Pia Rastphul blickte aus dem Fenster ihres Zimmers und sah betrübt gen Himmel. Die graue Wolkendecke passte gut zu ihrem Befinden. "Bitte, lieber Gott, lass mich den Tag einigermaßen würdevoll überstehen, flehte sie stumm. Sie fühlte sich erschöpft von den letzten Tagen. Kaum ein Auge hatte sie zugetan. Ihr Freund Ralf konnte ihr leider nicht viel helfen. Das Einzige, das er tun konnte, war ihr Trost zu spenden, was er auch tat. Zu ihrer Trauer kam noch hinzu, dass er heute nicht an ihrer Seite stehen konnte. Das nur wegen des Zerwürfnisses mit ihrer Mutter. Noch immer beharrte Maria Rastphul darauf, dass er nicht gut für sie wäre. Gerade sie, die nicht einmal ihren Mann hatte halten können, mischte sich in ihre Beziehung ein.
An der Zimmertür erklang ein Klopfen. Mit einem gequälten Laut erlaubte sie dem Besucher, einzutreten. Ihr Zwillingsbruder Thomas kam mit einem ebenso betrübten Gesichtsausdruck herein und erkundigte sich bei der Schwester: "Alles okay bei dir, Pia?"
Pia sah ihren Bruder traurig an, doch nickte sie tapfer und fragte ihn: "Bei dir auch? Wie geht es Mutter? Ist sie schon unten?"
Er kam zu ihr ans Fenster und legte seinen Arm um sie. Pia wusste, dass ihr Bruder sich um sie sorgte. Thomas konnte den Schmerz nachvollziehen, der in ihr saß. Auch er wäre heute am liebsten woanders, als auf der Beerdigung ihrer Großmutter. Doch konnten sie es sich nicht aussuchen.
"Mir geht es den Umständen entsprechend und Mutter hält heute ausnahmsweise mal die Klappe", schmunzelte er und ließ sie dann wieder mit ernster Miene wissen: "Lisa ist auch unten."
Pia stutzte. Doch war es nicht normal, dass die Exfrau an der Beerdigung teilnahm? Lisa hatte immerhin einmal zu dieser Familie gehört. Wenn auch nur für ein Jahr. So schnell wie die beiden geheiratet hatten, war die Ehe auch wieder in die Brüche gegangen.
Die Schwester sah ihm in die Augen, nickte verstehend und meinte ernsten Wortes: "Ich hoffe, dass Mutter sich im Griff hat. Ich möchte nicht auch noch den Trauergästen, Erklärungen über ihr Verhalten geben müssen, wenn sie sich wieder über Ralf auslässt."
Thomas nahm sie in den Arm und antwortete ihr beruhigend: "Das musst du nicht! Ich habe sie eben im Bad dabei beobachtet, wie sie ein Medikament zu sich nahm. Sicher so eine Beruhigungspille."
Seufzend und mit noch immer verweinten Augen meinte Pia: "Die bräuchte ich jetzt auch!"
Sie traf der Tod ihrer Großmutter besonders schwer. Für Pia war sie stets der Fels in der Brandung gewesen. Ganz gleich, worum es ging - Seien es Probleme im Liebesleben als Heranwachsende oder mal wieder Streitereien mit ihrer Mutter - Immer hatte ihre Großmutter ein offenes Ohr für sie gehabt.
Ihre langen, kupferbraunen Haare band sie mit einem schwarzen Haarband zusammen, weil der Wind draußen kräftig wehte. Sie hatten April und wie man diesem Monat schon nachsagte, tat dieser was er wollte. Gestern noch herrlicher Sonnenschein und heute sah es ganz danach aus, als würden jeden Moment die grauen Wolken ihre Schleusen öffnen.
Da passt der traurige Anlass wunderbar dazu, dachte sie.
Pia sah ihrem Bruder in die warmen, braunen Augen, dann herab zu seiner Kleidung. In seinem schwarzen Anzug sah er recht attraktiv aus. Überhaupt war er für seine siebenundzwanzig Jahre ein reifer und gescheiter, junger Mann. Bis auf diesen einen Fehltritt natürlich. Doch wenn man verliebt war, sah ein Mann wohl den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Sie für ihren Teil würde diesbezüglich vorsichtiger sein.
