Das Grab der Serphone
Ich hatte sehr lange überlegt, ob ich diese Geschichte aufschreibe.
Ich bin alt und spüre das Gevatter Tod sein Kommen ankündigt. Schmerzen meiner Glieder, meines Herzens machen es mir nicht leicht mein Leben so zu leben, wie ich es bisher gewohnt war. Manchmal sehe ich ihn lächeln und ich lächle zurück, dann weiß ich, dass er mir noch ein wenig Zeit gewährt. Zeit für jene Geschichte, die ich schon so viele Jahre mit mir herumtrug. Einer jener Geschichten, die man lieber für sich behält, verschweigt. Manchmal denke ich zurück, an jenen Tag, an jenem Moment und sogleich erfasst mich ein Kribbeln, ein Frösteln, das mir fast den Atem raubt, obgleich nun so viele Jahre vergangen sind.
Was ich hier niederschreibe ist für mich bis heute unglaublich.
Eigentlich ist es nur eine Geschichte.
Oder vielleicht auch nicht. Wahrheit und Fiktion haben sich mit der Zeit vermischt, sind miteinander verwoben und zu einem seltsam gemusterten Teppich verschmolzen.
Aber es lag schon immer im Auge des Betrachters, des Lesers zu entscheiden, ob er eine Geschichte glaubt, oder nicht.
Es fing damals an, im Jahre 1807, mich erreichte das Gerücht, das ein Geschwisterpaar, die Brüder Jakob und Wilhem Grimm, durch die deutschen Städte reisten und Geschichten wie auch Märchen niederschrieben, die ihnen von den Menschen der jeweiligen Stadt erzählt wurden. So entstand eine große Sammlung, die in vielen Bänden erschienen waren und Einzug in den Häusern hielten.(Kinder- und Hausmärchen. 1. Auflage: 2 Bände 1812, 1815)
Märchen wie der Froschkönig oder der eiserne Heinrich, Aschenputtel und Sneewittchen, die heute die Gemüter der Leser erfreuen.
Wie mich die Nachricht erreichte, überkam mich die selbige Lust ebenfalls eine Reise zu unternehmen und jene Geschichten niederzuschreiben, die meine Mitmenschen kannten und seit Jahren vielleicht sogar Jahrzenten ihren Kindern und Kindeskindern erzählten.
Alsbald packte ich meine Sachen und etwas Geld, obgleich ich nicht sehr viel besaß, und verließ mein Elternhaus, um es den Brüdern gleichzutun.
Meine Reise führte mich durch mein Heimatland Italien, von Ravenna aus über Bologna nach Parma begegneten mir auf meinem Wege viele Menschen, die mir so viele Dinge erzählten, aber nie fand ich die Geschichte, die mich faszinierte und die ich für schreibenswert empfand.
So verging fast ein Jahr, bis ich durch einen Zufall einer alten Frau begegnete, die mir das Dorf Corniglio ans Herz legte.
Ich hatte bis dahin ein Jahr verschwendet, um die Geschichte zu finden, die mein Erfolg bedeuten sollte, und mich ab und an als Tagelöhner verdingt. So schwor ich mir, dass ich wieder zurückkehren wollte nach Hause, sollte sich Corniglio als unbrauchbarer Hinweis erweisen.
Schon beim Betreten des Dorfes imponierten mir die Burg und die Ringmauer. Sie waren Symbole der jahrelangen Fehde zwischen Parma und Piacenza.
Glücklicherweise waren die Dorfbewohner trotz dieser Vergangenheit Fremden gegenüber freundlich gesinnt. Auf meine Nachfrage hin wurde ich von einer älteren Dame auf einen alten Mann Namens Abramo Bertani verwiesen, einer der ältesten Bewohner dieses Dorfes, der wohl die meisten Geschichten kannte.
Ich erinnere mich noch jetzt an diese ehrwürdige Gestalt, die auf einem hölzernen Stuhl Platz genommen hatte, den Gehstock mit beiden Händen vor sich hielt und mit wachen Augen seine Umgebung beobachtete. Sein Gesicht und seine Hände waren durch Falten zerfurcht und von der Sonne gebräunt, gar gegerbt.
Er wirkte nicht mager, aber auch nicht wohlgenährt.
Ich wagte es kaum ihn anzusprechen, ihn zu stören in seinem Tun oder Nichtstun. Letztenendes war er es, der mich ansprach und mir den Platz zu seiner Rechten anbot.
„Buongiorno! Kommen Sie, setzten Sie sich! Sie stehen da vor mir wie eine Statue! Bin ich denn so furchteinflößend?“
Seine tiefe, sonore Stimme hallte in mir und wie, als ob ich aus einer Starre erwachte, flossen die Worte aus mir heraus.
„Buongiorno, Signore. Ich hoffe, ich störe Sie nicht allzu sehr. Mein Name ist Benedetto Sciutto. Ich reise umher, um Geschichten und Märchen, die bisher nur mündlich überliefert wurden, niederzuschreiben. Mir wurde vielfach gesagt, dass Sie viele Geschichten und Erzählungen kennen würden. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir vielleicht einige davon erzählen würden.“
Abramo begutachtete mich während meiner Ausführung mit feixendem Blick. Ich konnte förmlich spüren, dass ich ihm eine willkommende Abwechslung war, so dass ich mir sicher war, er würde erzählen.
„Nun, Signore Sciutto, das ist wirklich eine Überraschung. Nicht, dass mir nicht oft erzählt wurde, welch wunderbaren Geschichten ich kenne. Sie werden seit Generationen in meiner Familie erzählt. Und eigentlich erfreue ich nun meine Enkel damit, auf dass sie ebenfalls ihren Enkeln berichten. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob ich Euch diese Schätze meiner Familie einfach so verraten, ja anvertrauen sollte.“
In mir wuchs eine Aufregung, wie man sie nur kannte, wenn man etwas Wundervolles gefunden hatte, etwas Mitteilsames oder wie, wenn man etwas Neues und Schönes bekommt. Mein ganzer Körper kribbelte. Ich wusste, er spielte nur mit mir, so ging ich auf das Spielchen ein. „Väterchen, ich kann verstehen, dass Ihr misstrauisch seid und selbstverständlich sind solche Geschichten wahre Schätze, doch bedenkt, wie vielen Kindern und Kindeskindern ihr Freude mit Euren Erzählungen machen könntet? Viele glückliche Kinder, die Eure Geschichten lieben und weitergeben werden.“
Er senkte seinen Kopf, scheinbar angetan von der Vorstellung seine Geschichten würden überall erzählt werden.
„Nun, ich will nicht so sein. Wir hier in Corniglio sind fremdenfreundlich. Es wird mir also ein Vergnügen sein, Euch an meinen Erzählungen teilhaben zu lassen.“
Mein Herz machte in dem Augenblick einen gewaltigen Hüpfer, es tanzte gar die wildesten Tänze vor Freude. Doch ich musste mich ein wenig bremsen. Noch konnte ich mir nicht sicher sein, dass diese Geschichten einen Durchbruch bedeuten würden.
Noch am gleichen Abend erzählte er mir seine erste Geschichte, die noch heute als La Mortella bekannt ist.(Der Heidelbeerzweig auch bekannt als Brentanos Märchen: „Das Myrtenfräulein“)
Ich erinnere mich genau, wie fleißig und mit Übereifer ich dieses Märchen aufschrieb, genauso wie die zwei Folgenden La Schiavotella und Lo Dragone .
(Die Küchenmagd auch bekannt als Brentanos Märchen:
„Das Märchen vom Rosenblättchen“
Der Drache auch bekannt als Brentanos Märchen: „ Fanferlieschen Schönefüßchen“)
Ich erfuhr erst später, dass es Märchen des Literaten Giambattista Basile waren, die mir dort zu Ohren gekommen waren.
Nichtsdestotrotz fand ich Gefallen an den Geschichten und schrieb sie wohlwollend auf.
Am Abend des fünften Tages, es versammelten sich viele Dorfbewohner von Alt bis Jung, um sich ebenfalls die Erzählungen Abramo’s anzuhören, ereignete sich Folgendes:
Väterchen Abramo wollte gerade wieder eines seiner Märchen zum Besten geben und die Zuhörer in eine andere, seltsamere Welt entführen, als einer der Zuhörer, Marcelo Fideli, die Stille unterbrach.
