Zack kauerte im Beifahrersitz des Pickups und starrte durch die Frontscheibe nach draußen in das Unwetter, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Noch immer stand ihm das Bild des riesigen Wirbels vor Augen und die völlige Mühelosigkeit, mit der er die Gebäude auf der Farm regelrecht hatte explodieren lassen.
Es war keine Flucht in letzter Minute gewesen, aber eine solche Naturkatastrophe hautnah mitzuerleben, noch dazu während seine Verfolger kurz davor gewesen waren, ihn zu schnappen, das jagte ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper und ließ ihn noch immer unkontrolliert zittern.
Vorsichtig schielte er zu Sisko hinüber, der mit hart aufeinandergepressten Kiefern konzentriert nach vorn sah und das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, was selbst bei der schwachen Helligkeit hier im Auto zu erkennen war.
Jetzt saßen sie beide im gleichen Boot. Sie hatten beide alles verloren und waren auf der Flucht.
Erfüllt von schlechtem Gewissen senkte Zack den Blick. Wäre er nicht gewesen, hätte Sisko nicht flüchten müssen, dann hätte er zwar seine Farm verloren, aber es gab genügend andere Häuser in der Umgebung, sodass er weiter in weitestgehender Sicherheit hätte leben können.
Aber durch sein Auftauchen hatte er das alles zerstört. Er machte sich keine Illusionen: egal wie weit er lief, SIE würden ihn überall hin verfolgen. Das hatten SIE heute wieder einmal bewiesen.
Aber nun ja – es stand ja auch eine Menge Geld auf dem Spiel.
Zack wusste nicht, wie hoch der Preis für ihn genau war, aber er musste mittlerweile astronomisch sein. Kurz bevor er geflohen war, hatte er gehört, dass eine halbe Million Dollar für ihn geboten wurde. Inzwischen war die Summe womöglich noch höher.
Ein Gefühl der Beklemmung legte sich auf seine Brust, und er tastete mit der Hand nach dem Kragen seines durchweichten Shirts.
Würde es je wieder eine Zeit geben, wo er unbesorgt sein und ein normales Leben führen konnte? Er bezweifelte es. Und nun hatte er auch noch Sisko mit in die ganze Sache hineingezogen! Wieder sah er zu dem Mann am Steuer hinüber. Dessen Miene hatte sich nicht verändert, und rasch schaute Zack wieder nach draußen in die Nacht.
Ob es so enden würde, wie mit der alten Lady? Auch sie hatte ihm helfen wollen, hatte ihn in ihr Haus aufgenommen, und er hatte sich nur zu gern der Illusion von Sicherheit und Geborgenheit hingegeben, müde an Körper und Seele, vom Wegrennen, vom ständigen Hinter-sich-Sehen, vom Schlafen im Freien, mit einem offenen Auge und einem horchenden Ohr, bereit beim kleinsten Geräusch hochzuschrecken und sofort wieder loszurennen.
Und natürlich von dem Grauen, dass ihn in so gut wie jeder menschlichen Siedlung erwartete. Blutüberströmte Leichen, mehr oder weniger verwest, blaue Fliegenschwärme und verwilderte Hunde, die ihre toten Herren fraßen um zu überleben und ihn feindselig anknurrten, wenn er sich in ihre Nähe wagte.
Und gelegentlich auch andere Menschen, teilweise bereits krank oder sogar halbtot, so gut wie immer voller Misstrauen Fremden gegenüber, was ihn allerdings nicht wunderte. Jeder, egal ob fremd oder nicht, konnte den tödlichen Keim in sich tragen, aber es lag eben in der Natur des Menschen, in bedrohlichen Situationen Fremden noch mehr zu misstrauen als sonst. Mehr als einmal war er nur um Haaresbreite entkommen, wenn er beispielsweise auf der Suche nach etwas Essbarem in ein vermeintlich leerstehendes Haus eingedrungen und plötzlich ein bewaffneter Bewohner aufgetaucht war.
Am schlimmsten waren für ihn die Überreste des Alltags, auf die er überall stieß. Reste von Wäsche, die niemand mehr von der Leine holte, Kinderspielzeug, welches von der Sonne gebleicht in ungemähten, verwilderten Gärten und Rasenflächen lag, Zeitungen vor Haustüren, die nie mehr gelesen werden würden, all das und hundert andere Kleinigkeiten, die ihm sagten, dass die Menschheit am Rande des Abgrunds stand.
Das alles wäre vielleicht noch zu ertragen gewesen, aber der Gedanke, dass es eigentlich seine Pflicht war, dem allem Einhalt zu gebieten und dies doch nicht zu können, war häufig mehr, als er ertragen konnte.
Als die alte Lady ihm angeboten hatte, bei ihr zu bleiben, war er deshalb bereitwillig darauf eingegangen. Es war ein gutes Gefühl, in der scheinbaren Sicherheit ihres winzigen Häuschens unterzutauchen und sich einzubilden, die Welt draußen ginge ihn nichts an.
Sie erzählte ihm von ihrem Enkel, an den er sie erinnerte und der an der Seuche gestorben war, wie auch der Rest ihrer Familie, und sie behandelte ihn, als hätte er jetzt deren Platz eingenommen.
Sie war die einzige lebende Seele, die noch in dem kleinen Dorf hauste. Es bestand ohnehin nur aus einer Handvoll Häuser, und die übrigen Bewohner waren entweder tot oder geflohen.
In den zwei kurzen Wochen, die er bei ihr verbrachte, hatte er ihr geholfen, ihren kleinen Garten zu pflegen und Vorräte für den Winter einzulagern. Er holte alles aus den leerstehenden Häusern, was ihnen irgendwie von Nutzen sein konnte und schleppte es ins Haus der alten Lady.
Doch alle Planung und Vorratswirtschaft hatte ihnen nichts genützt, als seine Verfolger auftauchten. Die alte Frau weigerte sich, ihn einfach herauszugeben, und das war ihr Todesurteil.
Wie eine Barbarenhorde waren SIE in das Haus eingedrungen, und Zack hasste sich heute noch dafür, dass er ihrer Aufforderung Folge geleistet hatte, durch den Keller zu fliehen. Der hatte einen heimlichen Ausgang, zu dem man durch einen versteckten, niedrigen Gang gelangte, welcher noch aus der Zeit der Prohibition stammte, als ein Vorfahre der alten Dame sich als heimlicher Schnapsbrenner betätigt hatte.
Minuten später rannte er in die Nacht und blieb nicht stehen, selbst als unverkennbar Schüsse zu hören waren und er genau wusste, was das bedeutete.
Erst als er am Rand des Waldes anlangte, der rund zwei Meilen von dem kleinen Dorf entfernt lag, drehte er sich um und sah die feurige Lohe, die von der Stelle aus in den Himmel stieg, wo das Haus der alten Lady stand.
Er hatte geweint bei diesem Anblick, zerrissen von Scham und Angst, doch schließlich hatte er sich abgewandt und war wieder gelaufen, in den Wald hinein und immer weiter fort von diesem ehemaligen Hort der Geborgenheit.
Und nun? Würde sich die Geschichte wiederholen? Würde er eines Tages auch Siskos Tod zu verantworten haben? Einmal waren sie seinen Häschern entkommen, aber die gaben unter Garantie nicht auf. Das wusste er sicher.
Ein weiteres Mal schaute er zu dem dunkelhaarigen Mann am Steuer. Sein gebräuntes Gesicht mit dem kräftigen Kinn war ernst, fast schon zornig im Widerschein des Mondlichts, das durch die Frontscheibe fiel. Seine Augen, die bei Tag von hellgrauer Farbe waren, saßen wie finstere Löcher in seinem Kopf und sahen unverwandt nach vorn.
War er wütend auf Zack? Er hätte es verstanden. Er war nicht gut, für niemanden, und obwohl es eigentlich genau andersherum sein sollte, war alles was er brachte nur Tod und Verderben. Für den Professor, die alte Lady und nun vermutlich auch für Sisko.
Vielleicht wäre es besser, bei der nächsten Gelegenheit zu verschwinden...?
Sisko lenkte den Pickup mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch die Nacht, um von etwaigen aufmerksamen Verfolgern nicht gleich gesehen zu werden. Sie hatten die Unwetterfront hinter sich gelassen und brauchten auch nicht zu befürchten, dass ihnen jemand entgegen kam. Der Mond stand hell und zu drei Vierteln voll am Himmel, und er konnte die schmale Straße als mattschimmerndes, stahlfarbenes Band mühelos erkennen.
Zack neben ihm schien zu schlafen, doch er selbst fühlte sich mehr als wach. Noch immer pulsierte das Adrenalin durch seinen Körper, und er ließ die Begegnung mit Zacks Verfolgern wieder und wieder Revue passieren, in der unbegründeten Hoffnung, es möge irgendetwas darin enthalten sein, was ihm eine Erklärung bot.
Warum nur waren sie hinter ihm her?
Doch egal, wie sehr er sich das Hirn zermarterte, so kam er einer Antwort trotzdem keinen Deut näher. Er beschloss, Zack bei der nächsten Gelegenheit noch einmal danach zu fragen.
Wenn er schon sein Leben riskierte, dann wollte er wenigstens wissen wofür!
Erneut warf er einen Seitenblick auf den Schlafenden. Sein Kopf war gegen das Seitenfenster gesunken, und der Mund stand ihm halb offen. Spot lag auf der Rückbank und winselte leise vor sich hin – er hatte Autofahren noch nie gemocht.
Wo sollten sie überhaupt hin?
Anfangs war Sisko einfach drauflos gefahren, Hauptsache weg von der Farm, dem Twister und den Typen, die hinter Zack her waren. Mittlerweile hatten sie aber rund 50 Meilen zurückgelegt, waren also fürs Erste aus der Gefahrenzone entkommen. Topeka hatten sie bereits hinter sich gelassen, und er hatte unwillkürlich den Kansas Turnpike in Richtung Kansas City genommen. Aber war das eine gute Entscheidung?
