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Golgata


Der Pimmer, der verknuchte Kerle.
Die Großmutter reckt die Faust mit den eingezogenen Gichtfingern.
Das Kind erfasst die Bedeutung annähernd und geht auf die knarrende Holztreppe, vermutlich hatte die einen leichten Schwung. Sicher ist der Siruptopf am Ende der Treppe hinter der Tür, der mit dem riesigen Zuckersatz und es hat auch mal eine tote Maus darin gegeben. Das trübt nicht die Erinnerung, im Gegenteil. Der Tontopf ist wie ein eingebauter Gegenstand, nicht einfach nur hingestellt. Er beherrscht den Raum, der ist weiß und es gibt ein Bettgestell aus Draht und Eisen und eine weiße Kommode. Ein weißer Raum, der alle meine Räume weiß macht, hell, Licht durchflutet und das Geschnatter der Gänse hinten im Gatter, von denen Hannchen sagt, dass sie nie von der Großmutter gestopft worden seien. Im Gegenteil.
Der Vater wäscht sich den behaarten Oberkörper an der Plumpe. Die ist ein Lebensmittelpunkt auf dem Hof mit saugendem Quietschgeräusch in den Ohren und unterbricht die Abwesenheit des Vaters für die Länge eines Bildes. Wasch der de Beene Junge
vorm Essen. Das Kind kennt den Unterschied nicht zwischen dreckigen und sauberen Füßen, die laufen den langen lieben Tag ohne Schuhe über den Hof und sind erst spürbar vorhanden in dem warmen Sandstrom vom Gewitterregen im Sommerweg, der angrenzt an das Kopfsteinpflaster.
Auf der anderen Seite wohnt die Benedickten mit dem Norbert. Wer das hölzerne Brücklein über den Straßengraben überschreitet, muss einen Grund haben, die Benedickten zu besuchen. Ihr Gesicht mit den vollen Lippen und der dicken Brille ist so da wie die Plumpe. Auch hier gibt es eine Treppe mit Schwung ins Ungewisse, in dessen dunklem Schatten die Umrisse einer noch älteren Frau zu sehen sind, der Großmutter vom Benedickt-Norbert.
Der verknuchte Pimmer, is er schunn wieder drieben.
Der Norbert ist ein großer Mensch für das Kind, nur dass er der Mutter untersteht, bringt ihn näher. Getrennt lassen sie sich kaum nennen, die Benedickten und der Norbert, am besten man schriebe sie zusammen.
Aber über die Brücke wohnt doch die Kenig – Luzie, nicht die Benedikten und der Norbert. Die wohnen doch im Hause von der Muttel, oben. Und ganz oben wohnt die ale Franzen, die schaut aus der Gaube und weeß Bescheed. Da huste alles wieder verdreht, verknuchter Kerle.
Der Streitenberger hat ein ganz kleines Auto, Fotograph ist er und wohnt im Streitenberger-Häusel, das liegt eins weiter zum Mihlgroben hin, gleich hinter der Scheune von der Arlten.
Beim Vogte Laosche im Haus sind zwei Mädel. Ein erster Hauch von Glück und Geheimnis. Nie wieder sind sie erschienen, nirgends, aber sie sind so voller Wirklichkeit, wie alles, woran sich das Leben klammert. Eine Erinnerung ohne Konturen, ein Schmerz und eine Insignie der Vergänglichkeit mit der Kraft eines unsichtbaren Bildes. Geahnte Ereignisse in dunklen Komplexen von Nachbarschaft, deren Wahrheit definiert wird von den Vorurteilen der Erwachsenen.. Hat es den Vogte – Laosche überhaupt gegeben? Nu seie oke nich so vorlaut, natierlich hats den gegeben. Christl meint, er könne sogar der Vater vom Gustl sein. Na denn.
Die beiden Mädel halten sich als Lichtflecken im Innenraum des Gefühls auf, aus dem sie für niemanden nach außen treten, sie sind auf dem Spiegelgrunde des Kindes entstanden.
Geh weiter, geh zum John – Pauer, aber das ist schon Ausland, obwohl der eine erwachsene Tochter hat mit blonden Locken, geahnt und auch mit Schauer, und einen Sohn. Alles halbe Sachen, geh lieber bis zur Kirche, die gibt es mit schwarzem schmiedeeisernen Gitter, aber auch das bleibt schemenhaft. Dann lieber das Dominium, dessen breites Tor sich erst in Notzeiten öffnet, weil es da Milch gibt und die Herrschaft schon weit über alle Berge ist.
