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Wie das Leben sein sollte


Es gibt gewisse Tage, an denen sich ein Mann von Herzen freuen kann, von der Arbeit nach Hause zu kommen. Solch ein Tag war für Gregory der 29. November 2007. Er öffnete die knarrende Tür und fühlte, wie sein Körper in warme Luft gehüllt wurde. Der Geruch eines frischen Kuchens stieg in seine Nase und ließ sämtliche Gedanken über seinen Job verschwinden. Endlich zu Hause. Endlich entspannen und Freiheit schmecken. Gregory genoss diesen Moment der puren Lebensfreude. Schließlich war es sein Geburtstag. Er hatte sich schon an den Gedanken gewöhnt, dass er älter wurde, aber dass er nun schon 61 Jahre alt war, stimmte ihn dennoch nachdenklich. An den Ruhestand war für ihn noch nicht zu denken. Viel zu wichtig seine Aufgabe. Viel zu wichtig sein Beruf. All diese Gedanken verließen seinen Kopf mit Anias herzlicher Begrüßung. "Happy Birthday, mein Schatz". Eine liebevolle Umarmung folgte. "Wie ging es dir auf der Arbeit?" "Es gab viel zu tun. Aber lass uns jetzt nicht darüber reden." Gregory lächelte und küsste seine Frau. Wenigstens heute sollte ihre Beziehung im Vordergrund stehen. Im Esszimmer angelangt, leuchtete ihm der reich gedeckte Tisch mit einer Kerze darauf entgegen. Ein schöner Tag. Früher hatte er Ania mit solch einem Abendessen überrascht - nur, dass damals sein Essen nicht so gut geschmeckt hatte wie dieses. Jeder Bissen bereicherte Gregorys Gaumen und ließ seine Liebe zu seiner Frau neu aufleuchten. Beide schwelgten in Erinnerungen an Gregorys ersten Geburtstag, den sie zusammen feierten. "Die Kerzen standen ganz schief" Sie lachten. Die Bilder waren klar in ihrem Kopf zu erkennen, obwohl sie schon über 30 Jahre alt waren. "Ich war damals ein grauenvoller Koch - und daran hat sich nicht all zu viel verändert." Wieder lachten sie laut auf. Diese Harmonie ihrer ersten Ehrejahre schien aus einem langen Winterschlaf aufgewacht zu sein. Die letzten Jahre waren voller Probleme. Vor Allem von Seiten Anias. Der Tod ihrer älteren Schwester und dann der immer noch anhaltende Blutkrebs ihrer kleinen Schwester, die ihr sehr am Herzen liegt. All das hatte die ohnehin schon gereizte Beziehung der Beiden fast zum Zerbröckeln gebracht. Doch an diesem Tag schienen die Probleme nebensächlich, die Liebe der Beiden vordergründig zu sein. Und das war gut so. Endlich konnten die Beiden ihren Lebensabend wirklich genießen. "Sollen wir deinen Vater bald wieder besuchen?" Gregory konnte sehen, wie sich ihr Gesicht erhellte. "Ja, das wäre doch herrlich." Ihren Vater zu besuchen war ihr schon immer eine besondere Freude gewesen. Sie brauchte diese familiäre Nähe, dieses Vertrautsein. "Willst du dein Geschenk sehen?" sie lächelte ihn schmeichelhaft an. Genau diesen Blick fand er früher unwiderstehlich. Und auch an diesem Tag ergötzte er sich an diesem Lächeln. "Nichts würde ich lieber tun." Langsam und voll Sanftmut kamen diese Worte über Gregorys Lippen. Aus einem länglichen Karton zog sie behutsam eine Flasche "Château d'Armailhac" aus dem Jahre 2005 aus Pauliac in Frankreich. Er liebte diesen Wein, der trocken und zugleich voller Aromen war. "Vielen Dank, mein Schatz. Du weißt zu gut, was ich liebe. Aber mehr als alles Andere liebe ich dich." Still vergnügt sahen sich Ania und Gregory an. "Die letzten Jahre waren hart und ungemütlich - für uns Beide. Lass uns nicht mehr so oft streiten. Lass uns täglich so zuneigungsvoll sein wie wir es heute waren." Ania hatte Recht - Tage wie diese sollte es öfter geben. In diesem Moment der fürsorglichen Zweisamkeit klingelte plötzlich das Telefon. "Oh nein...Geh bitte nicht ran, Greg. Sonst musst du bestimmt wieder zur Station." In Gregorys Kopf mobilisierten zwei Fronten ihre Armeen. Seine Arbeit lag ihm am Herzen, sehr sogar. Für Gerechtigkeit sorgen, ja das wollte er schon immer. Als Homicide Detective

muss man immer bereit sein, seinem Land zu dienen, auch wenn man selber gerade nicht in der Stimmung dazu ist. Er hatte schließlich geschworen, die Gesetze der Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten. Es war seine Pflicht, jetzt den Hörer des schellenden Telefons abzunehmen. Aber Ania. Gerade jetzt, wo sie sich doch so nahe waren. Gerade jetzt, wo sie wieder neu ihre Liebe zueinander begreifen. Genau jetzt wäre der absolut falsche Zeitpunkt zur Polizeistation aufzubrechen. Aber vielleicht war es gar nicht sein Chef. Vielleicht war es nur Anias Vater. Ihre Schwester. Mein Bruder - nein, der wohl eher nicht. Gregory nahm den Hörer ab. "Detective Gregory Lizard, guten Abend. Mit wem spreche ich?" "Lizard?" tönte die Stimme eines alten Mannes aus dem Telefon. "Da habe ich mich wohl verwählt. Entschuldigen Sie die Störung." Ohne zu antworten legte Gregory erleichtert auf. "Da hatte sich jemand verwählt." "Puh, zum Glück." Nach einigem Stillschweigen küsste Ania ihren Mann. "Dieser Abend war schöner als jeder Andere. Ich liebe dich." "Ich dich auch, mein Schatz." Ohne Worte genossen die Beiden, was sie in den letzten Jahren als störend empfunden hatten - ruhige Zweisamkeit.


