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Hörst du es?
Ganz leise. Das Flüstern des Waldes.
Getragen vom Wind, berührt es die Blätter der Bäume, lässt sie in ein sanftes Rascheln gleiten. Ein Rascheln, das jedes Lebewesen im Walde versteht.
Es sind Geschichten.
Geschichten, die von fernen Ländern erzählen, von fremden Wesen, aber auch von Dingen, die in der Nähe geschehen.
Hörst du den Wind flüstern?
Die Worte, die er mit sich trägt? Die Geschichte?
Die Liebe eines Baumes währt ewig.


Es sind die Vögel, die ihre süßen Liebeslieder für ihn singen, ihm widmen und sich mit ihm des Lebens freuen. Es sind auch die Vögel, die herzzerreißend ihre Melodie wechseln, um der Trauer des Baumes eine Stimme zu verleihen.
Vor allem die Nachtigall zwitschert ihre Lieder, die vom Kummer des Baumes erzählen. Sie lernte sie von ihren Vorfahren, jenen, die Zeuge dieser bewegenden Liebe waren. Jeden Abend sucht sie sich einen Zweig hoch oben und erzählt. Erzählt in sanften sehnsuchtsvollen Klängen von der Liebe des Baumes zu einem Menschen. Und überall im Walde verstummen ihre Bewohner, um der Geschichte zu lauschen, die alle bewegt.
Ich werde sie euch erzählen. Diese Geschichte.
Von dieser Liebe.
Sie ist so rein, wie die Luft, unschuldig und ohne Kompromisse.
Aber sie ist auch verbunden mit dem Schmerz, den nur der Verlust mit sich bringen kann. Ein bittersüßer Singsang, der im sanften Klang des Waldes untergeht.
Jedes Wesen im Walde, vom kleinste Insekt, dass sich im Blättergewerk versteckt und vom süßen Saft der Blätter ernährt, bis zu den Füchsen, den listigen Jägern, die sich im Wurzelgeflecht ihren Bau suchen, weiß von der Lebendigkeit dieses Baumes, weiß von seinem Freud, seinem Leid.
Selbst der große Bär, der sich manchmal schwerfällig bewegt, tollpatschig verhält und der einst die raue Rinde des Baumes für seinen juckenden Rücken missbrauchte, weiß um die Gefühlswelt des stummen Riesen und tröstet ihn auf fürsorgliche Art, wie es ihm nicht zuzutrauen wäre.

Frühling, Sommer und Herbst kamen und gingen mit den Menschenwesen, denn des Winters blieben sie fern von ihm, fern der Kälte.
Sie kamen nur bei schönstem Wetter um im Schatten dieses einen Baumes zu sitzen, zu reden, zu speisen und auf den See unweit von ihm ihren Blick schweifen zu lassen.
Das Lachen schallte durch den Wald und vermischte sich mit dem Zwitschern der Rotkehlchen und der Lerchen, während die Sonnenstrahlen ihr Glitzerspiel auf dem See aufführte. Der Baum war es gewohnt. Er hatte schon so viele Gesichter gesehen. Er konnte sie sich nicht mehr merken.
Bis auf dieses eine.
Eines Tages, der Frühling ging langsam in den Sommer über, kam das kleine Geschöpf, das nur fünf Winter zählte, Hand in Hand mit seiner Gouvernante zum ihm, setzte sich auf dem moosbewachsenen Boden und lehnte sich sacht an den Stamm des Baumes, nur um friedlich hinauf zu schauen und der Baumkrone ein Lächeln zu schenken, dass nicht süßer hätte sein können.
Es war diese kleine Geste, die das unsichtbare Herz des Baumes ergriff und erweichte.
Konnte es sein, dass ein solch seltsames Geschöpf, wie es der Mensch war, die Liebes eines Baumes gewinnen konnte?
Zeit hatte nie eine Bedeutung für den Baum gehabt, aber zum ersten Male schien sie für ihn stehen geblieben zu sein.
In diesem einen Moment hatte alles andere seine Bedeutung verloren.
Das Flüstern des Windes hatte ihm bisher von so viel Leid erzählt, die diese Wesen seinen Brüdern und Schwestern zugefügt hatten. Wie sie abgeholzt und verbrannt wurden oder zu Dingen gemacht wurden, die sie Möbel nannten. Aber dieses Wesen schien so klein und zerbrechlich, es war ihm unmöglich zu glauben, dass es ihnen, den mächtigen Bäumen, die seit so vielen Jahrtausenden existierten, etwas antun könnte.
Und da lehnte es herzallerliebst und lächelte in die Baumkrone hinein.
Und der Baum beugte sich unwillkürlich ein wenig nach vorne, um dem lieblichen Kind Schatten zu spenden. Wie die langen Zweige sich um es schmiegten, wirkte es fast wie eine liebevolle Umarmung.
Das stumme Seufzen des Baumes, hörten nur die Tiere des Waldes, die verwundert den schönen Baum betrachteten.
Was mochte das süße Seufzen hervorgerufen haben?
Der Wind fing es auf und trug es mit sich, ein Klang, der sanft in den Baumkronen anderer Bäume vibrierte, widerhallte.
Die Nachtigall, sie kam und sang laut und eifrig, denn sie hatte als erste verstanden, was der süße Schall bedeutete.
Und wie der Wind es hörte, trug er die frohe Botschaft von Baum zu Baum, von Wald zu Wald.
Und alsbald kamen die Tiere Tag für Tag, um das Menschenkind heimlich zu sehen, dass mal mit der Gouvernante mal mit seinen Eltern den Baum aufsuchten.
Das kleine Wesen schien sich wohl zu fühlen, schlief auf dem moosbedeckten Wurzelgeflecht, unter dem der Fuchs seinen Bau hatte. Die stummen Liebesbekenntnisse des Baumes erreichten das Herz eines jeden Lebewesens,das im Walde wohnte, und rührten es. Der Fuchs ließ das Kind an seinem Bau schlafen, wärmte es an kühlen Tagen heimlich mit seinem Fell, die Vögel zwitscherten leise ihr Schlaflied, der Wind wehte sanfte Brisen, während der See geräuschlos dahin plätscherte. Selbst die Insekten verhielten sich ruhig, surrten nicht umher, dem Baum zu Liebe, der ihnen stets Nahrung und Unterschlupf geboten hatte.
Das kleine Geschöpf, das das Herz des Baumes erobert hatte mit nur einem Lächeln, schlief beschützt und aufgehoben im Schatten des Blättergeflechts.
Ab und an strich der Baum zärtlich über die Wangen des friedlichen Wesens. Ein ehrfurchtvolles Zittern erfasste ihn. Noch nie in seinem Leben hatte er Ähnliches für Etwas oder Jemanden gefühlt, wie für dieses kleine Kind.
Ein Gefühl rein wie bedingungslos.
Und in seiner Zeit begrenzt.