Auch die Lesch Berta, die auf dem Pferd bis Breslau reitet und als Krankenschwester dort ankommt, obwohl sie von Lösch heißt und in Hannchens Erzählungen ihre wahre Adelsgestalt annimmt, um ihr etwas vom vergangenen Goldstaube abzugeben. Der Krieg hat nicht nur Schlechtes.
Pimmer, der verknuchte Kerle. Das Gottfriedel kummt. Er geht an dem Kinde vorbei und kann so nur der Muttel und der Hannchen berichten, dass die Mutter gesturben ist. Junge, musst du immer pachulken
Der Pimmer sitzt in der Laube mit dem wilden Wein und nimmt nichts anderes wahr als die schräg gekreuzten Latten, die links und rechts die Laube begrenzen, in Augenhöhe. Dort wo man sitzen kann, sind Bretter. Da mitten zwischen durch geht der Bote des Todes ins Haus, trägt die Botschaft vorbei an dem Kinde und teilt sie denen mit, die sie verstehen. Na hör mal, es ist schon schwer genug, der Hannchen und der Muttel die Wahrheit zu sagen. Gottfriedl, der Junge, ach nee, ach nee. Das orme Mädel.
Im Mihlgroben liegen rostige Teile, Fahrräder, Kinderwagen. Auch das Wasser fließt rostig und die Erinnerung gibt nicht mehr frei, ob wenigstens der Fuß drinnen war. Der Mühlgraben mit seinen dunklen Böschungen und dem tief liegenden Wasserspiegel. Enten gibt es und erste geographische Ahnungen, dass er aus dem Dominium kommt oder wenigstens dran vorbei.
Am nicht bewachsenen Ufer, gegenüber vom Koofmich steht ein kleiner Wagen mit einem Esel davor. In das Holzfass muss Wasser geschöpft und zur Dampfmaschine gefahren werden. Die steht in der Scheune der Großmutter, dort dreschen die Russen vermutlich Getreide. Das Glück des Kindes ist nicht ungeteilt, nämlich das Wasser allein in das Holzfass schöpfen zu dürfen und den Esel heim zu kutschieren. Auch andere Kinder erheben Anspruch.
Der Smorsche gehört zum Scheunentrupp, ein starker Mann mit Knobelbechern und einem kühn sitzenden Käppi, er bemüht sich vergeblich um die Hannchen, er ist zu einfach. Das ist sicher, soviel erkennt das Kind mit Bedauern. Was für ein Lachen vom Smorsche, es entsteht zwischen weißen kräftigen Zähnen, die er so zusammenpresst, dass ihre Kraft an den Kinnbacken sichtbar wird. Ein tiefer Eindruck, abgeschwächt nur durch die Skepsis der anderen, sei nicht so vorlaut und überhaupt. Aber da ist die Sehnsucht nach einer starken Hand. Der Vaotl mit dem behaarten Oberkörper unter der Plumpe ist nur ein verblasstes Foto. Taugt nicht zum anhänglich werden.
Das Kind geht dahin und dorthin. Sein Radius ist begrenzt durch das Holzklo am Misthaufen und das Gartentor, hinter dem zwar das eine oder andere wächst und geerntet wird, geheimnisvoll sind die Kürbisse, aber der Horizont ist unsicher, dort könnte die Verlorenheit beginnen, auch gibt es einen Graben. Mittelpunkt ist die Plumpe, um die schart sich der kühl werdende Abend und am Morgen verheißt sie einen neuen Anfang, in dem ist Sicherheit.
Irgendwann steht der Viehwagen vom Scheuler auf dem Hof. Das Kind hoch oben auf dem Kutschbock mit Soldatenmütze, Leine und imaginäres Pferd, nimm doch den Sägebuck.
Keine gefühlte Erinnerung, ein Foto ersetzt alles; eins wird auch gestellt: der Gottfriedel im Stahlhelm, in dem er versinkt, traurig, wie er nun mal ist, während dem Pimmer das Bessere zuteil wird, dem verknuchten Kerle. Sein Helm ist aus lackierter Pappe und passt. Sieht besser aus mit dem Adler an der Seite und ist richtig, da kommt auch einer aus Eisen nicht mit. Ein Koppel gibt’s für beide.