Wie das Leben nun einmal ist


Gregory schreckte auf. Erst jetzt bemerkte er, dass Ania und er auf der Couch eingeschlafen waren. Alles war ruhig. Doch warum ist er dann aufgewacht? Hatte er einen Traum? Hatte er etwas gehört? Ania schien noch tief und fest an seiner Schulter zu schlafen. Gregory sah auf seine Armbanduhr. Zwei Uhr morgens. Draußen dementsprechend stockdunkel. Ein lautes Klingeln rüttelte ihn noch einmal auf. Dadurch war er also aufgewacht. Diesmal öffnete auch Ania verschlafen die Augen "Wer klingelt denn da an der Tür?" Er stand auf und ging mit schweren Schritten vorwärts. "Was fällt ihnen ein, um diese Uhrzeit -" ein junger Mann in Polizeiuniform stand vor ihm. Er war erst seit kurzem in Gregorys Abteilung. Voller Ironie und gleichzeitig respektlos brachte dieser junge Nachwuchspolizist ein "Sie sehen aber müde aus, Detective-" über die Lippen. "Was wollen Sie hier?" Greogry fiel ihm ins Wort. "Sie können es sich doch schon denken. Schon wieder ein Mord. Gleich nebenan. Sie sollten sich den Tatort sofort ansehen." Gregory stöhnte. In diesem Jahr war es schon der vierzehnte Mord in Dorchester, einem Stadtteil von Boston. Warum mussten sie gerade in so einer Gegend wohnen? Warum musste er unbedingt hier arbeiten? "Ich komme sofort." Er ging in das Wohnzimmer, in dem seine Frau ihn verstört ansah. "Wer ist da? Was ist denn los?" "Ich muss los, meine Arbeit ruft. Alles andere erzähle ich dir später - schlaf ruhig." Mit einem Abschiedskuss verließ er den Raum, zog sich seinen Mantel an, nahm seinen Dienstkoffer in die Hand und ließ sich von dem jungen Mann an den Tatort führen. Dieser war wirklich fast nebenan, sechs Häuser weiter. Doch da es in Strömen regnete, war Gregory nahezu durchnässt, als er dort ankam. Er frierte. Kalt war es geworden. Und solch ein kaltnasses Wetter bekam ihm überhaupt nicht. Kopfschmerzen ließen Gregory seine Unruhe spüren. Das Haus, vor dem sie nun standen, sah danach aus, als ob es bald abgerissen werden müsste. Ein Fenster war eingeschlagen; andere waren so verdreckt, dass man nicht einmal mehr hindurchsehen konnte. Und in dem gräulichen Mondlicht sah das Haus recht merkwürdig aus. "Wollen wir nicht hineingehen?" "Ja, natürlich." Die Beiden gingen durch die schon offen stehende morsche Tür während die Blitzlichter der Fotographen immer wieder einen Teil der Grausamkeit des Verbechens offenlegten. Eine Leiche lag mitten im Raum. Um diese herum sah es wüst aus. Ein zerbochener Tisch; zwei Hocker, die auf der Seite lagen; eine umgestürzte Stehlampe, deren Glühbirne ab und zu noch Funken von sich gab. Dass es einen Kampf gegeben haben muss, war offensichtlich. Ohne sich weiter auf den Raum zu konzentrieren, sah sich Gregory die Leiche an. Sie lag auf dem Bauch, sodass man das Gesicht nicht sehen konnte. Der ganze Hinterkopf war voll mit Blut, was Gregory vermuten ließ, dass ein Schuss in den Kopf Todesursache war. Der Statur und der Kleidung nach ein Mann. Sein Hemd dreckig und an einigen Stellen zerissen. "Haben Sie jetzt genügend Fotos gemacht?" "Ja, wir sind soweit fertig. Wir haben alles markiert und fotographiert. Sie können sich die Leiche jetzt genauer ansehen." Gregory zog seine Handschuhe an und drehte die Leiche behutsam auf den Rücken. Das Einschussloch war klar zu sehen, doch was ihn sowohl innerlich als auch äußerlich zusammenzucken ließ, war etwas anderes. Ein großes "S", mit Blut gemalt, erstreckte sich in seiner ganzen Abscheulichkeit auf dem Gesicht des Toten. Und dazu eine senkrechte Linie, die mitten durch den Buchstaben ging. Ein Dollar-Zeichen. Von nun an war es kein "gewöhnlicher" Mord mehr. Von nun an war klar, dass die Tat nicht "aus Versehen" geschehen ist und der Täter somit den Mord geplant hat. Er wollte eine Botschaft damit senden. Fragt sich nur welche - und an wen. Eine Menge Arbeit würde auf Gregory warten. Eine Menge Stress noch dazu. Und Ania? Ein Blitzlicht ließ den alternden Polizisten zusammenfahren und blendete ihn für kurze Zeit. Der Fotograph stand aufmerksam neben ihm. "Haben Sie schon irgendeine Vermutung, Detective?" Er hatte nicht viel für Andere übrig, die sich in seine Arbeit einmischten, also gab Gregory ihm ein "Ein Anfänger wird es wohl nicht gewesen sein" zur Antwort. Solche Mordfälle hatte es in der langen Berufslaufbahn des alternden Polizisten noch nicht oft gegeben - oder besser gesagt: noch nie. "Was schätzen Sie, wie alt das Opfer gewesen ist?" Damit meldete sich auch Gregorys Kollege zu Wort, der zuvor nur stillschweigend und etwas angewiedert neben ihm stand. "Zwischen 40 und 45" - "Was soll das Dollarzeichen wohl bedeuten?" Würde dieser Sprössling ihn in Ruhe lassen, würde Gregory dies bald herausbekommen. "Woher soll ich das denn wissen? " "Naja, es wird wohl irgendetwas mit Geld zu tun haben." Witzbold. Besserwisser. So viel hatte er auch schon gewusst. Greogory warf noch einen Blick auf die Leiche. "Finden Sie heraus, wem das Haus gehört, ja." "Gehört das Haus nicht sowieso dem Toten?" Gregory stöhnte. "Wissen Sie, wer der Tote ist? Nein! Deshalb finden Sie heraus, wem das Haus gehört, vielleicht wissen wir dann, wer die Leiche ist!" Die Polizisten, die vor der Haustür standen, sahen hinein. Er hatte wohl etwas zu laut geredet. "Ihr Wunsch ist mir Befehl." Die Ironie des Officers war nicht zu überhören, dennoch ging er hinaus. Endlich Ruhe. Strömender Regen. Eine tickende Uhr. An der Wand Bilder aus Kriegszeiten. Die Wohnung sah nicht danach aus, als ob ein so junger Mann darin gewohnt hätte. Gregory durchsuchte die Leiche nach Personalien. Eine Routineuntersuchung, da so schon einige seiner Fälle, auch wenn es nur wenige waren, wesentlich leichter zu lösen geworden waren. Aber bei professionellen Morden, wie es anscheinend dieser war, dürfte dies nicht der Fall sein. In Gregorys Gesicht tat sich eine helle Miene auf. Seine Hand hatte eine Brieftasche ergriffen. Wenigstens ein bisschen Arbeit wurde ihm abgenommen. Bradley Corrump, 46 Jahre alt. Wohnt in einem Ort nördlich von Boston - Marblehead. Eine Stadt voll mit Reichen. Aber was hatte jemand wie er hier zu suchen? Doch seine Kopfschmerzen hinderten ihn an jeglicher Art logischen Denkens. Seine Gedanken kreisten wie geduldige Geier über seinen Kopf, der wie ein verletzter Löwe immer langsamer wurde. Warum sollte er auch noch länger am Tatort bleiben? Er hatte das untersucht, was er mit dem jetzigen Stand der Dinge untersuchen konnte. Würde er jetzt nach Hause gehen, könnte er noch einige Stunden schlafen - und danach müssten die Kopfschmerzen bereits aufgehört haben. Gregory warf noch einen letzten Blick auf die Leiche. Dann packte er seine Handschuhe wieder ein und gab die Brieftasche einem der Polizisten, die vor der Tür standen. "Geben Sie die hier im Revier als Beweisstück 1 ab."


