Cover

Schnell!
Schneller!
Atemlos!
Neue Tür.
Mit neu aufflammender Hoffnung öffnete sie sie.
Enttäuschung.
Angst.
Nur eine nackte Wand aus Ziegeln.
Roten Ziegeln.
Wie eine Warnung.
Sie rennt wieder. Weiter.
Ihre Beine fühlen sich schwer und schwerer an.
Sie schleppte sich.
Eine Treppe, die nach unten führt.
Sie schaute sich um. Gehetzt wie ein Tier.
Ihr Atem nur noch ein ersticktes Keuchen.
Schritte.
Sie kommen näher.
Schon rannte sie die Treppen hinunter, die letzten fünf stufen übersprang sie mit einem Satz.
Ende der Treppe. Neue Tür.
Neuer Korridor.
Mit dem rechten Arm wischte sie sich über die Augen.
Sie weint.Schluchzt.
Lautlos.
Sie wollte sich nicht verraten.
Aber sie hörte wieder Schritte.
Sie rennt wieder.
Flieht.
Das war eine Jagd. eine stummte Jagd.
Und sie war die Beute.
Ein Fenster.
Sie stoppte abrupt und schnauft laut auf.
Der Blick aus dem Fenster verheißt nichts Gutes.
Hoffnungslosigkeit.
Nur Dunkelheit.
Welches Stockwerk war sie?
Sie konnte es nicht erkennen.
Schwärzestes Schwarz.
Sie beißt sich auf die Lippe.
Es fühlt sich taub an.
Kein Gefühl.
Wieder Schritte.
Lauter. Näher.
Einen Wimpernschlag lang setzte ihr Herzschlag aus.
Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter.
Gänsehaut.
Das Blut in den Adern gefriert.
Die Augen schreckensgeweitet.
Sie flieht. Wieder.
Der Korridor scheint endlos.
Keine Tür. Keine Fenster.
Das Halogen- Licht flackert bedrohlich.
Finsternis. Helligkeit. Finsternis. Helligkeit.
Wie Herzschläge.
Und jedesmal kamen die Schritte näher.
Und näher. Und näher.
Sie konnte die Person hinter sich fast spüren.
Frau? Mann?
Sie wusste es nicht.
Aber ihr Instinkt schrie: GEFAHR!
Sie würde nicht stehenbleiben.
Nicht warten und nachschauen.
Ihr Herz schlägt wild und unregelmäßig.
Spürt ihn gegen ihre Brust hämmern. Es wollte raus. Es wollte weg.
Ihre Nackenhaare sträuben sich.
Ein Luftzug? Oder...der Atmen der Person?
Panik.
In ihre Atemzüge mischen sich Angstlaute.
Nicht Menschlich.
Fremd. Unwirklich.
Und doch ihre Stimme.
Sie stolpert. Kein Gleichgewicht.
Sie fällt nach vorne auf die Knie.
Schmerz.
Ihr Gesicht verzieht sich gequält.
Aufstehen. Erster Versuch:
Ihre Beine geben nach. Müde. Schmerzend.
Zweiter Versuch:
Sie schlittert einige Schritte nach vorne. Die Beine gehorchen nicht.
Fremde Körperteile.
Die Schritte kamen noch näher.
Alle Härchen richten sich auf.
Sie robbt nach vorne, kriecht dann auf allen Vieren.
Angst.
Weg! WEG! WEG von HIER!!! WEG und RAUS!
Kein Ausgang in Sicht.
Die Schritte verebben.
Stille.
Sie regt sich nicht mehr.
Atmet nicht mehr.
Sie lauscht.
Keine Geräusche. Nicht mal ein Atemzug.
Sie schluckt.
Wo? Wo war die Person?
Sie schielt zur Seite.
Vorsichtig.
Ein...Fenster?!
Jetzt spürt sie den Durchzug.
Kalt. Eiskalt.
Das Fenster ist weit offen.
Ein Ruck.
Sie spürt den Boden nicht mehr.
Wird herumgewirbelt.
Ein zweiter Ruck.
"Nein! Bitte! Nein! NEIIIN!!!!"
Ein erstickter Schrei in der Finsternis.
Die Augen geschlossen.
Sie fällt.
Tiefer. Tiefer. Tiefer.
Ihr Schrei bleibt stumm.
Ihr ganzer Körper kribbelt.
Ein letzter Gedanke: "Ich sterbe... ."
Schweiß auf der Stirn.
Die Augen offen.
Ihr Herz zerspringt.
Die sieht den Boden
Näher. Näher.

