmen. Das geht im Wald nicht. Da braucht man List und Strategie.”
Inzwischen war auch Amandrins Pferd aus dem Wald gekommen. Also stieg Amandrin auf und ritt mit den Elfen in Richtung Dorf. Dort bot sich ein schreckliches Bild. Viele Häuser waren fast vollständig abgebrannt. Aus allen Richtungen wurden Pferde oder Esel zum Dorfplatz geführt, die mit Säcken beladen waren. In der Säcken waren die bei dem Angriff getöteten Elfen.
Überall lagen lederne Schläuche auf den Wegen. Durch sie wurde Wasser aus dem Breiten Fluss ins Dorf gepumpt. Damit wurden alle Häuser nass gemacht, die die Menschen nicht in Brand gesetzt hatten. Was brannte, das ließ man einfach brennen. Zum Löschen der vielen Brände hätten die Schläuche und Pumpen nicht ausgereicht. Also sorgte man dafür, dass die anderen durch den heißen Sommer ausgetrockneten Häuser nicht auch noch Feuer fingen.
Als Amandrin zu ihrem Haus kam, stand die Haustür offen. Innen war alles durchsucht worden. Die gesamte Einrichtung lag wild durcheinander geworfen am Boden herum. Es war aber niemand im Haus. Wahrscheinlich waren ihre Elten bereits im Garten, als die Menschen angriffen.
In Thurians Haus sah es genau so aus. Offensichtlich hatte sich in beiden Häusern niemand verschanzt. Sonst wären auch sie fast vollständig abgebrannt, wie viele andere Häuser im Dorf. Amandrin und Thurian gingen zu Fuß zum Dorfplatz. Ihre Pferde ließen sie einfach auf der Wiese vor dem Haus zurück.
Auf dem Dorfplatz wurden die Säcke von den Pferden und Eseln abgeladen und die Toten wurden in mehreren Reihen nebeneinander auf den Boden gelegt. Man ließ die Gesichter unbedeckt, damit jeder die Reihen entlang gehen und die Toten identifizieren konnte.
Amandrin stand nun am Rand des Dorfplatzes und starrte zum Breiten Fluss hin. Dort standen viele Männer an den Pumpen und bewegten die großen Hebel mit aller Kraft auf und ab. Jeder pumpte so lange, bis er nicht mehr konnte. Dann löste ihn jemand ab, der bereits an der Pumpe bereit stand. Amandrin hätte am liebsten mit gepumpt. Als junges Mädchen hatte sie aber nicht genug Kraft dafür. Man hätte sie also nicht an eine Pumpe heran gelassen.
Sie stand also einfach nur da und wartete. Sie hoffte, dass ihr Vater oder ihre Mutter sie bald in die Arme nehmen würde. Aber nichts geschah. Alle Elfen, die zum Dorfplatz kamen, liefen nur stumm zwischen den Reihen der Toten hindurch und gingen dann genau so stumm wieder weg. Amandrin konnte sich nicht dazu durchringen, ebenfalls die Reihen entlang zu gehen.
Nach scheinbar unendlich langer Zeit kam Thurian und ergriff Amandrins Hand. Er sagte leise: „komm, bring es endlich hinter dich. Dann ist die Ungewissheit vorbei. Dann geht es dir etwas besser, auch wenn es so ist, wie bei mir. Meine Frau und mein Sohn liegen da, mit Schwertern erstochen. Aber ich weiß es jetzt. Also komm.”
Widerwillig folgte sie Thurian durch die Reihen. Die meisten Gesichter der Toten kannte sie. Es waren Dorfbewohner, die sie alle gelegentlich oder auch häufiger gesehen hatte. Dann war es wie ein Schock. Da lag ihre Mutter. Sie sah aus als ob sie schlafen würde.
Thurian schlug die Decke beiseite, in die man die Tote gehüllt hatte. Ihre Brust war voller Blut und ein abgebrochener Pfeil schaute heraus. Amandrin weinte bitterlich. Sie gingen weiter die Reihen entlang bis sie alle Toten gesehen hatten. Amandrins Vater war nicht dabei. Es gab aber einen Toten, dessen Gesicht man zu gedeckt gelassen hatte.