Erste Erkenntnisse


"Gregory! Gregory! Du musst aufstehen. Deine Arbeit ruft!" "Noch zehn Minuten, dann kannst du mich nochmal wecken." Einige unverständliche Wörter brummte er noch in seinen kurzen Bart. "Es ist schon viertel vor 7, Gregory. Du kommst zu spät!" Sofort richtete er sich auf und stieg so schnell es ihm sein alternder Körper erlaubte aus dem Bett. Zu spät kommen? Zu seiner Arbeit? Das durfte auf keinen Fall passieren. 5 Minuten im Bad, 10 Minuten in der Küche, 5 Minuten Fußweg. Das wären 20 Minuten - aber er hatte nur noch 15. Also würde er weniger essen und das Fahrrad nehmen. Ohne seine Frau zu beachten eilte er in das Bad. "Was war denn heute Nacht los?" schallte es aus dem Schlafzimmer. "Wieder ein Mord - fast nebenan. Weißt du, wer zwei Häuser weiter im Haus 32 wohnt?" "Ein älterer Herr - kam, wie ich mich erinnere, vor gut fünf Jahren aus England hierhin...aber ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen." "Wie alt ist ein "älterer" Herr? So alt wie ich?" Ihr leises Lachen schallte durch das Haus. "Nein, Greg...vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Jahre älter als du." Seltsam. Normalerweise kannte Ania die Nachbarschaft. Gerade wenn man, wie Ania, Freundinnen wie Samantha und Emma hatte, konnte man sicher sein, keine Neuigkeiten aus der Umgebung zu verpassen. "Merkwürdig. Der Tote wurde gerade einmal 46 Jahre alt." "Das ist wirklich merkwürdig. Vielleicht war es ja sein Sohn. Es ist doch gut möglich, dass er seinen Vater besuchen wollte." Gregory ging mit schnellen Schritten in Richtung Küche. "Nein, er war ganz alleine dort. Da war kein Vater zu sehen - obwohl das Haus doch recht alt aussah. Die Leiche wohnt übrigens auch in Marblehead." "Nun ja, dann macht das wirklich keinen Sinn...gut, dass ich nicht deinen Beruf habe." Ihre zarte Stimme drang kaum zu Greogorys Ohren durch. Nachdem er sein Geschirr klirrend in die Spüle gestellt hatte, kam auch Ania mit leisen Schritten in die Küche. "Komm bitte nicht zu spät nach Hause, ja? Stress bekommt dir doch nicht gut." Ihr Gesicht sah ihn besorgt an. Stress, ja. Der Arzt hatte gesagt, dass Gregory auf jeden Fall Stress meiden sollte. Ansonsten könne er seine Gesundheit nicht längerfristig erhalten. "Schatz, du weißt doch, dass Stress in meinem Beruf nun eben nicht zu vermeiden ist." Schnell ging er zur Tür. "Meinst du, dass du pünktlich ankommen wirst?" "Nicht, wenn ich zu Fuß gehe." Schon strömte kalte Luft in das Haus und Gregory eilte zum Schuppen. Das Fahrrad hatte schon an einigen Stellen rostrote Flecken, aber es erfüllte nach wie vor seinen Zweck. Sein Weg zur Arbeit war so kurz, dass er innerhalb von zwei Minuten dort ankam. Das kieselrote Gebäude trug die Aufschrift "Police District

