Kurzgeschichte
„Das Versprechen“
von
M.A.Buth
2011
Beitrag zum 50-jährigen Gedenktag anlässlich des Baus der deutsch-deutschen Mauer
Eine wahre Geschichte
August 2011
Das Foto wurde am Tag der Handlung 1988 aufgenommen. Der Brief im Hintergrund ist ein Original.
Edition Bookrix
Das Versprechen
Sie hieß Saskia und war 16 Jahre alt.
Februar 1988, während eines Ausflugs nach Ostberlin, hatten wir uns kennen gelernt. Ich verbrachte zu dieser Zeit die Ferien bei meiner Patentante im Westen der Stadt. Ihre Töchter Sonja und Yvonne hatten schon länger Kontakt zu einem Jungen aus der Ostzone und beide schwärmten wohl heimlich für ihn.
Sie schrieben sich Briefe und wenn immer es möglich war, gingen sie über die Grenze um sich mit ihm zu treffen. Berlin war damals Provinz, eine einsame Insel im Niemandsland des kalten Krieges. Umzingelt vom roten Feind.
Der Westen der Stadt zeigte seine immer noch vorhandenen Kriegsschäden in den leeren Grundstücken, die wie fehlende Zähne in einem Gebiss, an vielen Orten der Stadt das Bild prägten.
Nach Berlin ziehen, in Berlin leben wollte niemand. Die Berliner nannten uns komischerweise „Wessis“ oder „die aus der Zone“ und sie dichteten uns allerlei merkwürdige Eigenschaften an. Die Existenz Westberlins, ein Leben auf Messers Schneide, ein Tanz auf dem Vulkan, trieb immer wieder solche Blüten. Es gab sogar „Wessiwitze“, wobei wir uns nicht als die aus dem Westen , sondern schlicht als die Deutschen verstanden und nicht einsahen, warum wir denn so anders und bemerkenswert sein sollten.
An diesem Tag also, machten wir uns auf den Weg in den Osten der Stadt, um den Freund der beiden Mädchen zu treffen.
Zunächst hatte ich keine Lust darauf. Welcher Junge will schon dabei sein, wenn verknallte Teenagergirlies in der grauen und öden DDR ihren Schwarm treffen und Süßholz raspeln?
Die DDR hatte ich ein paar Jahre zuvor, auf einer Klassenfahrt, ausgiebig kennengelernt. Eine bizarre Welt, in der man zwar Geld haben konnte, es aber nichts zu kaufen gab.
Menschen schienen einem durch die Stadt zu folgen und die Augenpaare, der stummen ostdeutschen Statisten auf den Straßen, waren immer auf einen gerichtet. Wir wussten nicht warum das so war, oder wer diese Schatten befehligte die uns da folgten. Waren dies die VoPo, die Volkspolizei in Zivil? Oder gar die Stasi?
Alles erschien wie für uns arrangiert. Bizarr wie ein Hitchcock Thriller. Diese DDR, die die wir zu sehen bekamen war ein riesiges Freilichttheater. Nichts war normal, alles für uns geplant. Ich glaube bis heute, das dies der Grund ist, weshalb Ost- und Westdeutsche die DDR im Rückblick anders Erinnerung haben. Für uns Besucher, wurde alles sorgfältig inszeniert, wir sollten und durften keine echten Kontakte dort haben. Die meisten Leute auf der Straße waren vermutlich Polizisten, Spitzel und Statisten. Die normale DDR bekamen wir nicht zu sehen.
Wir hatten Angst vor den unberechenbaren und unsympathischen Ostpolizisten. Sie ließen einen gerne irgendwo an der Grenze ewig warten, machten lange Telefonate mit bedrohlichen Minen und spielten das Spiel mit dem Psychoterror mit Hingabe. Wenn sie auf der Transitstrecke die Busse kontrollierten, wurden selbst die strengsten Klassenlehrer leichenblass und hofften, dass die Grenzer , wenigstens diesmal, kein Drama veranstalteten und den Bus und seine Insassen zum Beispiel 5 Stunden bei 40 Grad in der Sonne stehen ließen..
Also hatte ich eigentlich keine große Lust, auf dieses Polizeistaatstheater, ließ mich aber dann doch bequatschen und raffte mich auf – als von der Tante ernannte Beschützer ihre Töchter.
Der Grenzübergang „Bahnhof Friedrichstraße“ befand sich unter der Erde, am Ende langer, kahler , schlecht beleuchteter Gänge. Bog man um die letzte Ecke, spaltete sich die Menschenschlange , an der man sich anstellen durfte, in Einreisende westdeutscher und anderer Nationalitäten, auf.
In provisorisch anmutenden, blanken Sperrholzverschlägen saßen Grenzer, kontrollierten die Ausweise und stellten dem ein oder anderen merkwürdige, kafkaeske Fragen.
Ein weiteres Mittel, die Westdeutschen zu drangsalieren, war der von der DDR eingeführte Zwangsumtausch. Jeder Bundesbürger musste bei der Einreise, einen festgelegten Betrag Westmark in Ostmark umtauschen und zwar 1:1. Dies entsprach zwar in keinster Weise den realen Wechselkursen, aber das war eben ein tolles Geschäft und so wurde es einfach beschlossen. Mit dem Zwangsumtausch verbunden war die Auflage, dass keine einzige Münze wieder zurück in den Westen genommen werden durfte. Das Geld musste also ausgegeben werden. Angeblich drohten bei Nichtbeachtung sogar Gefängnisstrafen.
Als wir diese grauenvolle Visitenkarte des Arbeiter und Bauernstaates erfolgreich hinter uns gelassen hatten und uns wieder über der Erde befanden, waren wir wirklich in der DDR angekommen. Der kleine oberirdische Bahnhof füllte sich zusehends und an der Wand befand sich ein winziger Fahrkartenautomat, den ich für einen Kaugummiautomaten aus viktorianischer Zeit gehalten hätte, wenn man es mir nicht anders erklärt hätte. Die Fahrt kostete 60 Pfennige – Ost wohlgemerkt – und das Merkwürdige war, dass diese Apparat die Fahrkarte auch herausrückte, ohne dass man Geld einwarf. Vielleicht saßen ja auch irgendwo 5 Stasioffiziere, die mit dem Fernglas beobachteten, wer danach das Geld in den Schlitz warf und wer nicht. Willkommen in Absurdistan!
Wir durften den Jungen aus dem Osten nicht an diesem Bahnhof treffen oder gar ansprechen, denn Kontakte der Ostdeutschen zu den Westdeutschen waren verboten!
Also hatten meine beiden Begleiterinnen einen Treffpunkt in der Nähe des Brandenburger Tors vereinbart, ein Springbrunnen, an dem wir uns dann „zufällig“ kennen lernen würden.
Als wir also zu dritt am Brunnen ankamen und uns dort hinsetzten, dauerte es nicht lange und ein schlaksiger Junge mit langen blonden Haaren, schlenderte wie zufällig vorbei und sprach die beiden Mädchen neben mir an. Ich war zunächst etwas verärgert, da ich es für eine billige Anmache hielt, verstand dann aber, dass es tatsächlich der war, den wir treffen wollten und er eine Riesengeschichte erfand um für einen ( der vermutlich zahlreichen Spitzel in der Umgebung) den Eindruck zu erwecken, er frage nur nach dem Weg oder habe sonst irgend einen anderen Vorwand.
Wir setzten uns also hin und plötzlich tauchte ein weiteres Mädchen auf. Sie hatte blonde Haare, war hübsch und setzte sich einfach zu uns. Ich ging zunächst davon aus, dass es sich um die Freundin des ostdeutschen Schwarms handeln müsse, oder vielleicht seine Schwester.
Nichts davon stimmte. Sie war Saskia und sie hatte nur Augen für mich. Zumindest kam es mir so vor.
Sie redete leise und blickte sich ständig um, wenn sie sprach, aber es war trotzdem sehr angenehm sich mit ihr zu unterhalten. Ihre Fragen und Überlegungen zeigten, dass sie für ihr Alter wesentlich reifer war, als die Mädchen bei uns im Westen. Sie interessierte sich mehr für die großen Fragen des Lebens, als für Klamotten, Musik und Schminke. Das fand ich sehr ungewöhnlich, und so wirkte sie sehr erwachsen auf mich.