„Väterchen Abramo, erzähl uns von Serphone! Deine Märchen wollen wir nicht mehr hören.“ Ein leises, zustimmendes Gemurmel ging durch die Menge. Besorgnis und Angst zeichnete sich auf einigen Gesichtern. Viele bekreuzigten sich bei dem Namen. Ich wandte mich an ihn, den Erzähler, der merklich blass geworden war.
„Väterchen Abramo? Was hat es mit Serphone auf sich? Ist es etwa auch ein Märchen?“
„Kein Märchen, Signore Sciutto, eine wahre Begebenheit!“
„Hier in der Nähe ist es geschehen.“ „Ruhe!“ Abramo wurde von einem heftigen Husten geschüttelt. Er schien aufgebracht, der kalte Schweiß rann ihm von der Stirn.
„Habt gefälligst ein wenig Ehrfurcht und Respekt.“ Viele blickten sofort betreten zu Boden. Ich witterte eine weitaus interessantere Geschichte, denn die Märchen.
„Abramo, altes Väterchen, darf ich Euch darum bitten. Nun ist meine Neugierde geweckt und sie wird mich gewiss lange quälen.“
„Gewiss nicht so sehr, wie es mich quält, diese Begebenheit mit mir herumzutragen.“
„Dann lasst mich einen Teil dieser Last tragen.“
Dass es wirklich eine Last werden würde, hätte ich damals nicht geglaubt, aber wie die Dinge nun einmal spielen, zeigt sich erst die wahre Natur einer Sache, wenn die Zeit sie preisgibt.
„Nun gut. Doch seid gewarnt, es ist kein glückliches, kein schönes Märchen. Es ist die bittere Realität, die Wahrheit über ein schreckliches Ereignis, das sich ereignete, als ich mein elftes Lebensjahr vollendete.“
Ein jeder Zuhörer schwieg nun, dass eine Stille sich bildete, die unheimlich war. Das kleinste Insekt konnte man Krabbeln hören.
„Es begann in Ca’Pussini, ein Dörfchen nicht sehr weit entfernt von hier. Dort lebte die Witwe Coletta Ferro mit ihrer einzigen Tochter Serphone. Wie man hörte war sie stets sittsam und gottesfürchtig. Und sehr schön. Ihre Tochter stand ihr in Nichts nach, auch wenn sie sich nicht ähnlich sahen. Beide gingen ihrer Arbeit nach, lebten beschaulich und ruhig. Keine schlechten Gerüchte kursierten über die Beiden, keine üble Nachrede. Serphone war ein hilfsbereites Kind. In Ca’Pussini waren die Bewohner voll des Lobes. Ob Alte oder Kranke sie half stets, wo sie nur konnte. Ein Engelsgeschöpf.
Nun kam es, dass die junge Serphone sich angewöhnt hatte nach getaner Arbeit in den nahe gelegenen Wald einen Spaziergang zu unternehmen. Sie wurde von ihrer Mutter stets ermahnt vorsichtig zu sein. Von dem jungen Mädchen, das nur dreizehn Sommer zählte, war nichts anderes als Gehorsam zu erwarten. Mein Vater war ihr oft begegnet, wenn er zum Holz hacken ging, und er konnte nur loben, welch waches, kluges Kind sie war.
Doch eines Tages kam sie von einem ihrer Spaziergänge nicht zurück.
Das ganze Dorf Ca’Pussini von Jung bis Alt hatte sich auf die Suche nach ihr gemacht.
Auch aus unserem Dorf gab es viele Freiwillige, die bei der Suche behilflich waren. Unglücklicherweise blieb sie aber verschwunden. Die gute Frau Coletta Ferro war von Trauer gebeutelt. Oft, wenn mein Vater mich mit nach Ca’Pussini mitnahm, sah ich sie vor ihrem kleinen Häuschen bittere Tränen weinen. Das schöne, in der Sonne rötlich schimmernde Haar ist mir bis heute in Erinnerung geblieben.
Ich mag mir nicht vorstellen, welch grauenhafter Schmerz es ist, sein Kind, gar noch das Einzige, zu verlieren.