Frau Arlten, sagt die Scheulern, ich häng mich uff. Na tunses doch endlich und reden se nich. Am anderen Tage hängt die Scheulern am Fensterkreuz. Das Kind sieht sie hängen vorm geistigen Auge. Wenn der Pimmer noch zu kleen is, dann versteht er das nich und sonst och nischt.
Alles zieht vorüber wie das Gewitter im Sommer, vage Bilder, an denen hier und da ein Gefühl oder ein Ereignis hängen bleibt.
Nein, kein Foto, aber ähnlich abgespeichert, es soll ja nicht wirklich werden, zu keiner Zeit, die Kinder drücken sich die Nase an der Scheibe vom Putzmacherladen platt, dahinter steigen die Russen über die Frau vom Dukter aus Breslau.
Ach loss oke, Junge, musste immer ieber su awas räden, verknuchter Kerle.
Geh doch rauf bis zur Ecke an der Kirche, geh vorbei bis zum andern Koofmich, da hört das Dorf auf, da geht’s vielleicht nach Breitenau, du weest doch, wo der Ernst mitm Gustel gebaodet hot. Oder nach Maltsch oder gar nach Leubus.
Der Lonjo ist in die Kneipe geflohen, als er hört, dass seine uneheliche Tochter aus dem Westen kommt. Er säuft und hat schwarze tief liegende Augen. Die Dordl hat seine Augenbrauen. Den Lonjo hat es lange nicht gegeben, um so mehr war sie darauf versessen, ihn zu sehen.
Das Pupperle gibts auch nicht, die ist doch bloß hier, weil die Gretl im Sterben liegt, das versteht jeder. Die kummt zur Muttel und der Pimmer ooch, bei dem muß man uffpossen, der schnappt alles uff, der verknuchte Kerle. Das Pupperle wird es auch später nicht geben, und gibt es bis heute nicht. Aber wo lassen wir bloß ihr blendendes Lachen, über das sich die Christl so aufregt, das allen frühen Schmerz überstrahlende Lachen. Die ist nicht so naseweis, die is noch zu kleen, aber strahlen kann sie schon, wie schön und Gott sei Dank, und wir sind ja auch dankbar, wo hätte sie denn sonst bleiben sollen. Ach ja, die Zeiten.
Du bist alt genug, fahr die Puppi spazieren, aber kipp nicht die Karre vom Bordstein. Doch, aber nicht mit Absicht, vor dem Kino von der Doberschen mit dem schwarzen Rauhaardackel. Der Striezelfrisör hat auch einen Hund, der ist aus Blech und steht neben dem Frisörtisch und ist bedrohlicher als der von der Doberschen. Die wohnt neben dem Dukter, der hot doch deine Norbe genäht, als de uff die Kante vom Kohlenkasten gefallen bist.
Du spielst nich mit dem Heppner-Heinze, verstehste, ich will überhaupt nich, dass de mit der Heppner-Bagage spielst, untersteh dich. Aber der Heppner–Heinze prügelt sich nicht, er sagt, ich dürf mer doch s Hemde nich ßureißen. Der Vatl vom Niedergesäß-Helmut is Beamter, das ist was anderes. Es geniegt, daste immer mit dem Schneider-Bürnas unter die Decke kriechst. Ich will jetzt nichts mehr hören.
Das mit dem Schweindlaschneider war viel früher, da wohnten wir ja noch beim Kolbe auf dem Hof, der hat die Kinder übers Knie gelegt und klaps hatten sie einen hinten druff, und kriegten dafür einen Biehmla, jedes mal.
Mit der Doberschen das war am Ring in der Wohnung vom Jungmann – Juden. Wo die Gretl aus dem Fenster lehnt. Auch so ein Foto. Der Vaotl hat die Wohnung gekriegt und an der Tür steht in goldenen Barockbuchstaben auf schwarzem Marmor: Reg.- Inspek.
Die Mutter ist schwarz und hinkt, aber wenn sie mit dem Pupperle in der Karre geht, heißt sie Frau Regierungs-Inspektor.
Du willst eine deutsche Frau sein, hat der Vatl gesagt, und so was sagst du vor den Kindern.
Einmal im Jahr muss sie einen Arier - Nachweis erbringen, damit alle weiter in der Wohnung vom Jungmann – Juden bleiben dürfen. Hier ist sie gestorben, aber da waren die Russen schon da. Zweiundvierzig Fieber, Christl mit einundvierzig und hat sie gepflegt.