Topeka hatte auf ihn wie eine Geisterstadt gewirkt. Gelegentlich standen Autos auf der Straße, und er musste sich an ihnen vorbeischlängeln, doch im Großen und Ganzen war der Weg erstaunlich frei, fast so, als wären die Menschen schon vor langer Zeit geflohen.
Die Straßenbeleuchtung brannte größtenteils, und fast hätte man meinen können, die Bewohner der Stadt lägen einfach nur friedlich in ihren Betten und schliefen. Nur wenn man genauer hinschaute, sah man die Spuren der Vernachlässigung, die im Laufe des letzten Jahres entstanden waren. Offenstehende Fensterhöhlen aus denen die Reste von Vorhängen wie gebleckte Zungen hingen und im Wind flatterten, wucherndes Unkraut in Schlaglöchern und den Ritzen der Gehwegplatten, Haufen von alten Zeitungen und anderen Abfällen, die sich vor Haustüren und in Einfahrten gesammelt hatten, vom Wind zusammengeweht.
Er sah auf die Tankuhr – die Nadel hatte sich noch kaum bewegt. Der Tank war voll gewesen, als sie die Farm verlassen hatten, und er hatte auch daran gedacht, als er den Pickup belud, ein paar Reservekanister mitzunehmen.
Trotzdem würde irgendwann der Vorrat aufgebraucht sein. Ob sie eine Tankstelle finden würden, die nicht verrammelt war, sodass sie ohne Schwierigkeiten den Tank füllen konnten? Er hoffte es, sonst würden sie über kurz oder lang zu Fuß weiter gehen müssen. Weiter, ja, aber wohin weiter?
Er war wieder am Ausgangspunkt seiner Überlegungen angekommen und noch keinen Schritt vorangekommen. Es half nichts, er und Zack hatten ein ausführliches Gespräch vor sich, wenn er aufwachte.
So fuhren sie weiter, Richtung Osten, vorbei an Feldern, Wiesen und vereinzelten Häusern und Häusergrüppchen. Dicht mit Bäumen und Buschwerk bestandene Flächen wechselten mit brach liegendem Farmland, und je näher er seinem Etappenziel kam, desto häufiger musste er liegengebliebenen Fahrzeugen aller Art ausweichen und zu diesem Zweck sogar gelegentlich auf den Standstreifen ausweichen oder sogar ganz von der Fahrbahn herunterfahren. Doch auch wenn das ihr Vorwärtskommen verlangsamte, so waren sie doch nicht gezwungen, auf das Auto zu verzichten.
Menschen sah er keine, doch als der bevorstehende Sonnenaufgang den Himmel vor ihnen rötlich färbte, tauchte Kansas City aus dem Morgendunst auf wie eine Fata Morgana. Nur im Zentrum der Stadt gab es ein paar Hochhäuser, ansonsten bestand die Stadt aus locker verteilten Vierteln, die durch Highways verbunden waren.
Sisko war vor einigen Jahren einmal dort gewesen, um sich zusammen mit seinem Vater ein Baseballspiel im Community America Ballpark
anzusehen, und er erinnerte sich an die geräuschvolle Betriebsamkeit in den Straßen der Stadt. Er erwartete nicht, dass es jetzt genauso sein würde. Nichts auf dem Weg hierher hatte ihn glauben lassen, der rote Tod
sei an Kansas City vorbeigezogen, aber er fragte sich, ob es nicht doch möglich war, dass zumindest ein paar der Einwohner überlebt hatten. Er selbst war ja auch nicht gestorben, und er war sicher, dass er sich angesteckt hatte. Vielleicht gab es Ausnahmen, vielleicht waren manche Menschen immun? Wenn das auf ihn zutraf, warum sollte es dann nicht noch andere wie ihn geben?
Trotz dieser Gedanken war er nicht sicher, ob er darauf hoffen sollte. Nur zu gut standen ihm noch die Fernsehbilder von Plünderungen und Massenhysterien vor Augen, die er kurz nach Ausbruch der Seuche gesehen hatte. Es stimmte schon, was er vor langer Zeit einmal in einem Film gehört hatte: Ein einzelner Mensch mochte intelligent sein, befand er sich aber in einer Menge, war deren IQ nur noch so hoch, wie der des dümmsten Individuums, das darin enthalten war, und nichts unterschied sie noch von einem Tier, das allein durch seine Triebe und seinen Instinkt gesteuert wird.
Neben ihm erklang ein leiser Seufzer. Sisko drehte den Kopf und sah, wie Zack sich aufsetzte und gähnte.
„Na, ausgeschlafen?“ erkundigte er sich freundlich. Der Angesprochene nickte und sah nach vorn. Mit fragendem Gesichtsausdruck und hochgezogenen Brauen wandte er sich gleich darauf wieder zu Sisko und der erwiderte: „Kansas City. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fahren sollten, und irgendwie schien es mir keine schlechte Idee, hierher zu kommen. Wenn es irgendwo Überlebende gibt, dann vielleicht am ehesten in den Städten, meinst Du nicht auch?“
Zack regte sich nicht. Er starrte die langsam näherkommende Skyline an und schien in Gedanken sehr weit weg zu sein.
„Was ist?“ wollte Sisko wissen, doch als der Junge ihn daraufhin ansah, schüttelte er nur den Kopf und setzte ein arg bemüht wirkendes Lächeln auf.
„Sollen wir besser woanders hin?“ insistierte Sisko, doch erneutes Kopfschütteln war die Antwort. Stattdessen ertönte plötzlich ein deutliches Rumpeln aus seiner Magengegend, und Sisko musste lächeln.
„Hast Du Hunger?“ Verlegen nickte der Junge, und Sisko nahm die Geste auf.
„Na dann, lass´ uns in die Stadt reinfahren. Wenn wir einen geeigneten Ort finden, frühstücken wir, in Ordnung?“
Ein neuerliches Nicken war die Antwort und kurz darauf verließ Sisko den Turnpike, um das Stadtzentrum anzusteuern.
Auf den Straßen, die sie jetzt durchfuhren, lagen eine Menge Dinge herum, von Einrichtungsgegenständen, Müll und Kleidungsstücken, bis hin zu ausgebrannten Autos, die stellenweise zu regelrechten Barrikaden zusammengeschoben waren und ihnen immer wieder den Weg versperrten, sodass Sisko mühsam wenden und einen anderen Weg suchen musste. Es hatte den Anschein, als hätte hier vor einiger Zeit ein regelrechter Krieg getobt. Dessen Überreste wirkten jedoch allesamt alt, Rost fraß an den Autobarrikaden, die herumliegenden Kleider waren zerfetzt und ausgebleicht und vor allem war nirgendwo auch nur eine einzige lebende Seele zu sehen. Nur ausgebrannte Ruinen, Verfall und Leere.
Entgegen seinen Erwartungen fand er nirgends eine Stelle, wo er hätte anhalten mögen, und schließlich kehrte er auf den Turnpike zurück.
Ihm kam ein Gedanke, und er versuchte sich zu orientieren. Nachdem er ein paar Mal die Richtung gewechselt hatte, schien das Terrain vage vertraut, er fuhr weiter und langte tatsächlich bei dem großen Sportstadion an, an das er sich aus seiner Kindheit erinnerte, dem Community America Ballpark
.
Warum nicht?
dachte er achselzuckend, ließ den Pickup ausrollen und stieg aus. Spot sprang sofort hinter ihm her und lief schnüffelnd los, um die Gegend auszukundschaften.
Der riesige Parkplatz war völlig leer, nur in einer Ecke lagen Stacheldrahtrollen lässig hingeworfen, daneben eine Menge Panzersperren, und Sisko fragte sich, was sie für eine Bedeutung hatten. Er sah sich um und erinnerte sich an den Tag, als er mit seinem Vater hier gewesen war. Es war das erste Heimspiel der TBones
im neu errichteten Ballpark
gewesen, im Sommer 2003, und sie hatten gegen Sioux City
mit 1-0 verloren. Aber das war Sisko egal gewesen. Die Atmosphäre im Stadion damals, wo alles noch neu und unberührt aussah, der Geruch nach Hotdogs und Popcorn, die fiebrige Erregung der Fans, all das hatte einen besonderen Zauber besessen und auf den knapp 17jährigen Sisko einen mächtigen Eindruck gemacht.
Jetzt war nichts davon zu spüren. Stille lag über dem Parkplatz und dem eigentlichen Stadion, nur das Zwitschern der Vögel war zu hören, und allein das reichte aus, Sisko eine Gänsehaut zu bescheren.
Die Fenster in den geschlossenen Abschnitten der Zuschauertribüne waren größtenteils zerschlagen, und in Siskos Vorstellung erklang plötzlich das helle, scharfe Geräusch, das entstand, wenn ein Schläger einen Baseball traf und mit gezieltem Schwung weit über das Spielfeld katapultierte.
Ob die TBones
dort drin waren und eine letzte Partie spielten?
Mit skelettierten Armen die Schläger schwangen, die Bälle mit knochigen Händen warfen und die Baseballmützen auf ihren haut- und haarlosen Schädeln nach hinten schoben, während sie den Flug eines Balles verfolgten?
Sisko schauderte in der warmen Sonne. Seit wann hatte er eine derart morbide Fantasie?
Er schüttelte die Gedanken ab und bemerkte, dass Zack neben ihn getreten war und mit den Augen das Terrain absuchte. Er wirkte nervös und angespannt und um die Stimmung etwas aufzulockern, schlug Sisko ihm mit der Hand auf die Schulter und meinte: „Na, was sagst du? Ist das nicht DER Picknickplatz schlechthin?“ Er grinste, als Zack ihn ungläubig anstarrte. „Komm´ schon, Sportsfreund! Lass uns was essen!“ setzte Sisko hinzu, ging zur Ladefläche des Wagens, löste die Plane und hob eine Metallkiste herunter.
