Schlesisch
Das passiert mir auffallend oft. Ich tanze wieder mal mit einer sehr viel jüngeren Frau. Nach einer gewissen Zeit sagt sie unaufgefordert, aber mir ist es, als hätte ich es erwartet, „meine Mutter ist auch aus Schlesien.“ Woher nimmt sie das Auch, ich habe ihr nichts erzählt, ich habe nicht einmal mit ihr gesprochen. „Die ist so vier Jahre jünger als du.“ Sie sagt das in einer Weise, als dächte sie insgeheim: “Du würdest gut zu ihr passen.“ Nein, sie denkt es nicht, sie sagt es. Sie sagt: “ Du würdest gut zu ihr passen.“ Als ahnte sie, was in mir vorgeht, setzt sie hinzu: “ Die sieht übrigens viel jünger aus als sie in Wirklichkeit ist.“ Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich das mache, aber ich verhalte mich so, dass sie von ihrem Thema ablässt. Ich bin sonst kein Fantast, ich habe ein durchschnittliches Verhältnis zur Realität, auch der meines Alters; aber beim Tango scheint das auszusetzen, da mutiert etwas, da verhalte ich mich, als lösche dieser Tanz die Wirklichkeit von Jahrzehnten und sein Zauber entstünde aus diesem Zwiespalt. Ich habe den sicheren Verdacht, die dadurch entstehende Irritation ist nicht nur auf meiner Seite. Etwas Tröstliches kommt in dem heimlichen Gedanken auf: Baby, wenn ich lediglich dein Sparringspartner wäre, würdest du dich nicht derart an mich schmiegen und mir gleichzeitig deine Mutter an den Hals wünschen. Ich intensiviere die enge Tanzhaltung und hoffe, dass sie ihr Angebot noch einmal überdenkt.
„ Spricht deine Mutter noch schlesisch,“ frage ich ähnlich überfallartig. „ Ich weiß nicht, sagt sie, aber für manches hat sie so merkwürdige Ausrücke. Direkt gefragt habe ich sie noch nicht.“
„Tu das“, rate ich ihr und staune aufs neue, wie wirksam die Halbwertzeiten in den ungeklärten Kellern des Unbewussten ticken und dort ihr Unwesen treiben. Und eine Etage darüber ist das Parkett, darauf tanzen wir Tango argentino, in der Regel vielleicht weniger irritiert als in diesem Falle, aber woher der innere Aufruhr stammt, wenn es einmal ein wieder richtig schöner inniger Tanz ist, kann ich niemandem sagen, schon gar nicht meinen Mitmännern, die sich sicher nur heimlich fragen, woher so viel unerwartete Chancen kommen, die keinem Vergleich mit dem richtigen Leben standhalten. Neulich höre ich eine Tango- Frau zur anderen sagen: „Den Typ hätte ich auf der Straße nicht mit der Zange angefaßt. Aber wie der tanzt, ich bin ganz hin.“ „Ich habe ein Gedicht in schlesischer Sprache geschrieben“, sag ich zu ihr und denke insgeheim, ob es die Sprache ist, die den verborgenen Faden zwischen den Generationen spinnt? Will sie von mir erfahren, was ihre Mutter ihr verheimlicht? Sprache schafft Abstand und Sprache schafft Nähe. Sprache ist so geheimnisvoll wie Tango und eben so unheimlich in dem, was zwischen Menschen passiert. Sie schmiegt sich an mich und weiß vielleicht keinen anderen Weg, mich in sich aufzunehmen als mich mit ihrer Mutter zu verkuppeln. Und mir verschmilzt Corazon de Oro mit meinem Schlesischen Schlaflied.
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2018
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