Schiebermax
Das Lied kennt man nicht mehr. Doch, einige, ältere, mögen es noch kennen.
Nicht können. Das tu ich. Bei jeder Gelegenheit summ oder sing ich es:
Max, du hast das Schieben raus
Schieben raus
Schieben raus
Alles schreit hurra,
Schiebermax ist da.
Natürlich achte ich darauf, in welchen Kreisen ich mich bewege. Ob ich eingeladen bin bei gebildeten Freunden an der Elbchaussee oder im Café, wenn ich Freunde treffe, die von sich behaupten, sie seien links, was noch nicht heißt, dass sie ein gewisses Geschichtsgefühl fürs Proletarische hätten. Ja, man muss schon vorsichtig sein. Am liebsten rede ich in Tangokreisen vom Schiebermax. Aber auch da passt es nicht immer; denn wie sehr sie oft mit dem Ursprung des Tangos kokettieren, mit seiner Frivolität, ja sogar lassen sie sein Entstehen im Puff gelten. Weil sie schließlich nicht prüde sind. Aber wenn es an die Disziplin und die ungeheuerliche Regelhaftigkeit dieses Tanzes geht, dann macht sich das Preußische sichtbar. Dann bestehen sie auf der mittelständischen Disziplin, mit der man ausschließlich den Zugang zu dieser schönen Bewegung erhält. Es ist durchaus kein Zufall, dass ihr Bestand sich aus gehobenen Kreisen rekrutiert. Allein der Beitrag ist hoch und nimmt mit der Zeit sogar noch zu, weil man, wenn man sich auf diese schöne Kunst einlässt, sich unwillkürlich dem Leistungsprinzip unterordnet. Zu dieser Beobachtung habe ich zu Tangozeiten sogar ein Gedicht verfertigt:
Zur Soziologie des Tango
Edelfedern, Intelelle
Psychoterapeutiker
Frauenärzte , Industrielle
hochgestellte Optiker
feine Leute
geile Bräute
jung und mit gespannter Sehne
Knackarsch unterm freien Rücken
kann man auf der Tangoszene
massenhaft erblicken.
Alles andre u. s. w.
ist ein Tanz für Facharbeiter
Das hervorstechende Merkmal vom Tango- Unterricht ist die Rangliste. Als Anfänger bist du gut beraten, dich auf alles zu besinnen, was du nicht kannst. Der Anfang ist nicht schwer, es wird dir aber bewusstgemacht, dass er schwer ist, und du auf keine Vorkenntnisse bauen kannst. Wie auch, schließlich ist die Tango-Szene nach außen abgeschirmt wie die Freimaurer. Also kannst du gar keine Vorkenntnisse mitbringen. Ich habe mein ganzes Leben getanzt, alles was die Nachkriegskultur auf den Markt gebracht hat: Samba, Foxtrott, Mambo, rock’n roll, die herkömmlichen Gesellschaftstänze und sogar Stepptanz. Ich hatte immer ein ungeheures Faible für alles, was sich rhythmisch bewegt.
Beim Tango musste ich mich ganz hintenanstellen, musste ganz von vorn anfangen und wehe, ich machte eine Bemerkung wie „ist das nicht wie beim Swing“, dann bekam ich nicht nur den Rüffel vom Tanzlehrer sondern wurde mit der Ächtung des gesamten Kurses bedacht. Alle andern hatten viel schneller verstanden. Da fehlte mir als zweiter Bildungsmensch die Erfahrung des bürgerlichen Gehorsams. Erst als ich es in die erste Stufe der Fortgeschrittenen geschafft hatte, wurde mir klar, dass es immer noch eine und noch eine und noch eine Stufe der weit Fortgeschrittenen gab, und ganz oben gab es dann den Lehrerkurs. Die oben Angekommenden allerdings scheinen das nicht ohne Gelübde geschafft zu haben, für immer darüber zu schweigen, dass es sich hier um ein ausgebufftes pekuniäres System handelt.
Ich habe es mit meinem Aufsteigersyndrom sogar bis auf diese Höhe geschafft, aber der Max mit der Schiebermütze hat mich immer wieder am Rockzipfel gepackt und geraunt: he Alter, vergiss nicht, wo du herkommst.
