Cover




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Der Mensch wird von seiner Vergangenheit geformt, fast könnte man sagen, er ist das Ergebnis derselben. Wieviele Weichen werden in der Vergangenheit eines Menschen gestellt und dann läuft er wie auf Schienen auf dem vorgezeichneten Weg?
Schwierig ist es allemal, einem solchen vorgegebenen Weg zu entkommen, für die meisten Menschen schlicht unmöglich.
Wie gelingt es einem, die Weiche in eine andere Richtung zu stellen, das eigene Leben in andere Bahnen zu lenken?
Auf sich allein gestellt, eine schier unlösbare Aufgabe. Die wenigsten Menschen haben die Art von Willenskraft, die man dafür benötigt, und die wenigen, denen es aus eigener Kraft gelingt, sind gesegnet zu nennen.
Doch selbst, wer sich dieser Aufgabe nicht allein stellen muss, kann längst nicht sicher sein, dass er Erfolg hat ....

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Regen spülte über die Stadt, wusch die Dächer der Häuser, gluckerte durch Fallrohre, plätscherte auf die nassglänzenden Gehwege und wurde von den Reifen der vorbeifahrenden Autos zischend wieder in die Höhe geschleudert, bevor er als schmutzige Flut in den Gullys verschwand.
Es war spät in der Nacht, und der Schein der Straßenlaternen spiegelte sich in unzähligen Pfützen. Nur wenige Menschen waren noch unterwegs, hasteten mit hochgeschlagenen Mantelkragen eilig dahin, oder verbargen sich unter den schützenden Dächern hastig aufgeklappter Regenschirme.
Einer jedoch bildete eine Ausnahme: Ein junger Mann, leicht schwankend und sich mit einer ausgestreckten Hand buchstäblich an den Hauswänden entlangziehend, in einem leichten, hellen Sommeranzug, der durchweicht, aber auch zerrauft und stellenweise dreckig war, als hätte sein Träger irgendwo im Schmutz gelegen.
Sein blondes Haar klebte ihm wie ein Helm am Kopf, den er gesenkt hielt, sodass niemand sein blutiges, zerschlagenes Gesicht sehen konnte.
Alle paar Schritte blieb er stehen, die freie Hand in Magenhöhe auf den Bauch gepresst und krümmte sich schmerzhaft zusammen. Niemand nahm von ihm Notiz - zumindest hatte es den Anschein.
Dies war eine Großstadt, da konnte es gewaltigen Ärger mit sich bringen, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. An dieser Straße lagen einige Bars und andere Nachtlokale, und auch wenn dieses Viertel nicht zu den wirklich üblen der Stadt gehörte, so war man auch hier vorsichtig.
Jetzt hatte der Blonde den Eingang zu einer Kneipe erreicht, welcher ein Stück ins Haus zurückgesetzt lag und daher Schutz vor dem Wolkenbruch versprach. Die Lichter des Lokals waren bereits erloschen, und der junge Mann taumelte mit letzter Kraft aus der Nässe in die schützende Deckung des Eingangs, lehnte sich an die Wand und rutschte dann daran hinunter.
Wasser tropfte aus seinen Haaren in sein ohnehin nasses, verschmiertes Gesicht, und er schloss leise stöhnend die Augen. Es war offensichtlich, dass er Schmerzen hatte, aber es war niemand in der Nähe, der sich darum geschert hätte.
Plötzlich öffnete sich quietschend die Eingangstür der Kneipe, und ein Mann kam heraus. Er trug ein helles Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, und eine Lederjacke über dem Arm. In einer Hand hielt er einen klirrenden Schlüsselbund, in der anderen einen zusammengefalteten Regenschirm. Im rechten Mundwinkel hing eine qualmende Zigarette, und sein glattes, dunkles, gut schulterlanges Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Als er den Sitzenden erblickte, stutzte er, doch nur einen Augenblick, dann stieß er ihn mit dem Fuß an und sagte: „Hey, Du! Hier kannst Du nicht sitzen! Geh´ nach Hause und schlaf´ da Deinen Rausch aus!“
Der Angesprochene rührte sich nicht, und seufzend machte der Sprecher sich daran, zunächst die Kneipentür abzuschließen und zu verriegeln. Anschließend ging er in die Hocke und berührte den Kauernden an der Schulter.
Er rüttelte ihn und rief erneut: „Hey! Hörst Du mich?“ Noch immer erfolgte keine Reaktion, die über ein schwaches Zucken hinausging, und der Dunkelhaarige brummte missmutig: „Immer diese Besoffenen!“
Dann fasste er nach dem Arm des Sitzenden und wollte ihn auf die Beine ziehen, woraufhin der einen erstickten Laut ausstieß und mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf in den Nacken legte.
Jetzt erst konnte der Mann mit dem Pferdeschwanz einen ungehinderten Blick ins Gesicht des Blonden werfen, und plötzlich riss er die Augen auf.
„Jan?“ rief er und hätte den Arm fast losgelassen. Im letzten Augenblick fasste er jedoch wieder fester zu, und nun blinzelte auch der Blonde aus zusammengekniffenen Augen sein Gegenüber an. Gleich darauf verzogen sich seine aufgeplatzten Lippen zu einem schiefen Grinsen.
„Noah? Na, das ist ein Ding!“
Zu mehr war er nicht in der Lage, denn kaum hatte er ausgesprochen, fiel sein Kopf vornüber, die Beine knickten ihm vollends ein, und er verlor das Bewusstsein.


… „Nicht! Bitte hör´ auf! Schlag´ mich nicht mehr!“ flehte der Junge, doch der große Mann über ihm knurrte nur.
„Halt´s Maul! Tu was ich Dir sage, dann muss ich Dich auch nicht schlagen! Los, komm´ her!“
Seine riesigen Hände griffen nach den schmalen Handgelenken des zierlichen Teenagers. Er riss ihn zu sich heran und warf ihn auf sein Bett. Grob zerrte er ihm die Hose samt Unterhose herunter, und der Junge kniff wimmernd die Augen zusammen.
An der Wand über seinem Bett hing ein Poster. Es zeigte einen exotischen Strand. Eine einzelne Palme wiegte sich in einer leichten Brise und neigte ihre Wedel über den weißen Sand, in dem sich noch keine einzige Fußspur abzeichnete. Rein und unberührt lag der Strand da, sachte von den türkisfarbenen Wellen des Ozeans umspült, und nichts und niemand störte diesen Frieden.
Dorthin träumte sich der Junge bei Gelegenheiten wie dieser, wenn er rauhe Hände auf seinem Körper spürte, der noch von den Schlägen des Mannes schmerzte, welcher vor einem knappen Jahr als Vaterersatz an der Seite der Mutter in sein Leben getreten war.
Zuerst hatte der Junge gehofft, nun würde alles anders, und es könnte auch für ihn noch einmal Glück und Freude geben. Immerhin war seine Mutter doch jetzt glücklich, oder nicht? Vielleicht fiel dann ja auch ein bisschen davon für ihn ab?
Aber dann war sein Traum auf die grausamste nur denkbare Weise geplatzt, und er stürzte aus seinem grauen, freudlosen Dasein geradewegs in die Hölle.
Was hatte er nur Schlimmes getan, dass ihm so etwas widerfuhr?
Oder verdiente er es ganz einfach nicht, glücklich zu sein?
Schnaufend bewegte sich der große Mann über ihm, presste ihn in die Matratze mit seinem Gewicht, und während der Junge seine innere Flucht antrat, indem er sich an den fernen Strand träumte, wo es nur Sonne gab und Sand und blaues Meer, wurde sein Körper schlaff.
Er spürte keine Schmerzen mehr, stattdessen kitzelte die Sonne seine Haut, der sanfte Wind streichelte ihn, und die Luft roch salzig. Von irgendwoher rief ihn eine Stimme, und als er hochsah, kam seine Mutter auf ihn zugelaufen. Sie winkte und lächelte und sah wieder aus wie früher, bevor sein Vater mit einer anderen Frau fortgegangen war. Glücklich, entspannt, voller Lebendigkeit, aber vor allem herrlich jung und unbeschwert, strahlte sie ihn an und schloss ihn in die Arme.
Das stickige Kinderzimmer, wo der große Mann jetzt grunzend sein Werk an ihm verrichtete, war weit fort, in einer anderen Galaxie und konnte ihn nicht mehr erreichen.
Erst lange nachdem sein Stiefvater den Raum verlassen hatte, kehrte der Junge zurück in die graue Realität.
Er rollte sich zusammen und blieb liegen, den Blick starr auf das Poster gerichtet. Alles tat ihm weh, er fühlte sich schmutzig und hatte nicht nur das Bedürfnis sich zu waschen, sondern hätte sich am liebsten die Haut komplett abgezogen, um in eine neue zu schlüpfen. Aber selbst eine Katzenwäsche musste warten, bis seine Mutter und sein Stiefvater eingeschlafen waren.
Obwohl es schon Abend war, war seine Mutter noch nicht zuhause - sie ging putzen, denn das Geld war immer knapp - und aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher. Er wusste, jetzt saß der große Mann vor dem Bildschirm und trank, ein Bier nach dem anderen.
Weil der Junge keinen Schlüssel mehr für seine Tür besaß, konnte er sich nicht davor schützen, falls sein Stiefvater beschloss, ihn ein zweites Mal aufzusuchen. Zum Glück kam das nur selten vor, aber man konnte nie wissen. Er blieb also einfach liegen, wie der große Mann ihn zurückgelassen hatte, mit heruntergestreifter Hose und blankem, brennendem Hintern.
Ob seine Mutter ahnte, was zuhause vorging, wenn sie nicht da war?
Der Junge bezweifelte, dass sie ihm helfen würde, selbst wenn sie es wüsste. Er war ihr doch längst gleichgültig geworden.
Vor noch gar nicht so langer Zeit hatte er einmal plötzlich ihren Blick auf sich gespürt, hochgeschaut und gesehen, dass sie ihn betrachtete, wie etwas, was die Katze ins Haus geschleppt hatte. Fast hatte er erwartet, dass sie im nächsten Augenblick den Schrubber aus der Kammer holte und ihn mit lautem „Sch! Sch!“ zur Tür hinausscheuchte, wie ein lästiges Ungeziefer ...




Noah stand am Fenster seines Wohnzimmers und sah hinaus in den noch immer strömenden Regen. Im Osten wurde es langsam eine Spur heller, denn es war fast fünf Uhr früh, aber wegen der dichten Wolkendecke bemerkte man das an diesem Morgen nur, wenn man genau hinsah. Es hatte den Anschein, als würde es noch eine ganze Weile weiterschütten, und wegen des dicht verhangenen Himmels dauerte es bestimmt noch lange, bis es vollends hell wurde.
Es war Juli, aber von Sommer merkte man noch nicht sehr viel. Die Temperaturen kamen selten über zwanzig Grad hinaus, und es regnete genug, dass man aufpassen musste, nicht noch Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen zu entwickeln.
Aber so sehr sich Noah sonst über den miesen Start in den Sommer ärgerte, so wenig dachte er jetzt daran.
Sein Blick ging zwar aus dem Fenster nach draußen, aber er sah nichts von dem, was sich auf der anderen Seite des Glases befand. Vielmehr reichte er sehr viel weiter, zurück in eine Vergangenheit, in der er und der blonde Mann, der nun noch immer ohne Bewusstsein auf seinem Sofa lag, einander gekannt hatten …



Die Sonne knallte heiß vom Himmel. Es war erst Ende Mai, aber seit einer Woche herrschte eine Hitzewelle, mit Tagestemperaturen von mindestens 30 Grad. Mensch und Tier stöhnten unter der Dunstglocke, die sich über die Stadt gestülpt hatte. Jeder, der es irgend einrichten konnte, floh spätestens ab Mittag vor der Hitze und suchte Abkühlung im Schatten, im Schwimmbad oder an irgendwelchen Badeseen.
Noah sah sich um und wischte sich träge den Schweiß von der Stirn. Er und ein Dutzend andere Jungs hockten im von Unkraut und dichtem Gestrüpp überwucherten Hinterhof eines leerstehenden Hauses. Es war ihr Treffpunkt, hier sammelte sich „die Gang

“, wie sie sich selbst nannten, hier tranken sie Alkohol, hörten laute Musik, rauchten und experimentierten mit Drogen.
Dort fühlten sie sich stark und erwachsen, weil sie genau wussten, das hier war ihr Revier, und kein Erwachsener kam her, um es ihnen streitig zu machen.
Nur die Polizei kam ab und an und verjagte sie, wenn sich die Anwohner der umliegenden Häuser beschwerten, manchmal nahm sie stattdessen auch ein paar von ihnen mit zur Wache, aber das hielt die Übrigen nicht davon ab, sich weiter hier zu treffen.
Ihr oberster Boss war Marc. Er ging auf die gleiche Schule wie Noah, war allerdings im Abschlussjahrgang der Hauptschule und nicht wie Noah in der zehnten Klasse des Gymnasiums.
Marc war groß und brutal, keiner mit dem man freiwillig Streit suchte. Mit seinen knappen 1,90 m und den breiten Schultern wirkte er mehr wie ein erwachsener Mann, als wie ein Junge, und das war nicht so sehr verkehrt. Dass er noch zur Schule ging, verdankte er lediglich der Tatsache, dass er so oft sitzen geblieben war.
Wer allerdings den Fehler machte, ihn als Dummkopf abzutun, unterschätzte ihn gewaltig. Zwar war an ihm keine Intelligenzbestie verlorengegangen, aber er war clever genug, bereits jetzt ein florierendes Geschäft sein eigen zu nennen.
Natürlich keines, das man in irgendeinem respektablen Gewerbeviertel finden konnte, und auch ein Geschäftsgebäude suchte man vergebens, aber in bestimmten, zwielichtigen Kreisen hatte er sich bereits einen Namen gemacht. Das war auch der Grund, warum er sich nicht im Geringsten darum scherte, wenn seine Leistungen in der Schule so schlecht waren, dass er sie vermutlich ohne Abschluss verlassen würde.
Er ging dort sowieso nur noch hin, weil sein Vater darauf bestand, und der war die einzige Person in seinem Umfeld, vor der er noch den Schwanz einkniff.
Sein alter Herr war ein Bär von einem Mann, mit Fäusten wie Schmiedehämmer, und er zögerte nicht, sie auch bei seinem Sohn einzusetzen, besonders wenn er getrunken hatte. Komischerweise schienen ihm die Zensuren, die Marc nach Hause brachte, egal zu sein, ihm kam es nur darauf an, dass er überhaupt zur Schule ging.
Manchmal tönte Marc im Kreise seiner Freunde, dass er es kaum erwarten konnte, die Schule abzuschließen, denn dann wollte er auf der Stelle von zuhause ausziehen. Sein 18. Geburtstag lag in nicht allzu großer Ferne, und Geld für eine eigene Wohnung hatte er längst genug.
Noah wollte nicht unbedingt wissen, womit Marc das Geld im Einzelnen verdiente, mit dem er immer um sich warf. Er war sich auch so sicher genug, dass es mindestens an der Grenze zur Illegalität lag, wenn nicht dahinter.
Ein paar der Jungs aus der Gang waren daran beteiligt, sie waren der harte Kern und hielten dicht. Die Übrigen, darunter auch Noah, waren am ehesten sowas wie Mitläufer, die die Gelegenheit nutzten, aus dem spießigen Alltag auszubrechen und ein bisschen den Kitzel des Verbotenen zu spüren.
Noah nahm sich da nicht aus.
Er stammte aus einer wohlhabenden Familie, und Verhältnisse wie die in Marcs Zuhause hatte er früher nur aus dem Fernsehen gekannt. Er war immer ein guter Schüler gewesen, ein gehorsamer Sohn, eben der nette Junge von nebenan. Er hatte einen Bibliotheksausweis besessen, hatte Tennis und Klavier gespielt und alten Damen über die Straße geholfen.
Aber eines Tages war er aufgewacht und hatte festgestellt, dass das nicht sein

Leben war, was er da führte.
Er war siebzehn Jahre alt und hatte noch nie etwas getan, weil er es wollte, sondern immer nur, weil es von ihm erwartet wurde und er immer geglaubt hatte, er müsse diesen Erwartungen entsprechen.
Von heute auf morgen krempelte er sein Leben komplett um, sehr zur Sorge seiner Eltern und Lehrer.
Seinen Bibliotheksausweis warf er fort, den Tennisschläger zerbrach er, und alte Damen ignorierte er fortan, wenn er sie sah.
Aber das reichte noch nicht.
Noch immer hatte er das Gefühl, in seinem Leben fehle etwas, und so suchte er weiter, auf immer extremeren Wegen. Er hatte bei einer Gruppe von S-Bahn-Surfern mitgemacht, Autos geknackt und illegale Rennen damit gefahren, und nicht zuletzt hatte er natürlich auch Drogen ausprobiert. Haschisch, Partypillen und einmal sogar LSD. Die Erfahrung mit Letzterem hatte ihm aber fürs Leben gereicht, und er beschränkte sich seither lieber auf einen netten Joint ab und an und eben besagte Pillen.
Manchmal war er über sich selbst erstaunt, wie leicht es ihm fiel, über die Sorgen seiner Eltern hinweg zu gehen. Es war ja nicht so, dass sie ihm gleichgültig waren, aber sie hatten in den letzten Jahren ohnehin nur eine Nebenrolle in seinem Leben gespielt.
Sie waren vielmehr eine Art von Statisten, Gesichter am selben Tisch, sogar beim Essen über Handy oder Blackberry gebeugt, auf der Jagd nach dem nächsten lohnenden Geschäft, dem nächsten großen Deal.
Da kam Noah am ehesten die Rolle eines teuren Prestigeobjekts zu, etwas, was man eben hatte, weil es dazugehörte.
„Mein Haus, mein Auto, mein Sohn!“

, in dieser Reihenfolge.
Ihre besorgten Appelle berührten ihn längst nicht mehr, er war auf der Suche nach sich selbst, und er würde nicht innehalten, bevor er sich nicht gefunden hatte – oder bevor irgendetwas Schreckliches IHN fand.
Und an diesem heißen Nachmittag vor mittlerweile über zehn Jahren, bekam er einen ersten Vorgeschmack darauf, was das sein konnte. Obwohl er nun schon ziemlich lange in immer neuen Extremen lebte, wurde ihm an diesem Tag erst klar, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was es bedeutete, in Extremen leben zu MÜSSEN.
Ein Hauch davon wehte ihn kalt an, als er, auf der Suche nach einem ruhigen Fleckchen ohne das Gedudel eines Ghettoblasters oder das Geschwätz der anderen Jungs, durch das Gebüsch rund um das Abbruchhaus kriechend, plötzlich auf Marc stieß, wie er über einem Jungen aufragte, der bäuchlings halbnackt unter ihm kniete, die Finger in den staubigen Boden gekrallt und leise stöhnend, während der hünenhafte Anführer ihn von hinten bearbeitete und zwischen seine gespreizten Beine pumpte.
Als Noah wie erstarrt stehenblieb, hob Marc den Kopf, erkannte ihn und grinste.
„Willst Du auch mal, wenn ich mit ihm fertig bin?“ feixte er, ohne seinen Rhythmus zu verändern, doch Noah hatte sofort den Kopf geschüttelt. „Nein, vielen Dank. Das ist nichts für mich.“
In diesem Moment sah auch der Junge hoch, und Noah fühlte, wie sein Inneres gefror. Der war doch noch ein halbes Kind, konnte kaum älter als dreizehn, höchstens vierzehn Jahre alt sein!
Wo hatte Marc den aufgegabelt, und was dachte er sich bei einer solchen Aktion?
Sein Erschrecken musste ihm im Gesicht gestanden haben, denn Marc fing an zu lachen und richtete sich ein wenig auf. Er packte den Jungen, zog ihn vor sich hoch und gewährte Noah auf die Weise einen deutlichen Einblick zwischen seine dünnen Beine.
„Was machst Du denn für ein Gesicht?“ keuchte er, während der Junge den Kopf in den Nacken legte und das Gesicht verzog. „Denkst Du etwa, das wäre ´ne Vergewaltigung? Ts!“ Er fasste nach vorne, wo der noch ziemlich kindlich wirkende Penis des Jungen sich halb aufgerichtet hatte. Mit den Fingern umschloss er ihn und begann zu reiben, was der Kleine mit einem Aufstöhnen quittierte. „Das ist ´ne völlig einvernehmliche Angelegenheit, stimmt´s, Jan?“ Der Junge nickte und warf Noah einen Blick zu, der ihm durch Mark und Bein ging und seinen Herzschlag beschleunigte.
Aber er durfte sich nichts anmerken lassen. Marcs Fäuste waren gefürchtet, und er hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit dem harten Kern der Gang.
Also schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans und wandte sich wortlos ab. Er spürte, dass der Junge ihm nachsah, denn sein Blick brannte fast körperlich in seinem Rücken, aber er drehte sich nicht noch einmal um. …




