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Einleitung

Wie findet man heraus ob man verliebt ist? Ja klar, es gibt tausende Bücher, Tests und so weiter über diese Frage, aber in wahren Leben ist doch immer alles anders.
Oh! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heisse Jackie. Eigentlich bin ich ein ganz normaler Teenager. Jedenfalls in meiner Umgebung werde ich als solchen wahrgenommen. Nein, nicht dass ihr jetzt denkt, ich wäre ein Vampir oder sonst irgend eine Märchengestalt. Aber ich fühle ich mich nunmal nicht normal. Warum? Solche Probleme, wie ich sie habe hat wohl kein anderer. Besonders in Sache Liebe habe ich noch so einiges, mit dem ich nicht ganz klar komme. Bei allen ist es entweder Liebe oder keine Liebe. Und bei mir ist es bloss ein Durcheinander. Ein Wirrwarr an Gefühlen.
In der Schule bin ich eigentlich ziemlich gut. Bitte haltet mich jetzt nicht für eine Angeberin.
Also, zurück zum Thema. Warum muss Liebe so unendlich kompliziert sein? Hat man denn nicht schon genug Stress im restlichen Leben? Es wäre doch viel einfacher, man könnte bloss ein Buch lesen und wüsste alles über seine Gefühle und über sich. Ja, wie schon gesagt: Es gibt ja solche Bücher, aber jeder Mensch ist anders. Und diese Bücher die ich bisher gelesen hab haben wir wirklich nicht viel geholfen. Schmetterlinge im Bauch: Wie soll denn das gehen?
Okay, das sind genug Fragen für den Moment. Am besten erzähle ich euch meine Geschichte mal von Anfang an. Das heisst ich beginne da, als ich noch in der 6. Klasse war.
Ja, ja, ich fange ja schon an!

Unsere Klasse war immer sehr, sagen wir mal "schwierig". Wir (und damit meine ich nicht mich!) haben die Lehrer in den Wahnsinn getrieben, getrunken, geraucht, geschnupft. Ich war so was wie das Mauerblümchen. Ich habe nie mitgemacht. Ständig wurde ich gehänselt, wenn nicht gar gemobbt. Auch etliche Klassensitzungen, Besprechungen mit den Lehrern haben da nicht geholfen. Es gab bloss eine Person, die immer zu mir gehalten hat: Mein Sandkastenfreund Timo. Er selbst wurde auch gehänselt und wusste genau, wie ich mich fühlte. Aber er weinte oft. Also war er auch keine Hilfe für mich. Ich musste es allein durchstehen.
Als wir dann in die 7. Klasse kamen, wurde unsere Klasse aufgeteilt. Ich war so froh. Nicht mehr als drei Schüler kamen in dieselbe Klasse. Dafür hatte unsere Lehrerin gesorgt. Timo, David und ich bestanden am Gymnasium. David war immer beliebt, hübsch und gut in der Schule. Ein Wunderknabe!

Zum Glück hatte ich Timo bei mir. Ich hatte ziemliche Angst vor unserem 1. Schultag an der neuen Schule. Schliesslich wollte ich mich weder blamieren, noch wollte ich erneut zur Aussenseiterin werden. Ziemlich bald fand ich Freunde: Elisa und Melissa. Jetzt könnte ich euch noch vieles über die Schule erzählen, aber ich glaube kaum, dass das euch interessieren wird.
Ich weiss nicht wie es dazu kam, aber als es Winter wurde liefen Timo und ich gemeinsam zur Schule und hielten Händchen. Manchmal umarmte er mich auch. Wir sprachen nie darüber.

So, das war's. Ich frage mich, wie es jetzt wohl weitergeht. Nur freundschaftlich konnte das ja wohl kaum gemeint sein. Ich bin jedoch nicht sicher ob ich ihn wirklich liebe. Denn das ändert sich täglich.

Für morgen habe ich mich mit Elisa und Melissa zum Schwimmen verabredet. Bisher habe ich mit niemandem über mein Geheimnis mit Timo gesprochen. Ich denke, ich werde es ihnen morgen erzählen. Sonst platze ich.


