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Albrecht Schnitzer


EINE BAHNGESCHICHTE

„Lass uns zum Tanzen gehen!“
„Ist das dein Ernst?“
„Ja natürlich, warum nicht.“
„Fahren wir mit dem Auto nach Bremen, es ist immerhin bald zehn.“
„Nein, auf keinen Fall, in der Großstadt fühle ich mich unsicher. Wir fahren bis Sottrum und von da mit dem Zug.“
Es ist wirklich schon spät und die Fahrt ist alles in allem nicht unter einer Stunde zu bewältigen. Außerdem ist es draußen dunkel und ungemütlich. Aber warum nicht.
Ein langer Tag liegt hinter uns mit tiefen Gedanken und mühseligem Spaziergang durch den herbstlichen Wald. Der Boden ist schwer und nass, aber sein Tusculum ist trocken und unterkellert, und die schwarzen Waldmäuse fallen in den Schacht vor der eisernen Tür zum Untergeschoss, in dem sich Garderobe, Bad und Küche befinden, und sie können nicht mehr die Stufen hoch und werden Opfer vom bereitstehenden Pisavabesen.
Im Obergeschoss liegt ein weiter heller Raum mit Sicht auf das Knie der schnell fließenden Wümme. Die würde sich gänzlich hinterm Schilf verstecken, hätte mein Freund Peter nicht einen Teil des Blickes auf den farbigen Fluss frei schlagen lassen. Vom Hausgeist, der mittels seines eigenen Autos täglich frische Spuren in den Waldweg zum Hause zeichnet, zur Täuschung möglicher Einbrecher, als sei der Hausherr allezeit zugegen. Aber so ist es nicht. Mein Freund Peter ist hier und dort und meldet sich aus Kanada als sitze er nebenan im Cafe, vom Ozean auf seinem Segelschiff oder aus dem Hospital nach einer schweren Operation, die er ambulant an sich vornehmen lässt, als unterzöge er sich einer Fußpflege. Blickt er aus seinem kanadischen Haus auf den Hang, sieht er nur Berge und veranschaulicht die Schönheit seiner Gegend mit dem Hinweis, die nächstliegende Fabrik befände sich in Japan. Eine seiner Frauen ruft ihn zum Kaffee. Auch in diesem Paradies lebt er nicht immer, mitnichten. Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, hält er sich im Tusculum auf, natürlich ebenfalls ein Paradies. Unter dem tut er es nicht. Also wir fahren zum Tanzen. Wie gesagt, ein gemeinsamer Tag liegt hinter uns mit Spaziergängen und Arrangements im Haus, wobei wir ungeübt und ungeschickt versuchen, auf Augenhöhe zu kommen. Ein schwieriges Unternehmen für zwei ehemalige Befehls- und Rechthaber. Wie sollen wir zwischen Oben und Unten unterscheiden, wer ist Herr und wer Domestik. „Du machst den Salat.“ „Aber natürlich.“ „Du lieber bester Freund“, sagt er und meint es. Außer dem Talent zur Salatbereitung gibt es noch einige andere Eigenschaften, mit denen ich mich zur Idealisierung anbiete. Ich schreibe Gedichte, bin ein Poet im Walde.
Tanzen können wir beide, dabei haben wir uns kennen gelernt.
Da wäre ja so etwas wie gleiche Augenhöhe denkbar, und keiner kann da so recht auf alte Erfahrungen zurückgreifen. Das haben wir beide erst im hohen Alter gelernt. Also da ließe es sich doch auf eine gesunde Rivalität hin einrichten. So viel steht fest, bei Salat und Poesie schaut er zu mir auf, nicht aber beim Glattstreichen der Tagesdecke. Da taucht der U-Boot-Kommandant auf, sein Blick ist wie ein Anschiss, der Chefarzt runzelt die Stirn angesichts der kaum erträglichen Blödheit seines Assistenten. „Jawoll, Herr Kaleu.“
Aber wir gehen zum Tanzen. Nein, wir fahren. Das muss hier gesagt werden, um der Geschichte keinen falschen Zungenschlag zu verleihen. Weltmännisch streift er die Schweinsledernen mit Transpirationslöchern über seine noch immer feinen und, wenn es sein muss, ruhigen Arzthände. Er legt die Automatik ein, startet und lenkt den Mercedes auf den Parkplatz vor dem Sottrumer Bahnhof. Den großkrempigen Hut nimmt er nicht ab, der verleiht ihm eine Mischung von Grandseigneur und Cowboy. Wir steigen in den Zug, der aus dem verlassenen Ort rollt, als führe er aus einer Station am Klondike.