Mit seiner Hilfe habe ich mich dann auch an die historischen Anfänge des Tango gewagt. Und immer wieder zeigte mir der Max, wie er um die Jahrhundertwende auf den Saal stürmt, und ohne je eine Tanzschule von innen gesehen zu haben, schob er los. Es brauchte nur eine Blaskapelle, die einen fetzigen zwei viertel Takt spielt. Er brauchte keinen kunstvollen Schritt, gehen konnte er, und wie er das konnte. Und weil er dabei einfach unglaublich rhythmisch losschob und dabei auch noch seine Mütze aufbehielt, war es eben eine Schiebermütze. Und er der Schiebermax. Der Tanz mit seinem unglaublich rhythmischen Drang erhielt daher auch seinen Namen: der Schieber. Dafür brauchte es keine Schulung, keine gespreizten Schrittfolgen wie im Menuett das ja auch der Tanz der Privilegierten im Rokoko war, nein, Max schob einfach los. Und zwar mit Leidenschaft.
Ach so, ich wollte auf die Parallele zum Ursprung des Tangos kommen. Da ist es vermutlich nicht anders vor sich gegangen. Man weiß, dass er aus dem Hafen von Buenos Aires kommt. Die Canyengue, dieser unglaubliche Vorläufer der belebten Milonga, die man heut noch tanzt, ist auch ohne jegliche Kunstform ausgekommen. Die armen Schlucker stürmten aufs Parkett und legten los. Und man weiß, so mancher von ihnen hieß Max, der Hunger hat ihn damals von hier aus nach B.A. geprügelt.
Mein Herz hängt an diesen Ursprüngen. Und deshalb trage ich mit Lust eine Schiebermütze. Ein bisschen edler als die von meinem Vorbild, aber die Form, die stimmt noch. Ich verdanke sie Frau Bouquet. Aber nein, davor will ich noch berichten, wieso ich überhaupt auf die ganze Geschichte gekommen bin.
Kristina, meine junge poetische Freundin, hat zum Kultursalon gerufen, dort, wo ich mit ihr gemeinsam schon eine Lesung gemacht hatte. Im Hotel Wedina, das auch mit dem Literaturhaus zusammenhängt, was natürlich eine gute Location ist, wie man auf deutsch sagt. Kristina in einem unglaublich luftigen Kleid mit doppelter Umhüllung begrüßt mich herzlich.
Es ist Sommer, die Tage hören gar nicht mehr auf schön zu sein, und es fällt schwer, nicht an die verdorrenden Weizenfelder zu denken. Der Kultursalon findet bei diesem Wetter im Garten statt. Zwei Absolventen der Schauspielschule Frese geben eine Vorstellung zur Liebe. Gedichte, Lieder, Songs. Hanna und Quintus, die mir bereits über Kristina bekannt sind.
„Ist dieser Stuhl noch frei,“ frage ich, „selbstverständlich,“ und ich erhalte einen schönen und bequemen Gartenstuhl an einem Tisch, der schon von einem sympathischen Paar besetzt ist. Zu dritt erleben wir eine schöne Vorstellung, man trinkt einen Wein oder ein Wasser, die Sonne, ach die Sonne, und der Tisch steht sogar unter schattigem Gebüsch. Eine Atmosphäre, man könnte das Elend der Welt vergessen, so schön. Ich bin nicht sicher, ob ich aus diesem Grunde nicht daran gedacht hatte, meine Mütze abzunehmen, oder ob es der Max in mir ist, der sie ja auch nie abnimmt. Es ist eine Schiebermütze. Und genau darauf spricht mich mein Nachbar am Tisch an. Höflich macht er das, „wenn ich mal fragen darf, woher haben sie diese schöne Mütze?“ „Na,“ sage ich, das freut mich ehrlich, dass Sie das bemerken. Ich dachte schon, es merkt keiner, und keiner weiß, wie sehr ich mich über meine neue Mütze freue.
Er stellt sich mit seinem holländischen Namen vor, im Augenblick weiß ich ihn nicht mehr, er klingt aber gut. Mit Vornamen heißt er Simon, mit voranschreitendem und gutem Gespräch kommen wir zum Du, er ist hier mit seiner Partnerin, die ist die Mutter von Quintus. Na so was, die Welt ist klein. Ich erzähle dem Herrn, später Simon, erst einmal den Erwerb meiner Mütze. Am Weidenstieg hat eine junge schöne Frau einen Hutladen eröffnet. Aus meiner Kindheit weiß ich, dass dieser Beruf früher Putzmacher hieß. Im Haus meiner Kindheit in Kanth bei Breslau hatte die Frau Jauernick einen solchen.
Ich weiß, dass Folgendes absolut nicht zur Sache gehört. Aber das Gespräch mit Simon und seiner Partnerin (ihren Namen weiß ich nicht mehr) wurde derart vielfältig und vielschichtig, dass beide es mir bestimmt nicht übelnehmen, wenn ich das hier einfüge.