Kapitel 1

Der Zug rollt in den Bahnhof ein. Elisa steht schon am Bahnsteig und wartet auf mich. Melissa will direkt zum Schwimmbad kommen. Unsere Begrüssung beschränkt sich auf ein "Hi". Das ist aber normal bei uns. Wir umarmen uns selten und auch von Küsschen halten wir nichts. Zwei Mädchen aus unserer Klasse tun das. Nicht, dass ich dass schlimm finden würde. Es ist nur, sie tun es extrem. Sie spielten sogar, (in der 7. Klasse!) dass sie heiraten. Manchmal fragen wir uns echt, ob sie nicht lesbisch sind.
Ich steige aus dem Zug aus, genauer gesagt, stolpere ich aus dem Zug. Noch was das ihr über mich wissen solltet: Ich blamiere mich oft.
Gemeinsam schlendern wir Richtung Schwimmbad, wo auch schon Mel steht. Während wir uns umziehen schwatzen wir kaum. Das ist immer so bei uns. Erst mit der Zeit beginnen wir zu erzählen. Dann kann uns jedoch nichts mehr stoppen.
Wir haben keine Lust auf Wasserrutschen. Dieses ewige Anstehen in der Kälte. Also schwimmen wir raus ins Freiluftbecken. (An der Klappe, die verhindert, dass die kalte Luft reinkommt stosse ich mir den Kopf: Mal wieder typisch.)
Wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen, unter einem Felsen, wo wir ungestört plaudern können. Elisa erzählt von Andrea. Andrea ist ein blonder Junge aus unserer Klasse. Erstaunlich aber wahr; er wird wegen seines Namens kaum gehänselt. Elisa ist verliebt in ihn. Seit er uns allen (das heisst, der ganzen Klasse) per sms schöne Ferien gewünscht hat, schreiben sie sich ständig. Ihr bisheriger Rekord liegt bei 36 sms am Tag. Die beiden wären wirklich ein süsses Paar!

Mir brennt mein Geheimnis auf der Zunge, aber jetzt kann ich es nicht erzählen. Ich muss auf einen geeigneten Augenblick warten.
Langsam muss ich auf die Toilette. (Noch eine Macke von mir. Ich muss sehr oft auf's Klo. Besonders wenn ich aufgeregt bin.) Also sage ich zu meinen Freundinnen: "Wenn ihr auf mich wartet, erzähle ich euch ein Geheimnis.", und schon bin ich weg.
Mist! Das hätte ich nicht tun sollen. Jetzt muss ich es ihnen erzählen. Auch wenn ich das ja wollte; nun habe ich doch etwas Bammel. Bestimmt werden sie mich auslachen. Schliesslich haben Timo und ich immer abgestritten, dass wir etwas miteinander haben. Das was da zwischen uns geschehen war, ist ja auch noch nicht lange her. Aber ich muss es tun. Kaum bin ich draussen, prasseln die Fragen wie kalter Regen auf mich ein: "Und? Was ist jetzt dein Geheimnis?" Ich versuche ihnen nicht in die Augen zu schauen. "Ich weiss nicht, ob ich mit T gehen soll." Jetzt ist es draussen. Ohne darüber nachzudenken was ich tue, tauche ich meinen Kopf schnell nach hinten ins warme Wasser. Das muss bestimmt total bescheuert aussehen und ich versperre allen Leuten der Weg, aber ich will nichts mehr hören, geschweige denn sehen. Eli zieht mich am Arm wieder hoch. Ja klar, sie hat noch immer keine Ahnung, was ich genau sagen will. Ich weiss nicht ob ich mit T gehen soll. Mit T! Das ist so dumm, ich spreche wie ein kleines Kind. "Ich weiss nicht, ob ich mit Timo gehen soll.", wiederhole ich mein Geständnis, wenn man dem so sagen kann. Meine zwei Freundinnen sind ganz still und gucken mich komisch an. Nur um gleich darauf loszuquietschen: "Wie süüüüüüüss", und, "wir haben es doch gewusst!". Am liebsten würde ich im Boden versinken.

Wir sprechen noch eine Weile über jenes Thema. Und schliesslich kann ich meine Freundinnen dazu überreden, es nicht weiter zu erzählen. Da uns allmählich der Gesprächsstoff ausgeht, testen wir nun doch noch alle möglichen Wasserrutschen.
Circa um neun Uhr, verlassen wir das Schwimmbad. Draussen erwartet uns schon Elisas Mutter. Ach ja, das habe ich noch gar nicht erzählt: Wir drei wohnen etwas weit von einander entfernt, also übernachten wir alle bei Eli.

Wir sind schon im Pijama und eigentlich bin ich sehr müde. Und doch sprechen wir noch lange über Jungs. Ich habe mich entschlossen, abzuwarten, was aus mir und Timo wird. Denn irgendwie mag ich ihn schon sehr. Ach, ständig dieser Wechsel der Gefühle! Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Ich bin jetzt müde. Sollen die andern bloss weiterquatschen. Ich, für meinen Teil, werde jetzt schlafen.

Am nächsten Morgen ist das Thema von gestern vergessen. WIr alle verhalten uns total normal. Und in zehn Minuten geht auch schon mein Zug. Schnell stopfe ich meine Kleider in meine Tasche und schwinge mich, zusammen mit Melissa und Elisa ins Auto ihrer Mutter. Im Zug denke ich nochmals ruhig über alles Geschehene nach. Ich denke, ich liebe Timo. Alles Weitere wird sich im Laufe der Zeit von alleine regeln.


Kapitel 2

Die Schule hat wieder begonnen und alles ist noch genauso wie zuvor. Noch immer hält Timo jeden Morgen meine Hand. Wir haben uns für morgen Nachmittag zum Latein lernen verabredet. Mann, bin ich vielleicht aufgeregt. Jaja, es sind bloss Vokabeln, aber irgendwie habe ich so das Gefühl, dass wir nicht viel lernen werden.
Abends im Bett gehe ich alle Möglichkeiten, wie das morgige Treffen wohl aussehen könnte, nochmals im Kopf durch:

1. Er wird nichts Aussergewöhnliches tun. Wir werden brav lernen, mehr nicht.
2. Wir werden uns die ganze Zeit händchenhaltend Vokabeln abfragen.
3. Er will mich gar nicht sehen und sagt das Treffen kurzfristig ab.
4. Ich getraue mich nicht ihn zu treffen und sage selbst das Treffen wieder ab.
5. Wir werden uns endlich unsere Liebe gestehen, dann wird er mich in den Arm nehmen und mir zärtlich einen...

Uiuiuiuiui! So weit sollte ich vielleicht doch nicht denken. Wir sind hier doch nicht im Film! Ich werde jetzt besser mal schlafen. Sonst erschrickt er morgen, wenn ich mit riesigen, schwarzen Augenringen vor ihm aufkreuze.


Kapitel 3

Was soll ich bloss anziehen? Timo steht ja nicht auf solch "extrem geschminkte Tussen", wie er es zu sagen pflegt. Aber hübsch aussehen sollte ich vielleicht trotzdem. Meine Mutter wundert sich über mein Verhalten, denn selbstverständlich habe ich ihr noch nichts gesagt. Über so etwas kann ich einfach nicht mit ihr sprechen. Schliesslich entscheide ich mich für meinen flauschigen, weissen Pulli und eine Jeans. Total normal.
Kaum habe ich bei ihm geklingelt, geht die Tür auf. Bestimmt hat er dahinter schon auf mich gewartet. Ziemlich schnell kommt er zur Sache. "Gehen wir auf mein Zimmer?", und schon sitzen wir auf seinem Bett. Wir erreichen gerade mal Kapitel 2, da legen wir die Bücher zur Seite und kuscheln uns stattdessen in die hinterste Ecke seines Betts. Irgendeine innere Stimme sagt mir, ich solle meinen Kaugummi schnell verschwinden lassen. Jetzt klebt er auf den Karteikärtchen in meiner Hosentasche.
Timo streichelt mich, das heisst, genauer gesagt streichelt er meinen Pulli. Es kribbelt überall in meinem Körper. Und, da ich mich ja auch im ungeeignetsten Moment blamieren kann, sage ich: "Schön flauschig, was?" Er ist genädig und nickt nur lächelnd mit dem Kopf. Langsam wandert seine Hand unter meinen Pulli. Sie streichelt immer weiter. Dann kommt sie wieder hervor und eine Stimme sagt, wie durch einen Nebel, zu mir: "Sollen wir ein Spiel spielen?", so als wäre nichts geschehen. Ich kann nur nicken.

Wir sitzen auf seinem Bett und spielen Blackstories. Ich auf der Bettkannte und er lehnt sich hinten an die Wand. Sein Fuss spielt mit meinem Pulli, dort, zwischen Po und Rücken. Ich kann mich kaum auf das Spiel konzentrieren. Er macht mich nervös.
Plötzlich fallen mir Szenen aus der 6. Klasse wieder ein. Als er, zwei andere Mädchen aus unserer Klasse und ich abgemacht hatten. Zu der einen sagte er, ihre Brüste seien geil, zur zweiten, sie hätte eine tolle Figur und zu mir, ich sei süss. Obwohl wir alle langsam eine geile Figur bekämen.
Und da war noch ein anderes Mal. Nur wir beide, Timo und ich hatten uns getroffen. Wir sassen auf der Hängematte in meinem Garten, da meinte er, er würde gerne unter die Hängematte auf der ich lag, liegen. Dann könne er meinen "geilen Arsch" sehen. Ja, ich weiss, seine Ausdrucksweise ist nicht sehr gewählt.

"Hallo? Jackie? Du bist dran!" "Äh ja", stammle ich und frage ihn über das nächste Verbrechen aus. Mann, dieser Junge macht mich noch wahnsinnig!
Um halb sechs muss ich dann gehen. Er begleitet mich noch nach unten. Schnell will ich meine Jacke aus der engen Garderobe holen. Ich habe sie schon in der Hand und drehe mich um, da steht er vor mir. Als wolle er mir den Weg versperren. Naja, vielleicht will er das ja auch. Und dann passiert es. Er beugt sich zu mir runter (Ich bin nämlich ein ziemliches Stück kleiner als er.) und seine Lippen treffen auf meine. Mein Körper durchfährt ein Blitzt. Wir küssen uns. Lange. Nachher quetsche ich mich an ihm vorbei, unfähig etwas zu sagen. Schnell ziehe ich meine Schuhe an, schaue etwas verstört in seine Augen und renne zu mir nach hause. In meinem Zimmer angekommen zittere ich noch immer. Ich weiss nicht genau wieso, aber schnell krame ich mein Handy hervor und schreibe meiner Freundin eine sms: "geküsst!"


Kapitel 4

Ich bin nicht sicher. Nach diesem Kuss bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich ihn liebe. Ich kann nicht sagen, dass es grässlich war. Aber es hat sich nicht richtig angefühlt. War ich so verzweifelt, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass ich ihn nicht liebe? Wollte ich bloss einen Freund und habe gar nicht gemerkt, auf was ich mich da einlasse? Er war immer so nett zu mir. Aber jetzt wo diese Freundschaft über ein normales Verhältnis hinaus geht, hat er sich verändert. Er ist nicht mehr der lustige Typ, den ich so mochte. Er ist das Tier, das sein Weibchen verteidigen muss. Es ist keine Liebe mehr da. Jedenfalls fühlt es sich so an. Es ist nur noch Macht. Er will mich besitzen.

Doch ich bin nicht die einzige, die Probleme hat. Seit die Winterferien vorbei sind, hat Andrea kein einziges sms an Elisa verschickt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schlimm das für sie ist. Na, eigentlich kann ich das ja auch nicht. Aber ich versuche es und ich glaube, dass sie sehr traurig ist. Ist sie auch. Und wütend. Und enttäuscht. Wer wäre das denn nicht? Wir alle vermuten, dass er ihr nur aus Langeweile geschrieben hat. Auch wenn wir ihr sagen, dass sie ihn vergessen soll, geht er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Heute Morgen kam sie mit einem dreiseitigen Brief zur Schule. In ihm hat sie all ihre Gefühle aufgeschrieben. Wir müssen schon fast wieder lachen.

Ich habe mich nochmals mit ihm verabredet. Also, ich meine natürlich Timo. Samstagnachmittag. Ich will es jetzt herausfinden. Habe ich mich in ihm getäuscht, oder war das bloss eine Schockreaktion?

Wir sitzen auf seinem Bett. Genau wie letztes Mal. In der gleichen Ecke. Nur, dass wir uns dieses Mal küssen. Ich stosse ihn sanft von mir weg. Jetzt bin ich ganz sicher. Ich liebe ihn nicht. Aber das kann ich ihm nicht sagen. Ich kenne ihn seit dem Kindergarten. Ich will ihn nicht verlieren. Er will mich weiter festhalten, doch das lasse ich nicht zu. Ich frage ihn, ob wir nach unten gehen sollten, Wii spielen. Er hat nichts dagegen einzuwenden. Ich sehe ihm an, dass er enttäuscht ist. Aber wenn ich weiterhin bei diesem Spiel mitmache, bei dem ich gar nicht will, wird es bloss noch schwerer für ihn, sowie auch für mich.
Auf dem Weg die Treppe runter, geht er dicht hinter mir. Er will mich zu sich ran ziehen, doch ich gehe strickt weiter. Von da an lasse ich ihn nicht mehr an mich ran.