Der Ohnmächtige bewegte sich. Zuerst zuckten seine Finger, dann seine Augenlider und kurz darauf blinzelte er ins düstere Zimmer. Er blieb zunächst still liegen, nur seine Augen wanderten in der fremden Umgebung umher.
Noah stand noch immer am Fenster, den Blick jetzt auf das Sofa gerichtet, die Arme vor der Brust verschränkt.
Seine Haare waren feucht, denn er hatte geduscht, und er trug nur eine Boxershorts und ein leichtes Shirt.
Normalerweise lag er um diese Zeit längst im Bett und schlief, aber heute war alles anders. Heute war Jan hier, blutig, zerschlagen und erbärmlich. Noah hatte sein Gesicht betrachtet, während er ohne Bewusstsein auf seinem Sofa lag und nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem unfertigen, zarten Kindergesicht von früher festgestellt.
Wie alt war er inzwischen? Damals war er vierzehn gewesen, also musste er heute etwa vierundzwanzig sein.
Es schien ihm nicht schlecht zu gehen, der Anzug war von guter Qualität, und er trug eine schmale Goldkette um den schlanken Hals. Andererseits gab es da Spuren an seinem Körper, die eine andere Sprache sprachen.
Noah hatte ihn aus seinen durchnässten Sachen gepellt, nachdem er ihn mühsam zu sich nach Hause verfrachtet hatte, und auf seinem Rücken gab es außer den frischen Spuren heftiger Prügel Narben, die damals noch nicht da gewesen waren. Das Gleiche galt für seine Hand- und Fußgelenke, und Noah fragte sich, in welchen Kreisen sich Jan in den letzten zehn Jahren bewegt hatte.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, ihn in eine Klinik bringen zu lassen, aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten.
Jetzt tastete sich Jans Blick über die Zimmerdecke, hinüber zum Fenster und fiel schließlich auf Noah.
Langsam, mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete er sich auf, und Noah zog die Brauen zusammen. So wie Jans Oberkörper aussah, konnte er von Glück reden, dass er sich überhaupt noch bewegen konnte. Offenbar hatte er irgendjemanden verdammt wütend gemacht.
Nachdem er einmal vorsichtig tief durchgeatmet hatte, hielt sich Jan mit einer Hand an der Rückenlehne des Sofas fest und sah zu Noah hoch.
„Ich dachte schon, ich hätte es mir eingebildet.“ sagte er und lächelte. „Aber Du bist es wirklich!“
Noah stieß sich vom Fensterbrett ab und machte ein paar Schritte auf ihn zu.
„Hätte ich dich besser in ein Krankenhaus bringen sollen?“ fragte er, ohne auf Jans Bemerkung einzugehen.
Doch der schüttelte den Kopf und meinte: „Nein. Ist schon okay so.“
Dann schaute er sich weiter um und fragte: „Ist das Deine Bude?“
Noah nickte.
„Cool.“ kam es vom Sofa.
„Ist ganz in Ordnung.“ Er wandte sich Richtung Tür. „Ich muss jetzt schlafen. Wenn Du Hunger hast oder duschen möchtest, bedien` Dich. Du brauchst nicht Bescheid zu sagen, wenn Du gehst.“
Damit wollte er zur Tür hinaus, doch Jans leises Kichern hielt ihn zurück. Er drehte sich noch einmal um und sah Jan, wie er ihm nachschaute, ein amüsiertes Glitzern in den Augen.
„Du hast Dich nicht verändert, Noah.“ sagte er, und der Dunkelhaarige biss die Zähne aufeinander.
„Du leider auch nicht.“ erwiderte er und verließ den Raum.


Es war Herbst geworden. Nach der Hitze im späten Frühling war ein unerwartet kühler Sommer über das Land gezogen, und Noah war seit dem Nachmittag im Mai, wo er Marc mit dem Jungen gesehen hatte, immer seltener mit der Gang zusammen gewesen, weil er spürte, wie er sich innerlich immer mehr davon entfernte.
Er wusste inzwischen, dass der Kleine Jan hieß, und er hatte auch erfahren, wie es zu der Situation gekommen war, deren unfreiwilliger Zeuge er geworden war.
Das Ganze war tatsächlich einvernehmlich. Zumindest mehr oder weniger...
Jan war ein Ausreißer. Er war von zuhause abgehauen, weil sein Stiefvater ihn seit mehreren Jahren als Punchingball benutzte, und nachdem er seine wenigen Spargroschen ausgegeben hatte, musste er von irgendetwas leben. Schließlich war er in der Stricherszene gelandet und verkaufte seinen Körper, damit er etwas zu essen hatte.
Allerdings war er noch nicht lange in diesem Milieu unterwegs, und es kam vor, dass Kunden nicht zufrieden waren. Dann konnte es durchaus unerfreulich werden, und in so eine Auseinandersetzung war Marc mit seinen Kumpels zufällig hineingeplatzt.
Alle wussten, dass Marc selbst hin und wieder einen knackigen Arsch einer Muschi vorzog, und der Kleine entsprach ziemlich genau seinem Beuteschema. Also machte Marc dem pöbelnden Freier Beine und bot dem Jungen an, ihn in Zukunft zu beschützen, wenn er ihm dafür exklusiv zur Verfügung stand.
Er hatte nach einem Moment des Zögerns eingewilligt, und daraufhin hatte Marc ihn gleich ins Quartier der Bande mitgeschleppt und einen Proberitt gemacht. Fortan lebte Jan in dem leerstehenden Haus, wo Marc ihn mit allem versorgte, was er brauchte, und dafür überließ er ihm jederzeit seinen Körper und tat, was immer Marc verlangte.
Ein paar Wochen später geriet Noah mit ein paar der Jungs wegen einer Lappalie in Streit und nach einer heftigen Prügelei, die er natürlich verlor, ging er davon und wusste, dass er nicht mehr wiederkommen würde.
Er war fertig mit der Gang, das Kapitel war für ihn abgeschlossen, und er hatte sich noch immer nicht gefunden, sondern vielmehr das Gefühl, er sei drauf und dran etwas Wichtiges zu verlieren.




Am späten Nachmittag wachte Noah auf, und sofort fiel ihm wieder die Begegnung mit Jan ein.
Ob der inzwischen weg war? Er hoffte es.
Er setzte sich im Bett auf und rieb sich das Gesicht. Seine Bartstoppeln machten dabei ein knirschendes Geräusch, und er überlegte einen Moment lang, ob er zuerst duschen oder sich zuerst einen Kaffee machen sollte.
Schließlich entschied er sich für den Kaffee, rappelte sich gähnend auf die Füße und schlurfte in die Küche.
In der Tür prallte er jedoch zurück, weil Jan dort völlig selbstverständlich saß und mit vollen Backen kaute. Er hatte sich offenbar am Kühlschrank bedient, aber gut, Noah hatte ja selbst gesagt, dass er das tun konnte.
Als er Noah hereinkommen sah, lächelte er und meinte: „Na, ausgeschlafen?“
Der Angesprochene brummte etwas Unverständliches als Antwort, tappte zur Anrichte und setzte frischen Kaffee auf.
Als nächstes holte er sich Teller, Besteck und Wurst, schnitt sich eine Scheibe Brot ab und machte sich ein Wurstbrot. Damit setzte er sich an den Tisch und fing schweigend an zu essen.
Jan war inzwischen fertig mit seiner Mahlzeit und sah ihm mit schief gelegtem Kopf dabei zu.
Auf seiner Wange zeichnete sich eine verfärbte Schwellung ab, und in der rechten Augenbraue war ein verschorfter Riss zu sehen. Aber er hatte augenscheinlich nicht nur geduscht, weswegen seine Haare noch leicht feucht waren, sondern er hatte sich auch selbst verarztet und den Riss in der Braue mit einem Desinfektionsmittel behandelt, welches in Noahs Badezimmerschränkchen stand und dessen rote Farbe auffällig mit Jans heller Haut kontrastierte.
Er trug eine Sweathose und ein Shirt von Noah, was bedeutete, er musste sich auch bei der gewaschenen Wäsche im Korb bedient haben. Beides war ihm zu groß, aber wenigstens saß er nicht nackt herum.
Jetzt lächelte er leicht und sagte: „Früher warst Du aber schon gesprächiger, oder?“
Noah zuckte die Schultern und kaute weiter. Unvermittelt wurde Jans Ausdruck ernst, er sah auf die Tischplatte hinab und dann wieder hoch in Noahs Gesicht. „Hör´ mal, kann ich vielleicht ein paar Tage hierbleiben?“
Seine Miene war bittend, doch Noah schüttelte den Kopf. „Nein.“
Nur dieses einzelne Wort, aber darin lag genug Autorität, dass Jan die Augen erneut niederschlug. „Dachte ich auch nicht.“ sagte er leise und stand auf. Ohne einen Blick zurück verließ er die Küche, und Noah hörte ihn im Nebenzimmer hantieren.
Er beendete sein Frühstück, stellte sein Geschirr in die Spüle, und als er sich umdrehte, stand Jan in der Tür.
Er hatte seinen inzwischen getrockneten, wenn auch immer noch beschmutzten Anzug wieder angezogen und machte den Eindruck, als wollte er gerade gehen.
„Gib´s doch zu,“ sagte er, mit der Klinke in der Hand, „jedesmal wenn Du mitgekriegt hast, wie Marc mich gefickt hat, hast Du einen Ständer gehabt!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und gleich darauf klappte die Wohnungstür.