Es mag Tage nach der Vertreibung der Nazis aus unserer Stadt gewesen sein, mein Vater hatte sich gerade in SA-Uniform auf dem Fahrrad auf die Flucht begeben, als ich mir mit meinem Bruder Gottfried gemeinsam am Fenster von Frau Jauernick die Nase plattdrückte.
Die Werkstatt war verwüstet und vor umgestürzten Regalen lagen Berge von Filzhüten. Darauf lag jammernd eine Frau, die bei uns aus Breslau zu Besuch weilte. Sie sagte flehend auf russisch: moier Madga russki, moi musch wratsch, was auf deutsch heißt: meine Mutter ist Russin, mein Mann ist Arzt. Das hielt die verhetzen und vom Kampf noch erregten jungen Russen nicht davon ab, sie nacheinander zu vergewaltigen. Es waren zehn Burschen. Wir beiden Kinder verstanden nicht, was da vor sich ging und verstanden es doch. Später auf dem Hof sangen die Kinder einen Kinderreim nach meiner Vorgabe in fallender Terz:
Moier madga russki, wratsch, wratsch, wratsch.
Es ist nicht von ungefähr, dass ich in hohem Alter ein Buch geschrieben und bebildert habe mit dem Titel: Flüchtlings Kinderreime.
Ob diese frühe Geschichte mit der Absicht, mir von einer jungen Hutmacherin mit Namen Bouquet eine Schiebermütze aus Naturseide machen zu lassen, mag psychoanalytisch dahingestellt sein.
Simon bemerkt sie, ich erzähle ihm den Hergang, meine Freude daran und wir kommen - und das ist bemerkenswert - in ein Gespräch über Wertvorstellungen.
Wer in der Lage ist, sich das zu kaufen, was ihm guttut und ihm gefällt, verhält sich eigentlich konjunkturfeindlich. Er braucht zur Befriedigung seiner Bedürfnisse keine Kompensationskäufe. Natürlich ist es uns beiden kritisch bewusst, dass es dabei ohne einen gewissen Wohl – und Bildungsstand nicht geht. Er berichtet von einem Freund, der sich einen schicken Flitzer gekauft hatte und jahrelang und jeden Tag daran Freude hatte. Ja, um Freude handelt es sich, nicht um einen von der Gesellschaft vorgegebenen Wert, sondern den eigenen. Wer sich darauf verlassen kann, braucht keine Ersatzbefriedigung, er befriedigt seine Bedürfnisse unmittelbar. Ich berichte von meiner Wohnung, die ich auf eigene Kosten, aber mit der Zustimmung des Hausbesitzers so umbauen durfte, dass ich bis heute, - und das ist jetzt über zwanzig Jahre her – jeden Tag meine Freude daran habe. Ein großer und heller Raum inspiriert mich zu poetischen Ergüssen. Mein Sohn Heinrich hatte mich dazu ermutigt: reiß doch die Wand raus, sagte er unbekümmert. Und als der Hauswirt wider Erwarten dem zustimmte, wurde ich von guten Freunden gerügt. Du schmeißt dem Kapitalisten dein Geld in den Rachen. Es war schließlich nur eine Mietwohnung, und es war zu politisch korrekten Zeiten.
Freude, sagt Simon, man hat Freude daran, und das ist das Wichtigste. Natürlich gehört ein gewisser Wohlstand dazu. Aber auch den kann ich mir verderben, wenn ich mit dem, was ich besitze, nicht selbstbestimmt umgehe. Gänsehaut habe ich, er zeigt mir seinen Unterarm. Er habe ein Video gesehen, dass ihn tief berührt. Es handelt eindrucksvoll von Privilegien, die jemand durch Stand und Geburt auf die Welt mitbringt und die somit gnadenlos sein künftiges Schicksal bestimmen. Bei allen lustigen Betrachtungen guter und passender Kleidung zum Beispiel, spielt im Hintergrund ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl mit. Wir reden über Mode. Ich sage zu seiner Partnerin: zwei Männer reden über Mode, ist auch nicht alltäglich. Ich ziehe meine Weste über den Kopf und zeige das Logo: OMEN. Dort könne er wunderbare Kleidung bekommen, die auch uns etwas zu kurz und zu füllig geratene Herren passend und wunderbar modisch bedient. Er bemerkt das farbig gestreifte Innenfutter meiner Weste und ist von meinen Ratschlägen überzeugt.
Er möge bei Thomas I-Punkt grüßen, so heißt die Firma im Untertitel, man kennt mich als langjährigen Stammkunden.
Der Zusammenhang unseres Gesprächs wurde locker und assoziativ. Das gefiel uns beiden, weil das die Inspiration fördert. Und so weiß ich nicht mehr, wie er auf Menschen zu sprechen kam, die fast alle Angehörigen in Auschwitz verloren haben. Vielleicht hat mein Unterbewusstsein auch eine Sperre davorgesetzt. In dem Zusammenhang fragt er unvermittelt: bist du jüdisch? Die Formulierung mag aus seinem holländischen Idiom stammen; mich berührt sie eigenartig, so als wäre ich auf die Frage bist du Jude eher vorbereitet. Ich wage nicht eine entsprechende Gegenfrage, ich bin berührt, von ihm berührt und unter der Ängstlichkeit schimmert so etwas wie Stolz hervor. Schließlich bin ich in einer Familie mit einem SA-Vater aufgewachsen, der als Leiter eines Arbeitsamtes Zwangsarbeiter vermittelt hat. Ja, so etwas lässt sich nicht vermeiden, das sitzt zu dicht unter der Haut.
Immerhin bin ich von der Frage angenehm berührt.
Simons Partnerin schweigt, sie mischt sich auch nicht in unsere Männerbegegnung ein. Erst bei der Verabschiedung wird mir deutlich, dass sie bewegt an unserem Gespräch teilgenommen hat. Sie outet sich noch als Kollegin – ach, du bist Lehrerin - und verabschiedet sich mit einer Umarmung von mir, dass sie sich über unsere Begegnung freut und wir die sicher fortsetzen. Natürlich bin ich auch auf der Agenda von Simon, der versichert, dass diese schöne Begegnung Fortsetzungen findet.
Ach ja, der Kern unserer Begegnung meine neue Schiebemütze, verdient noch eine Ergänzung. Frau Marie Bouquet, natürlich mit hugenottischer Herkunft. Also auch mal Flüchtlinge, hat ihren Laden bouquet getauft. Das steht auch im leichten blauen Futter meiner Mütze. Ein schönerer Name lässt sich kaum finden. Aber eine Frau Bouquet, wie ich sie als Kunde natürlich anspreche, ist sie eigentlich nicht. Marie, das passt besser zu ihr. Und als ich wieder mal zur Anprobe komme, frage ich sie, so zum Scherz, und die Frage ist ihrer jugendlichen Ausstrahlung angemessen, was wohl das meistgenannte Wort im Dialog junger Mädchen auf dem Schulterblatt sei. Wie aus der Pistole antwortet sie: keine Ahnung. Ja und das war genau die Formulierung, nach der ich suche. Ihr junger hübscher Freund hockt in der Ecke und lacht, er hat den Doppelwitz begriffen.
Bei der Anprobe verwandelt sie sich in eine solide und erwachsene Fachfrau. Vertrauenserweckend und in seltsamen Widerspruch zu ihrer mädchenhaften Ausstrahlung. Sie hatte ein Probestück angefertigt, um Passung und Gefallen abzusichern. Als meine Gier zuschlägt: die will ich auch, lehnt sie peinlich berührt ab und weist auf die schlampige Naht hin, nein das könne sie mit ihrem handwerklichen Ethos nicht vereinbaren. Dem stimme ich zu und erinnere mich an meine eigene Zeit als Tischler. Nein, Frau Bouquet, ich gebe ihnen Recht, das war nur meine Habgier.
Was schätzt du, frage ich Simon. Zweihundert sagt er und erweist sich als Kenner von guter Qualität. Nein, sie hat für eine hervorragende Handwerksarbeit mit bester Passform, auch bei Sturm, und aus Rohseide in reizvoll schwarzweißer Sprenkelung einhundertundfünfzig Euro verlangt. Ich möchte ihr raten, sie solle teurer werden, bei den Mieten. Und es wäre doch ein Jammer, wenn sie aus Geldgründen diesen wunderbaren Laden schließen müsste. Nein, gesagt habe ich das noch nicht. Man muss aus Respektgründen zurückhaltend sein. Aber einen Vers habe ich ihr gemacht. Heiter und zugewandt. Als ich ihn nach einiger Zeit betrachte, ist es, als fahre ein Blitz durch mein Gebein. Ist es wahr, ich stehe vor dem Fenster einer Putzmacherin, das war doch schon mal so, vor siebzig Jahren.
Nun hör aber mal auf, nicht alles auf der Welt hängt zusammen. Man muss die Ereignisse auch mal für sich betrachten, ganz dem augenblicklichen Zufall entsprungen.
Na ja, mag sein.
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Tag der Veröffentlichung: 22.07.2018
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