Ihr Atem setzt kurz aus. Sie schnappt nach Luft, wie eine Ertrinkende.
Sie blinzelt in die Dämmerung.
Ihr Herz schlägt wild. Kräftig.
Ihr Atem nun stockend.
Sie betastet ihr Bett.
Schweißnass.
Erleichterung.
Ein Traum. Nur ein Traum.
Ein Alptraum.






Schnee



Der Schnee fiel in großen, dicken, reinen, weißen Flocken herunter. Kein richtiges Schneegestöber, mehr ein seltsam schöner Tanz, ein Ballett, das vom grauen Himmel bis zum harten Boden seinen Lauf nahm. Pirouetten und Attituden wechselten sich ab. Sie stand da, reglos wie eine Statuette, und starrte gen Himmel, wo sie die schneeweißen Ballerinen mit leiser Bewunderung verfolgte und sich von ihrer federleichten Choreographie einfangen ließ.
Einer dieser schönen Flocken fiel genau vor ihrer Nase herunter, schien einen Moment lang in der Luft zu schweben, und endete kalt und nass auf ihrer Zunge, die sie zaghaft ausgestreckt hatte, um die Flocke aufzufangen.
Es war die Ruhe und die Abgeschiedenheit, die sie hergeführt hatten. Und nun blickte sie auf eine weiche Decke von Schnee, die die Stadt zu ihren Füßen unter sich bedeckte, ja geradezu begrub und die nur noch mit ihren warmen, goldenen Lichtern zu glänzen schien.
Wie schnell sich doch die Stadt verändert, ihr graues, hässliches Kleid abgelegt hatte.
Hier hoch oben auf dem Dach wirkte alles nur noch wie eine undefinierbare, verschwommene Schneelandschaft und sie war mittendrin. Irgendwo im Nirgendwo. Wie ein dunkler Klecks in der Landschaft.
Aber was hatte sie eigentlich hergeführt?
Wieso war sie den Weg durch die Stadt gewandert, vorbei an den geschmückten Geschäften, den Straßenhändlern, die ihre Waren feilboten, und dem großen weißen knorrigen Baum, der als Wahrzeichen ihrer Stadt etwas Besonderes darstellte? Dabei blieb sie immer vor dem weißen Baum stehen, bewunderte ihn. So alt wie die Gründung ihrer Stadt hatte es allen Jahreszeiten und allen kleinen und großen Kriegen getrotzt.
Aber heute hatte sie weder Augen für den Baum gehabt, noch für Anderes.

Sie war am Morgen aufgewacht mit einem unwirklichen und unfassbaren Gefühl der Leere. Alles wirkte so bedrückend und nicht mehr lebenswert. Es war, als ob alles, was sie bisher für sinnvoll und schön erachtet hatte, seinen Reiz verloren hätte. Sie hatte aus dem Fenster geschaut und sich gefragt, wieso sie aufstehen sollte. Wieso sollte sie sich bemühen aus dem Bett zu gehen, hinaus in diese graue, unschöne Welt?
Sie bot ihr nichts. Hatte es schon lange nicht. Der tägliche Trott, der monotone Rhythmus, der sie morgens aus dem Bett gebracht hatte und abends wieder zurück, erregte in ihr einen plötzlichen Würgereiz. Die immer selben Menschen, die sie höflich am Arbeitsplatz anlächelten und die, kaum dass sie sich von ihnen ab- und ihrer Arbeit wieder zuwendete, über sie tuschelten und schwatzten.
Doppelzüngig, Janusköpfig.


Der gleiche Papierkram, die gleichen Zahlen und Buchstaben, die sie niedertippte, ausdruckte, vernichtete und neu tippte, die vielen Telefonate, die gestressten Anrufer, die ihre Unzufriedenheit an ihr ausließen, ließen ihren Magen rumoren und ihren Schädel unter heftigem Pulsieren schmerzen.
Plötzlich an diesem einen Morgen schien es ihr unmöglich, das weiter zu ertragen oder gar damit weiter zu leben.
Unerwartet und ohne Vorwarnung hatte ihr ganzer Körper, ihr Geist, ihre Gefühlswelt sich gegen die Welt entschieden.
Sie hatte ihre Schwester angerufen und versuchte ihr davon zu erzählen und Rat einzuholen, aber sie hatte kein Gehör gefunden. Die Kinder schrien ins Telefon und sie wurde schnell abgewimmelt – nur eine Phase.