Ich unterstütze ihn beim Erklimmen der eigentlich nicht für Menschen gemachten Stufen mit einer freundschaftlichen Geste, wir lachen wie die Spitzbuben auf dem heimlichen Weg in Nachbars Garten.
Soll ich beschönigend sagen, zwei ältere Herren fahren auf gut Glück zum Tango? Nein, die Wahrheit heißt anders: zwei steinalte Männer mit klopfenden Primanerherzen fahren dem Vergnügen hinterher, der eine achtundsechzig, der andere zweiundachtzig.
Ich habe jung mit dem Tango begonnen, war gerade mal zweiundsechzig Jahre. „Wieso“, sagt er und setzt zum Punkten an, „mit siebzig habe ich angefangen, Golf zu spielen, und mit fünfundsiebzig Tango, und zwar, um allen Zweifeln zu begegnen, argentino.“
Er ist bekannt im La Milonga, und kaum haben wir uns auf einen der vor dem Spiegel stehenden Thonet-Stühle gesetzt, um ungeniert und wie üblich die Straßen- mit den Tanzschuhen zu wechseln, als er schon von einer zauberhaften Dame zum Tanz gebeten wird. Wer da glaubt, bei dieser Wahl spiele irgendein anderes Motiv eine Rolle als das, genussvoll tanzen zu wollen, der lerne die Tangoszene oder sogar, wenn auch mit Mühen, den Tango selbst kennen. Also Peter wird geholt und das mit gutem Grund, er ist ein Tanguero.
Er ist berühmt für seine Achse und seinen dynamisch verzögerten Schritt. Natürlich, Buenos Aires, so etwas kann man nur in Buenos Aires lernen, Kohle spielt bei solchen Leuten sowieso keine Rolle. Wüsste ich nicht, dass er ums Verrecken nicht dorthin fährt und auch nie dort gewesen ist, ich glaubte es auch. Er hasst Flüge von 12 Stunden. Nein, er ist ein Natur-Tanguero, ein deutscher Tangotänzer, und was für einer. Wenn ich ihm, dem älteren Freund, meinen Arm leihe, um ihn mit seinen ängstlichen Schritten über die Fahrbahn zu geleiten, entsteht ein Widerspruch zu seiner Leichtigkeit auf dem Parkett. Ein Widerspruch in ihm selber und vielleicht auch im Tanz als solchem.
Ach, das ist es wohl, was uns verbindet, wir lieben den Widerspruch, wir lieben das Leben und wir lieben die Widersprüchlichkeit des Lebens.
Ich komme mir noch ein wenig fremd vor und über mir schwebt noch ein Rest gesellschaftlicher Mahnung: ein bisschen mehr Würde, meine Herren, in ihrem Alter.
Aber dann kommt Hanna, sie lächelt warm in mein Herz hinein, wir tanzen eine Milonga und ich bin wieder auf Augenhöhe mit ihm.
Spät, nach dreiundzwanzig Uhr kamen wir erst an. Noch vor Mitternacht verlassen wir wieder den Saal, um den Bummelzug nach Sottrum zu kriegen. Es ging uns nicht um die Länge des Tanzabends, mehr um den Aufbruch und den schelmischen Beweis, so etwas tun wir.
Keiner sollte uns nachsagen, so etwas täten wir nicht.
Zu unserer Geschichte, die ihren Höhepunkt noch vor sich hat, gehört eine Vorgeschichte, so in der Art eines Orchesters, das weit ausholt im Aufstieg der Klänge, die noch nicht das Ende selbst darstellen, dieses aber bereits ahnen lassen. Peter lehnt das Angebot ab, einen hundertprozentigen Invalidenschein ausgestellt zu bekommen. Gemacht hat es einer aus seiner früheren Seilschaft, der ihm wie viele andere noch immer in Hochachtung seiner ehemaligen medizinischen Leistung wohl gesonnen ist.
Er sei schließlich kein Krüppel, sagt er und gewissermaßen wie immer, abgesehen von diversem Unbill, auf dem Höhepunkt seiner Lebensbahn.