Ein knappes Vierteljahr, nachdem Noah die Gang verlassen hatte, traf er Jan wieder. Er war gerade achtzehn geworden und zog mit einigen seiner neuen Kumpel um die Häuser, als er ihm zufällig in einer Seitenstraße begegnete.
Seit seinem Weggang von der Gang war Noah ein wenig ruhiger geworden. Noch immer wusste er nicht, was es war, das ihm im Leben fehlte und wonach er auf der Suche war, aber er hatte begriffen, dass er es nicht fand, indem er sich in irgendwelche Exzesse stürzte, die ihn und andere in Gefahr brachten.
Trotzdem war er noch Meilen davon entfernt, zu seinem früheren, langweiligen Lebensstil zurückzukehren. Er zog fast jeden Abend los, um sich mit Alkohol, Joints und schnellem Sex zu betäuben, denn nur dann fühlte er die Leere nicht so sehr, die in seiner Brust pochte wie ein zweites Herz. Er fand ebenso rasch „Freunde“

, wie er sie wieder verlor, und die Typen, mit denen er seinen Geburtstag und vor allem seine Volljährigkeit begoss, kannte er kaum.
Sie kamen spät am Abend aus einer Kneipe, ohne weibliche Begleitung diesmal, denn es war ihnen noch nicht gelungen, etwas Passendes aufzureißen, und als sie lachend und gröhlend über den Gehsteig torkelten, fasste ihn einer der Typen plötzlich am Arm. Laut auflachend deutete er in eine düstere Gasse und rief: „Seht Euch das mal an! Da haben´s zwei wohl ganz eilig! Konnten´s wohl nicht mehr abwarten? He, Ihr Zwei! Kann man vielleicht mitmachen?“
Noah folgte dem Fingerzeig mit Blicken und sah ein Pärchen in der Gasse stehen, das ganz offensichtlich schwer miteinander beschäftigt war. Eine der beiden Gestalten kniete vor der anderen, und es sah ganz so aus, als würde der einen hammermäßigen Blowjob verpasst bekommen.
Bei dem Ruf von der Straße her fuhren die Zwei auseinander, und plötzlich waren die jungen Männer, die gerade noch begierig hingeschaut und gejohlt hatten, ganz still. Die Augen wurden ihnen groß, und schließlich sagte Einer: „Hört mal – hab´ ich was an den Augen, oder sind das wirklich zwei Kerle?“
Es war tatsächlich so, und nun strengte auch Noah seine Augen an, denn irgendetwas an dem Kleineren der beiden Männer kam ihm seltsam bekannt vor. Alkohol vernebelte seinen Blick, und so dauerte es eine Weile, bis der Groschen fiel: das war Jan!
Ungläubig starrte er in die Gasse, wo die beiden Männer unschlüssig dastanden, und Noah registrierte am Rande, dass Jans Hose auf Kniehöhe hing und das Beinkleid des Anderen ebenfalls weit offen stand.
„Widerliche Schwuchteln!“ Einer von Noahs Begleitern spie aus und wandte sich dann ab. Innerlich atmete Noah erleichtert auf, denn für einen Moment hatte Gewalt in der Luft gelegen, wie ein schlechter Geruch. Doch irgendetwas hatte den Bann gebrochen, und sie gingen weiter, sehr viel leiser als noch kurz vorher.
Nach ein paar Metern begannen sie jedoch wie auf ein geheimes Zeichen hin wieder zu reden und wenn auch noch kurze, abfällige Bemerkungen über das soeben Beobachtete fielen, wandte sich die Unterhaltung doch schnell wieder anderen, angenehmeren Dingen zu.
Aber der angenehme Alkoholdunst, der eben noch Noahs Denken eingehüllt hatte, war verschwunden, und der Anblick, den Jan in der Gasse geboten hatte, wollte nicht wieder aus seinem Kopf. Unter einem Vorwand trennte er sich bei der nächsten Ecke von den Anderen, und als die lärmend weiterzogen, um noch in andere Kneipen einzufallen, sah er ihnen nach, bis sie in eine weitere Seitenstraße einbogen und trabte dann zurück.
Als er wieder an der Gasse anlangte, war sie leer, und er sah sich suchend um.
Plötzlich erklangen rasche Schritte hinter ihm, und als Nächstes bekam er einen Schlag in die Nieren, dass ihm einen Moment lang die Luft wegblieb. Er stürzte vornüber auf den Gehweg, wälzte sich aber reflexartig herum, als er aus dem Augenwinkel einen Fuß heransausen sah. Im nächsten Augenblick hatte er den Fuß gepackt und zerrte so heftig daran, dass sein Besitzer ebenfalls zu Boden ging und mit einem erstickten „Uff!“ auf seine Kehrseite fiel.
Noch immer flach atmend wegen der Schmerzen, stemmte er sich auf die Knie hoch und warf nun zum ersten Mal einen genaueren Blick auf seinen Angreifer. Nur Sekunden später ließ er den Fuß, den er immer noch festgehalten hatte, reflexartig los.
„Jan?!“ Der Sitzende erwiderte seinen Blick, wütend und ohne mit der Wimper zu zucken.
„Was soll das denn? Bist Du bescheuert, mich hier so anzufallen? Was hab´ ich Dir denn getan?“
Noah war außer sich, doch das Gesicht des blonden Jungen vor ihm blieb mürrisch und verschlossen.
„Was Du mir getan hast? Meinst Du das ernst?“ blaffte er und machte Anstalten vom Boden aufzustehen.
„Du und Deine beknackten Freunde habt mir das Geschäft verdorben! Der Typ hätte mir einen Hunderter einbringen können! Aber nachdem Ihr da aufgekreuzt seid, ist ihm die Lust vergangen, und er hat mich sitzenlassen! Und in einer Stunde kommt Marc und holt mich ab! Kannst Du mir mal sagen, was ich ihm erzählen soll?“
Noah glotzte. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, denn er verstand nur Bahnhof. In der Hoffnung, Jans Anwürfe ergäben mehr Sinn, wenn er ein klein wenig länger darüber nachdachte, erhob er sich zunächst einmal umständlich und schob die Finger dann in die Taschen seiner Jeans, während er den Jungen eingehend musterte.
Er hatte sich kaum verändert, war vielleicht ein wenig gewachsen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
Allerdings waren seine Haare länger, sodass ihm die blonden Strähnen fast bis auf die Schulter und über die Brauen hingen. Gekleidet war er in Jeans und eine Lederjacke, unter der ein weißes T-Shirt hervorblitzte. Noch immer haftete ihm eine Aura der Zerbrechlichkeit an, doch dafür war der Schlag nicht von schlechten Eltern gewesen.
Aber was hatte er da gerade gesagt? Der Typ hätte ihm einen Hunderter einbringen können? Noah stutzte. Hieß das, Jan ging wieder auf den Strich? Und was hatte Marc damit zu tun?
Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als Jan die Arme vor der Brust verschränkte und ihn rüde anraunzte: „Was gibt’s da zu glotzen?“
„Ähm, … naja, ...“ Noah druckste herum, war plötzlich sonderbar befangen.“Ich hab´ mich nur gefragt, ob Du … ich meine, … bist Du wieder … ähm...?“
Er war rot geworden, brachte die Frage, die ihm auf der Zunge brannte nicht heraus.
„Ich lasse mich gegen Geld ficken.“ sagte Jan ungerührt. „Wolltest Du das fragen?“




Nachdem Jan die Wohnung verlassen hatte, wandte sich Noah seinem üblichen Tagesablauf zu. Die Kneipe, vor der er den Blonden gefunden hatte, gehörte ihm, deshalb musste er sich bald auf den Weg machen. Er öffnete immer gegen 18 Uhr, und das war in knapp zwei Stunden.
Vorher brachte er noch die Wohnung in Ordnung, lüftete und stellte die Waschmaschine an.
Anschließend ging er unter die Dusche, putzte die Zähne und zog sich an. Während er mit einer Bürste durch die noch feuchten Haare zog, betrachtete er sich im Spiegel.
Jans letzte Worte hallten in seinem Kopf nach. „Gib´s doch zu – jedesmal wenn Du gesehen

hast, wie Marc mich gefickt hast, hast Du einen Ständer gehabt!“


Seine Finger krampften sich um die Bürste. Das war doch lächerlich! Wieso hätte er einen Ständer haben sollen, wenn er sah, wie Marc sich mit diesem kleinen Stricher vergnügte? Er war nicht schwul!
Zehn Jahre alte Bilder drängten an die Oberfläche seines Bewusstseins, und er vertrieb sie mit einem ärgerlichen Kopfschütteln. Mit eckigen Bewegungen machte er die letzten Bürstenstriche und band die Haare wieder zusammen. Dann schaltete er das Licht aus und verließ das Bad.