Elisas Brief ist mittlerweile schon fünf Seiten lang. Wie viel will dieses Mädchen denn eigentlich noch schreiben? Aber vielleicht kann sie so dieses Thema schneller verarbeiten. Na, wenn's hilft...

Heute haben wir endlich unsere Zwischenzeugnisse bekommen. Sie zählen nicht wirklich zu irgendwas, aber man kann dadurch sehen, wie es etwa um einen steht, ob man dieses Schuljahr bestehen kann oder ob man im Sommer vermutlich von der Schule fliegen wird. Zwei aus unserer Klasse kommen nun nicht mehr zur Schule. Obwohl sie bis zum Ende dieses Jahres noch bleiben dürften, haben sie wohl beschlossen, uns schon früher zu verlassen. Na ja, um einen der beiden, Nick, ist es ja wirklich nicht schade. So ein Angeber. Also echt!


Kapitel 5

Timo scheint es noch immer nicht begriffen zu haben. Er soll mich nicht mehr belästigen. Genau: Allmählich wird er wirklich zu einer Belästigung. Sobald er mich wieder anfasst, werde ich es ihm sagen.
Okay, jetzt. "Ich will das nicht." Er ignoriert mich. Ich fasse es einfach nicht. "Bitte hör auf. Ich will das nicht." Jetzt sage ich es so laut, dass er nicht mehr so tun kann, als ob er nichts höre. "Das ist okay." Seine Antwort haut mich fast um. Okay? So plötzlich? "Ich verstehe dich." Ich lasse mir nichts anmerken, aber ich glaube ihm nicht. Na wenn er mich jetzt in Ruhe lässt, ist mir das auch egal.

Er lässt mich nicht in Ruhe. Schon wieder will er mich umarmen. Am schlimmsten ist es bei den Spinds. Unsere zwei stehen zuhinterst in einem langen Gang, etwas zurückversetzt. Davor ist also eine schöne, kuschlige Nische. (Zumindest für Leute, die auf viel Körperkontakt stehen ist sie ideal.) Und wenn ich morgens etwas aus meinem Spind holen will kommt er immer mit. Auch dann, wenn er gar nichts braucht. Er steht dann immer ganz dicht hinter mir. Ich weigere mich, mich zu ihm umzudrehen. Er flüstert mir dann Dinge ins Ohr, wie: "Ja, mein Schatz." So schnell es geht packe ich meine Sachen, aus dem Spind in den Schulsack und bewege mich rückwärts aus unserer kleinen Nische raus. Pech für ihn.

Elisas Brief hat nun die achte Seite erreicht. "Jetzt ist er fertig.", sagt sie. Melissa und ich können nur staunen. Acht Seiten Gefühle. Nur Gefühle. Und alles klitzeklein, von Hand geschrieben. Da klingelt es schon. Schnell packt sie ihren Brief in ihre Mappe. "Verdammter Mist. Jetzt haben wir Geschichte. Da dürfen wir nicht zu spät kommen, sonst bringt uns der Hofman um!" Wir rennen los und haben Glück. Wir schaffen es gerade noch rechtzeitig. Und jetzt: neun Stunden Langeweile.

Der Tag ist schon fast vorbei. Nur noch eine Stunde Studium beim Rektor. Elisa und ich sind etwas aufgedreht. Melissa hingegen ist vollkommen in ihren Gedanken versunken. "Vielleicht ist sie ja auch verliebt?, sage ich lachen zu Eli. "Kleiner Scherz." Melissa und verliebt? Niemals. Sie hasst so ziemlich alles, dass nach Junge aussieht, schmeckt oder gar riecht. Elisa lacht, aber Melissa lacht nicht mit. Um sie ein Bisschen zu ärgern, nehmen wir leise ihren Schlüssel von Spind. Ich weiss, man könnte jetzt denken, wir wären total kindisch. Sind wir auch, aber das ist uns egal. Schnell rennen wir auf die Toilette und schliessen uns ein. Melissa steht wütend vor der Tür. Noch immer lacht sie nicht. Wir schliessen die Tür auf. Sie reisst uns den Schlüssel aus der Hand und haut ab. Na ja, die wird sich schon wieder einkriegen. Aber unsere gute Stimmung ist nun verflogen.