Als aber genannter Herr ihm den Vorzug eines solchen Dokuments beschreibt, überall und zu jeder Zeit einen Parkplatz beanspruchen zu können, stimmt er zu. In seinem langen Leben standen ihm alle Plätze zu Lande und zu Wasser zur Verfügung, dem Herrenfahrer, dem U-Boot-Kommandanten, dem Klinikchef, dem Fußballarzt, dem kunstreichen Till Eulenspiegel. Warum soll er sich jetzt einschränken. Von so einem lasse ich mich chauffieren, na klar. Von einem mit großer Hutkrempe und Schweinsledernen mit Löchern.
„Eine Fahrkarte brauchst du nicht, du fährst als Begleiter auf meinen Behinderten-Pass, für mich habe ich noch ein Billett von der letzten Fahrt, man hat es nicht entwertet.“ Ich war schließlich Beamter, also in Sachen Obrigkeit leicht zu verunsichern und ganz so locker nehme ich das nicht. Egal, no risk no fun, wir fahren zum Äpfelstehlen. Wieder helfe ich ihm ins Coupe.
Der Zug rattert gen Sottrum, die Endstation naht, aber wider Erwarten auch das Unheil. In doppelter Ausführung. Selbst im ICE sind mir noch nie Kontrolleure in Paarformation begegnet. Im nächsten Augenblick leuchtet mir diese Maßnahme für den Bummelzug ein. Die zwei Amtsträger werden von einer grölenden Gruppe ländlicher Jugendlicher aufgehalten. Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Ich kann mir eine leichte Enttäuschung nicht verkneifen, als ich bemerke, alle Jugendlichen können sich im Gegensatz zu ihrem beängstigenden Auftritt ordentlich ausweisen. Zeiten sind das. Ich halte bereits die Klinke in der Hand, auszuweisen habe ich nichts, bin schließlich der Zugbegleiter eines durch und durch Behinderten. Auf den kommt die uniformierte Kontrolle zu. Und siehe da, Peters Hände, die mir noch am Tage in aller Ruhe eine Spritze zielsicher in mein neulich entstandenes Überbein am Handgelenk gesetzt haben, beginnen bedrohlich zu vibrieren. So kriegt man an einer Herren-Handtasche nie einen Reißverschluss auf, denke ich, geschweige denn eine Plastikhülle mit Invaliden-Ausweis und zugehöriger Fahrkarte aus der Tiefe des Behältnisses, in dem sich noch andere Utensilien sperrig aufhalten. Die zitternden Hände werden hilfreich begleitet von der Unruhe eines gebeugten und gebrechlichen Körpers, den ich noch kurz zuvor gestrafft über die Tanzfläche habe gleiten sehen.
Für einen rüstigen Zeitgenossen hätte die knappe Frist des sich verlangsamenden Zuges ausgereicht, die Belege zur Beruhigung des Personals zu zeigen. Nicht aber für einen seiner Lebensfunktionen so gänzlich beraubten vornehmen Herrn. Die natürliche Achtung, die Untergebene vor Ranghöchsten haben, verursacht ein verschämtes Senken der Blicke unter der Uniformmütze. Sie verzögern die Ausübung ihrer Dienstpflicht, das Spiel mitspielend ohne es als solches zu erkennen, wobei sie von der negativen Beschleunigung des Zuges unterstützt werden. Beamte verzichten auf die Kontrolle, den wertvollsten Nachweis ihrer Existenz. Als wäre nichts geschehen, wenden sie sich zum Gehen, noch bevor wir ganz den Flur des Abteils verlassen können. Auf dem Boden der Wirklichkeit angekommen, der Zug rollt umständlich wieder an, wechselt Peter das Kostüm, stützt sich leichtfüßig auf mich und sagt: “Ich habe eine Fahrkarte, aber sie ist ungültig.“
Eine blendende Vorstellung, ich bin begeistert, auch ein großer Schauspieler hätte aus ihm werden können. Immerhin ist er Tänzer, Maler, Segelkapitän, Herrenfahrer und Frauenschwarm. Und doch höre ich aus dem Off eine leise mahnende Stimme: aber meine Herren, in ihrem Alter!

Eine Bahngeschichte


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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2011

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