In der Pizzeria roch es nach Holzrauch und italienischem Essen. Jan und Noah saßen gemeinsam an einem der Tische, und Noah sah zu, wie Jan mit großem Appetit einen riesigen Teller Spaghetti Napoli verschlang.
Es war ihm gelungen, den Jungen zu dem gemeinsamen Besuch des Lokals zu überreden, nachdem er ihm einen Hunderter unter die Nase gehalten hatte.
„Ich könnte Dir den Schaden ersetzen!“
„Was denn – Du willst mit mir vögeln?“ Jan verzog ungläubig das Gesicht, und Noah winkte hastig und peinlich berührt ab. „Was? Nein!! Ich möchte mich einfach nur mit Dir unterhalten. Ich weiß nicht, wir könnten ja was essen? Ich kenne da eine Pizzeria, die hat um diese Zeit noch auf.“
Jan musterte ihn misstrauisch, dann schüttelte er den Kopf und meinte: „Na gut, meinetwegen. Ist ja Dein Geld.“
Er schnappte blitzschnell nach dem Schein, und einen Augenblick lang dachte Noah, er würde einfach damit wegrennen. Es war sein letzter Schein, der Rest dessen, was er von seinen Eltern zum Geburtstag bekommen hatte. Sein Münzgeld würde gerade noch reichen, um für sich und Jan in der Pizzeria etwas zu bestellen, solange es nichts teureres war, als Spaghetti oder Pizza.
Zehn Minuten später saßen sie an dem kleinen Tisch und durchforsteten die Speisekarte.
Als die Bedienung wieder verschwunden war, machte sich zunächst Schweigen breit. Noah wusste nicht, was er sagen sollte, und Jan hatte ganz offensichtlich kein Interesse an einer Unterhaltung.
Das Essen kam, und der blonde Junge machte sich ausgehungert darüber her. Bekam er nicht genug zu essen, oder was?
„Du, ähm, scheinst ja ganz schön hungrig zu sein?!“ meinte Noah, und Jan sah hoch. Während er kaute und schluckte, zuckte er die Achseln, und als sein Mund leer war, erwiderte er mit unbeweglichem Gesicht:“Marc will nicht, dass ich zunehme. Er meint, die Kunden stehen mehr auf kindliche Typen.“
Er ließ die Gabel sinken und sah aus dem Fenster, vor dem sie saßen.
„Marc? Bist Du immer noch mit ihm zusammen?“ fragte Noah, und zu seinem Erstaunen stieß Jan ein kurzes Geräusch aus, das wohl ein amüsiertes Grunzen darstellen sollte. Er hob eine Hand vor den Mund und fing an zu lachen, als hätte Noah einen besonders guten Witz gemacht.
„Zusammen? Marc und ich?“ brachte er schließlich mühsam hervor, nachdem er einen Schluck Cola getrunken hatte. Dann wurde er wieder ernst und fixierte Noah mit seinen blauen Augen. „Marc ist mein Zuhälter, wenn Du´s genau wissen willst. Ich halte meinen Arsch hin und er kassiert. Im Gegenzug bekomme ich von ihm alles, was ich zum Leben brauche, und er hält mir Probleme vom Hals.“
Nun war es an Noah, zuerst ungläubig dreinzuschauen und dann spöttisch zu lachen.
„Meinst Du das ernst? Er hält Dir Probleme vom Hals? Ich hör´ wohl nicht richtig! Wo war er denn dann vorhin, als die Typen Dich und Deinen Freier gestört haben? Was hättest Du gemacht, wenn sie nicht weitergegangen wären, sondern Lust auf eine Runde Proleten-Fandango gehabt hätten? Was glaubst Du denn, was Du gegen die hättest ausrichten können?“
Jan schwieg trotzig und sah in seinen Teller mit der halb aufgegessenen Nudelportion. Noch immer aufgebracht schob Noah seinen eigenen Teller von sich und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
„Du bist doch nicht von diesem Arsch abhängig, Jan!“ beschwor er den Jungen. „Geh´ weg von ihm! Ich helf´ Dir auch dabei!“ hörte er sich plötzlich sagen und begriff im gleichen Moment, dass er es genauso meinte, wie er es sagte. Die Vorstellung, dass Jan gezwungen war, mit seinem Körper Geld für Marc zu machen, damit der sich überflüssigen Luxus leisten konnte, bereitete ihm Übelkeit. Er überlegte fieberhaft, während Jan ihn mit einem Blick betrachtete, der normalerweise für Menschen reserviert war, bei denen nicht mehr alle Schrauben stramm saßen.
Dann schüttelte er den Kopf, griff nach seiner Jacke und wollte aufstehen. „Also, nichts für ungut, aber ich glaube, Du kapierst nicht, wie der Hase läuft, Noah. Ich gehöre Marc, mit Haut und Haaren.“ sagte er in bitterem Tonfall. „Das schärft er mir ja oft genug ein. Wenn ich versuche, von ihm wegzukommen, findet er mich, und dann tut er mir weh. Glaub´ nicht, ich hätte es noch nicht versucht.“ Er senkte den Blick direkt in Noahs Augen, und was dieser darin las, war mehr als schmerzhaft. Der Junge war gerade mal vierzehn, aber seine Augen waren die eines uralten Mannes, der längst jede Hoffnung aufgegeben hat. „Ich muss eben irgendwie ...“ Er brach ab und wandte sich zum Gehen. „Danke für die Einladung.“ warf er noch über die Schulter zurück, dann war er draußen.
Als die Tür ins Schloss schnappte, erwachte Noah aus seiner Erstarrung. Blitzartig schoss er von seinem Stuhl hoch und rannte zur Tür. Dummerweise hielt ihn die Bedienung auf und bestand darauf, dass er zahlte, bevor er das Lokal verließ. Mit einem unwilligen Knurren warf Noah ihm die gesamte Brieftasche hin, rief noch: „Bin gleich wieder da!“ und spurtete hinter Jan her.
Als hätte er das erwartet, lehnte der Junge draußen an der Wand vor dem Eingang, und als Noah auftauchte, packte er ihn, riss ihn zu sich und drängte ihn hart an die Mauer. Im nächsten Moment presste er seine Lippen auf die von Noah und küsste ihn heftig.
Sein Mund schmeckte nach den Spaghetti, die er gegessen und nach der Cola, die er getrunken hatte, und völlig überrumpelt ließ Noah sich den Kuss gefallen, registrierte die rein mechanischen Abläufe und fragte sich stumm, wie das hatte passieren können.
Nach einigen Augenblicken jedoch, als der Überraschungseffekt vorüber gezogen war, trat das sinnliche Empfinden in den Vordergrund. Jans Mund war weich und warm und sein Kuss bei allem Ungestüm doch voller Unsicherheit und Furcht. Er hatte die Finger vorn in Noahs Hemd gekrallt und schmiegte sich eng an ihn, bis ihnen beiden die Luft ausging.
Mit geschlossenen Augen zog er sein Gesicht zurück und wandte sich dann ab. Unfähig etwas zu sagen, stand Noah schwer atmend da und sah zu, wie der Junge sich langsam von ihm entfernte.
„Verschwindest Du jetzt einfach, oder was?“ fragte er schließlich laut, denn der Blonde war schon ein ganzes Stück entfernt.
Jan blieb stehen, sah zurück und lächelte. Seinem Gesicht war nichts mehr anzusehen.
„Du solltest dich geehrt fühlen!“ sagte er. „Normalerweise gehört Küssen nicht zum Service!“
Und damit ging er davon und verschwand aus Noahs Leben, für zehn lange Jahre...




Der Betrieb in Noahs Kneipe war an diesem Abend nicht größer als gewöhnlich, was trotzdem bedeutete, dass ziemlicher Andrang herrschte. Sein Lokal war beliebt, und selbst wochentags hatten er und seine zwei Hilfskräfte alle Hände voll zu tun, sodass er bereits seit einer Weile überlegte, noch jemanden einzustellen.
Er selbst stand hinter dem Tresen und kümmerte sich um alles, was mit Ein- und Verkauf zu tun hatte, Johann, ein stoischer Mittfünfziger stand in der winzigen Küche, in der er Hamburger, Fritten und Ähnliches produzierte, und Jutta, eine quirlige Rothaarige, bediente und war ansonsten Mädchen für alles. Sie putzte vor der eigentlichen Öffnungszeit die Klos, wischte die Böden, half Johann in der Küche, und wenn Noah ins Lager musste, um Nachschub zu holen, übernahm sie auch die Theke.
Offenbar traf das Ambiente mit seiner Mischung aus Route 66 und uriger Gemütlichkeit den Nerv vieler Leute. Zwar waren das nicht die Yuppies mit den dicken Geldbörsen, auf die die meisten Bars und Restaurants in der Gegend abzielten, aber dafür hatte Noahs Kneipe – die auch genau so hieß: Noahs!

- genug Stammkundschaft, dass er sich problemlos über Wasser halten konnte. Und während die meisten der Möchtegern-Nobelschuppen nach einem anfänglichen Hype kurz nach ihrer Eröffnung, schon bald in der Beliebtheitsskala nach unten durchgereicht wurden, konnte das Noahs!

auch nach ein paar Jahren noch jeden Monat einen netten Gewinn verbuchen.
Auch an diesem Abend gaben sich die Gäste bis Mitternacht die Klinke in die Hand, erst dann wurde es ein wenig ruhiger, was aber daran lag, dass es ein Wochentag war. Freitags und Samstags ging der Betrieb üblicherweise weiter bis Noah gegen vier Uhr früh die letzten Gäste buchstäblich zur Tür hinaus scheuchte. Unter der Woche schloss er zeitiger, meist gegen zwei Uhr. Dann musste noch aufgeräumt und die Kasse abgerechnet werden.
Vorbereitungen für den nächsten Tag traf er nicht, stattdessen kamen er und seine Angestellten früh genug, dass sie das vor dem nächsten Öffnen erledigen konnten.
Als Erster ging für gewöhnlich Jutta nach Hause. Sie hatte noch einen zweiten Job, füllte fünf Tage die Woche am Vormittag in einem Discounter Regale auf und musste dazu um neun Uhr am Morgen antreten, darum war sie froh über jede Stunde Schlaf, die sie vorher noch bekam. Johann ging meistens kurz nach ihr, nachdem er abgewaschen und seine Küche aufgeräumt hatte, und Noah saß dann üblicherweise noch über seiner Abrechnung. Wenn er damit fertig war, kontrollierte er noch einmal sämtliche Türen und Fenster, schaltete das Licht aus und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.
Auch in dieser Nacht lief es nach diesem Schema ab, und es war kurz vor zwei Uhr früh, als er nach draußen auf die Straße trat. Fast wäre er über die Gestalt gestolpert, die dort im Schatten kauerte und machte einen hastigen Schritt zur Seite. Der Sitzende hob den Kopf und Noah, der ihn bereits an seinem Anzug erkannt hatte, blickte erstaunt in Jans Gesicht.
„Was machst Du denn schon wieder hier?“
„Ich hatte gehofft, Du würdest hier auftauchen, nachdem Du mich letzte Nacht hier aufgelesen hast. Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass die Kneipe Dir gehört.“
Noah hob ungeduldig die Schultern. „Hier bin ich. Und was willst Du von mir? Warum bist Du nicht reingekommen?“
Der Blonde senkte den Blick und seine Stimme war leise, klang nicht im Mindesten so frech und nonchalant wie am Nachmittag.
„Ich … kann im Moment nicht nach Hause, und jetzt weiß ich nicht, wohin.“ sagte er und hob schüchtern den Kopf. „Kann ich nicht doch ein paar Tage bei Dir wohnen?“
„Vergiss´ es!“ brummte Noah, ging an ihm vorbei und wollte davongehen.
„Du hast mir früher mal Deine Hilfe angeboten, weißt Du das noch?“ kam es da von Jan, und Noah blieb stehen. Er drehte sich nicht um, hörte aber Jans Schritte, die sich langsam und zögerlich näherten.
„Bitte, Noah!“ setzte er nach.
Der Angesprochene schwieg. Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten, dann fragte er: „Steckst Du in Schwierigkeiten?“
„Ja.“ Leise, kaum hörbar.
„Bekomme ich auch Schwierigkeiten, wenn ich Dich aufnehme?“
Keine Antwort und damit genauso gut wie eine Bestätigung.
Langsam drehte Noah sich um, musterte den Blonden lange und abschätzend, schließlich seufzte er und machte eine auffordernde Kopfbewegung.
„Na los, bevor ich es mir wieder anders überlege!“ sagte er mürrisch. „Vermutlich bin ich eh weich in der Birne, dass ich mich drauf einlasse.“
Freudig eilte Jan an seine Seite, und gemeinsam traten sie den Heimweg an.


„Pass auf, Arschloch!“ Marcs grobe Visage tanzte vor Noahs flackerndem Blick. In seinen Ohren läuteten Kirchenglocken, und wenn ihn nicht die kräftigen Fäuste von Marcs zwei Begleitern aufrecht gehalten hätten, wäre er vermutlich längst zu Boden geklatscht, als hätte er keinen einzigen heilen Knochen mehr im Leib.
Aber so fühlte es sich ja auch an. Das hier war die mit Abstand schlimmste Tracht Prügel, die er in seinem ganzen bisherigen Leben eingesteckt hatte.
„Der Kleine gehört mir, verstehst Du? Sein Arsch, sein Gesicht, sein Mund, mit dem er bläst wie ein Engel, überhaupt alles an ihm! Und Du wirst ihn mir nicht abspenstig machen, Du Pfeife!“
Ein neuerlicher Faustschlag traf Noahs Gesicht, riss es zur Seite, ließ das Nasenbein in einer grellen Schmerzexplosion knacken und ihn aufschreien. Warmes Blut sprudelte aus seiner Nase, tropfte ihm übers Kinn und besudelte sein mittlerweile ohnehin nicht mehr sauberes Shirt.
Seit er Jan am Abend seines Geburtstages getroffen hatte, ging ihm der Junge nicht mehr aus dem Kopf.
Er hinterfragte die Gründe dafür nicht, sondern redete sich ein, der Junge täte ihm leid.
Jan war zu jung, um so zu leben, und außerdem fürchtete Noah, dass er mit dieser Lebensweise erst gar nicht alt werden würde. Er wollte ihn da herausholen, ihm helfen, wieder ein normales Leben zu führen, und so war er in den Tagen nach ihrer zufälligen Begegnung immer wieder mehr oder weniger ziellos durch die Stadt gelaufen, in der Hoffnung, der Zufall werde sich wiederholen.
Er hatte keine Ahnung, wo er suchen sollte, klapperte aber aufs Geratewohl die Bahnhöfe der Stadt und einige Parks ab, von denen er gerüchteweise gehört hatte. Er stieß bei dieser Suche auch auf etliche Jungen und junge Männer der verschiedensten Couleur, aber Jan war nie darunter.
Nachdem er eine Woche lang vergeblich gesucht hatte, überwand er sich und fing an Fragen zu stellen. Und tatsächlich fand er schon am zweiten Tag einen Stricher, der Jan kannte. Von ihm erfuhr Noah allerdings auch nur, dass der Gesuchte seit einiger Zeit nicht mehr in seinem angestammten Revier anzutreffen war, er hatte keine Ahnung, wo Jan sich befand.
„Vielleicht hat sein Macker was Anderes mit ihm vor?“ zuckte er die Schultern.
„Was Anderes?“ Der Junge verdrehte die Augen und erklärte: „Vielleicht gibt es einen oder mehrere Kunden, die besonderen Gefallen an ihm finden. Es wäre zumindest möglich, dass er die dann sozusagen exklusiv bedient. Das ist ´ne einträgliche Sache, und man braucht nicht mehr bei Wind und Wetter hier draußen rumstehen! Der einzige Nachteil ist der,“ fuhr er fort, „dass man dabei auch an merkwürdige Typen geraten kann, die mehr wollen als das Übliche. SM oder so´n Scheiß. Ich sag´s ja, ein Macker ist Scheiße! Viel besser, wenn man auf eigene Rechung arbeitet.“
Noah überlief es kalt. „Hältst Du es für möglich, dass Jan jetzt so einen Exklusiv-Kunden hat?“ wollte er wissen, doch der Gefragte zuckte ungeduldig die Achseln.
„Mann, was weiß ich? Ja, stimmt schon, der Kleine war sehr gefragt, und ´ne Menge Kunden sind nur wegen ihm gekommen. Aber ich hab´ echt keine Ahnung, okay? War nur so ´ne Vermutung! Und jetzt hau´ ab, ja? Du versaust mir das Geschäft!“
Damit hatte er Noah stehenlassen und wieder seinen Posten bezogen.
Zwei Tage später war Noah wieder am Hauptbahnhof, und als er ihn nach einer erfolglosen Runde durch die Anlage gerade wieder verlassen wollte, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter.
Er drehte sich um und blickte direkt in Marcs kantiges Gesicht...
Das war jetzt knapp zehn Minuten her.
Marc und seine Begleiter hatten ihn in die Mitte genommen und aus dem Bahnhof hinaus geführt, dann hinter das Gebäude, wo es einen schmalen Durchgang gab, zwischen der großen Bahnhofshalle und einem alten Lokschuppen. Dort hatten sie ihn an die Wand geschleudert und augenblicklich war Marcs eisenharte Faust zum ersten Mal in Noahs Gesicht gelandet.
Der war nie ein Kämpfer gewesen und hatte ihm nichts entgegen zu setzen, konnte nur darauf hoffen, dass es dem vierschrötigen Mann zu langweilig war, einen Anderen zu verprügeln, wenn der sich nicht wehrte.
Trotzdem hatte er kräftige Schläge ins Gesicht, die Rippen und den Bauch einstecken müssen, die ihn bereits an den Rand einer Bewusstlosigkeit gebracht hatten.
Doch jetzt, als seine Nase pochte, in Sekundenschnelle zuschwoll und ihm das Blut über Lippen und Kinn tropfte, fragte er sich ernsthaft, ob Marc ihn womöglich umbringen würde. Der Gedanke machte ihm Angst, sein eigener Atem ging viel zu schnell, und sein Gesichtsfeld schien sich immer mehr einzueengen.
„Du wirst Jan in Zukunft in Frieden lassen. Ich will nicht, dass Du ihm merkwürdige Ideen in den Kopf setzt. Also vergiss ihn – in Deinem eigenen Interesse! Hast Du das jetzt kapiert?“ fragte Marc und rückte seine Kleidung zurecht, die bei dem körperlichen Einsatz etwas verrutscht war.
Noah nickte schwach, worauf Marc ihn in den Haaren fasste und sein Gesicht zu sich emporriss.
„Ob Du das verstanden hast?“
„Ja!“ wimmerte Noah, der das Gefühl hatte, als würde ihm die Kopfhaut abgerissen. „Ja, Mann! Ich hab´s kapiert!“
Marc nickte zufrieden und ließ ihn los. Dann machte er seinen Begleitern ein Zeichen mit dem Kopf und wandte sich ab. Im Gehen rief er zurück: „Und nur, damit Du´s weißt: Das war eine freundschaftliche Warnung – um der alten Zeiten willen! Wenn ich erfahre, dass Du nochmal nach ihm suchst, kommst Du nicht so einfach davon! Merk´ Dir das!“




Noah saß im Wohnzimmer, zog an seiner Zigarette und betrachtete Jan, der ihm gegenüber saß.
„Also, jetzt noch mal langsam, damit ich das kapiere – Du sagst, Du hast eine verheiratete Frau beglückt, ihr Mann ist dahinter gekommen, und jetzt will er Dich fertigmachen?“ Seiner Stimme waren die Zweifel anzuhören, die ihn bei Jans Schilderung beschlichen hatten. Diese Geschichte schien so gar nicht zu Jan zu passen.
„Und woher kanntest Du sie?“
Jan lächelte nervös. „Naja, das war rein beruflich eigentlich. Ich arbeite in einer Begleitagentur, als Escort, und die Dame war meine Kundin. Manchmal ergibt sich eben noch etwas mehr, als nur ein Begleitservice. Die Agentur darf davon nichts wissen, aber es ist gutes, leicht verdientes Geld, also …?“
Er machte eine entschuldigende Geste mit der Hand, und seine Augen flackerten unruhig über Noahs Gesicht.
Der brummte etwas Unverständliches und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.
„Und was glaubst Du, wie lange Du hier bleiben musst?“ wollte er dann wissen.
Jan hob die Schultern und lächelte: „Keine Ahnung, vielleicht eine Woche?“ Als er sah, wie Noah die Stirn runzelte, hob er beschwichtigend die Hände und schob hinterher: „Länger wird es bestimmt nicht dauern! Wirklich! Bis dahin hat der Typ sich sicher wieder beruhigt!“
„Und Du bist ganz sicher, dass das alles ist? Steckt nicht doch vielleicht Dein alter Kumpel Marc dahinter?“
Noahs Misstrauen war nach wie vor hellwach, doch Jan schüttelte erneut den Kopf.
„Nein, wieso? Mit Marc bin ich fertig. Endgültig!“ sagte er entschieden und fügte dann hoch hinzu: „Der Scheißtyp hat mich meine besten Jahre gekostet. Das hab´ ich hinter mir!“ Scheinbar unbewusst rieb er sich dabei die Handgelenke, und Noah musste wieder an die Narben denken, die er dort entdeckt hatte. Er atmete tief ein und aus und wies dann auf die Couch.
„Na schön. Du kannst hier im Wohnzimmer schlafen – eine Woche, dann bist Du verschwunden, klar? Es steht Dir frei, alles in der Wohnung zu benutzen, außer meinem Computer. Und in meinem Schlafzimmer hast Du auch nichts verloren, verstanden?“
Seine Stimme klang ruppig, doch Jan schien es nicht zu bemerken. Er strahlte übers ganze Gesicht und nickte eifrig. „Du wirst gar nicht merken, dass ich da bin!“ versprach er mit glänzenden Augen.
Noah sparte sich die Antwort, weil ihm eine ganz andere Sache in den Sinn kam.
„Hast Du eigentlich noch andere Klamotten, als das da?“ Er deutete auf Jans ramponierten Anzug. Der Angesprochene sah an sich herunter, als würde ihm der Zustand seiner Kleidung erst jetzt bewusst. Dann schaute er wieder hoch und nickte. „Klar. Ich hab´ für den Notfall eine Tasche mit dem Nötigsten am Bahnhof in einem Schließfach deponiert. Allerdings ...“ erneut sah er an sich herab, „ich fürchte, so kann ich nicht mehr aus dem Haus gehen. Ich falle ja auf wie ein bunter Hund. Außerdem ist das eigentlich meine Arbeitskleidung, weißt Du? Könntest Du mir vielleicht nochmal was von Dir leihen?“
Noah musterte ihn aufmerksam, zunächst ohne etwas zu erwidern. Bildete er sich das nur ein, oder klang diese Sache komisch? Wer deponierte denn schon eine Tasche mit Klamotten „für den Notfall“