Eine knappe halbe Stunde später hockten die beiden Männer auf dem Boden auf zwei Klappstühlen, jeder kaute an einem riesigen, doppelten Maisbrotsandwich, belegt mit Büchsenfleisch und Gewürzgurkenscheiben, neben sich einen Blechbecher mit Kaffee, den sie mittels Mineralwasser, welches sie auf einem Campingkocher heiß gemacht hatten und löslichem Kaffeepulver hergestellt hatten.
Während sie aßen, ließ auch Sisko seinen Blick umherschweifen, doch nichts rührte sich in der Umgebung. Kansas City und seine unmittelbare Umgebung war wohl tatsächlich zu einer Geisterstadt geworden.
Eine plötzliche Bewegung Zacks ließ ihn aufmerksam werden, und er sah zu seinem Begleiter hinüber. Eine Taube war in dessen Nähe gelandet, und er warf ihr ein Stückchen Brot hin. Einen Moment lang beobachtete Sisko den Jungen, dann stellte er seinen Kaffeebecher ab und stopfte sich das letzte Stück seines Sandwiches in den Mund. Er klopfte sich die Hände ab und fegte die Krümel von seiner Jeans, während er kaute und schluckte. Schließlich stand er auf und ging noch einmal zum Wagen hinüber. Als er zurückkam, hielt er einen Block und einen Bleistift in der Hand und kam damit direkt zu Zack, der ihn beunruhigt anschaute.
„Zack, wir müssen reden.“ begann Sisko und streckte ihm beides hin. Nach einem kurzen Zögern ergriff der Junge die Sachen und legte sie auf seinen Schoß. Sisko setzte sich wieder und überlegte. Wie sollte er dieses Gespräch anfangen? Er war sich der gespannten Aufmerksamkeit des Jungen bewusst und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
„Also, pass´ auf, Zack,“ begann er, „ich weiß, ich habe gesagt, dass ich nicht in dich dringen werde, wenn du mir nicht erzählen willst, warum diese Kerle dich verfolgen. Aber das muss ich zurücknehmen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn der Tornado nicht gekommen wäre, aber ich glaube nicht, dass wir wirklich eine Chance gehabt hätten. Das waren Profis, die genau wussten, was sie tun, und es erscheint mir einfach unglaublich, dass eine ganze Truppe von denen auf der Jagd nach einem … Jungen
sein soll? Du sagst, du hast nichts verbrochen, okay, das will ich dir mal glauben, aber warum jagen sie dich dann? Wenn wir gemeinsam vor diesen Typen fliehen sollen, musst du ehrlich zu mir sein. Also frage ich dich jetzt nochmal: Was wollen die von dir?“
Zack hatte während Sisko redete das Gesicht gesenkt gehalten und sah auch jetzt nicht auf. Seine Finger krampften sich um den Stift, und sein Atem ging heftig. Doch er schrieb nichts, sondern schüttelte nur den Kopf.
Sisko atmete tief durch. Das war schwieriger, als er gehofft hatte.
„Zack, ich gebe dir keine Schuld an irgendwas. Das ich heute mit dir hier bin, ist eine Folge meiner eigenen Entscheidungen. Aber ich muss wissen, was los ist! Ich will dir helfen, aber wie soll das gehen, wenn ich nichts weiß? Das ist, als würde ich mit einem Tuch über dem Kopf in einem dunklen Raum herumtasten, verstehst du?“
Als er davon sprach, dass er Zack helfen wollte, ruckte dessen Kopf in die Höhe, und er heftete einen durchdringenden Blick auf Sisko. Er schluckte hektisch und seine Augen begannen zu glänzen, als würde er im nächsten Moment anfangen zu weinen. Schließlich senkte er die Augen auf den Block vor sich und begann mit eckigen Bewegungen und in großen, krakeligen Buchstaben zu schreiben.
Sisko schwieg, bis Zack mit einer ruckartigen Bewegung das oberste Blatt von dem Block riss und es ihm hinhielt, ohne ihn anzusehen. Er griff danach und las, was Zack geschrieben hatte.
„Ich kann es dir nicht sagen.“ stand da und Sisko sah kurz hoch, bevor er weiterlas. „Vielleicht ist es sowieso besser, wenn wir uns trennen.“
Er ließ das Blatt sinken und schaute zu Zack. Der erwiderte den Blick jedoch nicht, sondern hatte das Gesicht in die andere Richtung gewandt.
Sisko überlegte. Obwohl er noch unterwegs darüber nachgedacht hatte, dass es vermutlich klüger gewesen wäre, Zack nach der ersten Nacht auf der Farm wegzuschicken, erfasste ihn jetzt ein heftiges Unbehagen bei der Vorstellung, den Jungen gehen zu lassen. Er verstand zwar nicht wieso, aber er wollte, dass Zack blieb.
„Zack!“ sagte er, doch der Junge reagierte nicht. „Zachary?“ Er hatte keine Ahnung, ob er tatsächlich so hieß, doch es ging ihm in erster Linie darum, eine Reaktion zu provozieren und Zacks Aufmerksamkeit zu erhaschen.
Wie erhofft drehte der Angesprochene den Kopf und sah erstaunt und überrascht zu ihm hinüber.
„Wie kommst du darauf, dass es besser wäre, wenn wir uns trennen?“ fragte Sisko, und der Junge wurde rot. Er zuckte in einer trotzig wirkenden Geste die Schultern und knetete seine Hände nervös im Schoß.
Sisko schüttelte nun seinerseits den Kopf und meinte: „Ich denke, dass sich unsere Chancen eher halbieren, wenn wir uns trennen. Zusammen ist es immer noch riskant, aber dieses Risiko kannst du vielleicht verkleinern, wenn du ehrlich zu mir bist. Ich würde gern mit dir zusammen weiterreisen, und ich verspreche dir, du kannst dich auf mich verlassen. Aber wenn ich mich auch auf dich verlassen soll, muss ich wissen, was gespielt wird.“
Zacks Hände verkrampften sich, es war nur zu ersichtlich, dass er einen heftigen Kampf mit sich ausfocht, schließlich nahm er den Stift wieder zur Hand und begann zu schreiben. Diesmal schrieb er lange Zeit, der Kaffee in den Bechern wurde kalt, und die Sonne stieg langsam höher, während er über den Block gebeugt dasaß und immer weiter Wort an Wort reihte und Seite um Seite füllte.
Sisko sagte keinen Piep, um ihn ja nicht zu stören, fragte sich aber natürlich, was das für eine abenteuerliche Geschichte war, die der Junge da zu Papier brachte.
Endlich war er fertig und dann saß er unschlüssig da, die Finger auf die beschriebenen Seiten gelegt und schien zu zögern, ob er Sisko das Geschriebene zeigen sollte, oder nicht. Schließlich jedoch gab er sich einen Ruck und reichte ihm den Block. Anschließend stand er auf, schob die Hände in die Taschen und ging hinüber zum Pickup, während Sisko sich in Zacks Geschichte vertiefte, die ihn von Zeile zu Zeile immer mehr in ihren Bann schlug.
Zacks Geschichte
Mein Name ist Zachary Swinson, und ich wurde am 25.09.1993 in Dallas geboren. Wer meine Eltern oder meine Familie waren ist unwichtig für diese Geschichte, darum lasse ich das hier weg und springe direkt zu dem Zeitpunkt vor einem Jahr, als meine Welt auseinanderbrach, weil der rote Tod mein Zuhause erreichte.
Mein Dad wurde als Erster krank, dann meine Mutter und schließlich auch meine kleine Schwester. Innerhalb von drei Wochen war ich als Einziger noch übrig, aber auch ich war bereits krank und rechnete mit meinem baldigen Tod. Ich lag zuhause in meinem Bett und war zu schwach, um mich zu rühren, als die „Collectors“ auf unser Grundstück kamen und mich mitnahmen. „Collectors“ sind Angehörige einer Spezialtruppe, die dafür da sind, die Häuser in den Seuchengebieten zu durchsuchen und Leichen abzutransportieren. Allerdings haben sich viele von ihnen einen einträglichen Nebenerwerb gesichert, indem sie nicht nur Wertgegenstände stehlen, sondern auch Kranke, die sie vorfinden für gutes Geld an Forschungseinrichtungen verkaufen, die nach einem Heilmittel forschen. Niemand schert sich darum, Seuchenopfer haben keine Lobby.
Ich kam auch in so ein Labor, in der Nähe von Oklahoma City, aber ich schätze, ich hatte Glück im Unglück. Das Labor war relativ klein, der Professor, der dort im Auftrag eines weniger bekannten Pharmaunternehmens forschte, musste sich mit Opfern im fortgeschrittenen Stadium der Seuche begnügen, weil er nicht über die finanziellen Mittel verfügte, wie die gigantischen Testlabors der Regierung oder der internationalen Konzerne.
Aber trotzdem gelang ihm, was alle versuchten: Er entwickelte ein Medikament, das die Krankheit in immerhin 75% der Fälle heilen kann, selbst im fortgeschrittenen Stadium. Er probierte es an mir aus, und ich wurde tatsächlich gesund!
Wenn du dich jetzt fragst, warum du noch nichts von diesem Medikament gehört hast, dann liegt das daran, dass es selbst jetzt, wo das Überleben der gesamten Spezies Mensch davon abhängt, wie mit dieser Krise umgegangen wird, noch immer Leute gibt, denen persönliche Macht und finanzieller Gewinn wichtiger ist als alles andere.
Die Auftraggeber des Professors wollten das Medikament nur für einen horrenden Preis auf den Markt bringen, anstatt es für alle zur Verfügung zu stellen, wie es sein Erfinder beabsichtigte. Sie konnten sich nicht mit ihm einigen, und es endete damit, dass sie den Professor aus dem Weg räumen ließen.
