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Die Musik hämmerte.
Bässe dröhnten so laut, dass der Boden virbrierte und man es bis hinauf in den Magen und noch höher fühlen konnte. Farbige Lichtblitze rissen stakkatohaft jeweils für Sekundenbruchteile die Umgebung aus dem Dämmerdunkel in welches der Saal getaucht war und erweckten den Anschein, als bewegten die vielen Tänzer sich seltsam ruckartig, obwohl sie, gefangen im Sog der dröhnenden Beats, wie ein riesiger Organismus mit unzähligen Armen und Beinen über die Tanzfläche wogten.
Hitze und Feuchtigkeit schlugen Milan entgegen, als er sich seinen Weg daran entlang bahnte, während er mit den Augen die Umgebung absuchte.
War ER heute auch wieder hier?
Milan hoffte es.
Den ganzen Tag, nein, eigentlich die ganze Woche hatte er in Vorfreude und banger Erwartung hinter sich gebracht, es hatte sich angefühlt, als hätte er einzig und allein darauf hin gelebt, als schlafe, esse und arbeite er nur, damit die Zeit schneller verflog, bis er endlich wieder hier sein konnte.
Hier - das war der Ort, um den sich seit nunmehr acht Wochen fast sein gesamtes Denken drehte, sozusagen der Nabel seiner Welt.
Vor acht Wochen hatte Milan IHN das erste Mal bemerkt, und seitdem hatte er das Gefühl, als hätte er vorher in einer Art dumpfem Nebel existiert und wüsste erst jetzt, dass die Welt bunt und farbensprühend sein konnte.
Jeden Samstag Abend kam er her, um zu tanzen, zu trinken und den Alltag hinter sich zu lassen.
… und natürlich um endlich einmal ungeniert andere Männer betrachten zu können.
Dass Frauen und Mädchen für ihn nicht im gleichen Maße interessant waren, wie für seine gleichaltrigen Freunde, war ihm zum ersten Mal bewusst geworden, als er fünfzehn war. Damals hatte sein bester Kumpel plötzlich eine Freundin, und Milan litt wie ein Hund, als ihm mit einem Schlag klar wurde, dass besagter Kumpel in Wahrheit viel mehr für ihn war, diese Gefühle aber niemals erwidern würde.
Das war vorbei gegangen, aber es war nicht bei diesem einen Mal geblieben. Immer wieder einmal hatte er sich verliebt, hatte ein bisschen geschwärmt und sich gesehnt, aber nichts in seinem Leben hatte ihn auf den Gefühlssturm vorbereitet, der nun in seinem Inneren tobte.
Und dabei wusste er praktisch nichts über IHN, nur wie ER aussah und dass ER scheinbar regelmäßig hierher kam, um zu tanzen. Allerdings kam ER nicht allein, sondern war meistens mit Freunden zusammen.
Als Milan IHN das erste Mal gesehen hatte, hatte er Mühe gehabt, sich nichts anmerken zu lassen.
Die Tanzfläche war an diesem Abend so voll gewesen wie immer und doch schien alles und jedes in den Hintergrund zu treten, als sein Blick auf IHN fiel. Inmitten der unzähligen Männer um sich herum bewegte ER sich völlig selbstvergessen im Rhythmus der Musik, mit geschlossenen Augen, und obwohl ER nur Einer unter Vielen gewesen war, war es doch nur ER allein gewesen, der Milans Blick anzog und festhielt, ohne es zu wissen.
ER trug ein einfaches, weißes Shirt und eine dunkle Hose, vermutlich eine Jeans, das war in der Beleuchtung nicht so ohne weiteres auszumachen. Halblange blonde Haare wehten IHM in sanften Wellen ums Gesicht, wenn ER sich drehte und wendete und jede SEINER Bewegungen schien Milan zu locken wie Sirenengesang.
Heiße und kalte Schauer waren ihm über den Rücken gelaufen, die feinen Härchen an seinen Armen stellten sich auf, und er war erst in der Lage, den Blick loszureißen, als ihn jemand anrempelte, weil er mitten im Weg stehen geblieben war.
Seit diesem schicksalhaften Samstag war Milan praktisch jeden Abend hier gewesen, doch ER hatte sich erst am folgenden Samstag erneut blicken lassen. Nachdem sich dieses Muster auch in der darauf folgenden Woche wiederholte, war einigermaßen klar, dass ER nur Samstags hier war und so entwickelte sich das Schema, nach dem Milan inzwischen lebte und funktionierte.
Jeden Samstag Abend kam er zum Tanzen her, doch in Wirklichkeit hielt er natürlich nur nach IHM Ausschau. Ein paar Mal hatte er sogar geglaubt, ER sähe zu ihm hinüber, aber das hatte er sich vermutlich nur eingebildet. Wieso sollte IHM ausgerechnet Milan unter all den anwesenden Männern auffallen?
Doch heute Abend suchte er vergeblich.
ER war nicht auf der Tanzfläche, und obwohl Milan ein paar SEINER Freunde in der Nähe der Bar ausmachen konnte, schien ER doch nicht da zu sein. Nach einer halben Stunde war Milan sich sicher, dass es so war, denn wäre es anders gewesen, hätte er IHN irgendwo sehen müssen - selbst die längste Pinkelpause war nicht soo lang!
Entmutigt und enttäuscht stellte er seine Cola ab. Der Abend war ihm vergällt.
Wozu sollte er noch bleiben? Der einzige Grund für sein Hiersein fehlte, und plötzlich war die Musik nur noch Lärm, das Gewimmel der Tänzer entnervend, und die grellen Lichter machten ihm Kopfschmerzen.
Plötzlich bemerkte Milan aus dem Augenwinkel eine Bewegung neben sich, und reflexartig drehte er den Kopf.
Wie erstarrt und mit offenem Mund blickte er gleich darauf in das Gesicht, das ihn seit acht Wochen begleitete, egal ob er schlief oder wachte.
Die blonden Haare waren diesmal mit einem Haargummi aus der Stirn genommen, aber ER trug wie immer ein helles Shirt und eine Jeans.
Aufmerksam musterte ER Milans Gesicht, aber nur kurz. Dann, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, beugte er sich ihm zu und küsste ihn auf den Mund, kurz, wie zur Probe, kaum dass Milan diese weichen, warmen Lippen richtig schmecken konnte.
Im nächsten Moment rückte er ein Stückchen weg und sah ihn lächelnd an, während Milan dastand wie vom Donner gerührt und sich verzweifelt zu erinnern versuchte, ob er schlief oder wach war. Da wurde er auch schon an der Hand gefasst und zur Tanzfläche gezerrt.
Er fand sich IHM gegenüber wieder, wurde von IHM gehalten und plötzlich war alles, wie es sein sollte. Die Musik pulsierte in Milans Adern, spülte durch seinen Körper, bis er den Kopf in den Nacken legte und lachte.
Unter seinen Fingern spürte er die verheißungsvolle Wärme SEINER Haut, und als ihre Lippen sich diesmal richtig trafen, glaubte er zu explodieren, wie ein Silvesterfeuerwerk.
Irgendwann waren sie draußen, in der kühlen Nachtluft, die ihnen eine Gänsehaut bescherte, doch sie drängten sich eng aneinander und wärmten sich gegenseitig.
„Ich habe dich beobachtet – und nicht erst heute!“ gestand ER ihm zwischen zwei tiefen Küssen.
„Du hast...?“ Milan war verblüfft. „Mich?“ vergewisserte er sich, und ER nickte.
„Ja. Dich. Du schienst irgendetwas auszustrahlen, so eine Art Sehnsucht. Und irgendwie ist das wohl zu mir gedrungen und hat mich nicht mehr losgelassen. Ich konnte einfach nicht mehr anders heute Abend! Was hast du nur mit mir gemacht? Ist das Magie?“
„Nein!“ Milan schüttelte lächelnd den Kopf, „Keine Magie, nur Liebe.“

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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2012

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