in einem Bahnhofsschließfach? Er beschloss jedoch, vorerst nichts darauf zu geben und nickte. Vermutlich war es gesünder, nicht zu genau zu wissen, was da vorging.
„Allerdings wirst Du Dich mit einer Jogginghose begnügen müssen. Ich schätze mal, alles andere ist Dir hoffnungslos zu groß.“
Jan nickte. „Das geht schon. Ist ja nur bis ich meine eigenen Sachen hier habe.“
Noah stemmte sich aus dem Sessel und wollte schon gehen, um die versprochenen Kleidungsstücke zu holen, da hielt ihn Jan zurück.
„Marc hat Dich damals fertig gemacht, oder?“
Noah blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich dann langsam um, ohne etwas darauf zu erwidern.
Jan nickte betrübt und fuhr fort:„Er kam zu mir und sagte mir ins Gesicht, ich sollte nicht mehr auf Dich hoffen, denn er hätte Dir ein bisschen Vernunft eingebläut. Du würdest in Zukunft nicht weiter nach mir suchen, und falls doch, dann würde er Dich umbringen.“ Er lächelte schief, und einen winzigen Moment lang schimmerte der Junge von früher durch den Riss in der Fassade.
„Als ich damals gehört habe, dass Du nach mir suchst, war ich einfach nur froh. Du warst seit verdammt langer Zeit der erste Mensch, der sich Gedanken um mich gemacht hat. Leider hat Marc auch Wind davon bekommen, und den Rest kennst Du ja, zumindest was Dich betrifft.“ Er machte eine kurze Pause und fixierte Noah mit seinen blauen Augen.
„Aber vielleicht tröstet es Dich ja, wenn ich Dir sage, dass er auch vor mir nicht Halt gemacht hat. Er hat mich in der nächsten Zeit regelmäßig an so einen SM-Freak verschachert, und der hat mich jedesmal halbtot geschlagen. Marc wusste ganz genau, dass ich Angst vor Schlägen habe. Ich halte das nicht aus. Und genau deshalb hat er das gemacht.“
Seine Augen hingen an Noahs Gesicht, der aber verzog keine Miene.
„Das ist alles lange her, Jan.“ sagte er schließlich. „Glaub´ lieber nicht, ich würde heute nochmal genauso handeln. So verrückt bin ich nicht mehr.“
Damit wandte er sich ab und ging nach nebenan, wo er die zugesagte Jogginghose und ein sauberes T-Shirt aus dem Schrank holte. Als er damit zurück ins Wohnzimmer kam, saß Jan noch am gleichen Platz wie vorher und nahm die Sachen entgegen, ohne aufzublicken. Noch einmal ging Noah in den Flur und kehrte gleich darauf mit einem Schlüssel zurück. „Hier. Ein Zweitschlüssel. Damit kannst Du Dich selber reinlassen, wenn Du Deine Sachen geholt hast. Ich geh´ jetzt ins Bett.“ teilte Noah ihm noch mit, legte den Schlüssel auf den Tisch, und Jan nickte stumm, noch immer ohne hoch zu sehen. Gleich darauf klickte die Tür zu Noahs Schlafzimmer, und Jan blieb allein zurück.


Als Noah aufwachte, war es früher Nachmittag, und ein verlockender Duft stieg ihm in die Nase.
Was war denn das? Wurde hier gekocht, oder was?
Er krabbelte aus dem Bett und tapste hinüber in die Küche, wo er seinen Verdacht bestätigt und Jan am Herd fand. Der trug inzwischen eine ausgefranste Jeans und ein auffällig gemustertes Shirt, war also offenbar tatsächlich draußen gewesen und hatte seine Sachen geholt.
Gerade rührte er eifrig in einer Pfanne, aus der der verlockende Duft emporstieg und bemerkte Noah nicht, sodass der einen Moment in der Tür stehenblieb und ihn betrachtete.
Seine halblangen, blonden Haare hatte er mit einem Gummi im Nacken zusammengefasst, doch ein paar vereinzelte Strähnen hatten sich daraus gelöst und hingen ihm ins Gesicht. Jetzt, wo er sich unbeobachtet fühlte, wirkte Jan sehr jung und verletzlich, nicht so, wie der coole Typ, als der er sich sonst gab. Noah ertappte sich dabei, dass er das … süß?

fand und rief sich im selben Moment zur Räson.
Jan war ein Kerl, und Kerle waren nicht süß, basta! Außerdem war dieser spezielle Kerl hier sowas wie eine wandelnde Büchse der Pandora auf zwei Beinen. Es war besser, wenn er sich nicht noch weiter auf ihn einließ, egal in welcher Form. Eigentlich hatte er schon viel zu viel getan, indem er ihn bei sich aufnahm!
Vielleicht wäre es besser, wenn er sein Zugeständnis widerrief und Jan so schnell wie möglich vor die Tür setzte?
Doch da drehte der sich um und sah ihn in der Tür stehen.
„Oh?“ Der Blonde machte ein verlegenes Gesicht. „Ich hoffe, es ist okay, dass ich was gekocht habe? Ich bin auf dem Rückweg vom Bahnhof noch schnell einkaufen gewesen, weil Du ja nicht wirklich viel im Haus hattest. Und irgendwie möchte ich mich auch erkenntlich zeigen, weil Du mir erlaubt hast, zu bleiben.“ Er lächelte nervös und deutete auf den Küchentisch. „Ich hab´ Geschnetzeltes gemacht. Mit Spätzle. Ich hoffe, Du magst das?“
Schweigend schob sich Noah vollends in die Küche.
„Geschnetzeltes, hm?“ Jan nickte beflissen, während Noah in T-Shirt und Boxershort Platz nahm.
Ohne etwas zu sagen schaufelte er sich Nudeln und Fleisch auf den Teller und nahm eine Gabel voll. Im nächsten Moment nickte er und meinte: „Ja, ist ganz okay.“
Jan strahlte, setzte sich ebenfalls und begann zu essen. Keiner der Beiden sagte etwas, und als er fertig war, schob Noah den Teller zurück und stand auf. Er spürte Jans erwartungsvollen Blick auf sich und wandte sich abrupt um. Ohne ein Wort verließ er die Küche und ging ins Bad, um zu duschen und sich fertig zu machen.