Er hatte allerdings etwas Derartiges kommen sehen und alle seine Unterlagen und Aufzeichnungen vernichtet, indem er sein eigenes Labor in Brand steckte. Nur in mir und zwei weiteren Probanden war das Medikament noch vorhanden. Er hat uns freigelassen und uns beauftragt, in die „Grüne Zone“ zu gehen. Dort sollten wir einen bestimmten Mann aufsuchen, der alles Weitere in die Wege leiten sollte, damit die Formel des Heilmittels aus unserem Blut herausgelesen würde und das Medikament in die Massenproduktion gehen könnte. Er gab uns etwas Geld und Kleidung und schickte uns dann fort.
Wir Drei blieben zusammen, aber wir hatten nicht gewusst, wie sehr sich die Welt in den Wochen und Monaten unserer Abgeschiedenheit verändert hatte. Die Menschen waren in Panik, alle hatten Angst, und es genügte, einmal auf der Straße zu niesen, damit man im schlimmsten Fall von einem Lynchmob getötet wurde.
In den Städten gab es Quarantänezonen, wo sichtbar Erkrankte eingepfercht wurden, ohne ärztliche Hilfe und sich selbst überlassen. „Collectors“ durchkämmten nach wie vor verlassene Wohngegenden und sammelten Leichen ein. Es gab Sammelstellen, wo diejenigen, die gesund und nicht infiziert waren von den Infizierten getrennt und abtransportiert wurden. Immer wieder hörten wir, dass sie in die „Grüne Zone“ gebracht wurden und dass die in der Gegend von Atlanta liegen sollte. Eine Zone, in die nur reinkam, wer gesund war, gesund und nicht infiziert. Was sollten wir machen? Wir waren zwar gesund, aber definitiv infiziert. Das Virus war noch immer nachweisbar in unserem Blut, das hatte der Professor uns erklärt.
Wir wagten es trotzdem, und es kam, wie ich erwartet hatte. Wir wurden abgewiesen und zu den Infizierten gesperrt.
Es war schrecklich. Überall lagen Sterbende und Tote herum, Männer, Frauen und auch Kinder. Wir versuchten zu helfen, aber was konnten wir schon tun, außer eine Hand zu halten, Blut wegzuwischen oder einem Kind eine Geschichte zu erzählen, während seine Atemzüge immer kürzer wurden?
Seit diesen Tagen weiß ich, dass Menschen keine Tiere sind!
Kein Tier wäre derart grausam zu seinen Artgenossen! Keine Folter, keine Misshandlung kann so schlimm sein, wie eine solche Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid Anderer!
Einer meiner Begleiter hielt dem nicht stand. Er versuchte, aus der Sperrzone auszubrechen und wurde von den Soldaten, die sie bewachten erschossen. Damit waren wir nur noch zu zweit, und bald war ich ganz allein, denn John, der noch bei mir war, gab schließlich einfach auf. Er legte sich irgendwann einfach auf den Boden und blieb dort liegen. Er aß nicht mehr, trank nicht mehr, er lag einfach nur da und starrte vor sich hin. Nach einer Woche war auch er tot.
Nachdem ich vier Wochen in diesem fürchterlichen Lager verbracht hatte, wurde ich eines Tages von ein paar Soldaten in Schutzanzügen herausgeholt und einer Frau übergeben. Du hast sie gestern Nacht gehört. Sie hatte als Einzige bemerkt, dass ich eine solch lange Zeit unter lauter Kranken und Infizierten verbracht hatte, ohne selbst zu erkranken oder zu sterben. Daraufhin bestach sie die Wächter, und die holten mich heraus.
Ich war immer noch naiv genug, zu glauben, dass die Frau mir helfen würde und erzählte ihr die ganze Geschichte. Aber wie du dir nun sicher denken kannst, war mir nicht so viel Glück beschieden. Sie war die Anführerin einer eigenen „Collectors“- Gruppe und als sie hörte,was ich zu erzählen hatte, sah sie in mir wohl am ehesten eine Riesensumme Geld auf zwei Beinen. Sie lachte mich aus, als ich sie bat, sie möge mich in die „Grüne Zone“ bringen, damit das Heilmittel baldmöglichst in die Massenproduktion gehen könnte.
„Du irrst dich, mein Kleiner, wenn du glaubst, dass ich mir eine solche Chance entgehen lasse! Leichen einsammeln ist keine besonders einträgliche Arbeit, verdammt mühsam, ekelhaft und immer mit einem Risiko verbunden. Aber wenn ich einen Schatz wie dich an die richtigen Leute verkaufe, habe ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt!“ sagte sie.
Und wieder war ich ein Gefangener. Sie transportierten mich quer durchs Land, mit dem Ziel Atlanta. Dort hat Caitlin, so ist ihr Name, einen Kontaktmann, geschickt von Sitrovan Pharmaceuticals, DEM Pharmakonzern schlechthin. Die haben genug Geld um sich alles zu kaufen, was sie brauchen, auch ein Heilmittel für den Roten Tod, das sie nicht selbst entwickelt haben. Und ich glaube nicht, dass sie es der breiten Masse zugänglich machen werden, solange es in bestimmten Refugien überall auf der Welt noch Menschen gibt, die viel Geld haben und verzweifelt genug sind, um jede geforderte Summe zu zahlen. Und erst, wenn dieser Markt ausgetrocknet ist, werden sie breiter streuen, also mit dem Preis heruntergehen. Ich habe gehört, wie Caitlin mit ihren Leuten darüber gesprochen hat und denke, sie hat recht wenn sie das sagt. Sie bewegt sich unter diesen Menschen, denn sie besorgt ihnen die Dinge, die sie haben wollen. Ihre „Collectors“ sind längst nicht mehr simple Leichensammler. Sie liefern alles, was du willst und was du bezahlen kannst, Waffen, Drogen, Kunst und sogar Menschen, Sklaven, Versuchskaninchen oder was auch immer. Ich weiß, das klingt unglaublich, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Sie sind skrupellos und sie fürchten sich vor nichts. Wenn sie in Seuchengebieten operieren, tragen sie Schutzanzüge, ansonsten nur Gesichtsmasken.
Es war reines Glück, dass ich ihnen entwischen konnte, und seitdem bin ich auf der Flucht. Einmal bin ich bei einer alten Lady untergekrochen, weil ich dachte, da finden sie mich nicht. Aber sie sind doch gekommen. Dank der alten Lady konnte ich flüchten, aber sie hat es mit dem Leben bezahlt.
Und nun bin ich mit dir unterwegs, Sisko. Du hast mich vor ihnen gerettet, vorgestern auf dem Hügel, aber ich fürchte, ich erweise dir einen üblen Dank, wenn ich mit dir zusammenbleibe. Sie werden nicht aufgeben, sie finden mich überall, auch wenn ich nicht weiß, wie sie das anstellen.
Und wenn sie dich mit mir zusammen einholen, werden sie dich töten, wie sie die alte Lady getötet haben! Das darf nicht passieren! Ich ertrage es nicht, wenn noch jemand um meinetwillen stirbt, verstehst du? Darum musst du mich gehen lassen!
Sisko saß wie erstarrt und sah auf die Blätter in seinem Schoß. Eine kleine Brise hatte sich erhoben und ließ sie leise rascheln. Im ersten Moment war er versucht, das soeben Gelesene als erfunden abzutun, aber als er jetzt den Blick hob und zu Zack hinübersah, auf dessen schmalen Rücken, wie er am Pickup lehnte und über den Parkplatz schaute, da war es plötzlich undenkbar, dass er sich eine solch abenteuerliche Geschichte ausgedacht haben konnte. Aber wenn er es als Wahrheit akzeptierte, was bedeutete das dann für ihn, für sie beide?
Sisko atmete tief durch, faltete die Blätter zusammen, stand auf und schob sie in seine hintere Hosentasche. Dann ging er zu Zack und räusperte sich. Sofort drehte der Junge den Kopf und sah Sisko traurig entgegen. Für einen Moment stand dieser einfach nur schweigend vor seinem Begleiter und bemühte sich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Schließlich sagte er: „Das klingt alles ziemlich unglaublich, wenn ich ehrlich bin, aber...,“ er hob die Hand in einer beschwichtigenden Geste, als die Körpersprache des Jungen dessen sofortigen Widerspruch signalisierte, „...das heißt nicht, dass es nicht die Wahrheit ist! Ich glaube dir, okay? Ich glaube es!“
Zack beruhigte sich, ließ seine Augen jedoch weiter forschend über Siskos Gesicht wandern. Schließlich nickte er, lehnte sich wieder an den Wagen und sah zu Boden. Mit einem Fuß scharrte er kleine Steinchen über den Asphalt, und Sisko lehnte sich mit verschränkten Armen neben ihn.
„Ich danke dir, dass du mir das alles erzählt hast.“ begann er vorsichtig. Er bewegte sich jetzt auf ungewohntem Terrain, und er kannte Zack nicht gut genug, um dessen Reaktionen einschätzen zu können.
„Jetzt verstehe ich vieles besser. Aber was ich nicht verstehe ist, warum du unbedingt allein weiter willst. Wo willst du überhaupt hin? Wenn ich deine Geschichte richtig behalten habe, musst du in diese „Grüne Zone“
rund um Atlanta, oder nicht? Das sind über 800 Meilen von hier. Willst du die zu Fuß zurücklegen? Und riskieren, dass diese Kerle dich wieder einholen?“
Zacks Reaktion bestand in einem widerwilligen Schulterzucken.
Sisko schüttelte den Kopf. „Hör zu, Kumpel!“ sagte er und schob die Hände in die Hosentaschen.
„Du schreibst, die Welt hätte sich verändert, und das sehe ich genauso. Wenn Dinge passieren können, wie die, die du da beschreibst, ist sie ganz sicher kein besserer Ort geworden. Und ich glaube nicht, dass es deine Chancen verbessert, wenn du allein da draußen unterwegs bist. Ich hab` gerade nichts anderes zu tun, und da ich ja nun auch kein Zuhause mehr habe, hätte ich nichts dagegen, dich nach Atlanta zu begleiten. Also sag nicht, ich soll dich gehen lassen, okay?“
Zack ließ sich von seinem lockeren Tonfall jedoch nicht täuschen, sondern musterte ihn stirnrunzelnd. Schließlich stieß er sich vom Wagen ab, ging hinüber zu seinem Klappstuhl und griff nach den Schreibutensilien, die er dort zurückgelassen hatte. Hastig kritzelte er etwas auf das oberste Blatt, kam zurück zu Sisko und hielt es ihm hin.
„Warum bist du so scharf drauf, mir zu helfen? Du kennst mich doch gar nicht!“ stand da.
Sisko betrachtete die eckigen Buchstaben und dann Zacks misstrauisches Gesicht. Innerlich seufzte er. Was sollte er darauf antworten? Er wusste es ja selbst nicht so genau. Alles was er hatte, waren irgendwelche vagen Gefühle. Wie sollte er die in Worte fassen?
Er atmete tief durch. Von Zack hatte er Ehrlichkeit verlangt und auch bekommen. Nun war es also wohl an der Zeit, sich zu revanchieren. Er hob die Schultern.
„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Es scheint mir einfach falsch zu sein, dich deinem Schicksal zu überlassen.“
Er überlegte kurz, während Zack weiter aufmerksam seine Miene studierte.
„Weißt du,“ fuhr er fort, in einem Tonfall, als redete er mit sich selbst – und vielleicht war das auch so, „ich habe all die Monate nach Ausbruch der Seuche allein auf meiner Farm gelebt, hab´ einfach weitergemacht und mich nur um mich selbst gekümmert. Ich hab´ immer gedacht, ich wäre allein besser dran, wäre stark und unabhängig, dass ich niemand anderen brauche. Trotzdem bin ich jeden Abend auf diesen Hügel gestiegen und habe Ausschau gehalten, ob jemand kommt. Aber ich hab´ nicht drüber nachgedacht, warum ich das tue. Das war wie ein Ritual, etwas was man tut, obwohl man längst den Sinn dahinter vergessen hat. Und dann ist plötzlich doch jemand aufgetaucht: Du! Und du brauchtest Hilfe! Ich hab´ nicht lange überlegt, sondern einfach reagiert. Ich kannte dich nicht und doch hab´ ich dich mitgenommen, hab´ dir angeboten zu bleiben und wenn ich ehrlich bin, tat es gut, plötzlich von jemandem gebraucht zu werden!“ Er stockte und lauschte dem Klang seiner eigen Worte nach. Und mit einem Schlag begriff er.
„Ich meine, was hatte mein Leben denn genaugenommen für einen Sinn?“ fuhr er fort, nun schon deutlich sicherer. „Es war reiner Selbstzweck. Ich war immer nur damit beschäftigt, mein eigenes Überleben zu sichern, Vorräte einzulagern und all sowas. Okay, das war ja ganz in Ordnung, aber jetzt, wo das alles ein Ende hat, wo die Sicherheit meiner Farm weg ist und ich mit dir auf der Flucht bin, jetzt fühle ich mich auf einmal lebendiger, als jemals zuvor! Halt´ mich meinetwegen für verrückt, aber ich glaube, es ist meine Aufgabe, dich zu begleiten, jedenfalls fühlt es sich so an. Ich möchte es tun, verstehst du?“
Er war sich vage der Tatsache bewusst, dass er ziemlich wirres Zeug faselte, zumindest in seinen eigenen Ohren war es das, aber als er Zack ins Gesicht blickte, wusste er trotzdem, dass es nichts anderes war, als die reine, ungeschminkte Wahrheit.
Obwohl er alles verloren hatte, was er früher als wichtig und wertvoll für sich bezeichnet hatte, obwohl eine Söldnertruppe auf der Jagd nach ihnen war, obwohl um sie herum eine Art Apokalypse die Menschheit heimsuchte, trotz all dieser Dinge fühlte Sisko sich wirklich freier und lebendiger als jemals zuvor in seinem Leben.
Noch immer betrachtete Zack forschend das Mienenspiel auf Siskos Gesicht, offenbar unschlüssig, wie er reagieren sollte. Doch er wurde einer Antwort enthoben, denn plötzlich erklang zunächst ein wütendes Knurren und Geifern, danach ein jämmerliches Winseln vom Rande des Parkplatzes, gleich darauf eine rauhe, ärgerliche Stimme und schließlich ein Schuss.
Die beiden Männer beim Pickup fuhren schlagartig herum.
„Spot!“ rief Sisko und blickte in die Richtung, aus der der harte, trockene Knall zu ihnen gedrungen war. Eine große, vierschrötige Gestalt stapfte von dort auf sie zu, ein Gewehr lässig über der Schulter.
„Spot!!“ Noch einmal rief Sisko nach seinem Hund, doch wie beim ersten Mal blieb alles still, und nirgends war auch nur ein Fitzelchen sandfarbenen Fells zu sehen.
Mit raschen Bewegungen fischte Sisko seine bereits geladene Winchester von der Ladefläche und reichte Zack die Pistole, mit der er bereits geschossen hatte. Er entsicherte seine Waffe und legte auf den Fremden an.
„Stehenbleiben!“ verlangte er mit tödlichem Ernst in der Stimme und ließ den Repetierhebel einrasten.
„Die Waffe runter und die Hände dahin, wo ich sie sehen kann!“
Der Angesprochene war bereits beim ersten Anruf stehengeblieben und kam nun auch dieser Aufforderung wortlos und ohne zu zögern nach.
„Geh´ und hol´ seine Waffe!“ wies Sisko nun Zack an und der nickte. Mit langen Schritten näherte er sich dem Unbekannten und hob dessen Gewehr auf, ohne dabei seine Pistole sinken zu lassen.
Zurück bei Sisko griff dieser nach der Waffe, sicherte sie, klappte sie auf und schüttelte die Patronen heraus.
Dann legte er sie beiseite und nahm erneut den Fremden ins Visier. Er hatte dunkle, kurzgeschorene Haare, trug eine Tarnhose und ein khakifarbenes Unterhemd. Die Füße steckten in klobigen Militärstiefeln, und an seinem Gürtel baumelte eine Messerscheide. Sein Gesicht wirkte jedoch freundlich und gutmütig, blaue Augen erwiderten Siskos Blick gelassen, und das kantige Kinn stand in seltsamem Widerspruch zu den vollen Lippen.
„Was hast du mit meinem Hund gemacht?“ fragte Sisko jetzt, und der Unbekannte verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln.
„Falls du diese Promenadenmischung meinst, der ich gerade das Fell gerettet habe – gar nichts!“ sagte er, und Sisko wechselte einen erstaunten Blick mit Zack.
„Was soll das heißen?“ wollte er wissen.
„Das soll heißen, dass er genau wie sein Herrchen nicht weiß, wann er einem Streit besser aus dem Weg gehen sollte!“ Das Lächeln wurde noch breiter. "Man legt sich nicht mit Stärkeren an."
Sisko runzelte die Stirn, er begriff nicht, was der Kerl damit meinte. Da zupfte Zack ihn plötzlich am Ärmel, und als er hinsah, bemerkte er, dass der Blick des Jungen in die entgegengesetzte Richtung ging. Er drehte rasch den Kopf und fand sich Auge in Auge mit einem schlaksigen Schwarzen, der ihn breit angrinste und eine Waffe auf ihn richtete.
Sisko schluckte.
Weder er noch Zack hatten bemerkt, dass der Mann sich ihnen genähert hatte. Und das, obwohl sie mitten auf einem leeren Parkplatz standen.
Zack neben ihm ließ die Pistole sinken, und Sisko tat es ihm gleich. Er schluckte. War das nun schon das Ende ihrer gemeinsamen Flucht?
Doch die beiden Männer überraschten ihn, indem auch der Farbige die Waffe senkte und ihnen im nächsten Augenblick seine große rechte Pranke hinhielt.
„Nun macht euch mal nicht gleich ins Hemd, Leute!“ sagte er dabei und lachte. „Ich bin Stick, und das da,“ er wies auf den anderen Mann, „das ist Bones. Euren Köter haben wir schon kennengelernt, denke ich, und wer seid ihr?“
Noch etwas benommen und verwirrt ließ Sisko sich die Hand schütteln und stellte sich und seinen Begleiter vor.
„Was ist mit dir, Junge? Hat die Katze deine Zunge geholt?“ wollte der Größere der Beiden wissen und musterte Zack abschätzend.
„Er kann nicht sprechen!“ beantwortete Sisko die Frage für ihn und erholte sich allmählich von der Überraschung und dem Schrecken. Die Männer nahmen diese Information zur Kenntnis, gingen jedoch nicht weiter darauf ein.
„Was macht ihr hier? Sieht aus, als wärt ihr gerade erst angekommen?“ führte der Farbige das Verhör fort.
„Wir kommen aus der Gegend von Dodger.“ erklärte Sisko. „Ich hatte da eine Farm. Leider gab es einen mächtigen Twister, und der hat alles zerstört. Und da haben wir beschlossen, mal nachzusehen, ob es irgendwo noch andere lebende Menschen gibt.“ schloss er seinen spärlichen Bericht. Er hatte nicht vor, den beiden auf die Nase zu binden, was er über Zack wusste, und an dem erleichterten Blick, den der Junge ihm zuwarf erkannte er, dass das diesem nur recht war.