Ein Stich tief in ihrem Inneren hatte sie gespürt. Sie war im Stich gelassen worden.
Dann versuchte sie es bei ihrem Bruder, aber seine nüchterne, platte Antwort, sie käme von ihrer premenstrualen Phase

, ließ sie nicht nur frei in die Bodenlosigkeit des Unverständnisses fallen. Das Desinteresse für dieses unerklärliche Problem, das sich am Morgen eingestellt hatte, zeigte ihr, dass sie wohl alleine mit dieser Sache fertig werden musste.
Weder Schwester noch Bruder schienen eine große Hilfe zu sein.
Anderseits beneidete sie beide für ihre kühle, fast schon überrationale Sichtweise. Aber keiner hatte sich in sie hineinversetzt, versucht sie zu verstehen und ihr dann die Hand zu reichen.
Lange Zeit hatte sie auf das Telefon gestarrt, mit dem Gedanken gespielt auch noch ihre Mutter anzurufen, aber sie entschied sich dagegen. Sie hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie ebenfalls das Gleiche sagen würde. Eine Phase.
Konnte das wirklich nur eine Phase sein? War diese Unzufriedenheit, dieses hohle Gefühl im Inneren ihres Körpers nur eingebildet und würde sie bald nur darüber lachen können?
Würde sie dann am Abend in der Kneipe um die Ecke sitzen und sich deswegen dumm vorkommen?
Aber ihr war klar, glasklar, dass es keine Phase war.
Ihr Körper, ihr Geist hatten heute gestreikt und weigerten sich weiter zu machen, wie bisher.
Sie war durch die Stadt gewandert, ziellos, lustlos und nun stand sie hier, hoch oben auf dem Dach und schauten von oben herab auf die Stadt unter der weißen Schneedecke.
Hier oben atmete sie die kalte Luft ein, füllte ihre Lunge und für einen Augenblick, einen Atemzug, schloss sie die Augen und lauschte der friedvollen Stille, die ihr einem leisen Sonett glich.
Der elegante Tanz des Schnees hatte inzwischen zu einem lebhaften Volkstanz übergewechselt und wehte ihr in wallenden Bewegungen ins Gesicht. Als sie die Augen öffnete und einige Schritte zum Rand des Daches machte, war sie sich sicherer denn je.
Ein Blick in die schwindelerregende Tiefe ließ sie sanftmütig lächeln.
Was wäre es für ein Gefühl loszulassen, die Luft zu spüren, die ihr entgegen strömt, der freie Fall?
Wie würde es sein, alles hinter sich zu lassen, die Arbeit, ihre Familie, das Leben?
Würde es schmerzen?
Oder würde sie der Schnee in seine weiche Umarmung nehmen und in die Dunkelheit gleiten lassen?
Würde sie wohl jemand missen?
Oder würden sie leere Worte von sich geben, bedauern und vergessen?
Sie vergessen?
War das hier wirklich richtig?
Würde sie bereuen?
Bereuen, dass sie diese Entscheidung gewagt hatte?
Aber Bereuen konnte man doch nur, wenn es etwas gab, das einen noch festhielt und das man bedauerte zurückzulassen.
Gab es vielleicht Etwas, das sie hier zurückhielt?
Und wie würde sie es herausfinden?

Des Rätsels Lösung hatte sich mit dem Schnee offenbart. Die schwingenden Bewegungen der Flocken, im Paar oder gar Solo, waren eine stumme Nachricht gewesen, aber sie hatte es verstanden.
Wieder machte sie einige, tiefe Atemzüge und schloss die Augen. Sie würde diese Nachricht beherzigen, diesen stummen Ratschlag mitnehmen.
Es war Zeit alles zu beenden.
Es war Zeit einen Schlussstrich zu ziehen.
Sie würde neu beginnen und ihrem alten Trott entkommen.
Sie würde sich verändern und hinter sich lassen, was ihr heute Morgen so unliebsam geworden war. Ihr Körper und ihr Geist hatten es schon lange gewusst und sie hatte nicht reagiert, aber nun, da sie an diesem Punkt stand, auf dem Dach in Mitten eines großen tänzerischen, weißen Spektakels, war ihr alles unverkennbar.
Als sie ausatmete, drehte sie sich weg vom Dachrand und tänzelte erleichtert und beschwingt zum Ausgang. Ihrem Ausgang in ein neues Leben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /