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Vorwort

Die in diesem Buch geschilderten Erlebnisse haben sich genauso zugetragen. Seitdem sind einige Jahre vergangen. Erst jetzt ist es mir möglich, Nellys Unfall und dessen Folgen zu schildern. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt ein Sprichwort. Natürlich bleiben auch einige Narben zurück. Innerliche und bei Nelly auch äußerlich sichtbare.

Aber nicht nur die Zeit alleine war an der Heilung beteiligt. Was wäre aus Nelly geworden ohne das Engagement von Herrn Dr. W. und seinem Team in der Tierklinik sowie der physiotherapeutischen Betreuung von Frau Dr. E.?

Ihnen allen gilt mein besonderer Dank!

Der Unfall

„Dein Hund ist überfahren worden!“

 

„Nelly! Neeelly!“ Meine Rufe werden lauter und eindringlicher. Aus dem Gebüsch an der Weggabelung vor mir schießen eben zwei ausgewachsene Feldhasen hervor, und Nelly nimmt sofort die Verfolgung auf. Sie ist sehr verspielt, denn sie ist noch keine zwei Jahre alt. Von einem angeborenen Jagdinstinkt kann bei ihr keine Rede sein. Die Hasen sind nicht wesentlich kleiner als Nelly. Sie sieht in ihnen vermutlich ideale Spielgefährten. Nelly ist eine Europäische Schlittenhündin, die es liebt, ihre Schnelligkeit mit anderen Tieren zu messen. Die ganze Meute verschwindet mit Höchstgeschwindigkeit hinter den Sträuchern und damit aus meinem Blickfeld.

Ich laufe auf das Gebüsch zu. Da! Einer der Feldhasen kommt seitlich aus dem Buschwerk hervor und stiebt davon. Nun müsste auch Nelly gleich wieder auftauchen. Das tut sie aber nicht! Der zweite Hase nimmt wohl eine andere Richtung, und ausgerechnet diesen sucht sich Nelly als Spielkameraden aus.

Trotzdem bin ich nicht sonderlich beunruhigt. Es kann ja nichts passieren, denn zwischen uns und der nächsten Straße liegt ein breites Stoppelfeld. Nelly und ich haben erst vor zehn Minuten unsere Joggingrunde begonnen. Ich habe bereits meine „Betriebstemperatur“ erreicht und kann einen schnellen Spurt zum Gebüsch hinlegen. Gegen Nelly und ihr Verfolgungsobjekt habe ich allerdings nicht die geringste Chance. Ich laufe um das Buschwerk herum und sehe – nichts! Das spielt sich innerhalb weniger Sekunden ab.

Das gibt es doch nicht. Wo steckt denn bloß der Hund? Plötzlich schreckt mich eine Stimme auf: „Dein Hund ist überfahren worden!“ Auf einem Feldweg steht ein kleiner Traktor. Ein Landwirt, der sich bei dem Fahrzeug befindet, ruft mir diese Worte zu. So ein Blödsinn, denke ich, denn gleichzeitig sehe ich Nelly über den Acker hoppeln. Hoppeln ist der richtige Ausdruck, denn etwas stimmt an ihren Bewegungen nicht. Als ich sie rufe, versucht sie ziemlich unbeholfen auf mich zuzulaufen. Das gelingt ihr nicht, und mir wird doch langsam mulmig. Nelly macht einen völlig verstörten Eindruck.

„Der jagt!“ ruft es hinter mir.

Als ich näher komme, sehe ich die Bescherung. Nelly steht auf drei Beinen und hat den rechten Vorderlauf angezogen. Er ist im Bereich des Unterarms richtiggehend zerfetzt. Elle und Speiche sind gesplittert und stehen offen heraus. Nelly befindet sich im Schockzustand und verliert Blut.