Thurian sagte: „Amandrin, den einen noch. Hoffentlich ist es nicht dein Vater. Aber wenn er es ist, dann weißt du es wenigstens. Bringen wir es also hinter uns. Komm.”
Er musste Amandrin regelrecht zu dem Toten hin zerren. Sie ahnte sicherlich schon, was sie zu sehen bekommen würde. Thurian schlug die Decke über dem Toten beiseite. Es kam ein Kopf zum Vorschein, den man mit einer Axt in zwei Teile gespaltet hatte. Dieser Anblick wäre selbst für einen Metzger schrecklich gewesen, der häufig ganze Schweine in zwei Teile zerlegt. Wie muss es dann aber sein, wenn man an diesem Kopf das Gesicht seines Vaters erkennt?
Amandrin sackte in sich zusammen. Dabei schrie sie mehrere Minuten lang ununterbrochen. Dann stand sie auf und ging mit Thurian wortlos weg.
Am Rand des Dorfplatzes drehte sie sich dann um und brüllte mit einer gespenstisch drohenden Stimme: „Diese verfluchten Menschen werde ich ausrotten. Alle. Das schwöre ich. Ein Drache soll sie in Stücke reißen.”
Thurian zog Amandrin vom Dorfplatz weg. Nun weinte sie nur noch bitterlich.
Thurian ging nun mit Amandrin in Richtung Flugplatz. Dabei sagte er leise: „Als Suchender bin ich einmal hier her gekommen. Eine Aufgabe habe ich hier nicht gefunden, aber dafür die Frau meines Lebens. Als Starthelfer die Seile einsammeln und dann an den Elfenflügeln einhängen ist bestimmt keine Aufgabe für das Leben. Aber die haben hier auf den Flugplatz einen Starthelfer gebraucht und da habe ich das eben gemacht. Meine Frau und mein Sohn waren mir wichtig. Na ja, schlecht war das auf dem Flugplatz ja nicht. Aber jetzt? Wenn man da mit dem Seil herum läuft oder reitet, hat man ja unendlich viel Zeit zum nachdenken. Wenn man da an seine Frau und sein Kind denken kann, die zu hause auf einen warten, ist das eine sehr schöne Sache. Woran soll ich aber jetzt denken, wenn ich hier als Starthelfer arbeite? - Ich werde also weg gehen, so schnell wie möglich. Sobald hier wieder ein Elfenflügel startet, sitze ich da drin - egal wo der hin fliegt.” Amandrin schaute Thurian nur wortlos an.
Auf dem Flugplatz hatten die Menschen einigen Schaden angerichtet. Überall hatten sie Kupferdrähte heraus gerissen. Dabei waren die Drähte aneinander geraten und hatten am mehreren Stellen die Wände verschmort. Zum Glück war dabei nichts in Brand geraten. Einige Lichttöpfe waren dabei wahrscheinlich beschädigt worden. An einem Elfenflügel war überall die Bespannung aufgeschlitzt und abgerissen. Man hatte wohl herausfinden wollen, wie die Flügel in ihrem Inneren aufgebaut waren. An den Winden fehlten einige Teile oder waren abgebrochen.
Die Elfen waren nun dabei, den Umfang des Schadens festzustellen. Gleichzeitig überprüften sie die Lichttöpfe und brachten die Kupferdrähte wieder in Ordnung. Durch die Kurzschlüsse, bei denen die Wände verschmort worden waren, war ein großer Teil der Lichttöpfe zumindest entladen. Einige konnten aber auch komplett durchgebrannt sein. An ihnen musste man die Drähte abklemmen.
Man wollte die Anlage für das eingefangene Sonnenlicht so schnell wie möglich wieder in Betrieb setzen, damit die Lichttöpfe mit der Abendsonne wieder so weit wie möglich aufgeladen wurden. Am nächsten Vormittag sollten die ersten Elfenflügel starten. Die beschädigten Winden sollten in der Nacht repariert werden.
Um den aufgeschlitzten Elfenflügel wieder abflugbereit zu machen, benötigte man mehrere Tage. Es standen aber noch vier unbeschädigte Elfenflügel in den Hallen. Um andere Schäden wie zerbrochene Fensterkristalle oder ähnliches wollte man sich später kümmern.