Thomas gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: "Komm, Schwesterherz und denk dran, Großmutter ist all' der Schmerz erspart geblieben."
Gemeinsam verließen sie das Zimmer, nachdem sie sich ihre Jacke übergezogen und sie sich ihre Handtasche gegriffen hatte.
Vor dem Haus stieg Pia in ihren Polo und fuhr los, ohne ein Auge auf ihr Umfeld zu werfen. Sie hatte heute keinen Nerv dafür. Thomas, seine Exfrau und ihre Mutter würden ihr schon in ihren Autos folgen. Hinterher wollte sie nur noch mit Ralf zusammen sein und ihm berichten, was es zu berichten gab, wenn er schon nicht dabei sein konnte.
Etwas später standen sie am Grab der Großmutter und Pia heulte wie ein Schlosshund, während der Pfarrer seine Rede hielt. In der Kirche konnte sie sich noch zusammenreißen, doch jetzt ging es nicht mehr. Es war ihr gleichgültig, was die anwesenden Trauergäste über ihren Ausbruch dachten. Sie hatte ihre Oma nun mal geliebt.
Die verbrauchten Taschentücher wurden in die Taschen ihrer schwarzen Hose gestopft, die sie gegen den Willen ihrer Mutter trug. Als hätte Pia es schon geahnt, dass sie Stauraum brauchen würde. Zum Glück hatte sie ihr Haar zusammengebunden. Durch das ständige Nasenputzen hatten ihre Hände anderes zu tun, als sich die Haare bei dem Wind aus dem Gesicht zu halten.
Was würde sie darum geben, jetzt nicht hier stehen zu müssen. Sie vermisste sie so sehr. Bei ihren Großeltern hatte sie sich immer geborgen gefühlt. Erst vor fünf Jahren war auch ihr Großvater so ganz plötzlich verstorben. Pia hatte schon damals die Welt nicht verstanden. Nie war er krank gewesen, bis er einem Herzinfarkt erlag. Gerade einmal sechsundsiebzig war er gewesen. Und nun auch noch ihre Großmutter. Bei einer ganz gewöhnlichen Vorsorgeuntersuchung wurde bei ihr der Darmkrebs diagnostiziert. Pia war es gewesen, die sie noch keine drei Monate später tot im Bett vorgefunden hatte. Schlafend für immer. Sie war einfach eingeschlafen und nicht mehr wach geworden.
Was sollte Pia nun ohne sie machen? Sie hatte mit ihr über alles sprechen können und sie hatte ihr die Freiheit gelassen, die eine junge Frau benötigte. Für ihre Enkelin hatte besonders ihre Oma ein offenes Ohr gehabt. Ganz anders als ihre Mutter, die noch heute versuchte, sich in ihr Leben einzumischen. Ihr vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte.
Ihr Bruder sah zu ihr herüber und man konnte sehen, dass er mit ihr litt. Lisa stand neben ihm, jedoch nicht mehr so nah, wie noch vor einiger Zeit.
Sicher waren er und ihre Mutter ebenso traurig darüber. Sie hatten sich nur eben besser im Griff. Kurz riskierte Pia einen Blick auf sie. Diese stand fast teilnahmslos mit gesenktem Kopf am Grab und schüttelte Hände, von denen sie nicht wusste, zu wem sie gehörten. Ihr Blick richtete sich nun auf Lisa, die neben Thomas stand. Auch sie sprach den beiden jetzt ihr Beileid aus, kam dann zu ihr rüber und tat dasselbe, ehe sie den Friedhof verließ. Pia wunderte sich überhaupt, dass sie zusammen zur Kirche gefahren waren. Die Trennung war nicht gerade einvernehmlich gewesen. Aus Thomas war aber nichts heraus zu bekommen, sodass Pia nicht recht wusste, was der Grund gewesen war. Ob Lisa einen anderen Mann kennengelernt hatte? Oder hatten sie sich womöglich heftig gestritten? Sollte ihr Bruder eine Mitschuld haben? Dass Thomas der Schuldige an der Trennung gewesen sein soll, konnte Pia nicht so recht glauben. Ihr Bruder war eine treue Seele und war zudem völlig vernarrt in Lisa gewesen.