Der, der sich Bones nannte, kratzte sich den Kopf, während er Sisko abschätzend musterte.
„Naja, da war es nicht die schlechteste Idee, hierher nach Kansas City zu kommen. Allerdings gibt es nicht so viele Überlebende in der Stadt. Vielleicht ein paar Dutzend, keine Ahnung. Stick und ich bleiben meistens unter uns. Gelegentlich sehen wir Andere in der Gegend, aber mindestens die Hälfte von denen ist krank, also kann ich nicht genau sagen, wieviele davon jetzt noch leben oder nicht. Was ist mit euch? Seid ihr gesund?“
Sisko nickte, und Bones nahm die Bewegung auf. „Das ist gut!“ meinte er. „Stick und ich auch. Scheint an uns vorübergezogen zu sein. Keine Ahnung wieso, aber wir sind fit wie Turnschuhe, was, Stick?“
Der Schwarze lachte und machte eine zustimmende Geste.
„Yeah! Du sagst es, Mann!“ Dann ließ er den Blick über die Ladefläche des Pickups wandern und Sisko fragte sich unwillkürlich, ob die Beiden hier in der Stadt ein gutes Auskommen hatten. Denn falls nicht, mussten seine und Zacks Besitztümer einen großen Reiz auf sie ausüben. Doch zu seiner Erleichterung machte der Schwarze nur eine beiläufige Geste mit dem Kopf und meinte: „Sieht aus, als wärt ihr nicht schlecht ausgestattet. Aber ihr solltet das nicht zu öffentlich zeigen. Wer weiß, wer euch sieht. Bones und ich haben alles, was wir brauchen, aber es gibt bestimmt genügend Typen hier, die verzweifelt oder verrückt genug sind, euch für eine Tasse Kaffee oder eine Büchse Dosenfleisch umzulegen!“ Er sah sie abschätzend an. „Oder die es zumindest versuchen.“
Darauf wusste Sisko nichts zu antworten. Er merkte jetzt ganz deutlich, dass er keine Ahnung hatte, wie es im Augenblick in der Welt aussah. Es schien, als hätte er wirklich in einer Art Oase gelebt, fern von der Realität. Allein der Gedanke, dass es tatsächlich Menschen geben sollte, die bereit waren, ihresgleichen für ein wenig Essen umzubringen, war so unglaublich, dass er ihn am liebsten als unmöglich abtun wollte. Aber das ging nicht, nicht mehr.
Stick und Bones tauschten einen Blick und gleich darauf fragte Bones: „Wollt ihr hier in der Stadt bleiben? Oder lieber gleich weiterfahren?“
Sisko versuchte an seinem Gesicht zu erkennen, wie er diese Frage meinte, doch sein Blick glitt an der unbewegten Miene ab. Er zuckte also die Achseln und meinte leichthin: „Keine Ahnung. Da haben wir uns noch nicht wirklich festgelegt.“
Stick lehnte sich mit einem Arm an den Truck und meinte: „Naja, falls ihr noch bleibt, könnt ihr erst mal bei uns unterkriechen. Natürlich nur, wenn ihr wollt.“
Misstrauisch sah Sisko von Einem zum Anderen und erwiderte stirnrunzelnd: „Bietet ihr das jedem an, den ihr zufällig in der Stadt auflest? Oder gibt’s einen besonderen Grund für euer Angebot?“ Er fühlte sich unbehaglich ohne seine Waffe und spürte genau, dass auch Zack neben ihm sich anspannte.
Die beiden Männer lachten.
„Pass auf, Sisko,“ sagte dann Bones und wurde ernst, „wenn wir darauf aus wären, euch umzulegen und den Wagen mit euren Sachen zu stehlen, dann hätten wir das längst tun können. Wozu euch noch in unseren Unterschlupf mitnehmen? Nein, Mann! Alles was wir wollen ist ein bisschen Gesellschaft. Zu zweit lebt es sich hier besser als allein und zu viert sicher besser als zu zweit, meinst du nicht? Zur Last fallen werdet ihr uns wohl eher nicht,“ er machte eine Kopfbewegung zur Ladefläche des Pickups hin und grinste, „und mit euren Waffen scheint ihr auch nicht nur zu spielen, oder? So wie ihr sie haltet, habt ihr beide zumindest ein bisschen Erfahrung damit.“
„Aha!“ Sisko war sich nicht sicher, ob ihn das was er hörte beruhigen sollte. „Und habt ihr keine Angst, dass wir euch gefährlich werden könnten? Vielleicht murksen wir euch im Schlaf ab und klauen euer Zeug?“
Doch Bones brach in amüsiertes Gelächter aus, als er das hörte und Stick stimmte ein.
„Nein, Mann!“ Bones schüttelte noch immer lachend den Kopf, stellte einen Fuß auf den Hinterreifen des Pickups und stützte den Ellbogen auf dem Knie ab. „Ganz sicher nicht. Oder, Stick?“
Der Gefragte schüttelte ebenfalls breit grinsend den Kopf und bestätigte: „Absolut nicht!“
Er stieß sich vom Wagen ab und krempelte den rechten Ärmel seines weißen T-Shirts hoch. Eine Tätowierung kam zum Vorschein, und er ließ Sisko einen langen Blick darauf werfen. Es handelte sich um einen Adler, der einen Dreizack und eine Pistole in den Krallen hielt, welche von einem Anker gekreuzt wurden. Darum herum waren die Worte „The only easy day was yesterday“ im Halbkreis angeordnet, und Sisko hörte, wie Zack überrascht die Luft einsog. Erstaunt sah er den Jungen an, der die Augen weit aufgerissen hatte und fasziniert auf die Tätowierung starrte.
„Weißt du, was das ist?“ fragte Sisko und Zack nickte eifrig. Er sah sich suchend um, griff dann nach Papier und Stift, die er bei der Ankunft der beiden Fremden eilig beiseite gelegt hatte und unter den Blicken der Umstehenden – Siskos neugierig und verwirrt, die der beiden Männer amüsiert – kritzelte er rasch zwei Worte auf das oberste Blatt, bevor er es Sisko reichte. Der sah darauf hinab und las: „Navy Seals“.
Er ließ das Papier sinken und sah zu den beiden Männern, die seinen Blick gelassen erwiderten.
„Ihr seid also Seals?“ Bones grinste und nickte, während Stick seinen Ärmel wieder herabgleiten ließ und sagte: „Naja, das waren wir zumindest mal. Bevor der rote Tod alles zerstört hat.“
Sisko überlegte. Dann verschrämkte er die Arme und meinte: „Von welchem Team der Seals seid ihr?“
„Seal Team Ten.“ antwortete Stick wie aus der Pistole geschossen. „Aus Little Creek, Virginia.“
„Da seid ihr weit weg von Zuhause, oder?“ Noch immer glomm Skepsis in Siskos Blick.
„Wem sagst du das, Mann?“ Bones schüttelte resigniert den Kopf, und Stick klopfte ihm auf die Schulter.
„Wir wurden hierher abkommandiert, als alles den Bach runterging. Hier war ein riesiges Auffanglager, wo alle gesammelt wurden, die weg wollten. Zuerst wurden sie untersucht, dann mussten sie noch in Quarantäne. Immer gruppenweise, Gruppen von 100 Leuten. Was das bedeutete, wenn einer von den 100 doch infiziert war, könnt ihr euch sicher denken? Die Lage war katastrophal. Die Soldaten, die hier eingeteilt waren, starben fast genauso schnell, wie die Lagerinsassen. Und als kaum noch welche übrig waren, haben sie die Seals gerufen. Inzwischen gab es hier schon eine gewaltige Rebellengruppe. Die Leute in der Stadt, egal ob Alteingesessene oder Neuankömmlinge hatten nicht genug zu essen, es gab praktisch keine ärztliche Versorgung, und alle hatten Angst. Jeder wollte nur weg hier, und wir hatten alle Hände voll zu tun, sie daran zu hindern, den Kontrollpunkt einfach zu überrennen. Eine ganze Menge Menschen sind hier nicht an der Seuche gestorben, sondern wurden beim Versuch erschossen, einfach nur ins Lager zu kommen!“ Er sah zu Boden. „Ich bin weiß Gott nicht stolz drauf, was ich hier getan habe, aber welche Alternative hatte ich? Ich bin Soldat, ein Seal, und Befehle waren da, um sie zu befolgen, so habe ich es gelernt!“ Er atmete tief durch, und es war offensichtlich, dass die Erinnerungen ihn bedrückten.
„Natürlich hat es nicht lange gedauert, bis auch in unserem Platoon die Jungs krank wurden. Es reichte ja, dass man ein einziges Mal unachtsam ist, und bis man merkt, dass man sich infiziert hat, hat man den Erreger schon an den nächsten Kameraden weitergegeben. Da hilft die beste Schutzkleidung auf Dauer nicht. Und irgendwann waren nur noch Bones und ich übrig. Zu der Zeit war das Lager längst geschlossen, die letzten Gesunden abtransportiert und die Stadt dem Untergang überlassen worden. Wir wurden zurückgelassen, zusammen mit den letzten Insassen. Aber auch die sind inzwischen alle tot, nur wir sind noch übrig. Wir wurden hier in dieser Hölle verheizt, und was hatten wir davon? Was hatte unser Land für uns übrig?“ Er spuckte verächtlich aus, und Sisko wurde es unbehaglich zumute beim Anblick von soviel unterdrückter Wut.
„Nichts. Gar nichts! Man hat uns versprochen, dass wir nach Ende des Einsatzes auch in die Grüne Zone
gebracht würden. Aber sie haben nur die Ärzte und die Wissenschaftler, die hier tätig waren ausgeflogen. Alle anderen wurden einfach ihrem Schicksal überlassen. Deshalb haben wir unsere Marken abgelegt. Außerdem ist vermutlich sowieso niemand mehr da, der nach uns fragen könnte. Aber jetzt sind wir frei, stimmt´s, Bones?“
Der Angesprochene nickte und ließ seinen Blick ernst von Zack zu Sisko gleiten.
„Wir fragen nach keiner Obrigkeit mehr!“ bestätigte er. „Uns hat keiner mehr was zu sagen!“
Sisko war sich nicht sicher, ob ihn das beruhigen sollte, oder nicht. Und darüber hinaus gab es noch immer den Funken Zweifel, tief drinnen. Er sah über den riesigen, leeren Parkplatz und stemmte die Hände in die Hüften.
„Hier war ein Lager, sagt ihr?“ Die Gefragten nickten und er fuhr fort: „Wieso sehe ich dann nichts mehr davon, außer ein bisschen Stacheldraht da drüben und die Panzersperren? Selbst nach einem Jahr müsste doch noch was zu sehen sein. Ihr habt von Quarantäneeinrichtungen gesprochen, von Wissenschaftlern und Ärzten. Die müssten doch was hinterlassen haben?“
Stick nickte erneut, und Bones übernahm wieder das Reden: „Du hast recht. Das war alles hier. Und ein Teil davon ist auch noch da. Drüben im Stadion stehen noch die Container, in denen die Menschen in Quarantäne saßen. Hier draußen war nur der Vorposten: Zelte für Soldaten und Ärzte, ein paar weitere Container für Laborzwecke und natürlich der Zaun. Zwei Meter Stacheldraht, Stahl und Signalgeber, falls jemand heimlich zwischen den Wachposten durchzuschlüpfen versuchte. Die Container im Stadion sind wie gesagt noch da, die sind potentiell verseucht, darum wurden sie zurückgelassen. Alles andere haben sie mitgenommen. Mit ein paar Transporthubschraubern kann man diese Container problemlos über den Luftweg transportieren. Alles was sie zurückgelassen haben, blieb nicht lange hier. Zelte, Lebensmittel, Ausrüstung, wer hier überleben will, kann praktisch alles gebrauchen, glaub mir. Das meiste haben Stick und ich mitgenommen und in unseren Unterschlupf gebracht und den Rest,“ er macht eine ausladende Geste mit der Hand, „tja, ich schätze, außer dem Stacheldraht hatten die Menschen der Stadt, die hiergeblieben sind, so ziemlich alles nötig.“
Er schwieg und tauschte einen Blick mit seinem Freund, woraufhin beide aufmerksam in die Runde spähten. Sisko folgte ihren Blicken, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken.
„Was ist?“ fragte er alarmiert, als die Männer sich spannten und nach ihren Waffen griffen.
„Wie ich schon vermutet hatte, ist eure Ankunft nicht unbemerkt geblieben.“ sagte Bones, ohne ihn anzusehen. „Und eure Ladung ist einfach zu verlockend für die Anderen. Allein der Geruch nach eurem Kaffe dürfte wie ein Signalfeuer gewirkt haben.“ Jetzt wandte er sich ihnen zu und gab ihm einen leichten Schubs Richtung Truck. „Los, steigt ein! Wir müssen hier weg.“
Sisko zögerte einen Augenblick. War das echte Besorgnis, oder eine Falle? Waren ihre Besitztümer für die Beiden wirklich so uninteressant? Er kam zu keiner Entscheidung. Ein kurzer Seitenblick auf Zack offenbarte ihm, dass der Junge ihn nicht aus den Augen ließ und scheinbar nicht gewillt war, einen Schritt ohne ihn zu machen.
„Worauf wartet ihr?“ rief Stick, der bereits in die Fahrerkabine geklettert war und noch einmal den Kopf ins Freie streckte, um sie anzutreiben. „Glaubt nicht, dass wir die Einzigen in der Stadt sind, die Waffen tragen. Und was sie uns an Können nachstehen, das gleicht die Verzweiflung wieder aus!“
Plötzlich ertönte lautes Gebell, und nur einen Moment später tauchte ein sandfarbener Blitz am Rand des Parkplatzes auf. Spot! Sisko leistete im Stillen Abbitte dafür, dass die Ereignisse der letzten Viertelstunde ihn nicht mehr an seinen Hund hatten denken lassen. Doch in die Erleichterung darüber, dass der Vierbeiner wieder zu ihnen stieß und offensichtlich unverletzt war, mischte sich nur Augenblicke später ein mulmiges Gefühl, denn hinter dem Hund erschien eine Gruppe von sechs Gestalten, die in lockerer Formation in ihre Richtung marschierten.
Sie wirkten nicht, als kämen sie auf einen Plausch, was allein schon die Knüppel und Gewehre bewiesen, die sie in den Händen hielten. Nur einen Herzschlag später hob einer der sich Nähernden seine Flinte, es knallte, und Sisko spürte den Luftzug einer Kugel, die ihn nur um Haaresbreite verfehlte.
Das bewirkte eine deutliche Beschleunigung von Siskos Entscheidungsfindung. Er gab Zack einen Stoß und bückte sich bereits, während er hervorstieß: „Los! Wirf die Sachen auf den Wagen – wir müssen weg!“
Keine halbe Minute später saßen sie im Truck und Sisko gab Gas, dass der Motor aufheulte und die Reifen quietschten. Ihre Frühstücksuntensilien schepperten auf der Ladefläche, wo sie sie achtlos hingeworfen hatten, und im Rückspiegel sahen sie, wie ihre Verfolger wütend die Arme schüttelten und einige weitere Schüsse in ihre Richtung abfeuerten. Zweimal knallte es metallisch, und der rechte Außenspiegel flog davon. Die zweite Kugel war zum Glück nicht in einem Reifen gelandet, hatte sich also vermutlich irgendwo in die Karosserie gebohrt.
Stick und Bones kauerten auf der Rückbank, die den beiden großen Männern kaum genug Platz bot, zumal auch Spot sich dorthin geflüchtet hatte. Erst als sie mehrere Straßenzüge hinter sich gebracht hatten, legte Stick Sisko die Hand auf die Schulter.
„Okay, Kumpel!“ sagte er beruhigend. „Du hast sie abgehängt, kannst dich also wieder beruhigen!“
Erst jetzt fiel Sisko auf, dass er das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass seine Fingerknöchel hervortraten. Nur mit einer heftigen Willensanstrengung konnte er sich dazu bringen, den Fuß vom Gas zu nehmen und den Griff zu lockern. Er atmete tief durch, nachdem es ihm gelungen war und sah hinüber zu Zack, der ebenfalls völlig verkrampft in seinem Sitz hockte, die Pistole im Schoß und den unsteten Blick in einem fort über den sichtbaren Teil der Umgebung gleitend. Auch ihm klopfte Stick jetzt begütigend auf den Arm.
„Ist okay, Junge! Glaub´ mir! Die sind wir erst mal los!“
„Und?“ mischte sich jetzt Bones ein und lehnte sich nach vorne. „Was ist jetzt? Wollt ihr mit in unser Versteck kommen oder nicht?“
Sisko warf einen Blick hinüber zu Zack, der ihn ebenso fragend anstarrte, wie die beiden ehemaligen Elitesoldaten.
„Was meinst du?“ fragte er den Jungen, und der zögerte keine Sekunde. Heftig nickend gab er seine Zustimmung und so erklärte auch er schließlich sein Einverständnis.
„Okay.“ sagte er, bemühte sich, die Zweifel, die er noch immer hatte, in seinem Tonfall nicht anklingen zu lassen und rang sich ein Lächeln ab. Er hätte nicht benennen können, was ihn so skeptisch machte. Es war nicht mehr als ein vages Gefühl des Unbehagens, ohne dass er den Finger auf einen bestimmten Punkt hätte legen und sagen können: „Das ist es!“
Oder war er schlicht überempfindlich, nach dem was auf seiner Farm passiert war?
Verdammt!
dachte er, Wenn die Zwei uns hätten töten wollen, dann
hätten sie das vorhin mit Leichtigkeit tun können! Jetzt reiß´ dich mal zusammen und hör´ auf, an jeder Ecke Gespenster zu sehen!
Entschlossen verdrängte er sein Misstrauen und konzentrierte sich auf die Anweisungen, wie er zu fahren hatte, welche ihm Bones jetzt von hinten gab.
Eine gute Viertelstunde später hielten sie vor einem heruntergekommen wirkenden ehemaligen Lagerhaus in einem abgelegenen Viertel der Stadt. Hier gab es weit und breit keine Wohnhäuser, nur Lagerhallen und kleinere Industriebetriebe. Einige der Gebäude in der Nachbarschaft sahen aus, als hätten dort vor längerer Zeit Brände gewütet und vermutlich war dem auch so. Das Haus, vor dem sie nun hielten schien jedoch intakt zu sein, hatte sogar noch sein großes Rolltor zur Straße hin, welches heruntergelassen war und aussah, als sei es seit Ewigkeiten nicht mehr bewegt worden.
Bones und Stick sprangen beide aus dem Wagen und während der Farbige sich nach allen Seiten aufmerksam umschaute, ging sein Kumpel zur Seite des Gebäudes, wo er einen Kistenstapel beiseite rückte, hinter dem eine Schalttafel zum Vorschein kam. Er drückte ein paar Knöpfe und gleich darauf begann das Rolltor sich zu heben, nicht geräuschlos, aber immerhin viel geschmeidiger und müheloser, als man hätte erwarten können.
Sisko und Zack sahen staunend zu, wie eine geräumige Einfahrt sichtbar wurde. Stick winkte ihnen zu und bedeutete Sisko, er sollte hineinfahren, was dieser mit einem mulmigen Gefühl auch tat.
Kaum waren sie drinnen, schlüpften auch Stick und Bones hinein, und der Farbige betätigte einen roten Knopf an einem Schaltelement neben dem Rolltor, woraufhin sich dieses wieder schloss.
Sisko sah sich um und Zack tat es ihm gleich. Er hatte keine Ahnung, welchem Zweck diese Halle früher einmal gedient haben mochte, jetzt war es jedoch unverkennbar eine bewohnte Festung. In einer Ecke stapelten sich Konserven und Trockennahrung, die ganz offensichtlich aus Armeebeständen stammte. Zusammengerollte Stoffbahnen in Tarnfarben, die er schließlich als Zelte identifizierte lagen gleich daneben, Wasserkanister, Waffen, Munition, technische Ausrüstungsgegenstände, Kisten mit unbekanntem Inhalt und vieles mehr stapelte sich an den Wänden entlang. Neben einer schmalen Tür hing ein Waschbecken an der Wand und zwei Feldbetten markierten den Bereich, wo Stick und Bones offensichtlich „wohnten“. Auf einem kleinen, verkratzten Tisch stand eine doppelte, reichlich verkrustete Kochplatte, und gerade als sich Sisko fragte, ob die Männer noch Strom hatten, entdeckte er den Generator.
Bones war seinem Blick gefolgt und stemmte jetzt die Hände in die Hüften. „Mach dir keine zu großen Hoffnungen. Den Generator benutzen wir nur, wenn es unbedingt sein muss, und gekocht wird hier schon lange nicht mehr. Das Ding“, er machte eine Kopfbewegung zu der Kochstelle, „haben wir vor Monaten zuletzt benutzt. Unser Diesel ist zu kostbar, als dass wir es dafür verschwenden. Um eine Konserve aufzuwärmen, reicht auch ein Campingkocher und notfalls schmeckt es auch kalt.“
„Aber heute gibt’s doch was zu feiern, Kumpel!“ mischte sich Stick ein. Er war von Sisko unbemerkt herangekommen und schlug ihm jetzt mit Kraft auf die Schulter, dass er beinah in die Knie ging.
„Meint ihr nicht?“ Er grinste breit, und in Siskos Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit.
„Heute werden wir mal wieder so richtig gut essen!“ ergänzte der Farbige und verschwand in Richtung des Konservenstapels.
Sisko wechselte einen Blick mit Zack, fand in dessen Gesicht aber nichts von seinem eigenen Misstrauen und beschloss ein weiteres Mal, es auf die Vorfälle auf seiner Farm zu schieben, dass es ihm nicht vollständig gelang, sich zu entspannen und die Tatsache zu würdigen, dass sie andere Menschen getroffen hatten, die zu allem Überfluss nicht feindlich eingestellt waren.
Dennoch blieb die Spannung in seinem Körper erhalten, selbst als er sich eine Viertelstunde später zusammen mit Zack an den abgewetzten Tisch setzte, der zwischen den Feldbetten stand und anfing, Hühnereintopf zu löffeln. Die beiden ehemaligen Seals hatten sich auf ihre Feldbetten gehockt, denn es gab nur zwei wacklige Stühle.
Für Sisko war es nun wirklich kein Festmahl, auf seiner Farm hatte er besser gegessen, doch Stick und Bones und auch Zack aßen mit gutem Appetit. Spot kaute geräuschvoll auf einer Portion Trockenfutter und schien ebenfalls zufrieden.
Nach dem Essen machten sich Zack und Bones an den Abwasch, der möglichst rasch erledigt wurde, um Wasser zu sparen. Sisko sah ihnen versonnen dabei zu und Stick, der auf einem Zahnstocher kaute, musterte ihn aufmerksam.
„Ich kann mir nicht helfen, Kumpel,“ sagte er, „aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du uns nicht traust. Oder irre ich mich?“
Sisko wurde verlegen. Konnte man ihm seine Gefühle so deutlich ansehen? Er räusperte sich umständlich, bevor er erwiderte: „Naja, nimm es mir nicht übel, aber …. wieso nehmt ihr uns mit hierher? Ihr braucht uns nicht! Also wieso sind wir hier?“
Der ehemalige Seal musterte ihn weiter nachdenklich und grinste schließlich breit.
„Wurdest du so misstrauisch geboren, oder bist du erst so geworden?“ Er brach in amüsiertes Gelächter aus, an dessen Ende er das Hölzchen aus dem Mund nahm.
„Sisko, entspann´ dich! Ich hab´s dir doch schon mal erklärt – das letzte Jahr hier war verdammt einsam. Wir sind Seals, ja, aber wir sind auch Menschen, und so hübsch Stick auch sein mag,“ er lachte noch einmal auf, „es ist ganz nett, mal ein paar andere Gesichter zu sehen. Das ist alles! Bleibt ein paar Tage hier, und wenn ihr keinen Bock mehr auf uns habt, dann zieht weiter, okay?“
Sein Blick war offen und wirkte ehrlich, sodass Sisko sich endlich entspannte – ganz wie Bones gesagt hatte.
Die nächsten Stunden vergingen in angeregter Unterhaltung, und allmählich taute auch Sisko auf, zumal Stick irgendwann eine Flasche mit echtem Bourbon hervorholte. Der löste die Zungen, und schließlich saßen sie beisammen und erzählten sich gegenseitig Geschichten aus früheren Tagen, schimpften zusammen, lachten gemeinsam und – mussten endlich gewaltig pinkeln.
Sisko erhob sich leicht schwankend und fragte: „Wo kann man denn bei euch …? Ihr wisst schon?“
Stick nickte und deutete auf die schmale Tür an der Rückseite der Halle.
„Da hinten!“ Er grinste breit. „Da haben wir eine behelfsmäßige Latrine eingerichtet!“
„Was Stick meint ist, dass da drin ein Eimer steht!“ Bones lachte laut auf. „Ich hoffe, damit kommst du klar! Fließendes Wasser gibt’s nämlich schon lange keins mehr!“
Sisko betrachtete ihre Gastgeber, denn er war nicht sicher, ob das ernst oder ein Scherz war, doch er konnte sich nicht entscheiden und trabte schließlich in die angezeigte Richtung. Als er die Tür geöffnet hatte, fiel sein Blick tatsächlich auf einen Blecheimer, der wenig appetitlich aussah. Er hörte noch, wie Bones ihm nachrief: „Fall nicht rein, Kumpel!“, was eine neue Salve meckerndes Gelächter aus drei Kehlen zur Folge hatte und schloss seufzend die Tür hinter sich. Ein schmales Oberlicht weit oben ließ trübes Tageslicht in den winzigen Raum, genau wie draußen in der Halle, und er fragte sich kurz, wie die Beiden das nachts lösten. Ob sie mit Taschenlampen zum pinkeln gingen?
Er öffnete seinen Hosenschlitz und erleichterte sich, horchte dabei auf das gedämpfte Gelächter und die Satzfetzen die durch die Tür zu ihm drangen. Plötzlich überrollte ihn ein heftiger Schwindel, sodass er sich mit einer Hand an der Wand abstützen musste.
Verflucht! Hatte er soviel getrunken? Es waren doch nur … Moment? … er rechnete kurz nach und kam zu dem Ergebnis, dass er lediglich drei Gläser Bourbon getrunken hatte.
Er war zwar kein Gewohnheitstrinker, aber drei Gläser Whiskey dürften ihn doch nicht so umhauen?
Er kniff die Augen zusammen, als das Muster des Wandanstrichs zu verschwimmen begann. Gleich darauf spürte er, wie ihm die Knie weich wurden und musste auch die zweite Hand zu Hilfe nehmen, um nicht zu fallen.
Sein Gehirn arbeitete irgendwie verlangsamt, und sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren.
Was war denn nur los?
Er musste zurück zu den Anderen, zurück zu … Zack? Seine Gedanken verwirrten sich. Zack? Wer war Zack? Wieso hatte er das Gefühl, nicht nur er selbst schwebte in Gefahr? Wo war er überhaupt?
Bunte Schlieren tanzten durch sein Blickfeld, während er sich an der Wand entlang zur Tür tastete. Mit fahrigen Händen suchte er den Griff und fiel beinah in die Halle hinaus. Der gesamte Raum schien sich auf und ab zu bewegen, wie ein Schiff bei hohem Seegang und das Gelächter das ihn empfing, schien plötzlich nichts Menschliches mehr zu haben, sondern glich dem höhnischen Lärmen von Dämonen und Teufeln. Und als Sisko mit zusammengekniffenen Augen genau hinschaute, saßen da auch keine Menschen mehr, sondern drei missgestaltete Kreaturen mit großen Insektenaugen und zerfetzten Fledermausflügeln auf dem Rücken.
Er war in die Fänge einer echten Teufelsbrut geraten! Entsetzt stöhnte er auf, drehte sich im Kreis und suchte mit den Augen nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber wohin er auch schaute, nirgends sah er etwas anderes, als scharfkantigen, mit Schleim überzogenen Fels, schwach beleuchtet von blakenden Fackeln, die in großen Abständen an den Wänden befestigt waren.
Sisko stöhnte auf – was sollte er jetzt tun? Er musste hier weg, aber er hatte keine Ahnung wie! Zudem fühlten sich seine Gliedmaßen an, als wären sie mit Blei gefüllt, er drehte sich hilflos um die eigene Achse, bis er schließlich schwer zu Boden sackte. Einen Augenblick später erschienen zwei der dämonischen Fratzen direkt über ihm, und er wollte aufspringen, schreien, um sich schlagen - doch alles was er zustande brachte, war ein schwaches unkoordiniertes Zappeln und ein gutturales Grunzen.
Befriedigt grinsten die Fratzen über ihm, und er hörte, wie der Eine zum Anderen sagte: „Das hätten wir geschafft, Kumpel – der ist aus wie ein Licht! Jetzt sollten wir uns um den Kleinen kümmern, meinst du nicht?“
Ein dreckiges Lachen folgte und dann wurde es dunkel um Sisko, als er tief in seinen höllischen Alpträumen versank.
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2012
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