Kapitel 6

Zum Glück ist nun auch der letzte Schnee geschmolzen. Zumindest fast. Jetzt können wir wieder mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Auf dem Fahrrad fühle ich mich geschützt. So kann Timon mich nicht mehr berühren. Da ist nun bloss noch die Sache mit dem Spind. Jeden Tag hoffe ich, dass sich ausser uns, noch jemand anders im langen Gang befindet. Dann kann er mich nicht berühren, denn keiner von uns beiden will, dass das hier jemals jemand erfährt. Also versuche ich ihm noch immer, so gut es geht, aus dem Weg zu gehen.

Melissa hat sich nicht beruhigt. Sie hat uns heute keines Blickes gewürdigt und mir nichts dir nichts ihr Pult, aus der letzten Reihe, wo wir eigentlich immer sassen, ganz nach vorne zu den "möglichen Lesben" und ihrer Clique geschoben. Ist unsere Freundschaft hiermit beendet?

Seither, also seit Melissa nicht mehr mit mir und Eli zusammen ist, ist es ganz schön ruhig. Nicht, dass sie immer die Lauteste von uns war, im Gegenteil, aber zu zweit hat man einfach keinen Spass. Jeden Tag hängt Mel mit jemand anderem zusammen, doch oft ist sie auch alleine. Wenn sie sich nicht rechtzeitig an die Anderen anhängt, wird sie von ihnen vergessen. Eigentlich tut sie uns schon Leid, aber sie wollte uns nicht mehr, also soll sie doch selbst zurückkommen.
Die Pausen verbringen wir in letzter Zeit immer öfter mit Nadine. Sie ist die Jüngste der Klasse und ziemlich unbeliebt. Sie ist extrem extrovertiert, also keines Falles schüchtern. Manchmal kann sie echt nerven, aber eigentlich ist es ganz lustig mit ihr. Und wenn wir sie zum Spass ärgern, lacht sie, im Gegensatz zu Melissa, mit.


Kapitel 7

Die Sommerferien sind schon zum greifen nah, aber an des denkt im Moment wirklich niemand. Heute haben wir drei mündliche Examen. Alle sind schon nervös und es herrscht eine Angespannte Stimmung. "Jackie!", höre ich jemanden meinen Namen rufen. Erschrocken schaue ich von meinem Französischbuch hoch. "Du bist die Nächste." Mein Herz klopft wie verrückt, während ich die Tür unseres Klassenzimmers schliesse. Höflich, aber ziemlich leise, sage ich den zwei Lehrerinnen, die die Prüfung abnehmen guten Tag. Sie geben mir einen Umschlag und weisen mir meinen Platz zu. Während ich den Umschlag öffne, beginnt Luisa, eine Klassenkameradin von mir, zu sprechen. Nun halte ich zwei Blätter in der Hand. Das eine ist leer und das andere enthält Kuchenrezepte auf Französisch. Eigentlich hätte ich jetzt fünf Minuten Zeit, mir Notizen zu machen, aber ich habe keine Ahnung was ich mir aufschreiben soll. Ich kritzle mir kurz hin, wie die Wörter ausgesprochen werden. Dann bin ich auch schon an der Reihe. "Qu'est-ce qu'il faut pour faire un gâteau au chocolat?", fragt mich eine der Lehrerinnen, deren Namen ich nicht kenne. Ich stammle die Antwort vor mich hin. Alles kann ich von meinem Blatt ablesen. Aber, was ich nicht ablesen kann, ist falsch. Zum Schluss werde ich auch noch gefragt, was man für einen "salade bretonne" braucht. Das wüsste ich ja nicht mal auf Deutsch! Dann sind die fünf Minute auch schon vorbei und ich verlasse das Zimmer auf wackeligen Beinen.

Kapitel 8

Ich habe alle drei Examen bestanden. In Deutsch, wo ich meine grössten Zweifel hatte habe ich sogar fast eine sechs gekriegt. Nun bin ich erleichtert. In den Sommerferien werde ich in einen Französischkurs gehen. In diesem Fach sind meine Noten nämlich ziemlich tief. Drei Wochen werde ich von Zuhause weg sein. Obwohl ich danach noch vier weitere Wochen Ferien habe, finde ich das lang. Ansonsten gehen wir wohl nicht fort.