Ein weiteres Mal putzte sich Pia die Nase und verstaute auch dieses Taschentuch in der Hosentasche. Ihre Augen waren vom vielen Weinen sicher geschwollen und rot unterlaufen. Wie sollte die Enkelin sich auch beruhigen können, wenn sie nicht verstehen konnte, warum ihre Großmutter so früh starb? Sicher, beide Großeltern hatten nicht leiden müssen, wie manch andere Menschen. Doch der Nachteil war, dass gerade Pia damit überfahren wurde und sie dadurch nicht viel Zeit zum Abschied nehmen bekommen hatte. Außerdem fand sie, dass ihre Großmutter mit ihren achtundsiebzig Jahren noch viel zu jung zum Sterben war. Ein wehmütiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte sie ihr noch vorgesungen: "Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an. Mit sechsundsechzig Jahren, da hat man Spaß daran. Mit …" Sie hatte ihre Großmutter so gerne lachen gehört. Wie auch dabei, als sie gemeint hatte: "Dieses Alter habe ich längst überschritten."
"Aber nur auf dem Papier", waren Pias schmeichelnde Worte gewesen.
Wer wusste schon, ob sie jetzt nicht glücklicher war? Da oben im Himmel, bei ihrem geliebten Mann. Pia seufzte gequält auf.
Nach der Beisetzung begaben sie sich mit einem Teil der Gäste, die aus entfernte Verwandten und Bekannte bestand, die wenigen Meter ins Pfarrhaus zum Leichenschmaus. Pia zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Bisher hatte das Wetter gehalten. Es war zwar windig, doch die graue Wolkendecke hatte noch nicht ihre Schleusen geöffnet, sodass sie die paar Schritte zu Fuß bewerkstelligen und die Autos auf dem Parkplatz der Sankt Johann Kirche stehen lassen konnten. Warum konnte Ralf nicht an ihrer Seite sein? Warum ging sie einem wiederholten Streit mit ihrer Mutter, aus dem Weg, indem sie Ralf gebeten hatte, nicht daran teilzunehmen? Zum Kuckuck noch mal, sie war erwachsen! Thomas war allerdings der Meinung, dass sie ihn hätte gerade deswegen mitnehmen sollen. Er verzieh ihrer Mutter bis heute nicht, dass sie ihren Vater so mies behandelt hatte. "Ihr ständiges Gezeter hätte mich auch in die Flucht geschlagen", waren seine Worte damals gewesen.
Für diesen Teil der Zeremonie hatten nun weder ihr Bruder, noch Pia, trotz der Sitten und Gebräuche nichts übrig. Ihnen beiden wäre es lieber, jetzt alleine sein zu können oder eben nur mit der engsten Familie beisammen zu sitzen. Obwohl… Welche Familie sollte das sein? Ihr Vater war nicht erschienen, zumindest hatte sie ihn nirgendwo stehen sehen. Seit fast zwei Jahren lebten ihre Eltern nun getrennt. Die Geschwister ließen es sich jedoch nicht nehmen, ihn ab und an zu besuchen und er schien sich auch jedes Mal darüber zu freuen. Sie konnten ja am allerwenigsten dafür, dass ihre Mutter war, wie sie war.
Ihr Bruder und sie gaben nichts auf das Geschwafel, dabei dem Verstorbenen zu gedenken, ihm oder ihr die letzte Ehre zu erweisen, wenn es auch Jedermann so handhabte. Sie wären doch lieber mit ihren Gedanken alleine gewesen. Ihrer Meinung nach brauchte es keine Stulle oder einem Stück Trockenkuchen. Keiner Tasse Kaffee oder einem Glas Saft, um den Verstorbenen zu Ehren und in Erinnerung zu behalten. Diese Menschen würden eh für immer in ihrem Herzen sein.