C-11", welches für den Stadtteil C-11, Dorchester zuständig war. Als Homicide Detective

war Gregory hier oft gefragt. Das Viertel war berüchtigt für seine Morde. Und trotz dieser Tatsache waren es normale Menschen, die dort wohnten - normale Menschen, die in Extremsituationen zu abnormalen Menschen wurden und ihren Nachbarn, ihren Arbeitskollegen oder manchmal sogar ihren eigenen Ehepartner ermordeten. Doch dieser Mord war nicht einer von vielen. Er schien nicht aus Eifersucht, nicht aus Neid, nicht aus Habgier oder Rache stattgefunden zu haben. Aber warum sonst?
Die Uhr an der Wand in der Eingangshalle schlug gerade 7 Uhr, als Gregory eintrat. "Hallo Detective. Die Daten über den Besitzer des Hauses von heut' Nacht liegen auf ihrem Schreibtisch. Er ist schon seit einer Woche tot." Der junge Mann, dessen Namen Gregory immer noch nicht im Kopf hatte, sah ihn mit einem besonderen Lächeln an - einem "das-wird-ein-schwieriger-Mordfall-Lächeln". Und das wusste Gregory bereits. Und da er sich nicht gerne mit anderen unterhielt, war er unter seinen Kollegen auch nicht besonders beliebt. Aber das machte Gregory nichts aus. Nein, er wollte es eher so. "Guten Morgen, Marcus, guten Morgen Micheal." Die Beiden waren einige der Wenigen, die Gregory wenigstens grüßte. Sie waren zwar noch recht jung, dafür aber erfolgreich in ihren Unternehmungen. Auch wenn sie manchmal brutal vorgingen. Aber dafür waren sie immerhin nicht korrupt. "Dann sehen wir uns das ganze einmal genauer an." flüsterte Gregory vor sich hin, während er sich in seinem Büro mit einem Seufzer in den gut gepolsterten Stuhl fallen ließ. Patrick Corrump, 1933 geboren in London, Großbritannien; gestorben am 21. November 2007; 2001 Wohnortswechsel nach Boston, Massachusetts. Vater von zwei Söhnen: John und Bradley Corrump. Ania hatte ein oft überraschend gutes Gespür für Mordfälle. Ein Grinsen breitete sich auf Gregorys Gesicht aus. Wenn man erst einmal die Familie eines Mordopfers kennt, ist das Finden des eigentlichen Mörders nicht mehr all zu schwierig. Nun hieß es, Informationen zu finden. So viele wie möglich.
John war der ältere von den beiden Söhnen, da 1959 geboren, zwei Jahre vor Bradley. Auch in London geboren, wohnt aber seit 2002 auch in den USA. Auch in Boston, aber in einem anderen Stadtteil, Charlestown. Eine ehemalige irische Hochburg. Keine kriminelle Laufbahn, eine absolut weiße Weste. Chirurg von Beruf, aber eher mittelmäßig wohlhabend. Bradley dagegen kam schon ein Jahr vor John nach Boston, kurz nach seinem Vater. Zuerst lebte er in Roxbury - Bandenkriege gehören dort der Tagesordnung an - dann aber zog er 2003 nach Marblehead, eine wohlhabende Stadt. Von Beruf Polizist, auch in Boston, aber im District E-5; West Roxbury/Roslindale. Ebenfalls keine kriminellen Auffälligkeiten, zumindest in den USA - die Akte aus England darf aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht eingesehen werden. "Immer dieser Datenschutz." murmelte Gregory vor sich her. Er benötigte diese Daten unbedingt. Also stand er auf und ging in das Büro seines Chefs.
"Captain Jonathan Legrand" war auf dem Türschild vermerkt. Höflich klopfte Gregory an der Tür. "Herein!" "Guten Morgen, Captain" "Hallo Gregory, kommen Sie doch herein. Sie sind zuständig für den Mord heute Nacht, oder irre ich mich da?" "Nein, Sie irren sich nicht. Genau deswegen bin ich auch hier -" "Sie sind einer meiner besten Männer, aber diesmal scheint es wirklich schwierig zu werden. Die Spurensicherung hat keinerlei Spuren gefunden, die Rückschlüsse auf den Mörder geben könnten." "Soso..." Gregory hielt kurz inne. Keinerlei Spuren. Wenn der Täter kein Familienmitglied sein sollte, würde es schwerer als gedacht werden. "Aber über das Opfer habe ich schon einiges herausfinden können. Bradley Corrump hieß der Mann, ein gebürtiger Engländer. Daher habe ich auch keinen Einblick in seine Akte, die sein Leben dort in England widerspiegelt. Und ich brauche diese Akte, um im Fall voranzukommen." "Das dürfte kein Problem sein. Aus England also...ich muss sowieso mit dem Polizeichef von London telefonieren. Ich melde mich dann später bei Ihnen. Bekomme ich eine Kopie der Daten des Opfers?" "Ja, natürlich Captain." Ohne die Daten konnte er an dieser Stelle nicht weiter machen. Also musste er mögliche Zeugen befragen. "Ich gebe Ihnen die Kopie und befrage dann die Nachbarn - vielleicht hat ja jemand etwas gehört." "In Ordnung."


Spurensuche


"Guten Morgen, Detective Gregory Lizard. Nebenan ist heute Nacht ein Mord begangen worden. Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches oder Auffälliges gehört oder gesehen?" Die Einen machten gar nicht erst die Tür auf, die Anderen haben natürlich nichts bemerkt, haben geschlafen oder waren noch nicht einmal zu Hause. Gregory hatte keine große Hoffnung darauf gesetzt, einen Zeugen zu finden, aber dass keinem Einzigen etwas Wichtiges aufgefallen ist, enttäuschte ihn doch reichlich. Nur die direkte Nachbarin, die auch schon die Polizei alarmiert hatte, bietete ihm einen kleinen Hinweis. "Im Halbschlaf habe ich etwas gehört...da bin ich aufgewacht und wusste nicht recht, ob ich das nur geträumt hatte. Als ich dann wieder Lärm von nebenan hörte, habe ich die Polizei gerufen." "Können Sie den "Lärm" etwas näher beschreiben? Haben Sie einen Schuss gehört?" "Nein....es hörte sich eher nach...einem Kampf an. Ich meine ein paar dumpfe Schläge gehört zu haben und einiges ist dort bestimmt auch kaputt gegangen - so hörte es sich zumindest an." "Gut, vielen Dank für ihre Informationen." Wenn sie keinen Schuss gehört hat, muss der Täter einen Schalldämpfer verwendet haben. Und warum gab es überhaupt einen Kampf, wenn er doch bewaffnet war? Fragen ohne Antworten. Zurück im Büro hatte der Captain immer noch nicht in London angerufen. Also machte Gregory sich auf den Weg zum Gerichtsmediziner. Diesmal mit einem Streifenwagen. "Was haben Sie herausgefunden, Lennard?" "Wie an den Verbrennungsspuren hier zu erkennen ist, hat der Täter einen Schalldämpfer verwendet. Die Kugel ist allerdings nicht zu finden - er muss sie also aufgesammelt haben. Es sieht aber nach einem typischen 9-10mm Einschussloch aus - er wurde übrigens von vorne erschossen. Ansonsten sind einige Spuren von einem Kampf zu finden - aber das war ja offensichtlich." "In Ordnung...und sonst gibt es wirklich nichts?" "Naja, das Dollar-Zeichen wurde mit dem Blut des Opfers gemalt. Aber auch das ist ja nicht wirklich überraschend." "Recht hast du. Also gut, ich gehe dann mal wieder...und wenn Sie noch irgendetwas finden, rufen Sie mich an, ja?" "Natürlich, Detective." Bis jetzt hatte Gregory noch keinen einzigen Hinweis. Aber dass es keine Spuren gibt, war doch sehr ungewöhnlich. Normalerweise findet man immer irgendetwas, was einen weiterbringen könnte. "Haben Sie in London angerufen, Captain?" "Ja, das habe ich. Sie bekommen ihre Freigabe. Aber unter einer Bedingung...Sie müssen sich helfen lassen-" "Helfen lassen? Wobei denn?" "Nun ja...unsere britischen Kollegen bestehen darauf, einen ihrer Männer zu uns zu schicken, der ihnen beim Ermitteln hilft. Weil das Opfer nun einmal ein Brite ist." Gregory stöhnte. "Was ist los, Captain? - Vertrauen Sie mit nicht?" Sein Gesicht hatte einen vorwurfsvollen Blick. "Doch, natürlich vertraue ich Ihnen, Gregory - aber der britische Polizeichef tut das nun einmal nicht. Ich habe ja versucht, Ihn zu überreden, aber es ließ sich nichts machen. Glauben Sie mir, auch ich sehe es nicht gern, wenn man meinen Leuten nichts zutraut. Aber wenn ausländische Menschen sterben, hat das Geburtsland..." "...das Recht, einen Abgeordneten zu schicken. Ja, das weiß ich." Mit einem Murren verließ Gregory das Büro. Immer diese Briten. Erfahrungsgemäß konnte er schon ohnehin nicht gut mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Er war einfach nicht der Typ von Mensch, der Kontakte knüpfen oder Beziehungen pflegen konnte - und jetzt noch mit einem Briten. Nach einem Seufzer machte Gregory sich zurück an seine Arbeit. Immerhin hatte er nun Zugang zu den Lebensläufen von John und Bradley Corrump. Nach dem Besuch einiger staatlichen Schulen besuchte John eine Medizinschule in der Nähe von London. Doch auch in England wies seine Akte keinerlei Delikte oder Auffälligkeiten auf. Anders sah es hingegen bei Bradley aus. Etwa acht Jahre nachdem er eine Polizeischule besucht hatte, stieg er in der Polizei von London weiter auf und wurde zum Chief Inspector befördert. Bereits ein Jahr später wurde Klage gegen ihn erhoben, in der von Bestechungs- und Erpressungsgeldern die Rede war. Diese Klage wurde zwar 1994 vom Gericht zurückgewiesen, doch musste Bradley sich wieder zum Inspector degradieren lassen. Nach weiteren sechs Jahren wurde er wegen "Interner Differenzen" vom Dienst suspendiert. Das Jahr darauf verließ er England und zog nach Boston. Wahrscheinlich war Bradley also doch korrupt. Vielleicht hatte er sich hier mit den falschen Leuten angelegt und wurde deshalb umgebracht. Angesichts der Tatsache, dass John immer noch am Leben war, hatte Gregory die Möglichkeit, ihn zu befragen. Außerdem konnte er Arbeitskollegen und Menschen aus der Umgebung fragen. Vorher fuhr Gregory aber noch einmal bei dem Tatort vorbei. Vielleicht war die Spurensicherung immer noch dort. Ohne die Absperrung zu beachten ging er in das alte Haus hinein. Und tatsächlich: die zwei Männer waren noch anwesend, packten aber schon ihre Sachen. Mit seiner Marke in der Hand gab sich Gregory zu erkennen: "Homicide Detective Gregory Lizard; ich habe gehört, Sie hätten nichts Interessantes gefunden?" "Da haben Sie richtig gehört. Keine Fingerabdrücke, keine Kleidungsreste - was bei dem Kampf recht erstaunlich ist." "Und wie ist der Täter in das Haus gekommen?" "Gute Frage. Die Hausschlüssel liegen dort auf dem Tisch" Mit einer Kopfbewegung wies er Gregorys Blick auf einen mit Kreide umkreisten Schlüsselbund hin, der auf einem Tisch direkt neben der Haustür stand. "Vielleicht hat der Mörder ja an der Tür geklingelt." Die Lachen der beiden Männer hätte man noch bei Gregory zu Hause gehört. "Und sonst gibt es wirklich nichts?" "Naja, nichts Besonderes. Die Waffe war wahrscheinlich eine typische 9mm Beretta. Und Sie wissen ja, so eine kann man überall besorgen. Die Kugel hat der Täter aber sogar aufgesammelt. Ein ganz Sauberer." Mit seinem scharfen Blick sah sich Gregory noch einmal genauestens das Haus an. Nichts. Wirklich nichts ungewöhnliches. "Und im Rest des Hauses? Gibt es dort irgendwelche Anhaltspunkte?" "Kommt drauf an, was Sie Anhaltspunkte nennen. In der Küche wimmelt es nur so von Schimmel, das Bad ist voll von Spinnennetzen und im Schlafzimmer steht eine Kommode mit offenen Schubladen - ohne atemberaubendem Inhalt. Also ich werd' da nicht schlau 'raus." Wieder ertönte seine ohrenbetäubende Lache, in die sein Kollege dann noch einstieg. Grimmig fragte Gregory nur "Wo finde ich das Schlafzimmer?" und folgte der Erklärung der schon aufbrechenden Spurensicherer. Das Zimmer sah im Grunde recht aufgeräumt aus, aber diese eine Kommode stand tatsächlich offen. Hatte Bradley nach etwas gesucht? In den Schubladen war aber wirklich nichts Besonderes. "Seltsam" brummte Gregory vor sich hin. Nach einem letzten Rundgang durch das Haus verließ auch Gregory den Tatort. Mit einem solchen Fall hatte er es vorher tatsächlich noch nie zu tun gehabt. Nach einer etwa 40-minütigen Fahrt für eine Strecke, die man außerhalb des Berufsverkehres innerhalb von 15 Minuten hätte fahren können, kam Gregory dann beim Haus von John an. Ein typisches Vorstadt-Haus, nichts Besonderes - für einen Chirurgen. Nach einem Klopfen öffnete die Tür - es war anscheinend Johns Frau. "Guten Tag, Detective Gregory Lizard mein Name. Könnte ich bitte Ihren Mann sprechen?" "Oh, meinen Mann...der ist leider noch auf der Arbeit. Ist etwas passiert?" "Ähm..ja, das ist es. Sein Bruder ist letzte Nacht verstorben. Mein herzliches Beileid." Es war immer schwierig, diesen Satz über die Lippen zu bringen. Selbst seine jahrelange Erfahrung machten änderten dies nicht. Man weiß schließlich nie, wie die Angehörigen reagieren - ob sie dem Verstorbenen nahe standen - oder ihn vielleicht auch gar nicht gekannt haben. Aber Johns Frau schien Bradley nicht besonders gut gekannt zu haben. "Sein Bruder? Oh...ach ja, falls Sie die Adresse brauchen - John arbeitet hier im MGH

die Straße runter." "Vielen Dank. Und nochmal mein herzliches Beileid." Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, aber Gregory dachte noch nicht an den ihm eigentlich schon zustehenden Feierabend. Nach wenigen Minuten war Gregory im Krankenhaus. Doch erst nach weiteren zwanzig Minuten hatte Gregory John gefunden. "Guten Tag, Homicide Detective Gregory Lizard mein Name." "Hallo, John Corrump, wie kann ich ihnen helfen?" Sein Lächeln erschwerte es Gregory zusätzlich, ihm die Wahrheit zu sagen. "Setzen wir uns doch." In einer Art Besprechungsraum, in dem die beiden die Einzigen waren, setzten sie sich. "Folgendes ist vorgefallen...Ihr Bruder Bradley ist...gestern verstorben - mein herzliches Beileid." Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er sah nun eher verstört aus. Gregory fehlten die Worte. Das Trösten der Angehörigen war immer besonders schwierig - gerade wenn die Opfer ermordet wurden. Doch dies verschwieg er zunächst. Ohne Worte legte Gregory seine Hand auf Johns Schulter. "Es geht schon. Ich...ich hatte nicht allzuviel mit ihm zu tun." Seine Stimme klang tief und andächtig. "Dennoch hatte ich gehofft, er würde sich ändern - gehofft, dass er sich bessert." Einen Moment lang war es still um sie. Gregory sah John in die Augen. Es war nicht wirklich ein Ausdruck von Trauer in ihnen - viel mehr ein Ausdruck von Betroffenheit. "Es ist immer schwer, einen Menschen zu verlieren...gerade seinen eigenen Bruder." Gregorys Worte kamen nur zögerlich aus seinem Mund. Jeder Mensch reagierte anders auf den Tod. Die Einen schien es gar nicht zu berühren, die Anderen schienen dem Selbstmord nahe zu sein. "Wollen Sie seelsorgerliche Betreuung in Anspruch nehmen? Sie müssen jetzt nicht weiterarbeiten." "Nein, es geht schon, danke. Wissen Sie, ich hatte keine gute Beziehung zu meinem Bruder. Ich hatte mir immer gewünscht, dass wir uns vertragen. Dieser ewige Streit..." Eine weitere Zeit der Stille folgte. "Ist er auf natürliche Art gestorben?" Diese Frage musste kommen. Aber es gab keinen anderen Ausweg, als ihm jetzt die Wahrheit zu sagen. "Hören Sie...er wurde heute Nacht...ermordet aufgefunden." John schrie auf einmal auf und schlug seine Faust gegen die Wand. Gregory schreckte auf. Das hatte er nicht erwartet. "Ich hatte ihm schon als er noch klein war gesagt, er soll sich nicht die falschen Freunde suchen-" Sein Gesichtsausdruck war voller Wut. Dann sah er wiederum traurig aus. Ein gefasster Blick folgte. "Wissen Sie wenigstens schon, wer es war?" Gregory verzog sein Gesicht. "Nein, das weiß ich leider noch nicht. Aber ich werde alles Mögliche in Gang setzen, um den Mörder zu finden. Und glauben Sie mir, ich finde ihn." Auch wenn der letzte Satz eher Lüge als Wahrheit war, schien es für den alternden Polizisten die beste Möglichkeit zu sein, John zu trösten und ihn wenigstens etwas zu ermutigen. "Ach, bestimmt hat er sich mit den falschen Leuten angelegt und wurde dann von irgendeinem Drogenboss ermordet, der ihm seine dreisten Forderungen nicht erfüllen wollte - ich hätte es wissen müssen." Gregorys Gedanken fingen an zu arbeiten. Ein Drogenboss? Dreiste Forderungen? Das hörte sich all zu stark nach einem korrupten Polizisten an. Seine Augen leuchteten auf. Einen korrupten Polizisten zu enttarnen ist nahezu unmöglich, solange dieser noch lebt; aber wenn er erst tot ist, fangen die Leute an zu reden - viel zu reden. "Hatte er oft mit solchen Leuten zu tun? Was war er denn von Beruf?" Sich dummstellend versuchte Gregory den nun schon gefassten Mann auszufragen. "Eigentlich war er ein Polizist, aber ich habe ihn nie als einen solchen gesehen. Er war nur aufs Geld aus. Sein Beruf war nur Mittel zum Zweck. Auch wenn ich nie wirklich wusste, wie viel Dreck er am Stecken hatte, wusste ich eins genau: dass er mehr und mehr Geld anhäufte. Und dieses Geld hätte er nie nur durch sein Gehalt beschaffen können. Einmal habe ich durch Zufall mitbekommen, wie er einen Drogendealer auf frischer Tat mit einem ganzen Kilo Kokain erwischt hatte. Nach fünf Minuten war er wieder ein freier Mann. Zu Hause haben wir uns dann kräftig in die Haare bekommen. Ich habe ihn angeschriehen, wie noch nie. Seitdem haben wir, soweit ich mich erinnern kann, nie mehr miteinander geredet. Selbst als unser Vater letzte Woche gestorben ist, haben wir nicht miteinander gesprochen - noch nicht einmal auf seiner Beerdigung gestern - mist, es war erst gestern." Er verbarg sein Gesicht mit seinen Händen. Nun schien es ihm doch sehr nahe zu gehen. "Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie es nur." In stiller Trauer saß Gregory einige Minuten neben John. "Hören Sie, gehen Sie ruhig nach Hause. Sie müssen jetzt nicht noch weiterarbeiten. Wirklich nicht. Ich kläre das auch mit Ihren Vorgesetzten. Sie brauchen jetzt viel Ruhe." Gregory saß immer noch still neben John. "In Ordnung. Danke Ihnen." Langsam standen die Beiden auf und verließen den Raum. Nachdem er die Formalitäten mit dem Chefarzt geklärt hatte, fuhr auch Gregory noch immer etwas betroffen nach Hause. Obwohl - nein, er musste den Captain noch nach Neuigkeiten fragen. "Eigentlich gibt es nichts Neues. Der Brite, Alec Rettilin, wird morgen schon ankommen. Könnten Sie ihn um 10 Uhr morgens vom Logan Airport abholen?" Grimmig antwortete Gregory nur: "Muss unbedingt ich

das machen?" "Nein, Sie

müssen das nicht unbedingt machen, aber ich denke, dass es der Beziehung zwischen ihnen Beiden durchaus helfen könnte. Wer weiß, wie lange Sie noch mit ihm zusammen arbeiten müssen." Gregory sah ihn kurz still an - dann seufzte er. "Na gut, dann mache ich es eben." Schlecht gelaunt fuhr er mit seinem Fahrrad nach Hause. "Schatz, warum kommst du wieder so spät nach Hause?" Gregory sah auf die Wanduhr - schon 8 Uhr! Er hatte die Zeit völlig aus dem Blick verloren. "Oh..ähm...ich hatte nun eben viel zu tun." Sie sah ihn besorgt an. "Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Du warst dreizehn Stunden auf der Arbeit." "Jetzt bin ich ja hier." Gregory lächelte. Und obwohl er sich freute, zu Hause zu sein, waren seine Gedanken an einem ganz anderen Ort.


Verstärkung


Am nächsten Morgen machte Gregory sich auf zum Flughafen. "Guten Morgen, Sie müssen Alec Rettilin sein. Ich bin Homicide Detective Gregory Lizard." Er sah recht jung aus und trug einen Schal um seinen Hals. Außerdem war er relativ klein und hatte braune Haare. In höflichem Ton antwortete er: "Hallo, schön Sie zu sehen. Sie wissen, wo ich wohnen werde?" "Ja, in der Nähe unserer Polizeistation ist das "Pine Street Inn". Es ist kein 5 Sterne Hotel, aber es dürfte reichen." "Na das ist doch wunderbar. Worauf warten wir dann noch?" Alec sah Gregory mit einem munteren Lächeln an. Ohne weitere Worte gingen sie los und stiegen in den Dienstwagen. "Wie weit sind die Ermittlungen?" "Nicht weit." "Gibt es denn erste Hinweise?" "Nein." Erst nach einer Weile fuhr Gregory fort "Das Opfer war ein korrupter Polizist, gebürtiger Brite - der Mord an sich ist perfekt." Seine Stimme war tief und ruhig. Nur langsam kamen die Worte über seine Lippen. Ganz im Gegensatz dazu sprach Alec. "Wirklich perfekt? Ich wette, ihren Leuten ist etwas entgangen. Auch mir wurde einmal ein angeblich "perfekter" Mord zugeteilt. Aber die Patronenhülle wies Spuren einer bestimmten chemikalischen Lösung auf. Und diese Lösung ist nur wenigen Menschen zugänglich. Einige Verhöre später hatte ich den Mörder gefasst." Scheinbar unbeeindruckt und still schweigend fuhr Gregory weiter. Immer diese Briten. Aber dennoch war er im Geheimen etwas neidisch. Obwohl auch er viele Mordfälle aufgelöst hatte, waren diese niemals wirklich schwer. Nur wegen seiner langjährigen Erfahrung konnte er auch etwas komplexere Fälle lösen. Doch von diesen gab es nicht viele. "Schön für Sie. Aber glauben Sie mir, dieser Mordfall ist anders." "Inwiefern anders? Nur wegen dem blutigen Dollarzeichen?" Mürrisch sah Gregory kurz zu Alec. "Nein - halten Sie sich nicht für etwas Besseres, in Ordnung?" Sein stolzer Blick verwandelte sich in einen eher verdrossenen Blick. Dennoch ergriff Gregory das Wort, nachdem die Stille zu erdrückend wurde "Wie war Ihr Flug?" "Anstrengend. Auch wenn ich gut geschlafen habe." - "Sind Sie müde? Oder soll ich Sie heute schon in den Fall einweihen?" "Ich denke es wäre nett, wenn ich heute schon das Gröbste erfahre."
Von dem Pine Street Inn bis zur Polizeistation waren es nur 3 Minuten zu Fuß und so kam Alec relativ schnell in Gregory's Büro. "Also, was wissen wir bis jetzt?" "Wie gesagt, nicht viel. Das Opfer war Bradley Corrump, 46 Jahre alt, Polizist, auch hier in Boston - und allem Anschein nach war er korrupt. Das ist ein möglicher Ansatzpunkt für unsere weiteren Untersuchungen. Er wurde im Haus seinens Vaters, Patrick Corrump, ermordet, der in der Woche vorher gestorben ist - allerdings auf natürliche Art und Weise. Vielleicht hat Bradley dort etwas gesucht; das könnten wir John, seinen Bruder, fragen, wenn er sich in einigen Tagen wieder beruhigt haben wird. Der Mord an sich war, wie gesagt, perfekt. Keine Spuren, keine Hinweise. Mit dem Schalldämpfer frontal erschossen. Ein Dollar-Zeichen seines eigenen Blutes mitten in seinem Gesicht. Es scheint also irgendwie um Geld zu gehen. Die Frage ist nur, inwiefern seine Korruption etwas mit dem Mord zu tun hatte. Vielleicht hatte er sich, wie sein Bruder ebenfalls vermutete, mit den falschen Leuten angelegt. Oder er wurde zu geldgierig? Feinde könnte er auch gehabt haben." "Interessant. Na das ist doch schon 'mal etwas. Gibt es irgendwelche Zeugen?" "Nein. Nur die Nachbarin hatte Lärm von nebenan gehört und daraufhin die Polizei alarmiert. Mehr auch nicht." "Ist der Tatort weit von hier entfernt?" "Wollen Sie ihn sehen?" "Warum nicht?" Das Haus begutachtend sah sich John um. „Wo ist das Einschussloch? Wurde er hier ermordet?“
„Der Täter hat ihn wahrscheinlich mitten im Kampf hier vor dem Fenster ermordet. Dann ist Bradley wohl auf den Boden gefallen – und lag dann hier in der Kreidemarkierung. Die Kugel hat der Mörder auch aufgesammelt.“
„Soso...und wie kam der Täter ins Haus?“
„Schwierig zu Sagen. An der Tür sind keinerlei Einbruchsspuren zu sehen. Vielleicht hat der Täter tatsächlich an der Tür geklopft – oder er hatte aus irgendwelchen mir unerfindlichen Gründen die Hausschlüssel.“
„Seltsam. Nun ja, ich muss gestehen, der Tatort sieht wirklich sauber aus.“
Nach einer Weile beschlossen die Beiden, wieder zur Polizeistation zurückzukehren.
„Für Heute haben wir genug gemacht. Gehen Sie ruhig in Ihr Hotel.“
„In Ordnung. Bis morgen.“


Druckverstärkung


Am nächsten Tag war irgendetwas anders in der Polizeistation. Alle waren so geschäftig und schienen im Stress zu versinken. Ein Großteil der Mitarbeiter telefonierte und daher war es unangenehm laut. Sich beinahe schon die Ohren zuhaltend ging Gregory zuerst in das Büro des Captains. Auch der telefonierte, wendete aber kurz den Hörer von seinem Mund.
„Pressekonferenz um 8 Uhr!“
„Welche Pressekonferenz? Woher wissen die schon wieder Bescheid?“ Gregory sah seinen Vorgesetzten aufgeregt und gleichzeitig vorwurfsvoll an.
„Das weiß ich auch nicht, bereiten Sie sich einfach ein bisschen vor. Und verraten Sie denen bloß nicht zu viel!“
Stöhnend ging Gregory zu seinem Büro. Wenn die Öffentlichkeit davon erfährt, steigt der Druck, den Mordfall aufzulösen. Und das konnte Gregory nun gar nicht gebrauchen.

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Tag der Veröffentlichung: 10.09.2008

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