Nach einer Weile hatte sie mich wohl genug abgeklopft und ihr leises Säuseln wurde zu einem Zischen und Flüstern:
„Weißt du was? Ich wünschte ich käme hier raus.“
„Tja, das ist schwierig“, entgegnete ich ihr,“ Da musst du wohl einen Ausreiseantrag stellen“
„Vergiss es. Das dauert ewig. Die machen dir hier das Leben zu Hölle, wenn du es tust. Ich bin jung, ich will noch etwas erleben. Einmal den Westen sehen. Frei sein und reisen, wohin ich will“
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Solche Probleme kannte ich ja nicht. Irgendwie war ich wohl auch der Meinung, dass jeder Mensch eben so sein Schicksal hat und so wie einer im Rollstuhl sitzt und der Nächste im Heim aufwächst, sind manche Dinge eben so wie sie sind.
„Eine Freundin von mir, die hat es geschafft.“
Ich wurde neugierig: “Wie denn das?“
Saskia seufzte:“ Naja, die hatte Glück. Ein Wessi hat immer im Sommer Urlaub in ihrem Ort gemacht und die beiden haben sich verliebt. Jetzt darf sie ausreisen.“
Das gab mir zu denken und ich wollte sie irgendwie aufmuntern: „Sag denen doch einfach, dass wir uns verliebt haben! Ich bin damit einverstanden“ Ich hatte zwar zu dieser Zeit eine Freundin, war mir aber sicher, dass die nichts dagegen hätte, da es ja offensichtlich nur darum ginge Saskia die Ausreise zu ermöglichen.
Saskia sah mich wie ein Kind an. „So einfach geht das nicht. Die waren ja jahrelang vorher zusammen, haben sich verlobt und sie konnte das alles beweisen“
Dann wendete sie den Blick niedergeschlagen in die andere Richtung.
„Wo ist denn da das Problem?“ , bestand ich weiter.
„Wir werden uns schreiben. Ich schreibe dir Liebesbriefe. Ein paar Monate, die sammelst du dann und gehst zu deiner Behörde“
„Meinst du wirklich?“, fragte sie und wirkte skeptisch und auch verwundert.
„Ja, ich schreibe gerne und viel. Warum soll ich das nicht dafür nutzen?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass das klappt...“
„Warte doch erst mal, bis du meine Briefe liest. Gib mir deine Adresse und du wirst schon bald sehen“
Aus Angst vor den Spitzeln um uns herum, die wir überall befürchten mussten, flüsterte sie mir ihren Namen , die Straße und den Ort ins Ohr.
„Seid ihr soweit?“ , fragte uns unser Begleiter. „Wir müssen jetzt zurück, wir dürfen nicht so lange reden, sonst fällt es auf.“
Ich konnte es nicht fassen. Diese Staat drangsalierte seine Menschen so sehr, dass sie Angst hatten sich länger als diese lächerlichen 10 Minuten an einem öffentlichen Platz zu unterhalten.
„Ich dachte, wir gehen noch in ein Café“, entgegnete ich.“Wir haben noch so viel Geld übrig.“
„Das ist unmöglich. Wir dürfen nicht mit Westdeutschen zusammen irgendwo rein gehen“, sagte Saskia und klang dabei traurig.
Mein Lächeln steckte sie an und gab ihr etwas von dem Strahlen zurück, das ihr Gesicht gleich wieder viel hübscher erscheinen ließ.
„Wir werden schreiben Saskia, versprochen?“
„Mal sehen..“ , zögerte sie.
Ostberlin war grau. Es gab keine Werbeschilder, das war etwas, was mir für immer im Gedächtnis haften blieb. Wo im Westen riesige Leuchtreklamen und Werbetafeln dein Blickfeld bunt färbten, war der Osten häßlich, staubig, mit den stinkenden Trabanten und Wartburgs bevölkert, die schmutzige Qualmwolken aus ihren winzigen Auspuffen in die Luft töfften.
Wir waren Teenager mit ein wenig Taschengeld, aber in Ostberlin waren wir reich. Denn dort konnten wir in die besten Restaurants gehen, oben im Fernsehturm Runden für die Freunde schmeißen, mit Tüten bepackt durch die wenigen, leeren Kaufhäuser shoppen oder – was streng verboten war! - das Geld am Ende des Ausflugs einfach in einen Mülleimer werfen.
Die Zahl der Mülleimer am Straßenrand nahm merkwürdigerweise ständig zu , während man sich in Richtung des Grenzübergangs an der S-Bahn Haltestelle bewegte.
Da uns wieder jemand zu folgen und beobachten schien, war putzte ich mir die Nase mit einem Taschentuch, versteckte die leichten Münzen (wir nannten es Pappgeld) in der Rotzfahne und entsorgte so meine letzten Ostmark.
Den Rest des Weges sagte ich mir immer und immer wieder Saskias Adresse auf, stolperte dabei, vergaß die Hausnummer, fragte meine Begleiterinnen, doch die kannten sie nicht und hatten sie nie zuvor gesehen. Dann fiel sie mir wieder ein, verdammt, warum hatte keiner einen Stift dabei?
Als wir wieder in Westberlin zuhause angekommen war, stürzte ich sofort ins Haus meiner Patentante, suchte hektisch nach einem einem Stift Stück Papier und kritzelte die Fragmente hin, die ich noch in Erinnerung hatte .Saskia aus Freytal.
Zwei Wochen später war ich zurück im Westen. Dort lebte ich in Gießen studierte aber in Mainz.
Ich hatte es nicht vergessen, mein Versprechen.
Saskia sollte frei werden und ich wollte meinen Teil dazu beitragen. Also schrieb ich Briefe an sie. Fast jede Woche einen. Ich schrieb, wie sehr ich sie vermisste, wie schön sie doch sei. Wie unglücklich ihr war ohne sie, dass sie mir so sehr fehlte und ich all mein Geld für die nächste Reise nach Ostberlin sparen würde.
Ich schrieb leidenschaftslos wie eine Maschine, viele und deutliche Briefe. Keiner sollte einen Zweifel an unserer großen Liebe haben.
„Sechs Monate“, hatte sie mir noch gesagt: Sechs Monate musst du mindestens verlobt sein, damit sie es glauben.
Also schrieb ich was das Zeug hielt und hoffte, dass die Adresse stimmte, das meine Briefe ankamen.
Es vergingen Wochen und Monate. Jeden Tag lief ich zum Briefkasten, wenn ich den Postboten auf der Treppe gesehen oder das Klappern des Kasten gehört hatte.
Nichts. Es kam nichts.
Ich begann zu zweifeln, ob ich den Namen , die Adresse richtig verstanden, mir gemerkt hatte.
Ärgerte mich und fand, was „wir im Westen“ tatsächlich scheinbar oberflächliche, leichtfüßige Zeitgenossen zu sein schienen, die sich nicht mal eine popelige DDR Adresse merken konnten, wenn es doch fast um Leben und Tod ginge. Oder um die Liebe.
Denn allmählich wich die maschinelle Liebesbrief Produktion einem hingebungsvollen Striptease der Gefühle, sehnsuchtsvolle Worte in Gedichte und verzehrendem Verlangen gepackt. Sie war unerreichbar – ich hatte es verpasst. Die Liebe meines Lebens und ich Idiot hatte ihre Adresse falsch verstanden. Oder diese Stasischweine fingen meine Briefe einfach ab und sie erhielt sie nie. Vielleicht auch ihre Mutter oder Vater, die nicht wollten, dass sie solche Kontakte hat. Wer wusste das schon.
Ich war wütend, wünschte mir, ich könne sie anrufen, ja versuchte sogar eine Telefonnummer von ihr in der DDR zu finden. Es war hoffnungslos. Saskia war für mich verloren. Es gab keinen Weg in diesen Staat zu reisen und einfach mal nachzusehen, die Nachbarn zu fragen.
Februar '88 hatten wir uns zum ersten und letzten Mal getroffen. Im Herbst gab ich es auf. Ich befürchtete, dass meine Briefe im Schlimmsten Fall sogar zu Problemen für sie führen könnten. Ich hatte auch keine Kraft mehr. Ihr Bild in meinem Gedächnis verblasste allmählich und ich resignierte.
Der Brief der auf meinem Tisch lag, ließ sofort mein Herz wieder höher schlagen. Es war Februar 1988 und er trug die Marken der DDR.
Ich nahm ihn an mich und trug ihn stundenlang mit mir herum. Ich hätte ihn am Liebsten sofort aufgerissen und gelesen, aber ich wollte diese unfassbare Überraschung in ihrer vollen Größe auf mich wirken lassen und so blieb der Brief sogar bis zum nächsten Tag verschlossen, immer in Sichtweite, gelegentlich begutachtet, gedreht und gewendet, gefühlt, berochen. Was erwarte mich jetzt nach all dieser Zeit?
Sie würde Schluss machen!
Noch bevor es angefangen hatte. Sie hatte einen Freund dort in der DDR gefunden, ganz sicher so hübsch wie sie war. Oder schlimmer noch – sie hatten einen Freund aus dem Westen! Einer der sie tatsächlich liebte und nicht, so wie ich nur eine Gefälligkeit erledigte, in dem ich glühende Liebesbriefe schrieb.
Ich schlug mir gegen die Stirn. Klar, ein echter Freund war nun viel besser als ein Ghostwriter. Sie musste ja denken, dass alles nur gespielt war. Konnte ja nicht wissen, dass ich mich mittlerweile, allein durch das Schreiben, wirklich in sie verliebt hatte.
Ich öffnete den Brief:
„Lieber Marcel,
Eben kam ein Brief von Sonja, der mich unangenehm daran erinnert hat, dass ich dir immer noch nicht geschrieben habe. Mir fällt es total schwer jemandem zu schreiben, den man kaum kennt. Ich kann mich auch kein bißchen mehr an das erinnern, was ich Dir von mir erzählt habe...“
Ich verschlang den Brief, jedes Wort, jede versteckte Andeutung, drehte und wendete jeden Stein darin um.
Hatte sie meine Brief überhaupt bekommen?
Sonja hatte mich also gerettet. Sie hatten sie wieder in Ostberlin getroffen und wollte wohl ein wenig kuppeln.
Die Adresse war halbwegs richtig gewesen, meine Post hätte ankommen können. Hätte..
Waren meine Liebesbriefe verloren, verschollen, einer anderen Person in die Hände gefallen ?
Ich begann ihr wieder zu schreiben. Diesmal musste ich mich beherrschen, keine ausschweifenden Liebesgeständnisse zu verfassen. Ich wollte sicher sein, dass alles ankommt und nicht irgendwo gefiltert würde.
Es war Herbst 1989.
Es gibt diese Augenblicke im Leben, an denen man merkt, dass ab jetzt alles anders wird. Man weiß, dass es ab sofort eine Zeit davor und eine Zeit danach geben wird.
An einem solchen bog ich, im November 1989, in der Straße zum Bahnhof um die Ecke. Für einen Augenblick dachte ich, ich sei in einem alten Schwarzweißfilm.
Tausende Menschen standen in kilometerlangen Schlangen um mehrere Häuserblocks. Ihre grauen, zerlumpten Klamotten die sie am Leib trugen, die abgewetzten alten Koffer – die halbe DDR war ausgewandert.
In ihren Gesichtern stand die Müdigkeit der langen Zugfahrt geschrieben, aber auch eine Zufriedenheit. Keiner schrie rum, die Kinder warteten brav an den Händen der Mütter. Stundenlang. So wie sie es vom Osten her gewohnt waren. Ohne eine Mucks zu sagen oder sich zu beschweren. Sie alle wollten zum Notaufnahmelager.
Was für einen Weg sie wohl hinter sich hatten?
Und jetzt standen sie noch stundenlang in ewigen Schlangen an. Aber das, war etwas, was man in der DDR gelernt hatte: Ewig lange Schlangen geduldig zu ertragen.
Am Straßenrand standen Lastwagen, von denen Bananen und Ananas herunter verkauft wurden. Die Ossis kauften alles, weil sie dachten, dass es morgen nichts mehr gäbe.
Auf den Raststätten an den Autobahnen standen tausende verwaiste Trabbis und Wartburgs. Jeder Ossi, der die 500 Mark zusammen bekam, kaufte sich einen Golf und heizte damit zurück in den Osten.
Von Saskia hörte ich ab dem Zeitpunkt nie mehr Etwas. Ihre Briefe endeten abrupt mit dem Fall der Mauer. Die DDR war Geschichte. Die Menschen frei zu reisen wohin sie wollten.
Das ist das Wichtigste daran und ich wünsche ihr, dass sie die ganze Welt entdeckt und all das nachholt was man ihr im Leben gestohlen hat.
Und wer weiß: Vielleicht, wenn sie all das hinter sich hat und das bunte Leben in vollen Zügen eingesogen und die Lungen mit Freiheit gefüllt hat – treffen wir uns ja dann doch noch einmal wieder....
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2011
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