So langsam kehrte in Pia Ruhe ein, was aller Wahrscheinlichkeit daran lag, dass sie vor Trauer in den letzten Nächten kaum geschlafen hatte.
Sie beobachtete während der Gedenkfeier die anwesenden Gäste, die sich leise unterhielten, während ihr Bruder ebenso gelangweilt dasaß und nur Kaffee trank. Lisa war nicht mitgegangen, was vielleicht auch besser so war. Früher oder später würde ihr Bruder sich ihr schon mitteilen, das wusste Pia. Er brauchte noch Zeit, sich seine Wunden zu lecken. Dann wäre sie für ihn da, wie er es für sie bisher gewesen war. Sie selbst hatte sich dazu entschlossen, eine Cola zu trinken, um den Kreislauf in Schach zu halten.
Pia Rastphul rappelte sich am nächsten Morgen mühsam aus dem Bett. Seit Ralf vor ein paar Wochen, drei um genau zu sein, mit ihr Schluss gemacht hatte, fühlte sie sich einsamer denn je. Sie stöhnte frustriert auf und schlurfte ins Bad. Sie war es doch gewesen, die die alleinige Schuld an der Trennung auf ihren Schultern trug. Die niemals den Gang vor den Traualtar machen wollte, geschweige denn, Kinder in die Welt zu setzen. Und nun? Sie vermisste ihn, kaum dass ein Tag vergangen war. Mit ihm hatte sie so viel Freude erleben dürfen. Ralf hatte ihr regelrecht die Sterne vom Himmel geholt. Jeden Wunsch hatte er ihr von den Augen ablesen können. Doch nun, nach zweieinhalb wundervollen Jahren, beendete er einfach so ihre Beziehung. Vielleicht war er es auch leid gewesen, sich ihr Gezeter über ihre Mutter anzuhören. Durch eine, ihr unliebsame Freundschaft, entwickelte Maria sich mehr und mehr rückwärts. Mit ihren Ü-50 begann sie wieder, sich wie ein Teenager aufzuführen, statt wie eine erwachsene Frau und zudem Mutter von erwachsenen Zwillingen. Da hatte Lola sicher ihre Hand im Spiel. Es widerte Pia regelrecht an, ihr Gefasel über die eine oder andere Bekanntschaft mit anhören zu müssen, wenn sie ihren Anstandsbesuch bei ihr abhielt und diese, ihr unsympathische Frau bei ihnen zuhause saß.
Während sie unter der Dusche stand, trauerte sie Ralf nach und sehnte sich ihre Großmutter herbei. Die weise, alte Frau würde ihr jetzt sagen können, was sie tun sollte. Sie war in Pias Leben stets der rettende Anker gewesen.
Pia vermisste sie noch heute enorm. Sie hatte ihre Oma regelrecht vergöttert. Sie sogar mehr geliebt, als ihre eigene Mutter, mit der sie sich ständig gestritten hatte und weswegen sie vor über einem Jahr schon zu ihrer Oma gezogen war. Dort hatte sie das frühere Zimmer ihrer Mutter bewohnt und konnte somit der alten Frau ein wenig unter die Arme greifen. Nach dem Ableben ihrer Oma, teilte ihnen der Notar mit, dass Pia das kleine Häuschen geerbt hatte, während ihrer Mutter Schmuck und etwas Bargeld hinterlassen wurde. Der Notar überreichte Pias Mutter auch einen versiegelten Brief. Komisch war, dass Maria ihnen bis heute nicht gesagt hatte, was in dem Brief stand. Nachdem sie ihre Mutter Maria dreimal nach dem Inhalt gefragt hatte, gab sie es auf. Maria wurde darauf stets ungehalten und das wollten sie sich nicht mehr bieten lassen. Ihre Großmutter hatte keine Ahnung, welch ein großes Loch sie in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Elyn
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2017
ISBN: 978-3-7438-3485-9
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