Nachdem Thurian mit seinen Kollegen auf dem Flugplatz gesprochen hatte, sagte er zu Amandrin: „Ich gehe jetzt nach hause und packe dort meine persönlichen Sachen zusammen. Zwei große Taschen voll, soviel ich eben tragen kann. In der Nacht versuche ich dann, etwas zu schlafen. Morgen früh gehe ich wieder zum Flugplatz. In dem ersten Elfenflügel, der morgen startet, sitze ich dann drin. Bei der Verbrennung der Toten will ich nicht dabei sein. Das nützt meiner Frau und meinem Sohn jetzt nichts mehr. - Ich schlage dir vor, dass du mit mir mit kommst. Du solltest in das Haus deiner Eltern gehen und auch deine persönlichen Sachen zusammen packen. Was willst du noch hier? Den Garten deiner Eltern weiter pflegen? Ich weiß, dass du das nicht gerne machst. Steig mit mir in den Elfenflügel. Wenn du doch noch den Garten pflegen willst, kannst du ja wieder zurück kommen. Bitte einfach darum, dass man dein Haus und den Garten erst dann an andere übergibt, wenn eine gewisse Zeit, also drei oder vier Mondumläufe, vergangen ist. Dann hast du ein wenig Zeit zum Nachdenken. Das ist zwar nicht viel, aber länger wird man kaum mit dem Haus und dem Garten warten wollen. - Wenn du deine Sachen zusammen gepackt hast, kommst du zu mir. Dann gehen wir noch einmal auf den Dorfplatz und nehmen Abschied von unseren Angehörigen. Danach können wir in meinem Haus miteinander reden, wenn wir nicht schlafen können.”
Wortlos begleitete Amandrin nun Thurian auf seinem Weg nach hause. Als sie an seinem Haus ankamen, sagte sie: „Thurian, was soll ich denn nun alles einpacken? Am liebsten würde ich alle meine Bücher über die alte Zeit der Drachenreiter mit nehmen. Dafür brauche ich aber zwei Pferde um sie zum Flugplatz zu bringen.”
Thurian entgegnete: „Die Bücher packst du in Säcke oder Kisten. Dann bringen wir die morgen früh mit unseren beiden Pferden zum Flugplatz. Dort lassen wir sie einlagern. Wenn du später einen Ort gefunden hast, wo du leben willst, schickst du einfach einen Brief und lässt dir die Bücher schicken. Morgen nimmst du nur eine Tasche mit den wichtigsten persönlichen Sachen mit. Der Pilot wird bestimmt über meine beiden Taschen nicht erfreut sein. Ich will aber hier nichts einlagern. Ich habe genug für diesen Flugplatz getan. Da sollen die sich wegen des Gewichts einer zweiten Tasche nicht anstellen. Ich möchte das Kapitel mit diesem Dorf morgen für mich abschließen.”
Nun gingen beide in ihre Häuser und suchten ihre persönlichen Sachen zusammen. Amandrin packte zuerst die Bücher in einige Kisten, die ihre Eltern zum transportieren von Obst und Gemüse verwendet hatten. Diese Kisten hatten praktische Riemen, mit denen man sie bequem auf einem Pferd oder Esel verladen konnte. Beim packen ihrer Tasche musste Amandrin ständig an die Zeit denken, die sie mit ihren Eltern zusammen war. Wie würde sie den täglichen Ärger nun vermissen, den es wegen der Lernerei und dem Helfen im Garten gegeben hatte?
Nachdem sie alles zusammen gepackt hatte, ging Amandrin zu Thurians Haus hinüber. Er saß traurig auf einer Bank vor dem Haus und ließ die letzten Strahlen der Abendsonne auf sich scheinen. Als Amandrin ankam, gingen die beiden noch einmal auf den Dorfplatz. Dort hatte man schon die Lampen eingeschaltet. Still gingen sie dann durch die Reihen und nahmen Abschied von den Toten.
Als sie zum Haus zurück kehrten, gingen sie hinein und Thurian machte Licht. Im Zimmer seines Sohnes richtete er das Bett für Amandrin her. Dann saßen beide noch lange einfach so
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2017
ISBN: 978-3-7438-1043-3
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