Der Baum spürte die Sterblichkeit des geliebten Geschöpfs, das schwache Pulsieren des kleinen Herzens, das so ganz anders schlug, als das Herz des Fuchses, das kräftig und voller Leben gegen die weiche Brust hämmerte.
Das kleine Geschöpf spürte von alledem nichts.
Die leuchtenden Augen blickten nur sanft in die Baumkrone, beobachteten die Lichtspiele mit sanftmütigem Lächeln, während die kleine Hand die raue Rinde liebevoll berührten. Es schien dem Baum, als ob das kleine Geschöpf seine Gefühle und Unruhe spürte und ihn trösten wollte.
Gerührt von seiner Geste, lehnte sich der Baum erneut herunter und ließ seine Zweige endgültig hängen, um das Wesen in seiner schützenden Umarmung zu nehmen. Eine behütete Oase wollte er für es sein.
Für die Ewigkeit würde seine Liebe zu diesem einen Wesen sein, das wusste er genau.
So wie er wusste, dass Tag und Nacht in einem immer wiederkehrenden Zyklus die Welt in Licht und Dunkelheit hüllten.
Und in seiner liebkosenden Umarmung schlief schließlich das kleine Geschöpf friedlich den Schlaf der Ewigkeit.
Das kleine, schwache Herz hörte auf zu schlagen, der Körper erkühlte langsam, nur das liebliche Lächeln, das das Herz des Baumes erobert hatte, zierte den kleinen Mund, ein letztes Geschenk an den Baum.
Der leise Seufzer vom Kummer getränkt, wurde wieder vom Wind getragen.
Der Wald trauerte mit dem Baum um seine verlorene Liebe, die Vögel, vor allem die Nachtigallen, zwitscherten ihre traurigen Lieder über das Leid des Baumes und der Wind trug die Melodien in die Weiten der Welt.
Doch getrennt wurde der Baum nicht von seinem geliebten Geschöpf. Der kleine Körper fand im weichen Wurzelgeflecht des Baumes seine letzte Ruhestätte, den der Fuchs nun mit ihm teilte.
Ein jedes Tier im Walde kam des Nachts und besuchte die blumengeschmückte Stätte, legte ein Zweiglein, ein Nüsschen oder gar eine Blume nieder, teilten das Leid des Baumes, der stets für sie sorgte, ihnen Nahrung und Unterschlupf bot.
Aber kein Leid, kein Schmerz währt ewig, mag er noch so schwer lasten. Denn die Liebe, die der Baum spürte, lebt in jedem Zweiglein, in jedem Ästchen und in jedem Blättchen.
Sie wächst und gedeiht weiter.
Und alsbald spürte der Baum die Nähe des lieblichen Geschöpfes wieder, dass ein Teil von ihm wurde.
Denn alles was die Erde berührt, wird selbst zur Erde.
Und mit der Erde, ein Teil des Waldes.
Das leise Flüstern des kleinen Kindes vermischte sich harmonisch mit dem Geflüster des Waldes, den Stimmen der Vögel, der Rehe und Füchse. Eine sanfte Melodie, die vom Winde getragen wurde, für all jene, die mit dem Herzen hören.
Kleine Geschichten des Waldes, die ich euch erzähle, wenn ihr der Stimme eines Schmetterlings lauschen könnt.

Impressum

Texte: Buchcover erstellt vom Autor selbst.
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2011

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