Kapitel 9

Das ist ja echt schön hier! Ich stehe in meinem Ferienzimmer. Von den anderen zwei Mädchen, mit denen ich die nächsten drei Wochen hier schlafen werde, ist noch nichts zu sehen. Meine Mutter hilft mir noch den Koffer auszuräumen, dann fährt sie mit meinem Vater nach hause. Nun erscheint endlich eine meiner zukünftigen Zimmerpartnerinnen. Unser Gespräch ist ziemlich holprig. Wir sprechen über unsere Hobbys, Eltern und schlussendlich auch über Jungs. Sie erzählt mir von ihrem Schwarm und ich ihr von Timo. Da geht die Tür auf und ein Mädchen mit einem Geigenkoffer in der Hand tritt mit ihren Eltern hinein. Die Stimmung ist total peinlich. Keiner traut sich etwas zu sagen. Als ihr Vater und ihre Mutter weg sind fragen wir sie über alles Mögliche und Unmögliche aus. Wir erfahren, dass sie seit sie zehn Jahren Geige spielt und die Musik über alles liebt. Dann klingelt es auch schon zum Abendessen und wir stürmen die Treppe runter. Im grossen Esssaal setzten wir uns nebeneinander. Im ganzen Raum herrscht Schweigen. Es ist nicht so, dass wir nicht sprechen dürften. Dennoch sagt keiner ein Wort. Nach zwei Minuten der Stille hält die Leiterin eine kurze Ansprache und informiert uns über das Programm des heutigen Abends. Wir werden uns im Spielzimmer versammeln und alle Regeln des Hauses kennenlernen. Ganz leise wird hinter ihr ein Wagen mit unserem Abendessen herein geschoben. Brot, Butter, Aprikosenmarmelade, sowie Orangensaft und Milch. Ich habe nicht wirklich Appetit und beisse in ein trockenes Brot. Ein Dessert gibt es nicht. Gerade überlege ich mir, wie ich es hier bloss drei ganze Wochen aushalten soll. Nicht dass ich es nicht schön fände. Aber die Zeit vergeht so langsam, dass ich das Gefühl habe, den Rest meines Lebens hier verbringen zu müssen.

Es ist mitten in der Nacht. Ich kann nicht schlafen. Im Haus ist es ganz leise und auch jetzt wo es zwölf schlägt, wacht niemand auf. Dabei ist es so laut. Plötzlich kommen mir die Tränen. Langsam rinnen sie über meine Backen. Ganz leise. Ich war schon oft in Lagern. Noch nie hatte ich Heimweh. Ich kannte dieses Gefühl bisher noch gar nicht. Warum weine ich überhaupt? In drei Wochen werde ich wieder bei meinen Eltern zuhause sein. Es gibt keinen Grund zu weinen. "Jackie hör auf!", ermahne ich mich selbst und greife nach meinem iPod, der auf meinem Nachttisch liegt. Jedes einzelne Lied, das ich höre erinnert mich an etwas. "Big Big World". Eine Freundin aus meiner alten Klasse hatte es mir mal vorgespielt. Kaum war sie weg habe ich es mir runter geladen. Ich drücke weiter. "Fly to your heart". Es ist eigentlich ein Lied für kleine Kinder. Dennoch gefällt es mir. Und meiner Brieffreundin auch. Nochmal drücke ich weiter. Nun kommen unzählige Songs von Miley Cyrus. Ich muss unwillkürlich an Timo denken: Früher war ich ein riesengrosser Miley Cyrus-Fan. Mein Zimmer war so mit Postern vollgeklebt, dass man die Wände kaum noch sah. Wie oft habe ich Timo alles von Miley Cyrus erzählt, das ich wusste. Wie musste er sich gelangweilt haben? Und trotzdem hat er mir immer zugehört. Jetzt muss ich nur noch mehr weinen. Ich schalte den iPod aus und kuschle mich in meine Decke. Dann schlafe ich ein.


Kapitel 10

"Hallo", schreit jemand zur Tür herein, "aufstehen!" Schon sind wir alle wach. Ich schnappe mir mein Duschtuch und renne ins Bad. Hier gibt es nur drei Duschen und in einer halben Stunde ist schon Zeit zum Frühstücken. Ich muss mich beeilen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.10.2011

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