Was ich selbst in diesem Moment empfinde, kann ich nicht beschreiben. Im Nu bin ich bei ihr, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Der Anblick ist einfach schrecklich! Vor wenigen Minuten war die Welt noch in Ordnung. Nelly und ich waren gerade dabei, die letzten Häuser des Ortes hinter uns zu lassen, um ungestört über die Feldwege zu laufen. Aber jetzt? Das kann nicht sein. Das muss ich wohl träumen. Aber leider wache ich nicht auf, denn ich befinde mich in der Realität!

Nervös hole ich mein Handy hervor, um Regina, meine Frau, anzurufen. Ich habe großes Glück, dass ich sie noch erreiche. Sie ist gerade auf dem Sprung und will ins Büro fahren. Durch meine Aufregung kann ich mich nicht gleich verständlich machen und erklären wo ich gerade bin. Mir fallen plötzlich die Straßennamen nicht mehr ein! Kostbare Zeit vergeht! Ich will, dass Regina uns sofort in die Tierklinik fährt. Sie will sich gleich auf den Weg zu uns machen. Es kann nur ein paar Minuten dauern.

„Das kostet einen Tausender!“, höre ich wie von weiter Ferne den Bauern. Na und wenn schon, denke ich bei mir. Und überhaupt, was ist das für ein Mensch? Wie kann man nur so verroht sein!

Als ich Nelly vor zum Straßenrand trage, bemerke ich auch andere Leute, die wesentlich hilfsbereiter sind. Da ist zunächst der junge Taxifahrer. Nelly hat bei ihrer Hasenjagd die Straße überquert und ist in seinen Wagen gelaufen. Es tut ihm schrecklich leid, obwohl er ja nichts dafür kann. Zu Hause hat er selbst einen Hund und kann deshalb gut nachfühlen, wie mir zumute ist. Er ist in solchen Fällen verpflichtet, die Polizei zu verständigen.

Eine Frau, die den Unfall beobachtete, hat ihren Wagen angehalten und bietet an, die Tierrettung zu rufen. Ich winke ab, denn Regina muss bereits unterwegs sein und bald eintreffen. Die Zeit scheint jedoch stillzustehen. Ich sitze auf dem Boden und streichle das jammernde Tier. Arme Nelly! Was um mich herum vorgeht, registriere ich kaum. Mein Kopf ist wie leer.

Es sind zwar nur wenige Minuten vergangen, aber mir kommt es sehr lange vor, bis Regina endlich eintrifft. Obwohl sie beim Anblick von Nellys Verletzung erschrickt, holt sie in ihrer praktischen Art gleich den Verbandskasten und eine Decke aus dem Auto. Mit einem Stock schient sie das Bein und legt einen Druckverband an, um die Blutung zu stillen. Sie hat erst vor wenigen Wochen einen Auffrischungskurs in Erster Hilfe – allerdings für Menschen – absolviert, was sich jetzt  in dieser Situation voll auszahlt.

Ein junger Passant überlässt uns seine Mineralwasserflasche. So können wir Nelly etwas Wasser einflößen. Es ist Mitte Juli und entsprechend warm. Wenigstens ist Nelly nicht der prallen Sonne ausgesetzt, da diese sich noch hinter einem Dunstschleier verbirgt.

Glücklicherweise lässt sich die schon erwähnte Autofahrerin nicht davon abhalten, doch die Tierrettung zu verständigen. Ein Transport mit unserem Wagen wäre bei Nellys Zustand gar nicht möglich. Um sie auf den Schoß zu nehmen, ist sie zu groß. Ohne weiteren Schutz in den Kofferraum legen? Unmöglich! In unserem Fall ist ein Rettungsfahrzeug schon die bessere Lösung. Da bei Tierunfällen allerdings keine Krankenwägen mit Blaulicht eingesetzt werden, müssen wir uns fast eine halbe Stunde gedulden.

Inzwischen trifft die Polizei ein und nimmt den Unfall auf. Obwohl sie selbst nicht dabei war, erklärt Regina den Hergang. Ich selbst bin dazu nicht in der Lage, denn ich bin bei Nelly, die jetzt mit ihrem geschienten Bein auf der Decke liegt, und streichle sie. Einer der Beamten will Zuversicht zeigen: „Das wird schon wieder!“ Ich habe so meine Zweifel, denn das Bein wird sich kaum retten lassen. Wie sollte das gehen? Es hängt nur an einem Hautlappen herab, und die Knochen sind völlig zersplittert! Nelly mit drei Beinen! Kaum vorstellbar! Wer weiß, welche inneren Verletzungen sie sonst noch hat. Ich weiß in diesem Moment wirklich nicht, was ich Nelly jetzt wünschen soll.

 

Rettung naht!

 

Endlich trifft der langersehnte Rettungswagen ein. Der Tiersanitäter ist ganz zufrieden mit Reginas Druckverband. Er legt jedoch sofort eine Infusion aus Kochsalzlösung und Schmerzmitteln. Danach packen wir Nelly samt Decke, die nun völlig blutverschmiert ist, in das Fahrzeug. Hier kommt sie für den Transport in einen Käfig.

Ich setze mich auf den Beifahrersitz des Rettungswagens. Regina fährt mit unserem Auto hinterher. Es ist schnell geklärt, in welche Tierklinik wir wollen. Wir müssen sechs Kilometer bewältigen. Obwohl wir jetzt Sommer haben, ist die Straße immer noch von den Frostschäden des vergangenen Winters gezeichnet. Jede Menge Schlaglöcher machen die Fahrt für Nelly zur Qual. Bei jedem kleinen Rütteln jault sie hinten im Laderaum auf. Mir gibt es jedes Mal einen Stich ins Herz. Ich kann sie nicht sehen und ihr deshalb nur beruhigend zureden.

Schließlich sind wir am Ziel. Das Klinikpersonal ist ziemlich fix. Nelly wird sofort auf einer Bahre im Laufschritt ins Untersuchungszimmer gebracht. Dort nimmt sich ihrer sogleich Dr. W., einer der beiden Klinikchefs an. Er ist Spezialist für Chirurgie. Wir bleiben draußen und erledigen in der Zwischenzeit alle Formalitäten für Nellys Aufnahme in die Klinik. Das ist wohl unumgänglich. Im Moment erscheint es mir äußerst unpassend, da es mir wichtiger wäre, bei Nelly zu sein!

Nachdem alle Angaben gemacht sind und auch die Abrechnung mit der Tierrettung erledigt ist, gehe ich, immer noch benommen und verwirrt, von der Rezeption nach hinten in den Behandlungsbereich. Ob ich eine Toilette suche, werde ich gefragt. „Toilette? Nein, ich suche den Hund!“ Hätte ich in einen Spiegel schauen können, wäre mir diese Frage ganz plausibel vorgekommen, so blutverschmiert wie ich aussehe.

Nun kann ich mit Dr. W. sprechen. Zunächst stellt er anhand der eiligst angefertigten Röntgenaufnahmen fest, dass Nelly keine inneren Verletzungen davongetragen hat. Das ist schon mal etwas! Er ist außerdem sehr zuversichtlich, dass Nellys Bein gerettet werden kann, obwohl Stücke der Unterarmknochen fehlen. Von den drei Sehnen sind zwei gerissen. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Glücklicherweise ist das Ellenbogengelenk unversehrt geblieben. Wichtig ist allerdings, dass Nelly ihren lebensbedrohlichen Schockzustand überwindet und die erste Nacht gut übersteht.

Sie soll noch heute operiert werden. Was Dr. W. im Einzelnen erzählt, realisiere ich nicht. Regina ist klarer im Kopf als ich. Jedenfalls habe ich zu dem rührigen Mittvierziger Vertrauen gefasst. Ich glaube, dass Nelly hier bei ihm in guten Händen ist. Leider können wir hier in der Klinik nichts mehr für Nelly tun. Uns bleibt nur, nach Hause zu fahren.

Als wir ins Auto steigen, kann ich nicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rolf Stöger
Bildmaterialien: Rolf Stöger
Lektorat: Regina Stöger
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2014
ISBN: 978-3-7368-3591-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinen Enkelkindern Mia und Tom

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