Zur gleichen Zeit etwa ereignete sich noch etwas.
In Sivizzo war ein Gerücht entflammt, das auch Ca’Pussini und unser Dort erreicht hatte. Ein Mörder, ein Diavolo, Gott möge uns alle vor ihm bewahren, durchstreifte unsere Straßen und Wälder.
In Cirone und Bosco, die Dörfer liegen weit südwestlich von hier, habe er insgesamt drei junge Mädchen getötet und in Bellasola einen jungen kräftigen Mann mit der Axt niedergestreckt. Bellasola liegt nahe Sivizzo, daher fürchteten seine Bewohner um ihr Leben. Misstrauen ging umher. Als Dorffremder hatte man es schwer. Man wurde auf Schritt und Tritt verfolgt und beobachtet.
Es waren beängstigende Zeiten. Mein Vater ermahnte meine Schwestern, meine Mutter und mich stets zur Vorsicht. Wir durften niemals alleine irgendwohin. Und niemals unbewaffnet. Unsere Mutter gab uns Kindern stets das zweite Küchenmesser zu unserem Schutze mit, weil es so handlich war.
Nichtsdestotrotz ging das Leben weiter.
Eines Abends, mein Vater kam spät von Sivizzo nach Hause, wo er einige von Mutter selbst geschneiderten Kleidungsstücke und ein schönes Zicklein auf dem Markt feilgeboten hatte – er hatte gute Preise ausgehandelt – hörte ich ihn leicht verklärt, gar verwirrt meiner Mutter berichten.
Ein gleichsam seltsamer Zufall nannte er es, dass ein junges Mädchen in jenem Dorf Sivizzo lebte, das, wie die Vermisste, Serphone hieß, in ihrem Alter ward und – das erschreckte meinen Vater noch mehr – ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Aber ein jeder im Dorfe beschwor, dass das Kind von Geburt an bei ihrer Mutter, ebenfalls einer Witwe, lebte. Während ich lauschte, erwischte mich mein Vater, aber er unterließ es, ob seiner Verwirrung über das Entdeckte, mich für mein Verhalten zu bestrafen.
Stattdessen durfte ich neben meiner Mutter Platz nehmen und weiter zuhören.
Er berichtete über den verwahrlosten Zustand des jungen Mädchens und der schlechten Behandlung. Die Witwe – sie hieß Elena Romolo – war wohlhabend, aber nicht gottesfürchtig. Ihre Tochter behandelte sie wie eine Magd, nein, weniger noch, als ob sie kaum etwas wert wäre. Mein Vater hatte Mitleid mit dem jungen Mädchen, er war ihr begegnet, da war ihr Gesicht geschwollen von Schlägen und ihr Körper gekrümmt und gebeutelt. Damals in der Nacht sagte mein Vater, dass diese Frau noch einen herben Schlag erleiden würde, für all das, was sie ihrem eigenen Kinde antat.
Nur zwei Tage danach, erreichte unser Dorf, und auch meine Ohren, dass auch diese Serphone verschwunden war. Aber anders, als bei Serphone Ferro gab es keine große Suche, kein Mobilisieren aller naheliegenden Dörfer sie zu finden. Schon nach einem Tag der halbherzigen Suche hörte man auf. Man ging davon aus, dass sie vor ihrer Mutter weggelaufen war. Ihre Mutter war weder gerührt noch traurig. Jedenfalls hielt sie das Verschwinden ihres Kindes nicht davon ab, ihrem gotteswidrigen Lebensstil nachzugehen.
Es wurde ruhig und viele begangen langsam die Ereignisse, auch den wandernden Mörder, zu vergessen, abgesehen natürlich von Coletta Ferro.
Doch kaum zwei Wochen nach der zweiten, verschwundenen Serphone, und hier hatte ich leider das Nachsehen, machte ich bei meiner Pilzsuche im Wald einen grausamen Fund. Nicht weit entfernt von der Lichtung, dort gibt es die besten und schmackhaftesten Pilze, lehnten die beiden Serphones Rücken an Rücken. Sie wirkten mit ihrem hängenden Kopf, so als ob sie schliefen, hielten sich an den Händen, doch je näher ich den Beiden kam, desto mehr erkannte und roch ich, dass beide tot waren. Die Kleider waren dürftig angezogen, die Brust bar zur Schau gestellt.
Mich erfasste eine Übelkeit wie ich sie nie zuvor erlebt hatte.
Ich konnte deutlich sehen, lesen, was in die zarte Haut der Mädchen eingeritzt war.
Eine von beiden trug die Zeile: Ich bin die, die du verkauft hast.
Die andere: Ich bin die, die du gekauft hast.
Nachdem ich wieder atmen konnte und mein Körper sich langsam erholt hatte, rannte ich so schnell ich konnte ins Dorf zurück. Von weitem ehe ich durch das Dorf hineinstürmte, schrie ich meinen Fund.
Ich schrie und weinte gleichzeitig, bis auch der Letze verstand, was ich gesehen hatte. Mit den Männern des Dorfes, mein Vater eingeschlossen, führte ich sie mit zitternden Beinen zum Fundort. Einige gingen nach Ca`Pussini, um der Witwe die schreckliche Nachricht zu überbringen.
Andere nach Sivizzo. Unser Dorfpriester Giovanni Turini hörte nicht auf sich zu bekreuzigen. Ich tat es ihm gleich. Beide wurden in Leichentücher eingewickelt und hierher nach Corniglio gebracht.
Aus Ca`Pussini kam am Abend fast das ganze Dorf, auch die Witwe Coletta, deren wunderschönes, rotes Haar, aschegrau geworden war. Aus Sivizzo, fanden sich nur einige Schaulustige ein.
Serphones Mutter Elena Romolo war nicht unter ihnen.
Kaum einer erwähnte die Zeilen auf den Brüsten der Mädchen. Mir brannte es auf der Zunge, doch ich hielt mich zurück und beschloss meinen Vater zu fragen, wenn die Zeit reif war.
Am nächsten Tag war die Beerdigung. Beide wurden nebeneinander zur Ruhe gelegt. Sie teilten sogar den Grabstein.
Die Erinnerung an den Mörder von Cirone war aufgeflammt und alle schalten sich, dass sie nicht besser aufgepasst hatten. Eine Suche nach dem Monstrum sollte stattfinden.
Die Suche aber, die am nächsten Tag und den darauffolgenden stattfand, führte zu Nichts.
Doch wenn ihr glaubt, dass es hier schon endet, dann irrt ihr.
Es war gerade ein Monat vergangen, ich traute mich langsam wieder in den Wald, da erspähte ich zwischen den Büschen und dem dichten Gewächs eine Gestalt. Statur und Haarfarbe ließen mein Blut in den Adern gefrieren. Es war Serphone. Oder eine von Beiden. Sie wanderte etwa dort, wo ich sie gefunden hatte. Ich fackelte nicht lange und rannte weg. Nach Hause.
Ich konnte mich nur noch in meine Decke kuscheln. Ein fürchterliches Zittern erfasste mich und für einige Tage litt ich unter hohem Fieber.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, konnte ich nur wirr und ängstlich von dem stammeln, was ich gesehen hatte. Mein Vater holte den Priester zu uns und erzählte meine Entdeckung weiter. Als er mich beschaute, schüttelte er nur langsam den Kopf und sagte: „Die Toten haben ihre Ruhe nicht gefunden. Sie werden nun rastlos umherwandern, bis ihr Tod gesühnt wurde.“
Wie er sich bekreuzigte, fiel mir plötzlich ein, was ich mir vorgenommen hatte zu fragen. Und sogleich entschlüpfte mir das, was ich nur meinen Vater fragen wollte.
Unser Priester wurde sofort fahl um die Nase und bekreuzigte sich mehrmals hintereinander. „Madre di dio!!!“, hörte ich meine Mutter ausrufen. „Diese armen Geschöpfe! Was haben sie nur erlitten!“ „Sant'Iddio! Ich habe es auch gesehen, mein Junge, aber ich weiß nicht was es bedeuten soll. Ich weiß es nicht.“
Der Priester war ohne weitere Worte aus unserem Haus gegangen.
Wie ich mich wieder erholte und meinem Vater zu Hand gehen konnte, überschlugen sich die Ereignisse.
Der Tod der Witwe Elena Romolo wurde bekannt. Es hieß, sie habe sich selbst das Leben genommen und sich in ihrem Hause erhängt.
Nur einen Tag später fand man unseren Priester auf dem Friedhof vor dem Grab der Serphones. Tot.
Für alle gut sichtbar und lesbar, jedenfalls für jene, die des Lesens mächtig waren, waren auf seine bare Brust zwei Zeilen eingeritzt:
Ich bin der, der von allem wusste.
Ich bin der, der seine Seele verkaufte.
Meine Mutter, die neben mir stand, starrte mich nur an. Sie erinnerte sich wohl, genau wie ich, an meine Entdeckung von der wandernden Serphone im Walde.
Noch nie war etwas Derartiges in irgendeinem Dorf geschehen. Zumindest hatten wir nie davon gehört.
Die drei Dorfältesten beschlossen einstimmig nach Ca`Pussini zu gehen und die Witwe Ferro zu befragen. Sie vermuteten, dass sie etwas wusste, dass es etwas gab, wovon keiner ahnte und das mit dem Tod der beiden Serphones zu tun hatte.
Es dämmerte schon, als die drei Dorfältesten, mein Vater und ich, der als Leichenfinder ebenfalls ein Anrecht hatte zuzuhören, Montebello und Fideli, die einflussreich waren im diesem Dorf, in Ca’Pussini ankamen.
Sofort reihten sich Bekannte und Nachbarn der Witwe zu uns, um ihr beizustehen, während wir sie befragen wollten.
Als wir an die Türe klopften, hörten wir etwas umfallen. Die Kerzen wurden sofort gelöscht.
Wir entschieden uns sofort hineinzugehen. Wir sahen nur noch etwas Weißes aus dem Fenster schweben. Mir gefror das Blut in den Adern und auch die anderen Anwesenden kamen nur zu einem Entschluss: Die rastlosen Serphone hatten die Witwe heimgesucht.
Die Witwe selbst lag auf dem Boden, gefesselt, geknebelt und benommen. Sie blutete aus der Brust, wir konnten schon erahnen, weswegen, und an der Schläfe. Sie wurde sofort befreit. Die Dorfältesten ließen von der Nachbarsfrau, die es nur widerwillig tat, die Brust abtupfen, um zu lesen, was dort stand.
Eine Zeile war fertig, die andere unvollständig.
Ich bin die, die profitierte.
Ich bin die, die
Die Dorfältesten forderten eine Erklärung. Die Witwe Ferro schwieg zu den Fragen. Sie krümmte sich stattdessen zusammen und wippte hin und her. Sie flüsterte nur leise vor sich hin. Immer dieselben Worte. Wie ein Gebet.
„Es war perfekt. Es war perfekt… . Nein, ich bereue. Ich bereue. Perfekt. Ich bereue. Vergib mir. Niemals. Es war perfekt. Es…ich bereue. Bereue. Vergib mir. Niemals… .“
Wir starrten sie alle nur an. Sie war weggetreten. In einer anderen Welt, in der sie lebendig von innen verbrannte. Das konnte selbst ich erkennen.
Wir kehrten trotz tiefdunkler Nacht zurück nach Corniglio. Die Witwe ließen wir zurück.
Im Dorf angekommen lief ich etwas langsamer als alle anderen. Ich beschloss am Grab der beiden Serphones zu beten, für ihren Frieden und ihr Seelenheil.
Ich begann gerade mit dem Gebet, als hinter dem Grabstein etwas raschelte.
Ich erschrak, als hinter dem Grabstand eine der Serphones sichtbar wurde, kam aber besser damit zurecht. Ich hatte schon zu viele seltsame Begegnungen gehabt, als dass ich wieder in Fieber verfiele. Ich bat sie mir nichts zu tun, mich zu verschonen. Da lächelte sie mich an. Je länger ich sie anschaute, desto mehr wurde mir klar, dass es kein Geist, keine Erscheinung war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.
„Das ist nicht möglich…“ Ich höre mich das noch immer sagen. Und dann sah ich ihre Handgelenke, aus dem das Blut strömte.
„Ich musste es tun. Sie mussten alle bestraft werden. Sie haben es nicht anders verdient.“ Ich hab mein Hemd ausgezogen und wollte ihre Wunden abdrücken, aber sie entzog sich mir. „Du wirst sterben!“
„Ich weiß. Aber das ist auch gut so. Ich habe Unrecht mit Unrecht bekämpft. Gott wird mich bestimmt dafür bestrafen.“
Sie weinte bitterlich und ich konnte nur ihre Tränen trocknen und sie bitten trotzdem sich helfen zu lassen.
Selbstmord war eine Todsünde, die unverzeihlich war. „Grazie, für deine Fürsorge. Aber ich habe mich schon entschieden. Wenn du aber helfen willst, so höre dir meine Gründe an. Solange ich noch atme.“ Sie legte sich auf das Grab hin und starrte zum Himmel hinauf. Sie musste ihr Gefühl verloren haben, durch den Blutverlust, denn ich verband ihr trotzdem die Handgelenke so fest ich konnte. „Isabella, Serphone und Allessia, wir sind Schwestern, Drillinge. Wir…wir wurden eigentlich in Cirone geboren am gleichen Tag von der gleichen Mutter. Wir haben aber nicht lange zusammen leben dürfen. Giovanni Turini, euer Dorfpriester überzeugte die Menschen in Cirone, dass wir als Drillinge, Kinder des Teufels wären. Es sei widernatürlich, dass drei Mädchen auf einmal von einer Frau geboren werden. Dies sei eine Bekundung, dass unsere Mutter mit dem Teufel geschlafen habe.
Unsere Mutter wurde zu Tode gefoltert für etwas, was sie nie begangen hatte, mein Vater aus dem Dorf gejagt. Wir drei wurden von Turini mitgenommen, er wollte uns retten, weil wir als junge Geschöpfe noch gerettet werden könnten.
In Wirklichkeit hatte er sich von dieser schrecklichen Frau Elena Romolo überreden lassen, uns, mit welchen Mitteln auch immer, von unserer Mutter zu trennen. Es war ein einfacher Pakt, zwischen Zweien, die ein Liebesverhältnis hatten. Sie bekäme eines von uns, er bekäme eines, mich, und die letzte hatte Romolo ihrer Freundin Coletta Ferro versprochen.
Ich weiß bis heute nicht, wieso sie uns drei wollten.
Sie entschieden, uns alle Serphone zu nennen.“ Ihre Stimme wurde schwach, während sie mich anblickte. „Romolo hatte gebettelt, während ich sie hochzog. Um ihr Leben gefleht. Und schließlich gebeichtet, dass sie und Ferro ihre eigenen Männer auf dem Gewissen hatten. Jede hatte der anderen zum Tod des Mannes geholfen. Mit Wissen des Priesters, der im Gegenzug für sein Schweigen statt der sonntäglichen Beichte, ein sonntägliches Liebesspiel mit Beiden vollzog.
Und ich sollte die Beiden zur rechten Zeit ersetzen.“ Sie spukte mir die bitteren Worte entgegen, ihr Hass war fühlbar, greifbar. In mir selbst brodelte Hass über diese Ungerechtigkeit. Und noch mehr über diesen Priester, der so oft über den rechten Weg predigte, über Zügellosigkeit und selbst solche ungeheuerlichen Dinge tat.
„Ich lief ihm vor drei Jahren endlich davon, wanderte umher. Vor einiger Zeit fand ich meine Schwester Serphone oder Isabella oder Allessia.
Sie war vollkommen überrascht über unsere Ähnlichkeit. Ich aber, die drei Jahre darauf verwendet hatte alle zu beobachten, in den Sachen zu wühlen und die Wahrheit zu finden, wusste Bescheid. Denn weißt du, Romolo hatte alles niedergeschrieben in ihrem Tagebuch. Und ich habe alles gelesen.
Die sittsame, brave Tochter der Ferro wurde von ihr als Prostituierte gehalten. Um großen Strafen zu entgehen, hatte meine Schwester gemacht, was sie wollte. Im Wald fernab der Holzfällerplätze traf sie sich mit den Kunden. Ich versprach ihr Erlösung.
Als ich sie in Sicherheit brachte und versteckte, suchte ich meine andere Schwester zu retten. Alsbald fand ich die Gelegenheit und nahm sie mit mir. Sie war schwer geschändet, geschlagen. Ihr ganzer Körper war gebrochen. Schon bald entschied ich sie von allem zu befreien.
Ich tötete sie beide und schrieb meine erste Botschaften. Es tut mir leid, dass ich sie töten musste. Es tut mir leid. Fürchterlich leid. Ich entschied mich schließlich jene zu bestrafen, die dafür verantwortlich waren, bevor ich ihnen nachfolgen wollte.
Erst Romolo, dann der Priester und eigentlich auch Ferro. Aber da seid ihr dazwischen gekommen.
Es tut mir leid, Schwestern. Vergebt mir.“
Sie weinte leise vor sich hin. Erst jetzt bemerkte ich meinen Vater, zusammen mit den anderen. Sie hatten alles gehört und blickte betreten zu Boden. Sie kamen näher und hoben sie vom Grab auf. Sie war noch nicht tot. Die Schnittwunden waren nicht tief genug gewesen, um ihren Tod herbei zu führen. Sie hat überlebt.
Was sich ereignet hatte, verschwiegen wir. Was wir gehört hatten verschwiegen wir. Das Einzige, was wir erzählten, war, dass die Serphones Drillinge waren, die von Ferro, Turini und Romolo schlecht behandelt wurden. Da Tote nun einmal nicht reden konnten, hingen wir die Morde Ferro an und behaupteten, sie wollte sich als Opfer darstellen, um der Henkersstrafe zu entgehen. Es war leicht alle zu überzeugen.
Auf diese Weise bekam Ferro das, was sie verdient hatte, und Serphone wurde verschont.“
Ich atmete tief ein und aus. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, drohte herauszuspringen. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Väterchen Abramo hatte nicht übertrieben. Die Realität hatte Furchterregendes. Und ich schmeckte den bitteren Geschmack auf meiner Zunge. „Was…was ist aus ihr geworden?“ Mein Mund bewegte sich ohne mein Zutun. Väterchen Abramo blickte mich lange an, biss sich auf die Lippen und drehte dann plötzlich seinen Kopf um. „Allessia, komm bitte her, meine Liebe.“
Ich glaube, mein Mund stand sehr lange offen, als eine ältere, robuste Frau, ihre verwelkte Schönheit war noch erkennbar, aus dem Haus herauskam und sich neben Väterchen Abramo stellte. Ich erkannte sofort die Frau, die mich bei meiner Ankunft an Väterchen Abramo als Erzähler verwies.
„Wir haben ihren Namen von Serphone auf Allessia geändert. Er steht ihr viel besser, finde ich. Als wir alt genug waren, heirateten wir beide.“
Ein leises Raunen ging durch die Menge. Auch die Anwesenden wussten anscheinend nicht alle Bescheid. Väterchen Abramo lächelte in sich hinein.
Ich spürte die Zuneigung, die er für sie empfand. Und Allessia oder auch Serphone lächelte ebenfalls.
„Väterchen Abramo, Mütterchen Allessia, wir lieben euch beide immer noch.“
„Ja, ihr gehört zusammen und hierher.“ Die Umherstehenden machten unmissverständlich klar, dass die Geschichte über Allessia nichts ändern würde.
Mich aber hatte das leise Gefühl beschlichen, dass ich etwas erfahren hatte, dass mich auffressen würde. Es war zu viel Schicksal, zu viel Leid, das ich nicht gewohnt war. Und ich musste damit zu Recht kommen.
So viele Jahre sind nun vergangen seit ich diese Geschichte erfahren hatte, ich trug sie mit mir herum, wie schwere Ketten.
Und nun, da ich mein Leben bald aushauche, schrieb ich sie nieder. Die Kerze erlischt langsam, die Nacht umfängt mich.
Ich fühle mich erleichtert und kann dem Tod entgegentreten. Nur eines werde ich gewiss missen: Väterchen Abramos Enkelin, meine geliebte Frau Serphone.
Texte: Lesealter 14+
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2011
Alle Rechte vorbehalten