Für das Kind sind das Erzählungen, und damit die nicht verletzen, lassen wir die Hälfte weg. Dagegen ist das Bild mit den Zicklein und dem schreienden Kind im Korb doch richtig niedlich, - also du findest auch immer was.
Die Zeiten waren schlecht, ich weiß, aber es hat doch auch viel Gutes gegeben. So wie Waltraud erzählt, da hat der Regisseur zu Lenie Riefenstahl gesagt, so wie Fräulein Heinrichsdorf müssen sie im Sattel sitzen. Stell dir vor, die kannte Lenie Riefenstahl.
Christl weint erst, als ihr das warme Gewitterwasser um die Füße rauscht im Sommerweg, als sie auf den grünen Hügel schaut, unter dem das weiße Zimmer mit dem Siruptopf begraben ist.
Der Goldzahner ist auch Jude, aber anders als der Jungmann – Jude, der Goldzahner gehört zur ruhmreichen Sowjetarmee, der ist nicht einfach verschwunden und das Pupperle hat Angst, weil seine Zähne so blitzen. Der tut der doch nischt. Zu Hannchen sagt er Jochaanna, aber Glück hat er trotzdem nicht. Du kannst sagen, was du willst, man sieht immer, was een Jude ist, brauchst der bloß die Nase angucken. Die Hannchen hängt halt immer noch am Joachim, und wer nur vermisst ist, kommt vielleicht wieder. Der Joachim war bei der Waffen SS. Und was soll man sich da erst mit den Smorsches und den Goldzahnern abgeben.
Dass man die Hannchen später mit dem Lonjo hat aus dem Korn kommen sehen, ach Gottl nee. Und die Dordl hats auch nicht leicht gehabt, - nu is gutt.
Mußte das Kind denn in der Weißtritz baden, wenn’s doch im Seichten geblieben wär, dort ist die Strömung wahrhaftig nicht so stark, dort unter der schwarzen Holzbrücke, die haben sie extra für die Bauern gemacht, damit sie ihr Heu auf die andere Seite kriegen, Reichsbauernführer, der denkt an alles.
Als wäre es mit Zähnen zur Schleuse gezogen worden, wo die beiden Flüsse zusammenkommen und gemeinsam das Wehr hinunterstürzen, um als Wasserkraft in der Mühle vom Hufereck zu enden. Ach weißt du, ich glaube so stimmt das nicht, aber was stimmt schon.
Verbrieft ist, dass einer den Arm ergriffen hat, der aus der trüben Brühe heraus nach dem Leben greift, obwohl der Film schon abgelaufen ist. Wirklich, glaub mir, da läuft in Sekunden schnelle, ach was sag ich, noch viel kürzer, das ganze Leben ab.
Jahrzehnte später überstehen hier riesige Kiefern das Land, damals noch ein Nadelgebüsch, in dem sich die Kinder schamhaft umziehen, obwohl es nach Scheiße riecht.
Von hier aus rennt das Kind panisch nach Hause, um der Denunziation zuvorzukommen, die das Bündnis von Mutter und Tochter gegen die Männer stabilisiert. Nu petz ok nich, sagt die Mutter zur Christl und durchbricht den Pakt in beglückender Weise, wie es nur noch einmal geschieht, als sie allem überdrüssig und entschlossen ist zu gehen. Dich nehme ich mit, sagt sie. Ob in eine bessere Welt oder in den Tod, wer weiß. Über ihren Zweifel hat die Mutter nicht gesprochen. Aber es gibt Zeichen, eine Sprache aus Gesten, die schmerzen und zu verstehen sind. Sie legt die Handflächen an die heißen Kacheln des Stubenofens und presst sie an die schmachtenden Wangen des erschreckten Kindes, das vom Duft der frischen Sonntagsschürze angezogen ist.
Mit dem zweirädrigen Handwägelchen geht das Kind auf der endlosen Chaussee zwischen Stephansdorf und Kanth.
Nimm ne Kaonne Sirup mit fir de Christl unds Gottfriedel.
Fremde rauben ihm die Holznägel für das Besohlen von Schuhen, ein bitterer Verlust. Ein vergilbtes Foto zeigt den Großvater aus Neumarkt, man sagt, er sei ein rechtschaffener Schuster gewesen. Die Großmuter nimmt Bonbons aus der Kristallschale im Küchenschrank.
In der Straßenbiegung vor Krintsch steht ein Kruzifix auf einem Grashügel.
Das ist Golgata.

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Tag der Veröffentlichung: 05.08.2008

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