Cover


PROLOG



Das Heulen des Windes schien mit jeder Sekunde lauter und bedrohlicher zu werden. Mit seinen kräftigen Stößen schlug er die Weidenzweige gegen die Fenster und schien sie je zu zerbersten. Die Dunkelheit, die sich binnen weniger Minuten über das Land gelegt hatte, wie eine dicke Wolldecke, ließ die ganze Szenerie unheimlich erscheinen. Allein der Halbmond warf sein schales Licht über die Landschaft und ab und an erhob sich eine Krähe unter lautem Geschrei in die Lüfte.
Weit hinten am Horizont waren die ersten Anzeichen eines Gewitters durch das Aufleuchten der Blitze zu verzeichnen.
Keyla hielt sich seit einiger Zeit in einer Kammer, einer Art Keller, unter der Hütte versteckt und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Sie hatte die Öllampe nicht angezündet und auch die Kerzen hatte sie nur neben sich gelegt, aber nicht ihr wärmendes Licht entfacht. Ihr Atmen ging angestrengt und flach und der Schweiß rann ihr die Schläfe entlang über die Wange und tropfte schließlich auf dem harten Kammerboden, wo er feuchte, dunkle Spuren hinterließ.
Bei jedem Knacken und Knistern schreckte sie auf und hielt sofort den Atem an.
Waren es Schritte? Mäuse? Ratten? Oder…nur das alte Holz?
Keyla presste die Lippen aneinander und drückte sich so sehr es ging an die Kellerwand, wobei sie langsam den Schmerz am Rücken spürte. Sie hatte sie seit einiger Zeit erwartet. Sie wusste, es würde soweit kommen. Sie wusste es. Aber als es soweit war, hatte sie kaum mehr Zeit für die Fluchtvorbereitungen. Sie saß in der Falle, in dieser Hütte und das Einzige, was sie machen konnte, war totes Häschen spielen.
Vielleicht würden sie sich von leeren Hütte beirren lassen und sie hätte eine weitere Chance zu fliehen, die sie nutzen würde.
Aber sie glaubte nicht mehr dran. Ganz hinten in der Kammer, gab es eine Einbuchtung, die einzige Stelle in der Kammer, die nicht von den zwei kleinen Fenstern oder gar von der Bodenluke einsehbar war. Genau dort hatte sie sich zusammen gekauert und an die Wand gepresst, wobei sie mit ihrer dunklen Kleidung mit den Schatten und der dunklen Umgebung zu verschmelzen schien. Keyla blinzelte in die Dunkelheit hinein. Wie hatte es angefangen?
Es hatte ganz harmlos angefangen. Seltsam, ja. Aber vollkommen harmlos. Und niemand, wirklich niemand hätte jemals geahnt, dass es soweit kommen würde. Sie schloss langsam die Augen und erinnerte sich zurück. Zurück an den Augenblick, als sie noch in ihrer Heimat war.


Kapitel 1



Der Morgen hatte grau und fahl begonnen, die Wolken hingen tief. Ein typischer Aprilmorgen mit leichtem Nieselregen, der sich sanft auf der Haut anfühlte. Der Morgen hatte zwar nicht einladend angefangen, aber das hinderte die wenigsten daran aus dem Haus zu gehen und die ersten Einkäufe nach Ostern zu tätigen. Das Wochenende war lang gewesen und viele hatten von Vorräten gezerrt, die sie kurz vor den Ostertagen eingekauft hatten.
Keyla lag noch einige Zeit in ihrem Bett und kuschelte sich tief unter ihre Decke.
Für sie bedeutete der Wochenanfang vor allem Schulbeginn.
Sie hasste es in die Schule zu gehen. Schon immer, solange sie denken und sich zurück erinnern konnte, hatte sie einen Groll gegen die Schule gehegt. Ihre Mitschüler hielten sie für einen Freak. Sie mieden sie, tuschelten über sie und einige Wenige bösartige Exemplare verfolgten sie, um sie in irgendeiner dunklen Ecke zu verprügeln.
Das war ihr bisher zweimal passiert. Die anderen Male war sie einfach schneller als ihre Verfolger gewesen. Und Keyla konnte es ihnen nicht einmal übel nehmen, wenn sie ehrlich war.
„Keylaaa! Aufstehen, sonst kommst du zu spät!“, dröhnte es von unten und Keyla schmunzelte unwillkürlich. Die Nachbarn hatten sie bestimmt auch gehört.
Ihre Oma war eine schrullige, alte Frau mit einigen Macken, wie sie manche alte Omas hatten, aber sie war die Einzige, die sie kannte, die sie nicht für einen Freak hielt und dafür liebte sie sie unendlich. Sie warf die Decke ruckartig von sich und stand von ihrem Bett auf. Schnellstens zog sie sich aus, wobei sie ihr Pyjama quer durchs Zimmer warf, und gleich wieder an, ein schwarzes Longshirt und ein paar schwarze Jeans (schwarz war ihre Lieblingsfarbe) die sie mit einem breiten schwarzen Nietengürtel aufstylte, wenn man das so bezeichnen konnte. Geduscht hatte sie am Vorabend, deswegen flitzte sie nur zum Gesicht waschen und Zähne putzen in das Badezimmer. Ihre Haare trug sie streng zu einem Pferdeschwanz gebunden, die große Brille mit den dicken Gläsern rutschte ihr mal wieder in regelmäßigen Abständen von der Nase und an den Ohren hing ein Paar hängende Ohrringe mit schwarzen Perlen und ein Paar Ohrstecker in Schlangenform. Nach knappen zwanzig Minuten war sie fertig mit allem.
Mit spitzen Fingern griff sie nach ihrer Schultasche und rannte dann blitzschnell die Treppe hinunter, wo ihre Großmutter schon mit dem Frühstück auf sie wartete. „Na? Freust du dich schon?“, quiekte sie fröhlich. Ihre Großmutter grinste ihre Enkelin schelmisch an, bevor sie ihr eine große Portion Pancakes mit Schokoladensoße auf den Teller hievte. „Für die Nerven.“, grunzte sie dann doch mitfühlend.
Keyla lächelte ihre Großmutter breit an und begann sofort mit großem Appetit zu essen.
„Wie lange wird denn der Tag andauern? Bist du schon zum Mittag- oder erst zum Abendessen da?“ Keyla schaute auf. „Iff hap biff halp ffier.“
„Nicht mit vollem Mund, junge Dame.“ Keyla schluckte schnell runter und blickte ihre Großmutter schuldbewusst an. „Ich hab heute bis halb vier, nach ner Doppelstunde Mathe.“ Sie zog eine Grimasse, um ihre Begeisterung kund zu tun. Ihre Großmutter runzelte die Stirn. „Sicher? Ich dachte heute geht ihr auf einen Ausflug. Zu diesem …wie heißen die noch gleich…? Eben dort, wo alte, verstaubte Sachen sind.“ Sie zog ebenfalls eine Grimasse, wie ihre Enkelin. „Museum, Oma, Museum.“ „Wie auch immer.“ Keyla kramte in ihrer Tasche nach ihrem Planer und schaute auf das Datum. „Stimmt. Iieeh…Ich hasse Museen. Ich weiß nicht, wann ich durch bin. Ich ruf dich dann an, wenn es vorbei ist.“ Mit einem Grabesgesicht tilgte sie die letzten Stücke ihres Frühstücks und schielte auf den kleinen Berg Pancakes, neben sich. „Nachschlag? Ich brauch heute doppelt so viel für die Nerven.“ Ihre Großmutter lachte schallend auf, ganz tief und reibeisenartig hörte es sich an, dass man glaubte, das Haus bebte, bevor sie ihr wieder eine große Portion auf den Teller legte.

Durch den Nieselregen, die Straße runter zur Bushaltestelle, rannte Keyla ohne außer Atem zu kommen. Etwa eine Viertelstunde dauerte die Fahrt, bevor der Bus ratternd und schwerfällig vor ihrer High School, der ‚New South Supreme‘, zum stehen kam. Vor dem Schulgebäude hatten sich schon ihre Klassenkameraden um ihren Lehrer versammelt. „Miss Dione, endlich auch da! Hier in die Namensliste eintragen und unterschreiben, aber hurtig.“ Ihr Lehrer, Mr. Woodmaker, wirkte ungeduldig und leicht gereizt, so dass Keyla schnell ihren Namen in die Reihe einfügte und das Blatt zurückgab. „Dann können wir ja endlich

gehen.“ Er führte die insgesamt 32 Schüler an, sein Gang erinnerte an einen übergewichtigen Pinguin, und die trotteten ihm mehr oder weniger begeistert hinterher.
Den Tag konnten sie bestimmt besser nutzen, als in einem muffig riechenden Museum, aber im Grunde waren sie dankbar, dass der erste Tag der ersten Woche nach den Osterferien nicht mit einer Doppelstunde Geschichte anfing und mit einer Doppelstunde Mathe aufhörte. Mit leisen Geschnatter, Getuschel und Gekicher, aber auch gelegentlichem Johlen wurde der Weg zum Museum bewältigt. Ganz am Ende der langen Schülerreihe lief Keyla allein und schweigsam, wie immer. Das Museum war nicht einmal weit entfernt von ihrer Schule, höchstens fünf Minuten, und kaum einer ging freiwillig in das leicht verfallene Gebäude hinein, dass seine besten Tage längst hinter sich hatte.
„Da sind wir. Haltet Eure Schülerausweise bereit. Sie werden abgestempelt, dann kostet es euch keinen Eintritt.“ Mit leisem Grummeln wurden die Taschen nach den Ausweisen gewühlt.
Noch weniger würde jemand freiwillig für den Eintritt für das verfallene Haus bezahlen, wenn es sich den vermeiden ließe. Der Pförtner stempelte mechanisch jedem Schüler den Ausweis, allen außer Stuart Preston, genannt auch Pickel - Stu, der seinen Ausweis vergessen hatte und den vollen Preis zahlen musste. Aber selbst jemand wie er, der alle mit seiner unreinen Haut anekelte und den ewigen, eitrigen Pickeln, stand in der Liste der Beliebten über Keyla an vorletzter Stelle.
„Soh und jetzt schön zusammenbleiben. Das hier ist Ms. Fridge. Sie wird uns durch das Museum führen und uns zu Interessanten Stücken etwas erzählen. Glaubt ja nicht, ihr könnt euer Gehirn abschalten. Alles, was ihr hier hört, wird wichtig für den Test nächste Woche.“ Die Klasse stöhnte sofort kollektiv auf und einige streckten ihrem Lehrer die Zunge raus, sobald er sich umgedreht hatte.
Keyla staunte immer wieder, wie wenig erwachsen die Meisten in ihrer Klasse waren, obwohl sie alle zwischen 16 und 18 waren. Aber die geistige Reife hielt wohl nicht mit dem Alter mit. Keyla hielt sich nah genug an der Museumsführerin, die auf den langen knorrigen Beinen wirkte, als ob sie auf Stelzen ging. Unbeholfen stöckelte sie mit den hohen Schuhen durch das Museum und erwähnte mal hier, mal da einen Namen und eine Jahreszahl, wobei sie immer wieder ihre dicke Hornbrille zu Recht rückte, oder an ihren dicken, buschigen grauen Locken fummelte. Die dunkle, tiefe Stimme war dabei sehr leise, so dass Viele Schwierigkeiten hatten, sie zu verstehen.
„Bitte folgt mir. Hier geht es weiter.“
Wie ein einziger großer Haufen folgten ihr die Schüler und der Lehrer in einen größeren Raum etwas abseits von den anderen Räumen. Tatsächlich schien dieser Raum sogar das Herzstück des Museums zu sein, denn selbst die Schüler, die am Wenigsten interessiert waren, kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Raum wirkte viel höher und größer als alle anderen und war mehr ausgeleuchtet. Die Wände waren allesamt mit goldverzierten Spiegeln verkleidet, und hier und da stand eine kalkweiße Büste, die das Gesicht eines grimmig dreinschauenden Mannes darstellte.
„Dieser Raum wurde im kleinen Format dem Spiegelsaal des Versailler Schlosses nachempfunden. Die ersten Spiegel entstanden im Mittelalter. Die Glasbläser in Venedig stellten die Spiegel her, überzogen eine Seite mit einer Zinn – Quecksilber- Schicht, die als reflektierende Legierung diente. Die Venezianischen Glasbläser blieben Jahrzehnte lang auf diesem Gebiet führend und unter Androhung der Todesstrafe war das Verlassen von Venedig verboten.“ „Wieso denn?“ Pickel – Stu meldete sich dazwischen und zum ersten Mal seit die Führung begonnen hatte, lächelte die Museumsführerin. Sofort verzogen einige Schüler angewidert das Gesicht und Stuart bereute sofort, gefragt zu haben.
Der breite Mund enthüllte viele vom Karies braun gefärbte und zerfressene Zähne. „Nun, junger Mann, damit wurde verhindert, dass das Wissen über die Spiegelherstellung Venedig verließ. So behielten sie sich eine gewisse Exklusivität und die Spiegel hatten einen entsprechenden Wert.“ Sie schloss wieder ihren Mund und drehte sich zu den Wandspiegeln. „Unter König Ludwig XIV., etwa um 1688, wurde in Frankreich das Plattengießverfahren erfunden. So war es möglich solche Meterhohen Spiegel herzustellen, was vorher nicht möglich war, und mit diesen Meterhohen Spiegeln kleidete er den berühmten Versailler Spiegelsaal. Höchst Luxuriös.“, seufzte sie schwärmerisch. Die Schüler hatten sich alles notiert und der Mr. Woodmaker nickte zufrieden. Keyla hatte sich ebenfalls einige Notizen gemacht, aber im Gegensatz zu den anderen hatte sie nicht einmal ihren Blick gehoben, seit sie den Raum betreten hatten.
Von allen Dingen die sie hasste, waren Spiegel das was sie besonders verabscheute. Spiegel waren aber auch ein Grund für sie, um in Angst zu verfallen. In ihnen verbarg sich Etwas, von dem nur sie wusste und das nur sie sehen konnte.
Keyla spürte wieder die Blicke einiger Mitschüler, die ihre Abscheu gegen Spiegel längst erkannt und an vergangenen Tagen diesen und letzten Jahres gegen sie verwendet hatten.
An einen dieser besagten Tage konnte sie sich gut erinnern. Er endete damit, dass sie beim Direktor eine Standpauke wegen Schulvandalismus bekam, sowie zwei Monate Kloputzdienst nach der Schule - als erzieherische Maßnahme.
Und gerade diese Mitschüler schienen wieder etwas auszuhecken.
„Hier entlang. Ich möchte euch einen besonders schönen und seltsamen Spiegel vorstellen. Er wird euch bestimmt gefallen.“ Sie kicherte kokett.
Wieder stöckelte die Museumsführerin vor ihnen her, als ob sie auf heißen Kohlen liefe, bis zum Ende des Raumes. Die Schüler versammelten sich hinter ihr und warteten ab. „DAS meine Damen und Herren ist unser Herzstück. Dieser Spiegel ist schon fast sechshundert Jahre alt. Er wurde in Europa, um genau zu sein in England, in Sussex, gefunden. Die einzigartige Arbeit, die Verzierungen und der Prunk machen es zu einem der wertvollsten Stücke auf der ganzen Welt.“ In ihrer dunklen Stimme schwang der Stolz mit. Das Museum durfte ein derartig wertvolles Stück ausstellen und das hatte mehr Besucher als sonst in das muffige Museum gelockt.
„Und was ist daran so besonders?“ Wieder war es Pickel – Stu, der einfach dazwischen fragte, wobei er bewusst den Kopf nicht hochhob. „Komm näher.“ Nun beobachteten alle neugierig ihren pickeligen Mitschüler und kaum, dass er vor dem mannhohen Spiegel stand, waren die ersten erstaunten Pfiffe zu hören. Obwohl er genau davor stand, wurde er nicht gespiegelt. „DAS ist der Grund, wieso dieser Spiegel so besonders ist. Die Wissenschaftler sind seit Jahrzehnten versucht herauszufinden, wieso dieser Spiegel, obgleich er alle Eigenschaften anzeigt und seine Umgebung, Gegenstände ja sogar Tiere zu spiegeln scheint, keine Menschen spiegelt. Dieser Spiegel ist ein Phänomen.“ Sofort drängten sich die Schüler, um ebenfalls vor dem Spiegel zu stehen und jedes Mal blieb das Staunen nicht aus.
„Schick nicht?“ Die Museumsführerin hatte erreicht, was sie wollte und war höchst zufrieden. „Gut. Dann gehen wir weiter zum nächsten Raum.“ Ein enttäuschtes Gemurmel ging durch die Schülermenge, doch jeder folgte der Museumsführerin in den nächsten Raum. Keyla aber blieb vor dem seltsamen Spiegel und traute sich erst jetzt näher, jetzt, wo alle weg waren. Er schien tatsächlich nicht wie andere Spiegel zu sein und für einen kurzen Moment war sie erleichtert, dass dem so war. Die Verzierungen waren aus Perlmutt geschnitzt und schwarze Perlen schmückten ihn zusätzlich. Alles mit schnörkeligen Blumenranken und Ornamenten wirkte der Spiegel mädchenhaft und fast schon kitschig. Sie streckte gerade die Finger nach der Spiegelfläche, als sie einen kräftigen Stoß spürte. Für einen Moment glaubte Keyla, dass sie gegen den Spiegel knallen und sich wohl verletzten würde, doch zu ihrem Erstaunen fiel sie geradewegs nach vorne auf nasse Erde. Verwirrt stand sie vom Boden auf und drehte sich um. Wie als ob sie durch ein Fenster blickte sah sie das Museum hinter dem Spiegel, der langsam zu schwinden begann und Keyla konnte nur noch die Haarspitzen des Übeltäters erkennen.
Sie versuchte noch geradewegs durch den Spiegel zurück ins Museum zu kommen, doch der löste sich vollkommen auf und Keyla lief ins Leere. Sie biss sich auf die Lippen und fluchte laut vor sich hin. Wieso musste sie auch unbedingt den Spiegel näher begutachten? Wieso war sie nicht einfach den anderen Schülern hinterher gegangen? Wieso? Weil sie mal wieder einfach zu neugierig gewesen war! Sie wusste, dass Spiegel Unglück brachten und sie war trotzdem nicht vorsichtig gewesen. Und nun hatte sie die Quittung.
„Gut gemacht, Keyla. Wirklich. Jetzt hast du’s geschafft. Und wie komm ich jetzt zurück?“ Rings um sie war dichter Wald. Sie selbst stand auf einem wohl oft genutzten Weg, der nass und vollgesogen vom Regenwasser war, der wohl kurz zuvor aufgehört hatte. Das Licht drang nur spärlich durch das dichte Geäst der Bäume. Keyla stand unschlüssig auf dem Weg und überlegte, was sie machen sollte. Warten, dass der Durchgang, durch den sie hierher geraten war, wieder auftauchte, erschien ihr zwecklos. Die Chancen, dass der Durchgang wieder auftauchen würde, schätzte sie gering ein. Einen einzelnen kleinen Stein, der auf dem Boden lag, trat sie mit Schwung von sich.
Ihre Oma würde sich sicher Sorgen machen. Sie konnte jetzt schon das faltige Gesicht sehen, auf dass sich noch mehr sorgenvolle Furchen legen würde. Sie war doch eigentlich zart und zerbrechlich, egal wie robust sie sich zeigte. Und Keyla verfluchte sich, dass sie ihrer Oma Angst und Bange machen würde.
Sie sah sie schon fahl und grau auf dem plüschigen Sofa sitzen und mit der Polizei reden, die sie rufen würde, sobald sie nicht nach Hause käme. Keyla blickte weinerlich in die Gegend.
Wer hatte sie eigentlich gestoßen?
Keyla runzelte die Stirn und ging eine lange Namensliste im Kopf durch und letztendlich kam jeder in Frage, der in ihrem Kopf herum spukte.
Sie drehte ihren Kopf und begann langsam der Sonne entgegen zu laufen, soweit sie erkennen konnte, wo sie denn langsam sank. Ihre Schritte hörten sich unter ihren Stiefeln schmatzend und laut an, während sie hinter sich Fußspuren hinterließ, die sich sofort mit überschüssigem Wasser, das die Erde hergab, füllten. Irgendwo würde sie einen Menschen antreffen. Irgendwo wird es jemanden geben, der ihr den Weg nach Hause weisen würde. Irgendwo.


Kapitel 2



Der kräftige Wind hatte sich gelegt und der Regen aufgehört. Wie ein kräftiger Sturm war er über das kleine Dorf gekommen und hatte es in seinen festen Griff genommen, bevor es, so plötzlich wie es angefangen hatte, auch wieder aufhörte. Die Menschen regten sich wieder und die ersten Mutigen trauten sich wieder aus ihren Häusern und begutachteten die Lage.
Einige Nachbarn hatten Teile ihres Daches verloren und das ein oder andere Geflügel war wegen des heftigen Sturmes elendig verendet. Die ersten begannen herbei gewehtes Geäst und tote Tiere wegzuräumen und das Chaos zu beseitigen. Menthe und Kail traten aus einem teilweise vom starken Wind mitgenommenen Stall heraus in dem sie Zuflucht vor dem Sturm gesucht hatten und zogen ihre leicht nervösen Pferde hinter sich her. Der Stall war an der linken Seite eingesackt und stand schief. Menthe lupfte nur ihre Augenbraue über das Glück. Es hätte schlimmer kommen und sie unter sich begraben können. Sie seufzte leise und ließ ihren Blick über die arbeitenden Männer und Frauen schweifen.
Sie waren gerade auf dem Weg nach Ferres gewesen, der nächstgrößeren Stadt, und wurden vom heftigen Sturm überrascht. Kail rückte seinen Mantelkragen zurecht und schaute auf seine Partnerin und Lehrmeisterin, die sich mit der rechten Hand durch das dichte hellbraune Haar fuhr.
„Ich denke wir können weiter, Kail.“ Menthe’s Stimme durchbrach die stille Prozedur der Aufräumarbeiten. Sanft und melodisch klang sie und einige Wenige, die ihre Worte ebenfalls hörten, hoben ihre Köpfe in ihre Richtung und musterten beide mit heimlicher Bewunderung und Ehrfurcht. Jäger, wie sie genannt wurden, waren überall gerne gesehen. Sie entschieden seit längerem über das Gleichgewicht zwischen der Menschenbevölkerung, die sowieso nicht stark vertreten war, und den Waldbestien, die sich immer öfters in die Dörfer und Städte einschlichen, um dort Beute zu machen.
Und Jäger waren die Rettung in der Not. Sie besaßen verschiedenste und auch verblüffendste Fähigkeiten, die man sich vorstellen konnte. Sie waren aber nicht menschlich. Elfen, oder Dunkelelfen sind zu meist vertreten, aber auch Waldnymphen, wie Menthe, die sich gegen ihr angenehmes, beschauliches Leben mit den Satyrn und für die Strapazen eines Kampfes entschieden hatten.
Vor Jahrzehnten hatten sich in den Wäldern seltsame Wesen und Kreaturen nieder gelassen, die noch nie zuvor da gewesen waren oder existierten. Es schien fast so, als wären sie aus dem Nichts entstanden.
Aber so etwas war vollkommen unmöglich. Nichts konnte einfach nur entstehen. Irgendetwas hatte den Ausschlag gegeben, dass die Entwicklung dieser Waldbestien gefördert hatte. Menthe suchte nach einer Erklärung und musste immer wieder feststellen, dass sie keine finden konnte. Sie waren da. Aber woher sie gekommen waren, war das Rätsel, das wohl ungelöst bleiben würde. Und ihr Partner Kail. Er hatte keinen eigenen Gedanken dazu gefasst. Das machte er kaum, dazu verließ er sich zu sehr auf sie. Er vertraute ihr blind, aber manchmal wünschte sie sich, dass er ein Wenig mehr von seinem Verstand in ihre Arbeit einfließen ließe. Doch die Erfüllung dieses Wunsches war genauso weit entfernt, wie sie von der Bezeichnung einer jungen Dame. Sie seufzte tief auf.
Kail setzte sich auf seinen Fuchs und schlug ihm sanft und beruhigend auf den kräftigen Hals. „Wohin führt uns der Weg nun?“ Seine smaragdgrünen Augen waren unentwegt auf seine Partnerin gerichtet. Er überließ ihr gerne die Führung, nicht nur weil sie mehr Erfahrung hatte. Er musste sich mehr als einmal selbst eingestehen, dass es ihm recht bequem war, sie alle Entscheidungen treffen zu lassen. Damit hatte er weniger Verantwortung zu tragen. Gleichzeitig, und das stimmte ihn wehmütig, würde sie ihn wohl nie als vollreif ansehen, sondern ihr ewiger Schüler bleiben. Eine zweiseitige Medaille eben. Was soll's. „Ich denke wir lenken unser Augenmerk nach Baruth. Ich habe dort noch Etwas zu erledigen. Danach können wir immer noch nach Ferres. Wir nehmen am besten die Weggabelung über Nephilda.“
Mit einem Ruck stieg Menthe auf ihren Apfelschimmel und zog ihn sanft an den Zügel in Richtung Süden. Beide gaben die Sporen und winken den Dorfbewohnern ganz nebenbei zu, bevor sie im vollen Galopp von dannen ritten.

Leichte Nebelschwaden durchzogen den Erdboden und nahmen Steine und Schlaglocher in ihren weißen Schleier. Der Boden verwandelte sich in einen versteckten Hindernisparcour. Kail und Menthe drosselten unwillkürlich ihr Tempo.
Werwolfgebiet. Menthe verzog das Gesicht. Sie stellte wieder einmal fest, der Weg war eine Abkürzung nach Baruth, aber dafür war sie sehr gefährlich. Jedenfalls seit diese Bestien aufgetaucht waren. Solche Wesen hatte es noch nie gegeben und sie war immerhin mehr als 800 Jahre alt und erfahren genug darüber urteilen zu können. Doch nun bevölkerten sie einen Großteil der Wälder und machten Durchreisen von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf lebensgefährlich.
Die Pferde wurden unruhig und fingen an immer öfter zu schnauben und ihren Kopf zu schütteln. Menthe spitzte ihre Ohren und lauschte angestrengt. Kail, ihr Partner, machte es ihr gleich. Nicht weit entfernt konnten sie das leise zufriedene Knurren der Werwölfe hören. Menthe schüttelte den Kopf. Zufriedenes Knurren konnte nur Eins bedeuten. Kail und Menthe nickten sich zu, sie verstanden sich ohne Worte, und stiegen ruckartig von ihren Pferden. Mehr als zwei Jahrzehnte Partnerschaft hatten ein gewisses Gespür für die Deutung von Mimik und Gestik bei beiden Hinterlassen. Auch jetzt zeigte sich der Vorteil dieser engen Zusammenarbeit. Sie ersparten sich Geflüster, lange Erklärungen und mögliche Missverständnisse, dass wohlmöglich zu ihrer Entdeckung führen würde.
Die Zügel ihrer Pferde banden sie an einem großen, dicken Ast, um sie vor der Flucht zu hindern.
Das Knurren der Werwölfe wurde lauter und verhieß nichts Gutes. Menthe spürte immer das Bedürfnis in allem Einzugreifen, wenn sie der Meinung war, dass etwas nicht stimmte. Sie hielt die Luft an und blieb für einen kurzen Moment regungslos stehen. Das Knurren war deutlich von rechts zu hören. Vorsichtig und in gebückter Haltung, wie zwei große Raubkatzen, schlichen sie etwas weiter in den Wald, Menthe vorneweg, wobei sie immer wieder stehen blieb und horchte. Mit jedem leisen Tritt wurde das Knurren lauter und das erste wütende Gebell ertönte wie ein Donnerschlag und durchbrach die Stille. Kail formte die Worte „Beutestreit.“ mit seinem Mund.
Menthe nickte sofort ab. Der Wind war günstig, wehte gegen sie und verwischte ihren Geruch. Damit eröffnete sich für sie die Möglichkeit sehr nahe an die Werwölfe heran zu kommen, ohne von ihnen bemerkt zu werden. Hinter zwei großen Eichen lugten sie vorsichtig hervor. Drei große Werwölfe, Jungtiere wie Kail sofort erkannte, die sich vor etwas aufgestellt hatten, dass auf dem Boden lag. Die großen, kräftigen Hinterbeine waren fast doppelt so lang wie der Torso und die Vorderbeine waren etwas kürzer.
Auf allen Vieren mussten diese Bestien tief zu Boden gehen, um sich an beute anzuschleichen. Aber die meiste Zeit standen sie auf den Hinterbeinen und schnüffelten in ihrer Umgebung nach möglichen Feinden. Doch gerade jetzt schien etwas ihre Aufmerksamkeit mehr eingenommen zu haben. Und Kail und Menthe mussten feststellen, dass auf dem Boden ein junges Mädchen lag. „Menthe…!“, formte Kail mit seinen Lippen und deutete einen schnellen Eingriff in die Situation an. Menthe nickte ab und duckte sich, wie zum Sprung. Die jungen Wölfe fletschten nun die Zähne und versuchten sich gegenseitig mit Drohgebärden einzuschüchtern. Menthe wusste, dass junge Werwölfe leicht zu verschrecken waren. Es würde dieses Mal ein einfaches Spiel sein mit ihnen fertig zu werden. Aber sie müssten schnell handeln.
Einer der drei Werwölfe hörte auf zu knurren und hob den Kopf und blickte suchend und schnüffelnd umher. Menthe hob ihre linke Hand und gab ein Zeichen.
Fast gleichzeitig und pfeilschnell kamen sie aus ihrem Versteck und zückten ihre Schwerter, hielten sie hoch erhoben. Aber genauso schnell, wie sie aus ihrem Versteck gesprungen waren, genauso schnell kamen sie zum Stillstand. „Das ist allerdings mal was Neues.“ gab Menthe überrascht von sich und schaute den drei Werwölfen hinterher, die jaulend davonliefen. Sie blickten nicht einmal zurück und verschwanden im dichten und dunkleren Dickicht des Waldes. „Ich hatte auch auf mehr Gegenwehr gehofft---erwartet. Ich hatte sie erwartet.“, fügte Kail hinzu. Menthe schaute ihren jungen Partner mit schrägem Kopf an und schüttelte ihre Haarpracht. „Das ist absolut nicht normal gewesen, Kail. Sie waren zu Dritt und haben nicht einmal den Versuch gemacht ihre Beute zu verteidigen. Nicht das ich das heraufbeschwören möchte.“ Kail nickte und steckte, wie seine Partnerin, ebenfalls sein Schwert weg. Ein leises, gläsernes ‚Kling‘ ertönte, als das Schwert in der Scheide versank. „Selbst normale Wölfe geben ihre Beute nicht kampflos her.“, führte sie weiter an, während sie auf das Mädchen zugingen. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du beängstigend bist, Menthe.“ Kail zuckte die Schultern. „Halt den Mund, Frischling!“, gab sie zurück, nicht ohne ihm kindlich die Zunge rauszustrecken.
Neben dem Mädchen knieten sie sich beide hin und mit geübtem Blick überblickten sie schnell, ob sie verletzt war. Auf den ersten Blick schien sie vollkommen in Ordnung, bis auf ein Paar leichte Kratzer an den Unterarmen, an der Wange und an den Knien. Sie hatte wohl Glück im Unglück gehabt.
„Und?“ Menthe strich über das Haupt des Mädchens. Die blonden, gelockten Haare glänzten seidig und golden trotz des wenigen Lichtes. Der Körper wirkte zerbrechlich und klein und sie war in einem blauen, knielangen Kleid gehüllt. Weiße Schuhe an ihren Füßen komplettierten das Bild von einem elfengleichen Wesen. Aber Kail und Menthe wussten, dass es keine Elfe war. Es war eine Menschenmädchen und das in einem Waldstück, dass für seine Gefährlichkeit bekannt war. „Wir nehmen sie mit.“ Kail nickte einverständig und trug den schlaffen, bewusstlosen Körper zu seinem Pferd herüber. „Gibt es in Baruth nicht auch Heiler?“ „Ja. Aber ich denke nicht, dass sie einen Heiler nötig hat. Die paar Kratzer heilen von selbst.“ Menthe runzelte die Stirn. „Ernsthaft, Kail, das war nicht typisch für Werwölfe oder für irgendein bekanntes Raubtier. Wir stellen im Grunde keine größere Gefahr dar, es sei denn wir nutzen die uns in die Wiege gelegte Magie. Und diese Fähigkeiten finden sie erst im Kampf heraus.“ „Wer weiß, ob nicht etwas Anderes, Gefährlicheres hier lauert, das ihnen mehr Angst eingejagt hat, als wir.“ „Und wo ist dieses Etwas, deiner Meinung nach?“ „Hier vor deinen Augen in meinen Armen. Siehst du es nicht?“ Menthe schüttelte den Kopf. „Sei doch ein wenig ernsthafter, Kail.“ Aber sie beschaute das Mädchen doch genauer und runzelte dabei nachdenklich die Stirn. Die Kleidung des Mädchens fiel auf. Es war zu seltsam. Zum einen war der Stoff des Kleides selten und teuer und gar nicht typisch für die Gegend, zum anderen hatte sie bisher noch kein Kleid gesehen, das nur knielang geschnitten war und nur an Trägern ohne Hemd getragen wurde. Sie stieg auf ihr Pferd, sobald sie die Zügel vom Ast gelöst hatte. Selbst Kail, der trotz der langen Partnerschaft mit ihr noch viel zu lernen hatte und für Äußerlichkeiten manchmal blind zu sein schien, hatte bemerkt, dass das Mädchen nicht hierher gehörte.
„Los, reiten wir los, bevor sich’s die Werwölfe doch anders überlegen.“
Mit ihren letzten Worten gab sie ihrem Pferd die Sporen.


Baruth war eine kleine Stadt, malerisch durch die vielen mit Blumen überfüllten Gärten und berühmt für die beruhigenden wie anregenden Kräutermischungen. Die ganze Stadt duftete nach dem buntesten Gewächs und erweckte jeden mit dem berauschenden Duft aus den schönsten Träumen und belebte die Lebensgeister. Selbst die Pferde fühlten sich sofort beruhigt und entspannt, sobald sie in der Nähe des Städtchens waren. Eine Atmosphäre des Friedens und der Geborgenheit, die Baruth ausstrahlte, obgleich sie nicht weit vom Wald entfernt war.
Menthe konnte schon das Tor von Weitem erkennen, ein schöner Bogen, geschmückt mit Amaryllis und bewacht von zwei Stadtwachen, die noch nicht abgelöst wurden und entsprechend mit ihren hängenden Schultern müde wirkten. Selbst die schönen Blumendüfte kamen ihr entgegen und zauberten ein Lächeln auf ihre Lippen.
Kail schielte verstohlen zu ihr herüber und konnte wieder einmal nur sprachlos staunen, wie etwas so sanftes und schönes gleichsam so effektiv als Jägerin war. Sie war eine Koryphäe.
Menthe war um einiges älter als er, einige Jahrzehnte waren es bestimmt, aber Alter spielte unter magischen Wesen wie Elfen und Nymphen sowieso keine Rolle.
Das Alter war relativ.
Menthe, trüge sie ein Musselinkleid, wie es ihre Schwestern taten, sie wäre atemberaubend.
Und…sie war vergeben. Sie würde ihren Verlobten niemals verlassen. Ihr Verlobter war alles für sie. Und dieser fühlte genauso. Und obwohl es mehr als zwei Jahre waren, seit er einfach verschwand, blieb sie ihm treu.
Kail hatte keine Chance. Mehr als ein Schüler, der sich die meiste Zeit auf sie verließ, war er nicht.
Aber er kam damit klar. Solange sie als Partner ihre Arbeit als Jäger erfüllten, er an ihrer Seite war, konnte er damit leben. Vorerst. Sie war nun einmal unerreichbar für ihn.
Kaum das sie durch das Tor ritten, umfing sie das bunte Treiben des Städtchens. Kleine Kinder jagten sich gegenseitig, ein alter Mann wedelte mit seinem Gehstock und schimpfte über die schreiende, lachende Kindermeute. Die lebendige Kulisse, die sich ihnen bot, war ansteckend. Selbst das Mädchen in Kails Armen bewegte sich und schien langsam aufzuwachen. Die Augenlider zuckten und ein leises, langgezogenes Stöhnen, das von Schmerz herrührte, ertönte und zog die Aufmerksamkeit der beiden Jäger auf sich.
„Sie wird wach, Menthe.“ Kail hielt fast den Atem an, als das Mädchen die Augen aufschlug.
Mit großen dunkelbraunen Augen schaute nach oben direkt in Kail‘s Gesicht. Zuerst wirkte sie sichtlich überrascht, dann wechselte ihr Gesicht und die Augenbrauen hoben sich, was sie verwirrt erscheinen ließ. Letztlich wurde sie ganz bleich und die Angst machte sich auf ihrem Gesicht breit. Aber kein Mucks kam aus ihrem Mund. Dafür aber regte sich ihr Körper und sie begann mit Händen und Füssen zu schlagen. „Hey, hey! Aufhören. Hey. Das tut weh!“ Kail bekam die meisten ihrer Schläge ab. Ruckartig wirbelte er sich von seinem Pferd und mit einem dumpfen Aufprall landete das Mädchen auf den weichen, erdigen Boden. „Du könntest ruhig netter sein.“ Kail legte seinen Kopf schief und schaute zu ihr herunter. „Wer…wer seid ihr?“, stammelte sie. Sie stand langsam auf und klopfte sich den Staub vom Kleid ab, bevor sie wieder hoch schaute. „Nun? Gehört das zur Museumsbesichtigung oder wie?“
Menthe und Kail runzelten die Stirn und schauten sich erst an, dann wieder das Mädchen vor ihnen.
„Ich bin Menthe, Nymphe und Jägerin von Anwar. Das ist mein Schüler und Partner Kail, Halbelb aus Edenbruch. Dürfen wir deinen Namen erfahren?“ Menthe blieb ruhig. Ihr Blick lag prüfend auf dem Mädchen, die beide ungläubig, dann aber spöttisch anschaute. „Nymphe, Halbelb. Sicher. Natürlich. Wieso ist mir das nicht aufgefallen? Ich bin Haley, Vampirin und aus New Jersey.“ Menthe’s Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und sie schnaubte laut und deutlich verächtlicht auf, während sie und Kail von ihren Pferden herunterstiegen. „Vampirin. Das denke ich nicht. Du riechst nach Mensch. Eindeutig. Außerdem…Wärst du ein Vampir würde es sichtbar sein.“ Sie zeigte mit ihrem Finger zur Sonne hinauf.
„Was seid ihr denn für Vögel? Hey, hört mal, Spaß beiseite: Ich mein es ernst. Wer seid ihr und wo bin ich gerade?“ Menthe schüttelte ihre Haare und schaute Kail an. „Das haben wir dir eben gesagt, Haley. Wir sind Jäger. Und gerade jetzt bist du in Baruth, die berühmte Stadt der Kräuter. Wir haben dich vor drei jungen Werwölfen gerettet, die dich als kleine Mahlzeit nehmen wollten.“ Kail endete und betrachtete die Reaktion seiner Gegenüber. Ihr Gesicht wechselte zwischen fassungslos und belustigt. Offenbar glaubte sie kein Wort von dem, was sie sagten. Vielmehr schien sie das für einen Scherz zu halten. „Werwölfe. Sehr witzig. Wirklich. Ich habe mich lange nicht mehr so amüsiert. Na gut, wenn ihr nicht sagen wollt, wo wir sind, könnte ihr mir wenigstens sagen, wie ich zurück zu meiner High School komme?“ „High School? Was…was ist eine High School?“ Kail legte den Kopf schief, wie ein junger Hund.
„Also, jetzt reicht es wirklich. Dieses ganze Elben und Elfengetue könnt ihr euch getrost sparen. Ich bin aus dem Alter raus. Also. Wo liegt New Jersey? Ihr braucht mich nicht zu begleiten, ich finde schon alleine nach Hause!“ Haley baute sich vor den beiden auf und ihre Augen zeigten keinerlei Spur von Witz mehr. Vielmehr schien sie nun wütend zu sein. „Ich weiß nicht was du meinst, Menschlein. Aber nur zu deiner Information. Ich bin als Jägerin nicht dafür bekannt viel Geduld zu haben. Solltest du mir noch einmal unterstellen, dass ich lüge, dann…-“ Statt einer Antwort ließ sie aus ihrer rechten Hand Flammen aufzischen. Haley wich sofort erschrocken zurück. „Wie zum Teufel hast du das gemacht? Wie geht der Trick? Wenn ihr mich verletzt, verklage ich euch. Ihr kommt in den Knast! Das ist dann sicher!---Hey Moment. Wird gerade ein Film gedreht? Ist das hier vielleicht ein Filmset?“ Haley starrte auf Menthe‘s Hand in der sich wieder Flammen bildeten und weiter um ihre Hand schlossen, wie ein Feuerball. Haley schluckte benommen und langsam wurde sie blass und fahl im Gesicht. Ihre Lippen bebten, während sie unablässig die flammende Hand beobachtete. Sie sah keine Düse, aus der die Flammen herauskamen, noch entdeckte sie Brandgel, von dem sie gelesen hatte, Stuntmen würden es benutzen für ihre Flammentricks. „Das...Das…ist kein billiger Trick?!“ Sie hatte plötzlich das Gefühl, das etwas Kaltes ihren Rücken hinunter lief und sie in seinem eisigen Griff nahm. Es war die Erkenntnis, die sie mit einem Schlag erlangt hatte. Ein Schwindelgefühl erfasste sie und hüllte sie in ihre warme Dunkelheit ein. Ihre Stimme war nur noch ein Seufzen, als sie mit einem „Oh, mein Gott!“ ,ohnmächtig wurde.


Kapitel 3


Die Nacht brach schnell über sie ein. Dieser Teil des Waldes war nicht allzu dicht gewesen und der Weg auf dem sie sich befand, verreit, dass hier regelmäßig jemand vorbeikam oder gar vorbeifuhr. Keyla spürte die Müdigkeit in jedem einzelnen Knochen und ihre Füße schleppten sie nur noch langsam vorwärts. Sie hatte bisher keine Stadt und kein Dorf gefunden, wo sie eine Bleibe für die Nacht haben konnte. Der Weg schlängelte sich schier endlos in die Ferne ohne Aussicht auf eine Unterkunft. Ihr wäre sogar eine kleine, unbequeme Jagdhütte willkommen gewesen. Sie stellte schon gar keine Ansprüche mehr. Mit Blick zum Himmel, der sich langsam verdunkelte, entschied sie sich zu rasten und einfach im Wäldchen zu übernachten. Schlapp vom stundenlangen Lauf ging sie abseits vom Weg in den Wald hinein, nicht allzu weit, und suchte sich einige, große Steine, die sie in einem Kreis zusammenlegte. Ein Überbleibsel an Wissen, angesammelt, als sie mit ihrer Schulklasse auf einem einwöchigen Campingausflug war. Sie war kein großer Naturfreund. Sie mochte Blumen und Pflanzen, aber sie war nicht wirklich Fan von Übernachtungen unter freiem Himmel. Dann hörte sie immer Geräusche – leises Knacken und Flüstern – und das konnte einen durchaus verrückt machen. Mit den letzten schwachen Sonnenstrahlen sammelte sie Reißig und einige trockene Zweige und Äste, die zu genüge überall herum lagen. Mit einem leisen Seufzer legte sie einige Äste und das Reißig in der Mitte ihrer Feuerstelle. Sie kramte in ihrer Tasche – Taschentücher, Block, Stift, eine Wasserflasche, die nur noch halb voll war und ihre Brotbox, die einige mit Schokolade gefüllte Pancakes enthielt, lagen durcheinander – und fand schließlich, was sie suchte: ein Feuerzeug mit einem Phönixmotiv, Überbleibsel ihrer Rauchervergangenheit. Damit zündete sie das trockene Reisig an. Keyla beobachtete die Flammen, die sich langsam durch das ganze Reisig fraßen und nun an den Ästen zu lecken begangen. Das Feuer loderte und tanzte, wirkte lebendig und Keyla’s Blick verlor sich langsam im orangeroten Licht der Flammen. Es zu Beobachten hatte etwas Beruhigendes und die Wärme, die es abgab, erreichte sie bald und hüllte sie wie eine schützende Decke ein. Die müden Knochen und Muskeln entspannten sich und eine wohlige Wärme ging durch ihren Körper. Ihr war bisher nicht aufgefallen, wie kalt ihr eigentlich war. Sie war bisher einfach weitergelaufen, wollte vorwärtskommen und der Sonnenschein hatte sie wohl trügerisch in sommerliche
Stimmung gebracht. Sie fragte sie, ob sie eigentlich vermisst wurde. Ihre Klasse bestimmt nicht. Und ihr Lehrer würde wahrscheinlich annehmen, dass sie den restlichen Museumsbesuch schwänzte. Keyla schluckte schwer. Aber ihre Großmutter würde sich Sorgen machen. Ihre Großmutter. Bei diesem Gedanken quollen die Tränen langsam aus ihren Augen. Ihre Großmutter würde sich wahnsinnige Sorgen machen. Sie würde durchdrehen. Und das würde ihr Herz nicht mitmachen. Keyla atmete schwer. Ihre Großmutter war zwar äußerlich ein strake und durchsetzungsfähige Person, aber die Wirklichkeit war, sie war zart wie ein Blütenblatt und zerbrechlicher als Glas. Allein die dünne, manchmal durchsichtig wirkenden Haut verriet ihre Empfindlichkeit. Keyla holte ein Taschentuch aus ihrer Tasche und schneuzte sich. Hoffentlich würde ihre Großmutter nicht die Nerven verlieren. Sie hoffte es so sehr. Und sie selbst würde sich beeilen nach Hause zu kommen. Irgendwo würde sich jemand finden, der wusste, wie. Es musste einfach jemanden geben, der ihr helfen konnte. Sonst würde sie für eine lange, sehr lange Zeit hier festsitzen. Keyla legte noch mehr Äste ins Feuer und beobachtete, wie die Flammen sich sofort auf das willkommene Brennholz legten und aufflackern ließen. Sie lehnte sich erschöpft an den Baumstamm hinter ihr und schloss ein wenig die Augen, wobei sie ihre Tasche fest umklammerte. Eigentlich hatte sie Hunger und etwas zu essen hatte sie noch in ihrer Tasche, aber noch wusste sie nicht wie weit sie gehen musste, um die Stadt zu erreichen und sie wollte zumindest etwas Proviant beibehalten für den Fall, dass sie eine weitere Nacht in diesem Wald verbringen musste. Eine wohlige Müdigkeit erfasste sie und hüllte sie langsam in ihren dunklen Mantel ein. Der nächste Tag würde vielleicht besser werden. Das hoffte sie. Und vielleicht, ja vielleicht würde sie aufwachen und feststellen, dass alles nur ein allzu realistischer Traum gewesen war. Sie würde aufwachen und ihre Großmutter sehen, sie drücken und duftende Pancakes mit selbstgemachtem Apfelkompott oder Schokoladensauce mit ihr frühstücken. Und in die verhasste Schule gehen. Die verhassten Klassenkameraden ertragen und irgendwie den Schultag hinter sich bringen. Vielleicht, hatte sie ja das Glück.

Keyla wachte ruckartig auf. Sie blinzelte zuerst, rückte dann ihre Brille zurecht, die sie am Abend zuvor vergessen hatte auszuziehen und die ihr im Schlaf seitlich entrückt war, nur um fast augenblicklich zu atmen aufzuhören, als sie den Schatten vor sich genauer betrachtete. Er hielt immer noch den dünnen Stock in der Hand, mit der er Keyla aus dem Schlaf gepiekst hatte. Ein schnorchelndes Geräusch schien aus seinem Mund zu kommen, während er sich nun herunterbeugte und am struppigen Bart kratzte. „Bist du eine Jägerin?“ Keyla musterte den Schatten, der sich als alter Mann entpuppte, während sie wieder normal zu atmen begann und ihr Herzschlag wieder seinen gewohnten, ruhigen Rhythmus fand. „Nein. Ich…ich glaube, ich hab mich verirrt. Ich meine…ich habe mich sicher verirrt.“ Der alte Mann nickte ab und winkte sie zu sich. „Komm, ich nehme dich ein wenig mit. Das hier ist kein Ort für kleine Mädchen.“ Wieder kratzte er sich am struppigen Bart und wandte sich von ihr ab. Keyla nickte dankbar und begann sofort die letzten Gluten ihrer Feuerstelle mit Erde zu ersticken. Sie schnappte sich ihre Tasche und folgte dem alten Mann, der am Wegrand einen Wagen voll Heu hatte, gespannt an zwei weißbraun gescheckte Pferde, die ruhig am trockenen Gras kauten. „Ich bin Silas. Und wie ist dein Name Kind?“ Er arbeitete sich geübt auf den Wagen hoch und versetzte die Pferde in Gang, sobald Keyla ebenfalls auf den Wagen hochgeklettert war und sicher saß. „Keyla. Ich heiße Keyla. Und Danke, nochmal fürs mitnehmen.“ Wieder ertönte das schnorchelnde Geräusch, doch dieses Mal begriff Keyla, dass diese Geräusche seiner Atmung entsprang. Er schien eine schlechte Lunge zu haben. „Bitte, gern geschehen. In diesen Tagen ist es gefährlicher denn je, alleine durch die Wälder zu ziehen. Räuber sind hierbei die geringste Gefahr.“ „Oh.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Sie betrachtete den alten Mann, der trotz seines gebrechlichen Aussehens und den Geräuschen seiner Atemwege vor Kraft zu strotzen schien. Nur seine ungepflegte Erscheinung mit dem zerschlissenen Hemd und der leicht modrige Geruch, der von ihm ausging, waren unangenehm. Während sie ihn weiter von der Seite verstohlen betrachtete, spürte sie ein Ziepen und Jucken an ihrer Wange. Keyla tastete entlang ihres Gesichtes und spürte leichte Furchen. Ihre Brille hatte sich in ihre Haut eingedrückt, als sie darauf eingeschlafen war. Nun kribbelte sie, weil die Durchblutung wieder einsetzte. „Nur Jäger trauen sich durch die Wälder zu gehen. Die können das ja auch.“ Der alte Mann unterbrach die Stille, die zwischen den Beiden aufgekommen war. Ihr fiel auf, dass er sie zum zweiten Mal von der Seite anschielte. „Und Sie? Sie fahren doch auch mit ihrem Wagen durch die Wälder.“ „Jah. Ja das ist wahr. Ich muss mir ja auch meinen Lebensunterhalt verdienen, mein Kind. Weißt du, für das bisschen Stroh auf meinem Wagen bekomme ich mit viel Glück etwa zehn Kupferstücke. Das ist nicht viel zum Leben. Es wird für zwei, drei Tage reichen.“ Er hustete und spuckte aus. „Aber heute werde ich wohl ein wenig mehr verdienen als sonst.“ Keyla fiel wieder auf, dass er sie von der Seite anschielte. Etwas Boshaftes blitzte in seinen dunklen Knopfaugen. Mit einem Mal wurde ihr heiß und kalt, ihre Finger verloren ihr Gespür. Plötzlich fragte sie sich, ob es nicht doch eine schlechte Idee war, ihm blind zu vertrauen und mit ihm zu fahren. Wieso war sie so vertrauensselig gewesen? Nur weil er alt war? Ihr Hilfe angeboten hatte? Vielleicht eher, weil sie auf Hilfe gehofft hatte. Er kam ihr wie das rettende Licht am Horizont vor. Er hätte sie aus dem Wald in die Zivilisation gebracht. Aber jetzt kam sie sich nur dumm vor. Zu Hause wäre sie auch nicht mit irgendwelchen Fremden ins Auto gestiegen oder mitgegangen. Das mulmige Gefühl, das nicht von ihrem leeren Magen herrührte, schien ihren Körper vollständig zu erobern. Sie biss sich auf die Lippen und drückte reflexartig ihre Tasche an sich. „Ähm..äh…. Was…was sind denn Jäger?“ Keyla versuchte sich nichts anmerken zu lassen, sondern ihn abzulenken. „Jäger?“ Der alte Mann hustete sofort wieder und wendete seinen Kopf von ihr ab, um wieder auszuspucken. Keyla nutzte sofort diese Gelegenheit und sprang vom langsam fahrenden Wagen herab. Kaum dass sie den Boden spürte, rannte sie auch schon sofort los, hinein in den Wald, weg vom Weg. Weg von diesem alten Mann. Sie hörte ihn sofort fluchen und seinen Wagen anhalten, aber Keyla war sich sicher, einen großen Vorsprung zu haben. Das Gestrüpp und die Äste waren ihr zwar im Weg und sie schien sich immer wieder in ihnen zu verfangen, aber sie lief einfach weiter mittendurch. Sie wollte nicht anhalten. Die Kratzer, die sie dabei abbekam, ignorierte sie.
„Verdammt! VERDAMMT! Ich kriege dich! Hörst du, ich kriege dich, Spiegelkind!“ Das laute Fluchen verfolgte sie. Für einen alten Mann, schien er rüstig und flink zu sein. Im Zickzack bewegte sie sich von ihm fort und vergrößerte so ihren Vorsprung.
Es dauerte nicht lange, da konnte sie ihn schon nicht mehr hören und sie drosselte ihre Geschwindigkeit. Ihr Atem ging schnell und ihr Blut schien in ihren Ohren zu dröhnen und zu rauschen.
„Na toll. Mein erster Tag hier und ich gerate direkt an einen alten Sack, der mich verkaufen wollte! Klasse!“ Sie stütze ihre Hände an ihre Knie und erholte sich in dieser gebückten Haltung, während ihr Herzschlag, der dumpf gegen ihre Brust gehämmert hatte, nun sachter zu schlagen schien. Trotzdem war sie beunruhigt. Er hatte sie ‚Spiegelkind‘

genannt. Spiegelkind

. Keyla schluckte schwer. Ihre Scheu vor Spiegel war vielleicht in ihrer Welt bekannt und gemeinhin gegen sie verwendet worden, aber bestimmt nicht in dieser. Keyla hob ihren Kopf und blickte sich um.
Zumindest hatte sich der Wald nicht in Dickicht verwandelt, sondern öffnete sich zu einer Lichtung hin. Keyla betrachtete das Bild vor sich, durch ihre Brille, wobei es leicht verschwommen wirkte, und staunte nicht schlecht. Vor ihr breitete sich ein schöner Bach, der mit seinem plätschernden, reinen Wasser zum Trinken einlud. Keyla konnte sich nicht erinnern, wann sie je so ein schönes Stück Natur gesehen hatte.
In New Jersey bestimmt nicht. Jedenfalls nicht dort, wo sie wohnte. Und der Central Park in New York war auch nicht vergleichbar. Das hier war wie aus einer Traumwelt. Wie in jenen Geschichten, die sie als Kind immer gelesen hatte und die immer von Prinzessinnen, Prinzen, Feen und bösen Hexen handelten. Diese Lichtung könnte das Feenreich aus dem Märchen Däumelinchen sein. Sie hatte das Gefühl, wenn sie nur genauer hinschauen würde, würde sie die ein oder andere kleine Blumenelfe sehen, die es sich in der Blüte einer schönen Blume gemütlich gemacht hatte. Sie schüttelte ihren Kopf und rückte ihre Brille wieder zurecht.
Sie drückte ihren Rücken durch und atmete den kräftigen, reinen Geruch der Blumen und Bäume ein. Nicht zu vergleichen mit den Autoabgasen in ihrer Heimatstadt.
Aus ihrer Tasche kramte sie ihre Wasserflasche heraus und schüttete das restliche Wasser, nur um sie sofort mit dem klaren Wasser des Bachs zu befüllen.
Während die Flasche sich füllte, ließ sie ihre Gedanken wandern. Das der Alte sie Spiegelkind

genannt hatte, konnte nichts Gutes bedeuten. Sie würde wohl noch mehr solcher Verrückten begegnen. Und sie musste verhindern, dass diese Verrückten sie in die Nähe von Spiegeln brachten.
Spiegel waren lebensgefährlich.
Ihre freie Hand berührte wie automatisch ihren Hals, dort, wo die Geisterhand aus dem Spiegel sie gepackt und beinahe erwürgt hatte. Damals als sie noch bei ihren Eltern gelebt hatte. Die Abdrücke waren nicht mehr sichtbar, aber Keyla konnte noch immer spüren, wie die Hand zudrückte.
Das Wasser quellte aus der Flasche und durchnässte Ärmel und Schuhe. „Mist!“, zischte sie leise, aber wieder in der Realität zurück. Sie verschloss die Wasserflasche wieder und verstaute sie in ihrer Tasche, holte im Gegenzug ihre Brotbox heraus.
Von jetzt an galt es in Deckung zu bleiben, sich von jedem zu distanzieren und auf gar keinen Fall Hilfe anzunehmen.
Der Duft von Pancakes stieg ihr in die Nase, als sie die Box öffnete.
Der Geruch ihrer Großmutter.
Sie hatte noch genau vier Stück. Zwei würde sie essen. Die anderen für später aufheben. Man konnte ja nie wissen. Aber spätestens am nächsten Morgen musste sie alles aufgegessen haben, sonst würden sie ungenießbar und schlecht.
„Ich will nach Hause.“ Ihre weinerliche Stimme verlor sich in der Stille der Lichtung. Ein tiefer Seufzer entfloh ihrem Mund, während sie den gerollten Pancake aufaß.
Mit einem Ruck stand sie wieder auf, schulterte ihre Tasche und machte sich wieder auf dem Weg aus dem Wald heraus zu kommen.

Kapitel 4
Menthe fummelte mit dem rechten Zeigefinger gedankenverloren an den Nieten ihrer Gürteltasche, wobei jedes Mal ein klickendes Geräusch zu hören war, wenn ihr Finger abrutschte. Das kleine Menschlein, das sie aufgelesen hatten, lag auf dem kleinen Bett vor ihr, gab stöhnende Geräusche von sich, geplagt von wilden Träumen geschickt von Mähren, denen sie wohl vor der Begegnung mit den Wölfen begegnet war. Zwei Mal war das Mädchen aufgewacht und bei Menthe‘s Anblick sofort wieder ohnmächtig geworden. Nicht dass sie eine angsteinflößende Gestalt besäße. Menthe hatte schnell begriffen, dass Haley, wie sich das Geschöpf nannte, Furcht vor ihr, vor ihnen hatte.
Die Erinnerungen an den Tag, an dem Kassandra ihr dies Geschehen prophezeite, schwappten in ihrem Kopf, wie die sanften Wellen des Meeres und formten sich zu realen Bildern vor ihrem inneren Auge, während ihre Umgebung zu einem einzigen Farbklecks verschwamm.

„Dein kleiner Jägerfreund ist nicht sehr erwachsen.“ Das war eine nüchterne Feststellung. „Ich weiß.“ Menthe fühlte sich sichtlich wohl bei der Seherin. Obgleich die obskuren, kantigen Talismane aus buntem Glas überall im kleinen Raum hingen und in ihren Haaren hängen blieben, fühlte sie sich heimelig.
„Das wird sich bald ändern.“ „Schade. Es hat seinen Vorteil einen ‚Welpen‘ bei sich zu haben.“ Die Seherin lachte heiser, während sie sich auf ihrem hölzernen Hocker niederließ. Ihre Augen waren milchig und zeugten von Blindheit, aber die Fähigkeit zu sehen besaß sie trotzdem. Oder vielleicht gerade deswegen. „Du bist meiner Seherschwester Kassandra begegnet?“ Menthe schmunzelte. Und Humor besaß ihre Gegenüber ebenfalls. Alle Seherinnen hießen Kassandra. „Ja, ich hatte das Vergnügen Kassandra zu sehen. Sie hat uns hergeschickt.“ „Das war richtig.“
Menthe’s Stirn legte sich in nachdenkliche Fältchen, während sie die Seherin beobachtete. Ihr zierlicher, jugendlicher Körper schien sich krampfhaft zu versteifen.
„Ich habe eure Zukunft gesehen. Und habe sie nicht gesehen.“ Menthe beugte sich vor und lauschte der leisen Stimme der Seherin, in der sich immer wieder ein seltsam melodischer Singsang mischte, eine Sprache, die sie nicht verstand. „Ihr werdet Fremdes begegnen. Einen. Nein Zwei. --- Es sind zwei fremde Mädchen. Sie gehören hierher. Und gehören nicht hierher. Sie sind Teil dieser Welt und sind es nicht. Sie werden den Brunnen finden. Den Eingang. Sie finden ihn nicht.“
Auf Menthe’s sonst ruhigem Antlitz zeichnete sich zusehends Verwirrung. Sonst waren die Aussagen der Seherin verblüffend eindeutig. Jedes Ereignis, jedes Detail war perfekt beschrieben. Aber etwas schien anders zu sein. Eine Zweideutigkeit, die ihr unbehagte.
„Sie… sie…“ Die Seherin schien mit einem Mal schlagartig zu altern und das Aussehen der jungen Seherin glich nur noch der einer runzeligen Vettel. Ihre Haltung wirkte gekrümmt und nicht mehr Vital. Menthe blieb starr vor Schreck sitzen, unfähig zu reagieren oder Hilfe zu holen. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, obgleich es nur wenige Atemzüge waren, bis die Seherin wieder ihre Gestalt zurück erhielt.
„Kassandra?! Was…was war das?“ Menthe’s Glieder schienen wieder zu funktionieren. Sofort legte sie ihre Hand auf die Schulter der Seherin. Die Besorgnis war ihr ins Gesicht gemeißelt.
„Das eine Geschöpf wird güldenes Haar tragen, von Elfenstatur. Das andere hat pechschwarzes Haar, Menschengleich. Führt sie zu den Spiegeln. Zu den vielen, tausend Spiegeln. Dort lebt die Älteste unserer Art. Sie wird euch sagen, was mir verborgen war. Sie wird sehen, was ich nicht sehen konnte. Was ich nicht sehen konnte.“ Unvermittelt krümmte sie sich, hielt sich fest und wippte wie ein kleines Kind hin und her. Wimmernde Laute kamen aus ihrem Mund, dass Menthe vor Schreck einen Schritt nach hinten machte.
Das Gemurmel, das sich darunter mischte, blieb unverständlich, doch spürte die Jägerin, dass das Gefühl der Schuld mitschwang. Was war es, das die Seherin derart mitnahm? Einmal mehr wünschte sich Menthe Gedanken lesen zu können. Doch das blieb höchstens eine Wunschvorstellung. Es gab niemanden, der dies konnte.


Das leise Murmeln Haley’s holte Menthe zurück in die Gegenwart. Sie blinzelte verstört in die Dämmerung der kleinen Behausung, die vollständig aus dunklem Holz bestand. Haley starrte Menthe wieder entsetzt an, aber zumindest wurde sie nicht wieder ohnmächtig. Allerdings kauerte sie sich an die äußerte Ecke des Bettes um genügend Abstand zwischen sich und der Jägerin zu bringen. „Fass mich bloß nicht an, klar!“ Menthe verzog leicht ihre Miene über die angstgetränkte zu hohe Stimme, blieb aber ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, um die Angst nicht weiter zu schüren. „Das werde ich nicht. Aber wir werden reden. Nur reden.“ Haley schluckte schwer und versuchte noch weiter von Menthe zu rücken. „Ich…ich habe nichts und ich besitze nichts…---“ „Das ist irrelevant.“ Menthe griff nach dem Tonbecher und füllte ihn mit Wasser aus dem Krug. „Hier. Und beruhige dich. Wir werden dir nichts tun. Im Gegenteil, wir wollen dir helfen.“ Ein ungläubiges Quieken ertönte. Zumindest aber griff Haley, etwas zu hastig, den Becher und trank das Wasser in einem Zug. Der Durst war übermächtig und Stärker als die Angst.
„Wir wissen zwar nicht, wie du hergekommen bist, aber es war Schicksal, dass wir uns begegnet sind. Die Seherin hat uns gesagt, dass wir dir begegnen werden.“ Haley starrte aus dem Fenster und nahm die Bilder auf, die sie vor sich hatte. Arbeitssame Menschen, aber auch Wesen, die nicht eindeutig als Tier zu identifizieren waren. Andere waren klein, schmächtig und mit zu langem Bart. Insgesamt hatte Haley das Gefühl in einem dieser Filme gelandet zu sein, die sie erst vor kurzem im Kino gesehen hatte. Sie hatte sogar wegen des Elfen vor sich hin geschmachtet, weil er so gut aussah, trotz langer Haare. Aber das war sie wenigstens sicher, dass es nur Schauspieler waren, Menschen, die maskiert umherliefen. Das hier aber war echt. Sie war echt. Und nun erzählte sie etwas von ‚Schicksal‘. „Haley? Du musst mir eine Frage beantworten.“ Menthe lauschte dem leisen Schluchzten des Mädchens und ein Anflug von Schuld überkam sie. Sie war es, die ihr mit den Flammen Angst eingejagt hatte, die unfreundlich gewesen war. Es war also kein Wunder, dass sie sich vor ihr zurückzog. „Wo…worum geht’s?“ Haley drehte sich um. Ihr verweintes Gesicht war mitleiderregend, aber Menthe zwang sich, sich nicht zu hin zu beugen und in die Arme zu nehmen. „Bist du mit jemandem hier? Oder bist du alleine?“ Haley schniefte laut und deutlich und wischte sich mit der Handfläche die Tränen weg, während sich ihr Blick merklich verfinsterte.
„Das ist bestimmt ihre Schuld. Sie war schon immer komisch, wenn es um Spiegel geht.“ Menthe beobachtete das säuerliche Gesicht. Trauer schlug in Wut um. Ein natürliches Phänomen das den Menschen vorbehalten war. Sie waren am Emotionalsten von allen Geschöpfen, die in den nördlichen Landen lebten. „Wer?“, fragte sie kurz und knapp nach, während sie sich ein Wenig nach vorne beugte und ihre Unterarme auf ihre Knie abstützte.
„Diese Verrückte. Keyla Dione. Wir standen vor dem Spiegel im Museum und von einem Augenblick auf den anderen war ich hier. Einfach hier. Dann…dann war da dieses wildgewordene Pferd, das mich gejagt hat und dann bin ich gestürzt. Und nun bin ich hier! HIER!“ Ihre Stimme wurde schrill und schriller, während alles aus ihr nur so heraussprudelte, wenn auch unvollständig. Vergessen waren Angst und Misstrauen vor Menthe. Es galt sich alles von der Seele zu reden.
„Die ist bestimmt auch hier! Und wenn ich sie erwische…oh wenn ich sie erwische--- .“
Sie stockte plötzlich. Ihr Ausbruch wich einem leisen grummelnden Geräusch, das aus ihrem Bauch kam. Schnell hielt sich Haley an der Stelle fest, wo ihr Magen war und biss sich auf die Lippen, vor Scham. Obwohl Menthe noch mehr Fragen hatte, Fragen über die Spiegel und das Mädchen, hielt sie inne. Ein spitzbübisches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie Haley ihre Hand reichte. „Komm. Du warst fast zwei Tage ohne Bewusstsein. Du hast bestimmt großen Appetit.“ Haley‘s Gesicht färbte sich in ein tiefes Rot. Die Möglichkeit etwas Essbares zu bekommen, schien einladender denn je. Sie zögerte nicht einmal, als sie Menthe‘s Hand ergriff. Die natürlichen Bedürfnisse hatten über das Misstrauen gesiegt.

Der Duft von Maronen stieg ihr in die Nase, während sie die dunkle Suppe begutachtete, die nicht aus jener Frucht bestand, sondern aus dunkelbraunen Beeren, von denen einige bei der Zubereitung am Ofenfeuer neben ihrem Tisch, auf den Boden gekullert waren. Sie hatte noch nie Maronen gemocht, als Suppe schon gar nicht, aber der Hunger schien in diesem Fall eine Ausnahme zu machen.
Schon der erste Löffel weichte ihre ganze Skepsis auf und die wohlschmeckende Flüssigkeit wurde mit Genuss gelöffelt. Es schmeckte eher nach Pinienkernen und Waldpilzen und von Beidem konnte sie nie genug bekommen.
Im Anschluss tischte der Wirt einen gewaltigen, knusprig gebratenen Vogel, der einem Truthahn nicht unähnlich war, es aber unmöglich sein konnte.
Haley fragte nicht nach, was es wirklich für ein Tier war. Stattdessen ließ sie sich ein großes Stück von der Keule schmecken. Das Fleisch war zart und schmolz fast im Mund. Ähnlich wie Grillhähnchen. Nur in einer anderen Größenordnung.
Sie schlang ihr Stück fast in sich hinein, wobei sie ihre Manieren nicht vergaß, während sie von Menthe, Kail und dem Wirt, der das Mahl serviert hatte, still beobachtet wurde. Haley kannte diese Blicke.
Für eine zierliche Person konnte sie einiges an Essen vertragen. Hinter ihrem Rücken wurde immer gemunkelt, sie sei bulimisch veranlagt. Keiner glaubte wirklich daran - und das hatte sich bis heute nicht wirklich geändert - dass sie so viel essen konnte, wie sie es tat, und dabei so dünn blieb.
Aber das konnte sie. Raue Mengen verschwanden in ihrem Mund, dass selbst ihre Mutter angefangen hatte sie nach jedem üppigen Mahl ‚Schwarzes Loch‘ zu nennen und über ihren Appetit den Kopf zu schütteln.
Der Wirt schnitt ihr sogleich einen großen Nachschlag, als sie mit ihrer Portion fertig wurde und konnte vor Staunen über den gewaltigen Appetit seines Gastes seine Augen nicht von ihr lassen.
Und mit jedem neuen Bissen, den Haley zu sich nahm, schien ihr Denkapparat wieder normal zu funktionieren. Sie konnte förmlich spüren, wie ihre Gehirnzellen zum Leben erwachten und zu arbeiten begangen. Sie stöberten in ihren Erinnerungen, Alten und Neuen und suchten nach logischen Erklärungen.
Vor allem alte Erinnerungen schienen in ihrem Kopf Purzelbäume zu schlagen und sich miteinander zu verknüpfen.
Geschichten, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte, Ereignisse in ihrer Nachbarschaft schienen sich nach vorne zu drängen und vor ihrem geistigen Auge zu tänzeln. Aus irgendeinem Grund empfand es Haley als wichtig. Sie wusste nicht genau was, aber die Dinge, die ihr jetzt durch den Kopf gingen hatten etwas mit ihrer Situation zu tun. Und mit Keyla.
Haley zwang ihre Gedanken zurück zum Museum.
Die letzten Minuten, bevor sie hier landete, waren nur unvollständig in ihrem Kopf vorhanden.
Eigentlich wollte sie dem Freak der Schule einen ordentlichen Schrecken einjagen. Idealerweise stand sie sogar schon vor dem seltsamen Spiegel und starrte zögerlich hinein. Es war fast schon zu einfach. Die irrationale Angst vor Spiegeln hatte Keyla zu einem Spielball der beliebten Cliquen gemacht. Ihrer Clique.
Ihre Mitschüler waren weitergegangen im nächsten größeren Raum des Museums und sie stand gerade hinter Keyla.
Dann – nichts.
Sie war einfach hier. Sie wusste nicht einmal, ob sie Keyla gestoßen oder selbst gegen sie gestolpert war. Sie waren beide gleichzeitig in den Spiegel hineingefallen. Aber nur sie war hier. Bei dem Spitzohr und seiner Freundin. In einem Gasthaus.
Aber wo war Keyla?
„Haley?“ Sofort hob sie den Kopf und starrte Menthe an. „Ja?“ „Alles in Ordnung?“ Haley nickte eifrig. „Ja. Ich denke, ich habe nur zu schnell gegessen.“ Sie lächelte verschämt, ließ aber noch schnell ihren letzten Bissen im Mund verschwinden mit der simplen Begründung: „Ich verschwende nie gutes Essen.“
Kail konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Wenn das so ist, Haley, wir würden gerne mit dir reden. Es sind noch einige Fragen offen.“
„Klar. Fragt nur, was ihr wissen wollt.“ Menthe lupfte erstaunt eine Augenbraue, nickte dann aber ab. Anscheinend schien sich das Mädchen schnell an ihre Situation und an die Jäger gewöhnt zu haben. Erstaunlicherweise, wenn man bedachte, das sie vorher Angst und Schrecken empfand. Aber Menthe hinterfragte nicht. Sie hatte gelernt, dass sich Dinge aufklärten, wenn man ihnen die Zeit dazu gab.
„Gut.“ Menthe neigte ihren Kopf nach vorne zu Haley und atmete tief aus.
„Was hat es mit dem Spiegel auf sich?“

Kapitel 5
„Du bist verrückt!“ „Bin ich gar nicht!“ „Doch bist du!“ „Das ist nicht wahr!“ „Meine Mama hat es aber gesagt. Sie sagt, du kommst zum Bekloppten - Doktor!“ Keyla’s Lippen bebten vor Wut und Trauer.
„Deine Mama ist doof!“ „Ist sie nicht! Sie hat auch gesagt, dass du ins Haus kommst, wo die Verrückten wohnen!“ Keyla war umzingelt von ihren Klassenkameraden, die dem Streit zwischen Keyla und Dorothy, der Streberin der 2- b, interessiert zuhörten. Die Tränen kullerten über Keyla‘s Wangen, während ihre Mitschüler zu tuscheln begangen. „Ich…ich bin nicht…nicht verrückt! Das ist alles gelogen!“ Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht und starrte nun zu Boden. „Meine Mama hat auch gesagt“, Dorothy genoss die Aufmerksamkeit, die sie sonst nicht bekam, sichtlich und machte sogar eine künstliche Pause, um die Mitschüler zum Schweigen zu bringen. „dass es nicht normal ist, wenn man Angst vor Spiegeln hat.“
Die ganze Klasse lachte nun.
„Keyla hat Angst vor Spiegeln. Was für ne dumme Nuss!“ „Kein Wunder, dass sie ins Irrenhaus kommt!“
Keyla presste die Lippen aufeinander. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie wollte aus der Klasse rennen, aber die Schulstunde hatte begonnen und ihre Lehrerin, die gerade hereingekommen war, schickte sie zurück zu ihrem Platz. Keyla saß geduckt an ihrem Tisch und wünschte sich so weit weg wie möglich. Leises, gedämpftes Gekicher ging umher. Keyla konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass ein Papierfitzel herumgereicht wurde. Der ließ aber die meisten Schüler sofort verstummen. Keyla schniefte leise und starrte auf einen unsichtbaren Fleck irgendwo hinter der Lehrerin. Die entdeckte endlich den Zettel und griff ihn auf, überflog ihn kurz und ließ ihn in ihre Tasche verschwinden, wobei ihre Augen für einen Moment auf Keyla ruhten.
„Wen ich mit so einem Zettel erwische, darf eine Strafarbeit mit nach Hause nehmen.“ Für einen Moment herrschte Stille. Die Lehrerin rückte ihre Hornbrille zurecht und drehte sich zur Tafel um. Rechnen im Zahlenraum Eins bis Einhundert war Thema und nahm die ganze Stunde ein. Zwischendurch, wenn die Lehrerin gerade nicht hinschaute, wurde Keyla mit nassen, kleinen Papierkügelchen beworfen. Als die Klingel endlich ertönte, spürte Keyla schon, dass ihre Klassenkameraden dort weitermachen würden, wo sie aufgehört hatten.
Sie spürte ihr kleines Herz gegen ihre Brust hämmern.
Aber zu ihrem Erstaunen hielten sie Abstand zu ihr. Großen Abstand, so als ob sie ganz plötzlich eine ansteckende Krankheit mit sich trug.
Keyla verstand den Sinneswandel nicht.
Noch bevor sie reagieren konnte, tippte ihre Lehrerin sie an und bedeutete ihr mitzukommen.
Ein schlechtes Gefühl beschlich sie, eine Art Vorahnung, die sie vor Kälte erzittern ließ. Kaum im Lehrerzimmer, kam die Lehrerin sofort zum Punkt.
„Keyla, wirst du in der Klasse gemobbt?“ Keyla schüttelte zuerst den Kopf, dann nickte sie zögerlich. „Keyla, bitte, eine klare Antwort. Ja oder nein.“
„Eigentlich nicht. Erst seit heute.“ Mit Dorothy’s Anschuldigungen.
„Du hast den Zettel gelesen?“ Ihre Lehrerin hielt das Stückchen Papier hoch, während sie ihre Hornbrille mit dem mittleren Finger zurechtrückte. Wieder schüttelte Keyla den Kopf.
„Ich lese ihn dir gerne vor und dann erklärst du mir das bitte: Vorsicht vor Keyla. Sie hat schon mal jemanden getötet. Sie ist eine Mörderin

.“




„Man sollte niemals zu lange hinein sehen.“ Keyla hob ruckartig ihren Kopf. Ihr Atem ging schwer, schleppend, dass sie glaubte zu ersticken. Eine Art Schüttelfrost hatte sie erfasst und für einen Moment glaubte sie der Himmel faller auf sie hernieder.
„Nun bei Euch ist es wohl zu spät für eine Warnung.“ Keyla schien desorientiert.
Alles wirkte dunkel und dämmerig. Es war das gleiche Gefühl, wie wenn sie zu lange in die Sonne geschaut hätte und dann anschließend ins Haus ging. Noch bevor sie an irgendetwas Halt finden konnte, sackte sie auf dem Boden zusammen.
„Hier trinkt etwas Milch, sie wird Euch helfen.“
Die Stimme, die ihr zuvor dumpf und hohl im Ohr klang, wie wenn sie ein Lied im Slow Motion anhörte, wurde langsam heller und kindlicher. Keyla blinzelte die Umrisse an, die auf sie zukamen. Ihre Brust hatte sich noch immer zusammengezogen und erschwerte ihr die Atmung.
„Hier.“ Keyla spürte den Rand einer Tasse oder eines Kruges an ihren Lippen und schmeckte sofort die Milch auf ihrer Zunge. Sie nahm nur einen Schluck, aber die Wirkung kam sofort. Ihr Gehör erholte sich und ihre Augen begannen die Farben ihrer Umgebung wieder darzustellen.
Selbst ihre Brust war wie aufgeschnürt und die Luft strömte wieder hinein, was ihr wie eine Wohltat vorkam.
„Ihr habt Glück! Die meisten verlieren wegen diesem Brunnen ihren Verstand und ihr Leben. Es hat noch niemandem gut getan, zu lange in der Vergangenheit zu weilen.“
Keyla musterte die Gestalt vor sich nun eingehender an. Ein kleines Mädchen, höchstens neun, vielleicht auch zehn, mit schneeweißem Haar. Das kleine Gesicht zierte ein entwaffnendes Lächeln, das Keyla trotz allem Misstrauen, ans Herz ging. Nur die Augen beunruhigten sie. Sie waren milchig trüb und schauten nicht sie direkt an, sondern durch sie hindurch. „Was … war das gerade?“
Die Frage, die aus Keyla’s Mund kam, hörte sie sich schwer an. Sie hätte schwören können, dass die einzelnen Worte wie nasse Säcke auf den Boden fielen.
„Nun, Ihr habt in den Brunnen geschaut.“ „Das weiß ich auch. Aber…was ist …passiert.“
„Ihr habt einer Eurer schmerzvollsten Erinnerungen gesehen.“
Keyla wurde langsam ungeduldig.
„Dieser Brunnen, wie hier unten steht, ist einer von fünf, die in diesen Landen existieren. Sie sind… der letzte Fluch der vertriebenen Königin. Jeder der hineinschaut, wird zwangsläufig seinen Verstand verlieren, wenn er nicht herausgeholt wird.“
Das war, fand Keyla, schon eine ausführlichere Antwort. Sofort wanderte ihr Blick nach unten. Vom Gras überwuchert entdeckte sie eine kleine Steintafel. Keyla kniete sich nieder und rupfte das Gras weg, um die gemeißelte Inschrift zu betrachten. Eine verschnörkelte Schrift, die Keyla wirklich schön fand und zu ihrer Überraschung lesen könnte. Sie warnte, wie das Kind schon selbst sagte, vor dem Brunnen.
„Ihr scheint eine erdrückende Vergangenheit gehabt zu haben.“ Keyla presste die Lippen aufeinander. Die trüben Augen schauten nach unten in ihre Richtung. Das Mädchen setzte sich einfach zu ihr hin und wechselte unvermittelt das Thema.
„Soll ich Eure Zukunft voraussagen?“
„Bitte?!“
„Eure Zukunft. Ich bin Seherin.“
„Seherin?!“
Keyla kam sich seltsam dumm vor, wie sie alles wiederholte.
„Ich heiße Kassandra. Ich bin die Jüngste.“
Keyla seufzte. Sie war nur ein Kind. Ein wohlmöglich blindes Kind.
„Keyla.“
„Ich weiß.“ Keyla zuckte überraschte zusammen. „Bitte?!“ „Ich bin Seherin. Das habe ich gesagt. Ich bin auch nur hier, weil ich wusste, dass ich Euch…dir begegne. Diese Gegend wird wegen des Brunnens vollkommen gemieden.“ Keyla war sich nicht sicher, ob sie bleiben oder weglaufen sollte. Das Kind wurde ihr zusehends unheimlicher.
„Hab keine Angst. Ich werde dir helfen. Wirklich helfen. Aber zunächst einmal müssen wir hier weg. Sonst finden sie dich.“
„Was? Wer? Wer wird mich finden?“
„Du bist einem von ihnen schon begegnet. Als du hier ankamst.“
Keyla schluckte schwer. Woher wusste sie davon?
„Ich werde dir alles erklären, sobald wir hier weg sind. Sie sind auf dem Weg hierher.“
Keyla spürte einen kalten Schauer ihren Rücken herunterlaufen. Auf dem Weg hierher. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wer sie waren, was sie wollten. Und wieso, wussten sie, dass sie hier war?
„Helikas, ihre Seherinnen, verraten wo du dich aufhältst. Aber keine Angst, solange ich in deiner Nähe bin, verschleiere ich dich. Sie werden nichts mehr sehen können.“
Keyla wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Hin- und hergerissen zwischen blanker Angst vor dem blinden Kind und einer seltsamen Vertrautheit ihr gegenüber. Zwei so gänzlich verschiedene Gefühlsregungen, die Kassandra in ihr regte.
Keyla biss sich auf die Lippen, bevor sie Kassandra’s ihr entgegengestreckte Hand nahm und sich von ihr führen ließ. Das blinde Kind, das die Sehende führte.
Keyla konnte über die Absurdität ihrer Situation nur bitter lächeln. War sie eigentlich vollkommen verrückt geworden? Vielleicht ein wenig, aber konnte man es ihr verdenken? Sie fiel gegen einen Spiegel und anstatt sich den Kopf zu verletzten, wie es normalerweise der Fall wäre, fiel sie hinein und landete hier, wo immer das auch sein mochte, oder, wann auch immer das sein mochte.
Mit absoluter Präzision trat sie nur auf die freien Stellen zwischen den Ästen, Steinen und Schlaglöchern.
Man käme nicht auf die Idee, dass sie blind war. Vielleicht aber war sie es auch die mehr sehen konnte als Keyla. Das Mädchen wirkte immer noch unheimlich, aber Keyla wurde mit jedem Schritt ruhiger, den sie mit ihr ging. Die Angst eingefangen zu werden, schien Stück für Stück in die Ferne zu schwinden. Irgendwie kam ihr die Angst sogar vollkommen unlogisch und unangebracht vor. Vielleicht würde sie ihr endlich erklären, warum sie hier war? Was eigentlich passiert war? Vielleicht würde sie endlich mehr verstehen. Aber vielleicht würde es auch ganz anders kommen. Aber sie kam, das spürte sie, sie kam der Wahrheit näher.


Impressum

Texte: Coverillustration:mmebuterfly @ deviantart
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /