Mein Brompton
Irgendwo in England, vielleicht sogar in London, hat der Konstrukteur meines Fahrrades während seiner kreativen Tätigkeit immer auf eine Kirche geschaut. Die heißt Brompton.
Und als ich ihn auf der Einweihung eines noblen Ladens an der Gärtnerstrasse persönlich kennen lerne, gibt er die Namensgebung seines wirklich wunderbaren Gefährts zum Besten.
In England kennt jeder das Brompton. Einmal im Jahr gibt es sogar ein Rennen, das die Besitzer eines solchen Gerätes in grauem Frack und bowler hat bestreiten. Ein skurriler Auftritt. So etwas können nur die Engländer, aber wenn jemand seit tausenden von Jahren auf einer Insel lebt, wird er komisch und sympathisch.
Obwohl das Brompton hier im Lande auch schon eine erstaunliche Verbreitung hat, erregt es immer noch Aufmerksamkeit. Vor allem die Kinder sind begeistert, dass ein Erwachsener auf einem Rad mit Kinderrädern fährt. „Schau mal Mammi, dem sein Rad hat Kinderräder.“ Die Dimensionen und die Rahmenstatik sind natürlich für Erwachsene ausgelegt, die Engländer sind schließlich nicht die Kleinsten. Und die Fahreigenschaft ist im Vergleich zu allen anderen Klappfahrzeugen außerordentlich komfortabel. Es muss wohl so etwas wie einen besonderen Gesamteindruck geben, so eine unbeschreibliche Zierlichkeit, die immer wieder zum Hinschauen anregt. Zugegeben, manchmal kokettiere ich damit, in dem ich mit Hilfe eines hin gehauchten Schwunges den hinteren Teil unter den vorderen klappe. Mehr nicht, und ich schaue dabei nicht in die Menge, die am Schulterblatt Kaffe trinkt und plötzlich mit einem halben Fahrrad konfrontiert ist. Ich gebärde mich wie jemand, der mit dieser Handlung einer Notwendigkeit nachgeht. Das ist ein Überrest meines schauspielerischen Talents. So einfach kann man die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
So ganz zusammenfalten werde ich das Rad erst auf dem Bahnsteig, wenn der ICE einrollt und ich mein Päckchen in eine schwarze Hülle gesteckt und wie ein ordinäres Gepäckstück auf die Ablage über den Köpfen der Mitreisenden verstaut habe. Die Mitreisenden befällt erst dann ein leises Zucken, wenn ich in dem entstehenden Gespräch gestehe, dass über ihren Köpfen ein komplettes Fahrrad ruht. Nein keine Angst, das rutscht nicht, das liegt fest wie ein Koffer.
Am liebsten gehe ich mit meinem Brompton über den Isemarkt, auf dem das Mitführen von Fahrrädern streng verboten ist. Es hat vor dem Lenker nämlich eine Halterung, an die man eine offene Tasche hängen und darin ein ziemliches Gewicht befördern kann. Im Urlaub habe ich sogar meine Enkel darin transportiert. Der Lenkvorgang wird dadurch nicht beeinträchtigt, die Halterung ist mit dem Rahmen verbunden.
Die monatliche Gemüsemenge passt in die offene Tasche und ist so schwer, dass ich sie zu Fuß nicht transportieren könnte. Ich übergehe das Gebot und führe mein Brompton über den Markt. In der Regel begegnet mir die Eppendorfer Klientel tolerant, man gesteht mir die Transporthilfe zu, man sieht mir mein Alter nach und im Übrigen hat es nicht die Ausmaße eines durchschnittlichen Rades. Vor allem, wenn es teilweise geklappt ist, ein kleiner Transporter.
Trotz dem: regelmäßig gibt es jemanden, der sich in seinem Ordnungsgefüge angegriffen sieht, nicht weil es sich um eine reale Behinderung handelt, der Bugatti-Kinderwagen der blonden Eppendorferin ist viel sperriger. Nein, es geht ums Prinzip. Vermutlich handelt es sich um einen pensionierten Ober-Studienrat, der seinen Unwillen grimmig durch die wackeligen Zähne zischt: „Fahrrad ist hier verboten.“ Ich wende mich ihm freundlich zu und sage: „Aber das ist doch mein Rollator.“ „Oh - ntschuldigung“.
Das passiert ab und zu und trägt zu meiner Freude an meinem so vielfältigen Brompton bei.
Seine eigentliche wirkliche und ganz außergewöhnliche Bewährung hat mein Brompton aber erst auf meiner letzten Reise bewiesen.
Es handelt sich dabei nicht um eine gewöhnliche, deren oberstes Ziel eine attraktive Geographie ist. Nein, es ist eine Fahrt in die seelische Landschaft meiner Kindheit im heutigen Polen.
Vorweg sei gesagt, dass die Wege meiner Kindheit frühe beschwerliche waren, die dann in ein elternloses Flüchtlingsschicksal mündeten.
Es ging mir darum, zu erkunden, was mit einem fast Achtzigjährigen geschieht, wenn er ein Land nach siebzig Jahren aufsucht. Zu Fuß wäre die Reise von vornherein nicht denkbar und zu schwer gewesen. Aber eine Kombination von Fahrten mit dem Brompton und Spaziergängen mit diesem Fahrzeug tatsächlich als eine Art Gehwagen ließe sich denken und realisieren. Natürlich ist der Weg zu Fuß immer der beste, um eine Gegend in Ruhe aufzunehmen. Aber die Fahrt mit dem Brompton im allerkleinsten Gang entspricht der Qualität des Spazierganges und kann noch nicht als Geschwindigkeit bezeichnet werden. Zudem sind nicht alle Wege der Geschichte für das Gedächtnis gleich bedeutend und so mit einem höheren Gang hinter sich zu bringen.
Weil die Wege meiner Geschichte beschwerlich waren und ich diese Reise so nahe an meine eigene Wirklichkeit bringen, also Beschwerlichkeiten so zu sagen als inneren Bestandteil ansehen wollte, verwunderte es mich überhaupt nicht, dass auf der Fahrt zum Hauptbahnhof auf der Höhe vom Dammtor schon der erste Plattfuß entstand. Natürlich hatte ich bestmöglich vorgesorgt: unplattbare Reifen. Aber was heißt auf dieser Welt schon unplattbar.
Natürlich war die erste Reaktion Umkehr und Beendigung der Reise. Wem wäre hier nicht der Reim von Ringelnatz eingefallen:
Es waren einmal zwei Ameisen
Die wollten nach Australien reisen
In Altona auf der Chaussee
Da taten ihnen die Beine weh.
Und da verzichteten sie weise
Auf den letzten Teil der Reise.
Spontan fällt einem meist die dritt-schlechteste Lösung ein. Nein, aufgeben auf keinen Fall. Ist doch ein wesentlicher Bestanteil meines Unternehmens die Tatsache, dass ich einem schwierigen Weg nachgehen wollte und dazu so etwas wie ein Bekenntnis abgelegt hatte, das mich das Elend leichter ertragen ließ.
Also Taxi anhalten, Gepäck runter, Rad total zusammenfalten, so dass nicht mal der Taxifahrer auf die Idee Fahrrad kommt und dann durch den frühen Berufsverkehr zum Hauptbahnhof. Aber war mein Zug noch zu erreichen? In der endlosen Autoschlange war alles zu sehen aber kein Taxi. So etwas kennt man. Erst die Panik bringt mich zu der Einsicht, ich stehe doch mit dem Plattfuß vor dem Bahnhof Dammtor. Also rein in den Aufzug und in die S-Bahn. Als ich aufatmend darin sitze, fällt mir die beste Lösung ein: natürlich fährt so ein Fernzug auch vom Dammtor ab. Aber die zweit-schlechte Lösung führt auch zum Ziel. Endlich sitze ich im ICE nach Berlin, um dort nach einer Stunde Umsteigezeit den Zug über Dresden nach Breslau zu kriegen, das heute Wroclaw heißt, wobei das L wie ein stummes W gesprochen wird. Wroclaw ist mein Ziel. Es ist die Hauptstadt vom früheren Niederschlesien. Südwestlich davon gibt es zwei meiner Feinziele: zunächst einmal Kanth, heute Katy und ausgesprochen nasal wie Kongti. Davon in nordöstlicher Richtung etwa 25 km liegt Neumarkt, heute Sroda Slonska, mein Geburtsort und drei km weiter das Dorf Stephansdorf, Szespanow, in dem meine Großmutter vor siebzig Jahren wohnte.
Mir fällt schon beim ersten Studieren der zweisprachigen Landkarte auf, dass alle Ortsnamen in meiner früheren Heimat so etwas wie einen ursprünglich deutschen Stamm behalten haben: Kanth - Katy, Breslau – Wroclaw. Stephansdorf – Szepanow. Und sogar Neumarkt – Sroda. Das klingt zwar im Polnischen anders, ist dafür aber inhaltlich angepasst: Sroda heißt einfach Mittwoch. Alle Märkte fanden früher in Polen an einem Mittwoch statt und das Wort stand somit einfach für Markt. Das hat mir Andre erklärt, der kennt sich aus, der kommt aus Polen.
Mir ist diese Art der Namensgebung recht auffällig, weil ich dieses Phänomen bei den Straßennamen nicht wieder gefunden habe. Die heißen alle voll und ganz polnisch mit endlos vielen Zischlauten und vielen Ypsilons. So etwas macht mich immer stutzig und löst Vermutungen aus, die selten auf Zustimmung stoßen. Aber ich kann nicht anders und entdecke als Ursache so etwas wie ein kollektives Schuldgefühl. Die Polen nämlich, die in unsere Häuser und Wohnungen gleich nach dem zweiten Weltkrieg eingewiesen wurden, nach dem wir ausgewiesen worden waren, waren selbst Vertriebene. Von den Russen aus ihren an gestammten Gebieten um die Stadt Lwow Vertriebene, die es erleiden mussten, uns wiederum zu vertreiben. Und da denke ich, so abwegig ist doch der Gedanke gar nicht. Soweit der geographische Umriss.
Zunächst aber sitze ich im Zug nach Berlin und fürchte ein wenig, es könne ab jetzt doch noch so etwas wie eine harmonische Reise werden und der unbewusste Zweck, dem Elend meiner frühen Jahre zu begegnen, geht nicht in Erfüllung.
In Berlin heißt der Bahnhof dort, wo er tief liegt, tief. So etwas habe ich mein Lebtag noch nicht gehört, die Bezeichnung eines Hauptbahnhofs mit einem nachgestellten Eigenschaftswort, nämlich „tief“ - Hauptbahnhof Berlin tief. Ja, so etwas gibt es.
Ich nutze die Wartezeit von einer Stunde, das Anschlussgleis liegt gegenüber, um das Zusammenfalten meines Brompton zu üben; so, wie Frau Blum aus der Gärtnerstrasse mich didaktisch klug unterwiesen hat, um es im Bedarfsfall elegant und flüssig klappen zu können. Feingefühl, kein Kraftakt, hat sie gesagt, Recht hat sie.
Ich muss zwischendurch ein Bekenntnis ablegen. Außer meinem von mir geschätzten Brompton besitze ich noch ein ganz komfortables Pedelec, einen Flyer, Schweizer Fabrikat und wie die Leute sagen, der Mercedes unter den Pedelecs, und alle Freunde fragen, warum ich für eine so beschwerliche Reise nicht dieses benutze. Die Tatsache, dass dieses Gerät wesentlich schwerer ist und auf den polnischen Bahnhöfen vermutlich keine bequemen Aufzüge vorhanden sind, führt zum Entschluss, das Brompton zu nehmen. Es kommt auch dem Tempo meiner Gehbewegung am nächsten, ich will die Wege meiner Kindheit nicht abrasen sondern wahrnehmen. Auch habe ich das Gefühl, dass das Brompton ein integraler Bestandteil meines Alters ist.
Vielleicht wäre ich der Versuchung erlegen, wenn die Firma ihre Zusage schon erfüllt hätte, das Bromton auch um so einen Elektroantrieb zu bereichen. Herr Schäfer von der Gärtnerstrasse verteidigt die Brompton - Leute, die würden erst etwas in die Welt setzen, wenn es ausgereift und ganz und gar stimmig wäre. Nur zu einem Anschluss an eine gängige Mode wären die nie und nimmer bereit. Damit hat er meine volle Zustimmung und zugleich auch meine Geduld. Hätte es das Brompton schon mit Batterie gegeben, ich weiß nicht, ob ich nicht zugegriffen hätte. So aber hat alles seine Richtigkeit und ich bin mit meinem 11 kg schweren oder sagen wir leichten Bromton unterwegs. Dabei die besagte große Tasche vor dem Lenker und eine ganz und gar passende auf dem Gepäckhalter. Beide sind ausschließlich für dieses Gefährt entwickelt und überaus praktisch für meine Unternehmung, die noch nicht weiter gediehen ist als bis an das Gleis 1 vom Hauptbahnhof tief.
Leichte Konflikte unterbrechen die Wartezeit. Mein Rad ist unter der schwarzen Hülle. Was, wenn die Zugtür soweit weg liegt, dass ich das ganze Gepäck dort hinschleppen muss. Ist es nicht besser, das Rad in noch fahrbarem Faltzustand zu lassen. Während ich darüber nachdenke setze ich mich zur Erholung auf das zusammengefaltete und verhüllte Rad. Ich schätze die Lage falsch ein und lasse mich auf das verkehrte Ende nieder und falle rücklings auf den Bahnsteig. Sofort kommen hilfreiche Reisende: ist alles in Ordnung ? usw. Aus der Rückenlage direkt komme ich schon lange nicht mehr hoch. Morgens wälze ich mich auf die Seite, lasse die Beine raushängen und komme so in die Senkrechte. Auf einem glatten Bahnsteig gibt es keine Bettkante. Ich komme trotzdem ohne Hilfe hoch und erinnere mich, dass Rebekka meine Reise mit dem Wort Adrenalin umschrieben hat. Recht hat sie. Der Entschluss zu so einer Reise, vor deren Beschwerlichkeit mich nicht nur mein Sohn gewarnt hat, setzt Kräfte frei, die man in meinem Alter als nicht mehr vorhanden wähnt.
Den Rest der Wartezeit verbringe ich auf der Bank und bin verwirrt, als plötzlich Sigrid vor mir steht. Wir hatten klug vereinbart, dass ich sie auf der Durchfahrt in Berlin nicht besuche. Meine ganze Konzentration sollte allein der Reise gelten. Trotzdem hat sie meine Route verfolgt und ich freue mich, dass sie vor mir steht. Wir kommen ins Plaudern und lesen auf der Anzeige die Abfahrt nach Wroclaw. Über die Reparatur des Vorderreifens in Polen hatte ich mir keine Gedanken gemacht, obwohl es hätte riskant sein können, für eine solch englische Spezialität in Polen das richtige Material und Werkzeug zu bekommen. Es war auch gar nicht nötig, die Reise behielt ihre Schwierigkeit, in dem die Anzeige nach Wroclaw bereits erloschen war und auch der Zug vor unserer Nase weg fuhr. Der nächste Zug fährt sechs Stunden später mit Umsteigen in Dresden.
So sehr ich mich über den überraschenden Besuch von Sigrid freue, mein Röntgenblick entdeckt in ihrem Unbewussten so eine Helfer - Absicht wie: fahr nicht weg, bleib. Solche Gründeleien bestätigt mir niemand, im Gegenteil, höchstens meine Freundin Birgit, die gräbt ähnlich tief. Egal, wir mieten ein Taxi, die Hindernisse dieser Reise gehören dazu und fahren zum Fahrradmechaniker. Nein, sagt der, dazu benötige er ein............das Wort habe ich vergessen, und den hat er nicht. Aber er will sich umsehen, zu sehr nimmt er Anteil an meinem enttäuschten Gesicht.
Wir gehen zum Türken, essen und trinken und sind fröhlich, dass uns der Herrgott auf so einfache Weise einen halben Tag Gemeinsamkeit schenkt. Nein, sagt der Fahrrad – Mensch, es ging doch mit einem einfachen Imbus, und den schenkt er mir.
Um sicher zu gehen, holt Sigrid noch mal eine Auskunft und kommt mit einem Fahrpaln nach Warschau um 14 Uhr. Ja, sie verwechselt Breslau mit Warschau. Nachtigall. Wir verabschieden uns herzlich und der Fahrt nach Wroclaw steht nichts mehr im Wege. Ich traue aber dem Frieden nicht und vergewissere mich noch mal bei der Auskunft.
Nach Breslau, nein da fährt kein Zug mehr, höchstens mit Umsteigen in Dresden mit zwei Stunden Aufenthalt, Breslau an 22 Uhr. Und Warschau? Das liegt doch ganz woanders.
Um zehn Uhr abends steige ich auf mein voll gepacktes Brompton und komme nach einigen Umwegen, keinerlei Radwegen und teuflischem Basalt aus dem Mittelalter in einem Nobelhotel in der Wodkowica an. Vom Feinsten, alle Funktionen vom Klo bis zum Fernseher nur mit Chipkarte. Ich wusste, diese Reise wird beschwerlich.
Nach einer komfortablen und erholsamen Nacht und einem deftigen Polenfrühstück habe ich das Gefühl, jetzt erst beginnt die Reise, die eigentliche Reise. Mein Brompton hat in einer Rumpelkammer übernachtet, besser als draußen, denn auch ich bin infiziert von Vorurteilen.
Die Städte in Niederschlesien haben alle einen ähnlich quadratisch angelegten Kern, der früher Ring und heute Rynek heißt. Der Ring in Breslau ist voller architektonischer Kostbarkeiten und meisterhaft renoviert. Ich sitze im Sonnenschein auf einer Bank und versuche Einzelheiten auf meinen Zeichenblock zu bannen. Obwohl ich früher nie in Breslau war, ist meine kindliche Seele voll von Berichtetem. Der Platz auf der Parkbank fühlt sich an wie eine Andacht; und die ersten traurigen Gefühle kriechen in meiner Brust hoch. Der Anblick ist so schön, denke ich, der gehört mir doch auch.
Ich verbringe den Tag mit behutsamem Gehen und Fahren auf den Wegen und Straßen einer wunderschönen Stadt. Richtig, mein Freund Heiko kommt aus Breslau, sein Vater war der oberste Leiter des Volkssturms, der mit Greisen und Kindern die Festung Breslau versuchte zu halten, da waren die Russen schon in Berlin. Er hat immer darunter gelitten, dass die Leute seinen Vater als Kriegsverbrecher beschimpften. Er kannte ihn nur als liebevollen Vater. Und sein Vorgesetzter, der Gauleiter Hanke, hat sich mitten in der Stadt eine Landebahn bauen lassen, um im letzten Moment seiner schrecklichen Verantwortung zu entgehen. Natürlich gehört der Krieg zu meiner Reise, oft kommt er als Gedächtnis übers Rückenmark in den Sinn.
Ich frage den freundlichen jungen Mann an der Rezeption des Hotels, ob er mir Tango Wroclaw googeln könne. Natürlich, und er findet heraus, dass heute, am Dienstag um 21 Uhr direkt gegenüber vom Hotel ein Tanzabend ist: Milonga in der Wodkowica Nr 5. Ich gehe hin und vergesse, dass bis zum Beginn meiner Reise mich ein schrecklicher Hexenschuss geplagt hat. Obwohl der mit der Stunde meiner Abreise verschwunden war und ich von daher fest an einen psycho-somatischen Zusammenhang aller Rückenplagen glaube, bin ich doch unsicher. Zumal ich meine Tanzschuhe wieder ausgepackt hatte, um Gewicht zu sparen. Mit Noppensohlen unter den Schuhen gehe ich zum Tanzen, wo doch jeder, der etwas vom Tango versteht weiß, glatte Sohlen sind die Grundlage jeder Drehung. Egal, ich fordere auch dreist die beste Tänzerin auf, die so erschrocken davon ist, dass sie nicht mal wagt, mir einen Korb zu geben. Aber das hätte mich nicht gekränkt, denn zur Philosophie meiner Reise gehört etwas, was ich ein Leben lang vermieden habe, nämlich: probiers doch. Ich muss mich wegen der Sohlen furchtbar quälen, aber am Schluss lächelt sie und sagt: „Dzienkuje“ - danke.
Die Frau an der Rezeption fertigt mir eine detaillierte Beschreibung aller Strassen, die aus Breslau hinaus führen und in Richtung Kanth, meinem Hauptziel, liegen.
Ein guter Geist hatte mir noch in Hamburg geflüstert: wickle doch Filz um deine Lenkergriffe, die normalerweise von hervorragender Ergonomie sind. Aber für den Extremfall nehmen so Filzrollen den Schweiß auf und mildern die Stöße in die Handgelenke auf den ruppigen Straßen. Die längste und schwerste Strecke ist die aus einer Großstadt heraus. Man nimmt auf dem Brompton wahr, wie so eine schöne Stadt nach außen immer unwirtlicher wird. Lange Fassaden von gut renovierten Häusern aus der Gründerzeit werden abgewechselt von Plattenbauten. Nach dem Krieg hilfreich, um die Leute unter zu bringen, aber heute trist und verfallen. Wie vom Krebs zerfressen folgen Villen aus der Vorkriegszeit, auch sie verfallen, bis die ersten Bauernhäuser auftauchen, die nicht wissen, ob sie noch zur Vorstadt gehören.
Mein Brompton schnurrt und ich bin ganz aufgekratzt vor Glück. Und während die Landschaft immer ländlicher wird und ich an einem Bauernstand Japka kaufe, das sind Äpfel, das weiß ich noch von früher, beiß ich rein und sage laut, der Geschmack ist auch von früher. Die gibt es so nicht auf dem Isemarkt.
Zehn km hat die Ausfahrt von Breslau gedauert und jetzt sind es noch 15 km bis Kanth. Das ist doch keine Strecke für mich und mein Brompton, und obwohl die ganze Zeit ein mittlerer Gegenwind weht, fahre ich ohne Pause, bis ich am Haus vom Abdecker Kolbe mein Ziel erreiche. Hier steige ich ab und setze mich auf einen Elektrokasten, um meiner Schwester einen Brief zu schreiben, in dem ich ihr schildere, dass ich genau an dem Ort sitze, wo vor 66 Jahren der Treck in die Fremde aufgebaut wird. Ich liege mit meinen elf Jahren inmitten von Federbetten auf einem Panjewagen und höre eine Frauenstimme:
„ Dreht euch noch mal um, das seht ihr nie wieder!“ Ich schreibe meiner Schwester, dass ich den Orakelspruch durchbrochen habe und betrachte wehmütig die gegenüber liegende rote Villa mit ihren toten Fenstern und eingestürzten Gauben.
Wie gesagt, das Zentrum ist der Ring, der Rynek. Im Quadrat die schönsten renovierten Wohnhäuser und mitten drin die evangelische Kirche und der mittelalterliche Rathausturm.
Nachdem ich mein erstes Lebensjahr im ärmlichen Hause vom Abdecker Kolbe verbracht hatte, zog die Familie um. Mein Vater hatte eine mittlere Nazikarriere gemacht und durfte die wunderschöne Wohnung am Ring 20 beziehen. Dass der „Jungmann–Jude,“ wie er auf schlesisch gerufen wurde, der die Wohnung mit seiner Familie vor uns bewohnte, nicht mehr darin wohnte, war eine Tatsache, die nicht zur Kenntnis genommen werden durfte. Offiziell und privat. Da war man sich einig.
Ich gehe nicht ins Haus, zu sehr packt mich die Vergangenheit, aber das Tor vom Hof hinterm Haus steht offen und ich sehe, wie vor langer Zeit zwei blonde Zehnjährige sich am Brunnenstein unter einer Decke wie im Zelt fühlen. Und auch die Muschiks von der roten Armee sitzen auf den Treppenstufen zum Hinterhaus und spielen schwermütige Musik auf ihrem Grammophon mit Trichter.
Ja, ich habe in einem Stück 25 km gegen den Wind auf meinem Brompton zurückgelegt und gehe, ja jetzt gehe ich durch alle Strassen meiner kleinen Stadt. Auf dem letzten Stück dieser Reise taucht auf der linken Seite die Silhouette vom Zopten auf, schlesisch „dar Zutaberg.“ Dieser nebelhafte Umriss begleitet meine ganze Kindheit, aber ich bin nie dort gewesen.
Wenn ein Haus verfällt, dann verfällt es, die Polen haben da eine seltsame Philosophie. Sie bauen zwar neue Häuser daneben auf, aber die alten lassen sie leer und verfallen. Für mich war das eine Chance, vieles wieder zu erkennen. Es mag aber auch daran liegen, dass sie nach der langen Zeit im Sozialismus jetzt richtig ranrauschen, um im Kapitalismus an zu kommen. Das habe ich auch auf der Chaussee von Breslau nach Kanth zu spüren bekommen, und davor hatten mich sowohl deutsche als auch polnische Freunde gewarnt. Was, du willst mit dem Rad über polnische Landstrassen fahren, das überlebst du nicht. Sie hatten Recht bis auf die Tatsache, dass ich überlebt habe. Aber ich musste auch zum Äußersten greifen. Wäre ich anständig am Rande der Chaussee geblieben, hätten mich die Hochhäuser auf Rädern allein durch ihren Windzug in den Graben geschleudert. Auch die Personenwagen fahren, als koste es das Leben, tut es ja auch vielleicht, denn ohne Anschluss an die moderne Welt gibt es kein Überleben. Jemand, der aus lauter sentimentalem Luxus mit dem Fahrrad über die Dörfer fährt, gibt es nicht. Ja, mir ist kein Radfahrer begegnet. Bis zu diesem Überfluss sind sie noch nicht vor gedrungen. Alles rast dem Zweck hinterher.
Und was habe ich getan, wie habe ich überlebt? Ich baue auf meine ungewöhnliche Erscheinung, ein alter Herr auf einem fast Kinderrad, hinten und vorne bepackt, den kann man nicht einfach totfahren. Ja, und dann habe ich die Mitte der Chaussee benutzt, in aller Ruhe und höre, wie die Ungetüme hinter mir die Bremszylinder zischen lassen. Im letzten Moment weiche ich ein wenig aus, damit sie in Ruhe zum Überholen ansetzten können.
„Arbeitsamt Breslau, Nebenstelle Kanth“ steht auf dem Emailleschild. Das Amt erreichte man früher auf einer kleinen abschüssigen und im Wald endenden Strasse. Mein Vater leitete diese Einrichtung und an unserer Wohnungstür stand vor seinem Namen in Goldbuchstaben: Reg. Inspek. Und meine Mutter ließ sich, wenn sie mit dem Kinderwagen über den Ring fuhr, mit Heil Hitler Frau Regierungsinspektor grüssen. Wir Kinder hatten einen Reim draus gemacht und sangen boshaft in fallender Terz: Reck in Speck. Ich habe schon die Hand an der Bremse meines Brompton, um diese Abfahrt zu nehmen. Aber es gibt sie nicht mehr. Siebzig Jahre hatten alles eingeebnet. Auch die Garage gibt es nicht mehr, aus der mein Vater seinen Dienstwagen Opel P4 lenkte. Stolz erzählte ich meinen Spielkameraden, dass mein Vater genauso schnell rückwärts aus der Garage fährt wie vorwärts. Das Haus gibt es noch, und ich sehe meinen Vater in die Tür gehen und genieße den Anblick mit einem Kloß im Hals. Ein Fahrrad, ja warum verbinde ich meinen Reisebericht so eng mit einem Fahrrad. Fast nichts geschieht ohne verborgenen Sinn: eine der wenigen Erinnerungen an eine zärtliche Geste meines Vaters ist das Geschenk eines Fahrrades. Zur Minderung der Freude zwar ein Damenfahrrad. Aber alles aus Metall in dieser Zeit brauchte der Führer für den Krieg, und ich habe wohl damals schon den Grund für mein lebenslang emotionales Verhältnis zu Fahrrädern gelegt. Das kann auch die späte Erkenntnis nicht beeinträchtigen, dass es um eine Bestechung ging. Als Leiter eines Arbeitsamtes hatte er Kostbares zu vergeben: Fremdarbeiter und vermutlich auch Zwangsarbeiter. Aus welchen Versatzstücken sich so ein Kinderglück zusammensetzt, ist schon verwunderlich.
In deutschen Zeiten gab es zwei Friedhöfe, die durch ein hohe Mauer getrennt waren: wenn man vor einem der hohen und kunstvollen schmiede-eisernen Tore stand, war rechts der Katholische und links der evangelische. Das entsprach der damaligen Bevölkerung. Die Polen sind fast ausschließlich katholisch und man weiß aus der Geschichte, dass diese Tatsache entscheidend zur politischen Veränderung beigetragen hat. Ich gehe auf die linke Seite, die natürlich ausschließlich von neuen katholischen Gräbern belegt ist. Ich weiß aber noch genau den Platz, an dem vor 66 Jahren mein älterer Bruder unsere Mutter abgestellt hatte. Sie lag in einem Sarg, den er mit einem Freund gemeinsam aus einem alten Kleiderschrank gezimmert hatte. Er möge ihn stehen lassen, hatte der alte Just gesagt, jetzt im Regen geht das nicht. Und als mein ältere Schwester Chritl und mein Bruder Gottfried am andern Morgen dort erschienen, war die Mutter schon verscharrt.
Mich und unsere kleine Schwester, sie war damals vier Jahre, hatte man ausgelagert gewissermaßen, zur Großmutter nach Stephansdorf, heute Szepanow, weil wir hätten sowie so noch nichts verstanden. Kinder verstehen nichts vom Tod. Und weil sie davon nichts verstehen, verstehen sie nichts vom Trauern.
Für den Augenblick hat das funktioniert, nicht aber für den Rest meines Lebens. Meine Trauer über den Verlust der Mutter, der Heimat und alles, was mein Kinderleben ausmachte, verstand ich nicht zu empfinden und musste mich langsam und mühselig und mit fachlicher Hilfe nachqualifizieren.
Am Platz, an dem meine Mutter vor 66 Jahren begraben wurde, konnte ich zwei Stunden weinend Zwiesprache mit ihr halten und danach sogar alles aufschreiben. Ich habe erleichtert und befreit von einer lebenslangen Last den Friedhof verlassen.
Nein, vorher bin ich noch mal mit dem Brompton bis zum Ende des Friedhofes gefahren, wo der Mokaschuster gemeinsam mit aufgeklärten Polen vor zwei Jahren ein Denkmal aufgestellt hat. Sie haben auf polnisch und auf deutsch einen klugen Text verfasst, hinter dem ich auch meine Mutter zurücklassen kann:
Zur Erinnerung an die,
die hier ungenannt
in ewiger Ruhe liegen
und für die Geschichte
dieser Stadt gewirkt haben.
Ich habe alles erledigt, was erledigt werden muss. Das war das Ziel meiner Reise
Es wird mir daher leicht fallen, den Rest der Reise kurz gefasst zu berichten und nehme es niemandem übel, wenn er jetzt schon aussteigt.
Wer aber keine halben Sachen mag, der begleite mich nach Neumarkt, also Sroda Slonska, meinen Geburtsort und nach Stephansdorf, Szepanow, wo ich in der Zeit, in der meine Mutter an Typhus danieder lag, die halbe Stadt ist daran gestorben, mit meiner kleinen Schwester sozusagen ausgelagert war.
Ich wollte ursprünglich die 25 km von Kanth nach Stephansdorf unbedingt mit dem Rad zurücklegen. Diesen Weg musste ich als Zehnjähriger zu Fuß gehen, mehrmals, mit einem zweirädrigen Wägelchen und einer Kanne Sirup für die älteren Geschwister. Die Polenkinder haben mir die Kanne weggenommen.
In meiner Planung war das der wichtigste zu gehende Weg. Ich habe ihn in einer Geschichte mit dem Titel Golgata beschrieben.
Aber durch den Aufenthalt auf dem Friedhof war mir klar, ich muss nichts mehr, es ist alles erledigt. Jetzt kommt nur noch der Ausklang der Reise. Also nahm ich ein Taxi und der Fahrer war natürlich platt, wie klein mein Fahrrad plötzlich wurde und spielend in den Kofferraum passte.
In Sroda fand gerade ein Weinfest mit Buden, polnischen Köstlichkeiten und ukrainischer Musik statt. Ich war von meinem Kreuzgang erleichtert genug, um mit allen Sinnen an diesem schönen slawischen Fest teilzunehmen. Meine alte Schwester sagt, das Bild, das ich von der Bühne gezeichnet habe, lässt sie die Musik hören.
Die polnischen Nachbarn rechts und links vom ehemaligen Grundstück meiner Großmutter in Szepanw haben sich mit einer sehr hohen Hecke von der Geschichte abgegrenzt, obwohl jeder Blick aus dem Fenster den Hügel wahrnehmen muss. Ein Hügel so groß wie ein Hünengrab. Den Nachbarn zur linken gehört dieses Grundstück, aber außer zwei in den Rasen gesteckten Ultraschallgeräten gegen den Maulwurf wollen sie nichts damit zu tun haben, und meiner forschenden Nichte Friederike haben sie heftig untersagt, darin zu graben. Unter dem Hügel liegt das zusammen gefallene Fachwerkhaus meiner Großmutter.
Die Nachbarn zur rechten haben mich freundlich aufgenommen, die haben sich ihr großes Haus im Westen erarbeitet, der Sohn hat dort sogar Abitur gemacht und spricht deutsch so gut wie polnisch. Aber graben, das wollen auch sie nicht lassen.
Ein letztes Stück wunderbare Heimat vorbei an duftenden Herbst - Feldern auf der Strasse nach Maltsch, heute Malcik, durchfahre ich unbeschwert mit meinem Brompton. Es sind dreißig Grad und die Sonne strahlt. Zu meiner Erinnerung gehört, dass mir schon als Kind die Hitze leicht war, es ist ein mildes Kontinentalklima.
Der Bahnhof liegt einsam an der Strecke Breslau - Dresden, kein Mensch ist zu sehen, kein Beamter, kein Hinweis ist zu finden, von welchem Gleis der Zug abfährt und ich fürchte, dass es noch mal ein beschwerliches Ende gibt. Nein, ich falte mein Brompton zusammen, steige ein, in Dresden noch mal um und komme abends erschöpft in Hamburg an.
Zur Entspannung schreibe ich das Wichtigste auf von der Reise mit meinem
Brompton.
Nachtrag
Das sind meine Schuhe, die ich auf der Fahrt nach Polen getragen habe. Sie haben mir gute Dienste geleistet, selbst beim Tango, obwohl dicke Gumminoppen unter den Sohlen waren.
Jetzt sind sie marode, und ich habe mir gedacht, ob ich sie ehren halber aufhebe oder wegwerfe.
Da habe ich mir ein Ultimatum gesetzt: wenn ich sie abmale und das Bild gelingt, darf ich sie wegwerfen. Wenn nicht, muss ich sie aufbewahren.
Nun ist das Bild nicht besonders naturgetreu gelungen, aber es hat etwas vom Charakter meiner treuen Kameraden, es ist lebendig. So wie betende Hände.
Und so hängt jetzt das Bild an meiner Wand und die Schuhe selbst dürfen den Weg alles Irdischen gehen.
Noch ein kleiner Nachtrag
Das Glück meiner Bewegung im Alter von inzwischen achtzig Jahren ist mein Brompton.
Sicher gehe ich ab und zu auch noch zu Fuß durch meine attraktive Heimat, das Schanzenviertel. Aber wenn es zu lange dauert, dann zwackt es schon mal hier und da. Ganz anders, wenn ich in Begleitung meines Brompton bin. Wenn ich es schiebe, macht es sich nützlich wie ein Rollator. Ein besserer Rollator, weniger verdächtig und vor allem mit mehr Aufforderung zu aufrechtem Gang. Immer wieder sehe ich alte Menschen, die über Gebühr krumm gehen. Nicht weil das Alter sie beugt, nein, die blödsinnigen Rollatoren sind derart konstruiert, das ihre Benutzer geradezu aufgefordert sind zum Krummgehen, Ja die Griffe stehen nach vorn ab vom Körper und zwingen die Haltung in die Beuge. Zwangsläfig verleitet das den Rücken, sich zu krümmen. Wenn der Benutzer den Bordstein hoch will, hat erlediglich die Kraft der Hände zur Verfüung, die nicht auf die Unterstützung des Körpers hoffen können, weil sie weit von diesem entfernt sind. Man sollte das mal aufmerksam verfolgen und sich meiner Kritik anschliesen. Im Brompton-Text habeich schon die Geschichte vom Studienrat erzählt, dem ich mein Brompton als Rollator verkauft habe.
Die schöne Reise ist nun schon wieder zwei Jahre her, ich erfreue mich aber noch immer dieses schönen Fahrzeuges. Also als Hilfe beim Spaziergang oder zum fröhlichen Schwung durch die Szene.
Heute war wieder so ein glückserfüllter Tag. Die Sonne scheint, ich sitze auf einer öffentlichen Bank am Schulterblatt und gnieße ein Yoghurt-Eis mit Sauerkirschen, während mein Rad geduldig am Laternenpfahl auf mich wartet. Lustig kurve ich mit genussvoll reduzierter Geschwindigkeit durch die sommerliche Menge, weiche den Kinderwagen der jungen Piepsmütter aus und sage, wenn es denn einen Herrgott gäbe, ich würde ihm danken.
Kurz vor dem Verlassen des Schulterblattes, vor der Bahnbrücke, sehe ich einen älteren Herrn, der seinen parkenden Sportwagen verlässt und etwas bedrohlich auf mich zu stürmt. Wie ein Vietreiber unterstützt ihn eine junge kräftige Dame. Es war in keiner Weise annehmbar, dass ihre Attake mir gelten könne, wieso auch. Und so schaue ich mich um, was ihnen als Ziel dient. Ich aber war es, und sie benehmen sich in einer Weise einkreisend, dass es ich nicht um eine Frage nach dem Weg handeln kann. Tat es nicht, denn der ältere robuste Herr in kuzen Hosen griff mir in den Lenker um zu demonstrieren, dass er mich meint und ein Entkommen verhindern will. “Sie müssen entschuldigen, es liegt an der Farbe, genau so eine Farbe hatte mein Brompton, und die Farbe ist so ungewöhnlich, dass man ein derartiges Rad nicht kaufen kann.” Ich lächle ein wenig, weil ich natürlich sicher bin, dass es sich um ein Fahrrad handelt, das ich schon seit elf Jhren besitze. Trotzdem spüre ich die latente Wut, die der Geschädigte seit dem Verlust seines Rades mit sich trägt und die er dem vermuteten Dieb rüberschiebt. In mir ist die lächelnde Sicherheit der Unschuld aber auch ein wenig der Ärger, verdächtigt zu sein. Seine Tochter und er postierten sich während der ganzen Prozedur dergestalt um mich herum, dass ein Entkommen ausgeschlossen ist. Durch meine Gelassenheit irritiert lenkt er ein, ich hätte es ja vielleicht günstig vom Dieb gekauft. Und er hätte auch die Rahmennummer bei sich.Vor Kurzem hatte ich duch die Festtellung meiner Rahmennummer ermitteln lassen, dass ich es tatsächlich schon seit elf Jahren besitze. Wie heben das Gerät an, um die Nummer auszumachen, aber da weiß er schon, dass es sich nicht um sein Eigentum handeln konnte, denn die Nummer beffand sich an einer bestimmten Stelle, wo bei meinem Rad nichts ist. “Die Farbe, wiisen Sie, die Farbe, das war doch das Besondere”. Ich weiß, dass es diese Farbe lange nicht mehr gab. Aber ich bin aktuell informiert, denn seit Neuestem gibt es wieder diese Eierschalen-Farbe. Bei Herrn Schäfer in der Gärtnerstrasse. “Ach, da sind Sie auch?” Und das ist weit mehr als Mistrauen. Das ist die Zugehörigkeit zum Klan, zur Sekte der Bromptonfahrer, eine begeisterte Begrüßung. Und während die fehlende Zahl am Rahmen schon eindeutig war, jetzt ist er erleichtert und begeistert zugleich. Lehrer sei er gewesen, in der ....Schule, Deutsch und Technisches Werken. “Na da müssen Sie mich doch kennen, ich war dreißig Jahre für Technisches Werken am IFL zuständig.” Nein, aber ich müsse doch Frau I. Kennen, die war doch auch am IFL. Nein, kenne ich nicht. Beipass und Stenalkanal hätte er und er springe noch immer herum wie ein junger Hüpfer. “Nun komm, Papa”, sagt die Tochter, sie kennt seine Aufdringlichkeit und es ist ihr schon die ganze Zeit peinlich, dass er sich so an mich ranschmeißt. Und da kann ich es mir nicht verkneifen, denn er hatte mich zwischendrin jovial junger Mann geheißen, ich kann es mir nicht verkneifen, die Sau raus zu lassen: “Sie sind ein junger Mann, ich bin Jahrgang 34.” Nein, er setzt zu ganz großer Geste an, das kann nicht sein. Aber die Tochter ermahnt ihn energisch: “Papa, nun komm endlich”!
Texte: Albrecht Schnitzer
Bildmaterialien: Albrecht Schnitzer
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2015
Alle Rechte vorbehalten