In den folgenden Tagen entwickelte sich so etwas wie Routine zwischen Noah und Jan. Noah schlief wie immer bis zum Mittag oder frühen Nachmittag, und wenn er aufstand, erwartete Jan ihn mit einer selbst gekochten Mahlzeit. Nichts Atemberaubendes, aber zumindest von besserer Qualität, als das Dosenfutter, von dem Noah sich bislang ernährt hatte.
Ungefragt erledigte Jan darüber hinaus die anfallenden Hausarbeiten, wie Putzen oder Wäsche waschen, sodass Noah sogar Zeit fand, noch gemütlich einen Kaffee zu trinken, bevor er sich am frühen Abend auf den Weg zu seiner Kneipe machte.
Das war ein angenehmes Gefühl, aber er verbot sich, es zu genießen, denn dann würde er sich womöglich breitschlagen lassen, Jan noch länger Asyl zu gewähren, und insgeheim vermutete Noah, dass das der eigentliche Grund war, warum sich der Blonde so ins Zeug legte.
Ganz bewusst hielt er Abstand von Jan, redete nur das Nötigste mit ihm und antwortete auch auf Fragen nur sehr einsilbig.
Am sechsten Tag hielt er den Zeitpunkt für gekommen, Jans bevorstehenden Abschied zur Sprache zu bringen, einfach, damit der wusste, dass er es nicht vergessen hatte. Eine Woche war ausgemacht gewesen, und er hatte nicht vor, Jans Aufenthalt zu verlängern.
„Morgen gehst Du.“ sagte er beim Essen, und Jan hielt einen Moment in der Bewegung inne, mit der er den Löffel zum Mund hatte führen wollen. Etwas gezwungen lächelnd erwiderte er: „Ja, sieht so aus.“
Dann füllte wieder Schweigen die kleine Küche, nur unterbrochen vom Klappern der Löffel, mit denen sie den Eintopf aus den Tellern kratzten.
„Obwohl ...“ begann Jan nach einer Weile zögernd und mit einem unsicheren Blick, „... ich hatte daran gedacht, … Dich zu bitten ...“ Weiter kam er nicht.
Noah ließ den Löffel klirrend in den Teller fallen und lehnte sich zurück.
„Woran hast Du gedacht? Wolltest Du mich fragen, ob Du länger bleiben kannst?“
Sein Ton war barsch, und Jan sah unglücklich zu ihm hinüber, sagte aber nichts weiter.
„Vergiss´ es!“ Wie ein Peitschenhieb schleuderte Noah ihm die beiden Worte entgegen.
„Morgen verschwindest Du! So wie es abgemacht war! Ist mir egal wohin, Hauptsache raus aus meiner Wohnung und meinem Leben! Für Dich hab´ ich einmal den Kopf hingehalten, und selbst das war schon einmal zuviel! Ich versteh´ sowieso nicht, warum ich mich drauf eingelassen habe. Aber okay – eine Woche war ausgemacht, und so lange hab´ ich dich auch beherbergt. Aber das war´s jetzt! Mehr ist nicht drin!“
Wie vom Donner gerührt saß Jan aus seinem Stuhl und starrte ihn mit großen Augen an.
„Was ist?“ blaffte Noah. „Wunderst Du Dich jetzt, dass ich nicht so nett bin, wie Du gedacht hast? Du hast neulich zu mir gesagt, ich hätte mich nicht verändert, aber das scheint nur so! Ich bin nicht mehr der, der ich mal war! Manche halten mich deshalb für ein Arschloch, und vermutlich gehörst Du ab sofort dazu, aber weißt Du was? Das ist mir scheißegal! Nur die Arschlöcher überleben auf Dauer, soviel hab´ ich im Leben gelernt!“
Noch immer sah Jan zu ihm auf, doch noch während Noah redete, verschwand die Bestürzung aus seiner Miene.
Ein distanziertes Lächeln erschien auf seinen Lippen, und er nickte, als Noah geendet hatte.
„Du hast recht. Vergangen ist eben vergangen, nicht wahr?“ sagte er leichthin. „Morgen verschwinde ich. Wie abgemacht.“
Nun war es trotz allem an Noah erstaunt zu sein, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ.
Was war denn das jetzt? Er hatte ja mit allem Möglichen gerechnet, mit Bitten, Schmeicheleien, vielleicht sogar Tränen, aber diese kühle Reaktion? Was sollte er davon halten?
Jan stand auf und begann den Tisch abzuräumen, noch immer mit diesem leisen Lächeln im Gesicht, und Noah ging wie jeden Tag nach dem Essen in die Dusche.
Als er fertig war, warf er auf dem Weg in die Küche, wo er sich einen Kaffee kochen wollte, einen Blick ins Wohnzimmer. Dort kniete Jan über seiner Reisetasche und kramte darin herum. Neben ihm lagen achtlos hingeworfene Kleidungsstücke, und er schien nach etwas zu suchen.
Irgendetwas an der fliegenden Hast, mit der er in der Tasche wühlte, hielt Noahs Blick fest, und er beobachtete ihn weiter, durch die nur einen Spaltbreit geöffnete Tür. Plötzlich richtete Jan sich auf, packte die Kleider wieder ein, erhob sich und setzte sich auf die Couch. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er ein Tütchen mit kleinen, rosa Pillen auf die Tischplatte legte und den Knoten aufnestelte, mit dem die Folienverpackung verschlossen war.
Noah stand wie erstarrt. Also nahm Jan Drogen?
Als vier der Pillen gerade dabei waren, von Jans Handfläche in seinen Mund zu wandern, stürmte er ins Wohnzimmer wie ein Racheengel, riss mit einer Hand die Tüte vom Tisch, und mit der anderen zerrte er Jan vom Sofa hoch. Am Rande nur registrierte er, dass der Blonde die Hände hochriss, als erwarte er Schläge, er schlang sie um den Kopf und verbarg sich dahinter wie ein Kind, das weiß was der erhobene Arm bedeutet.
„Bist Du jetzt völlig bescheuert? Was ist das für´n Zeugs? He?“ Er schüttelte Jan wie eine Flickenpuppe und bemerkte dabei, wie leicht und zerbrechlich er immer noch war. Doch seine Wut hatte die Oberhand.
„Du kleiner Wichser! Ich lasse Dich bei mir wohnen, und Du nimmst Drogen – hier, in meiner Wohnung?!!“
Er schleuderte ihn wieder zurück auf die Couch und stand dann wutschnaubend über ihm. Mühsam beherrschte er sich.
„Du packst jetzt auf der Stelle Deine Siebensachen zusammen, und in zehn Minuten bist Du raus hier, hast Du verstanden?“ fragte er gefährlich ruhig, und Jans flackernder Blick war Antwort genug. Er sagte nichts, krabbelte nur vom Sofa, griff nach seiner Tasche und verließ fluchtartig das Zimmer.
Noah stand wie angewurzelt an derselben Stelle, bis er die Wohnungstür klappen hörte. Erst dann ging er nach draußen in den Flur und starrte auf das Türblatt, als hätte er es noch nie gesehen.
Plötzlich wurde sein Blick von etwas abgelenkt. Er drehte den Kopf und sah, dass der Zweitschlüssel, den er Jan gegeben hatte, auf der kleinen Kommode neben der Eingangstür lag.
Mehrmals atmete er tief ein und aus. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer, wo noch immer das Tütchen mit den Pillen auf dem Tisch lag. Noah griff danach, und mit spitzen Fingern trug er es ins Bad, wo es unverzüglich in der Kloschüssel landete. Erst als es mit der schäumenden Flut der Spülung endgültig verschwunden war, fühlte er sich etwas besser.
Ob das alles gewesen war, was Jan bei sich gehabt hatte?
Er schüttelte unwillig den Kopf. Das interessierte ihn doch gar nicht! Außerdem – Jan war weg, und das war auch gut so! Es war genau, wie er gedacht hatte – der Junge brachte nur Ärger! Es sah ganz so aus, als hätte ihn seine Intuition in bezug auf Jan damals nicht getrogen. Er war sicher gewesen, dass der Weg des Jungen abwärts führen würde, und ganz offensichtlich war das der Fall. Er mochte nach außen hin noch immer normal erscheinen, aber wenn er Drogen nahm oder irgendwelche Pillen schluckte, war es nur eine Frage der Zeit, bis es damit ein Ende hatte.
Noah fuhr sich durchs feuchte Haar.
Er hatte doch das Richtige getan – warum fühlte er sich dann so unwohl in seiner Haut? Verdammt! Er hatte ein Lokal zu führen – und zwar jetzt!
Obwohl es noch früh war, machte er sich fertig und verließ die Wohnung.
Während des knapp halbstündigen Fußmarsches zum Noahs!

ertappte er sich immer wieder dabei, wie er den Blick umherschweifen ließ, gerade so, als erwartete er Jan irgendwo zu sehen.
Aber der blieb verschwunden, und Noah versuchte sich einzureden, dass er wirklich richtig gehandelt hatte, obwohl sein Bauch ihm etwas anderes sagte.
Die Arbeit lenkte ihn ab, doch kaum kam er für ein paar Minuten zur Ruhe, drehte sich das Gedankenkarussell erneut. Fast war er versucht, alles stehen und liegen zu lassen und sich seinen Frust draußen aus dem Leib zu laufen.
Als er sein Lokal dann in den frühen Morgenstunden schloss, erwartete er halb, dass Jan wieder vor der Tür sitzen würde, zum nunmehr dritten Mal. Aber als er aus der abgestandenen Luft des Noahs!

in die frische Nachtluft trat, lag der Hauseingang und auch der Gehweg zu beiden Seiten verlassen und still vor seinem Blick.
Mürrisch machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung und kroch dort so rasch als möglich ins Bett.
Er schlief schnell ein, doch im Traum suchten ihn all die Dinge heim, die er die Jahre über so sorgsam unter Verschluss gehalten hatte. Schwitzend warf er sich im Bett herum, als sein im Schlaf wundersam verjüngtes Ich im Sommer von vor zehn Jahren erneut durch die Büsche rund um das Abbruchhaus kroch, auf der Suche nach Jan und Marc...


... Marc hatte den Jungen vor fünf Minuten geholt und war mit ihm verschwunden, und alle – auch Noah – hatten gewusst, was das bedeutete.
Warum er ihnen gefolgt war? Er hätte den Finger nicht darauf legen können, fast fühlte es sich an, wie ein Zwang. Vor allem aber verspürte er ein merkwürdiges Ziehen in der Brust, wenn er sich vorstellte, was Marc jetzt mit dem zierlichen Blonden anstellte.
Und es schien, als wäre er schon ganz in der Nähe. Geräusche drangen zu ihm, ein heiseres Keuchen, und eine wesentlich hellere Stimme, die klang, als würde eine breite Hand dazu benutzt, sie zu unterdrücken.
Das Buschwerk lichtete sich, und tatsächlich, da waren sie.
Noah schlug das Herz bis zum Hals, er kauerte sich nieder, damit er nicht gesehen wurde und reckte den Hals.
Es war fast der gleiche Anblick wie beim ersten Mal: Jan lag bäuchlings auf dem Boden, Marc hielt seine Hüften von hinten gepackt und stieß kräftig zu. Doch diesmal lag sehr viel mehr rohe Gewalt in der Szene, und das war vermutlich auch der Grund, warum Marc dem Jungen mit einer Hand den Mund zuhielt.
Jans Gesicht war eine Grimasse des Schmerzes, Tränen rannen darüber, er hatte die Hände zu Fäusten geballt und scharrte damit auf dem trockenen Erdboden. Er würde später mit wundgescheuerten Fingerknöcheln wieder auftauchen.
Erschrocken prallte Noah zurück und fühlte eine ungeheure Wut in sich aufsteigen, Wut auf Marc, der sich rücksichtslos nahm, was er gerade wollte, Wut auf Jans Stiefvater, der ihn im Grunde erst in Marcs Arme getrieben hatte, Wut auf eine Welt, in der so etwas überhaupt möglich war, Wut auf Jan selbst, der sich nicht wehrte, und nicht zuletzt unbändige Wut auf sich selbst, dass er so ein Feigling war und nicht wagte, dem Ganzen ein Ende zu setzen, aus Furcht, dass es vielmehr ein Ende für ihn selbst bedeuten könnte.
Leise zog er sich zurück, wollte weg von diesem scheußlichen Ort und fand sich plötzlich vor der kleinen Pizzeria wieder, wo er an seinem 18. Geburtstag mit Jan gelandet war.
Er ging hinein, und da saß er – Jan.
Er blickte ihm lächelnd entgegen, stand auf und fasste nach seiner Hand, als er näher kam. Seine Finger verschränkten sich mit Noahs, und er neigte den Kopf, bis ihre Gesichter einander so nahe kamen, dass ihre Lippen sich fast berührten. Doch da grinste er, fuhr zurück und hielt ihm anstattdessen eine kleine Plastiktüte mit rosa Pillen vor die Nase.“Hier! Probier´ Eine!“ rief er und lachte. „Wenn Du befürchtest, schwul zu sein, ist das das Beste was es gibt! Und genau das befürchtest Du doch, nicht wahr, Noah?“
Er klatschte in die Hände, war plötzlich wieder erwachsen und trug einen Glitzeranzug, wie ein Showmaster, tanzte im Kreis und klatschte in die Hände. Als Noah sich umschaute, sah er dass inzwischen eine Menge Leute um sie beide herumstanden, Jutta und Johannes waren da, Nachbarn, Bekannte, Stammgäste seines Lokals, sogar seine vor Jahren verstorbenen Eltern, und alle musterten ihn mit abfälligen Blicken, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, während Jan wie ein Derwisch um ihn herumfegte und immerfort lachte.
Noah fühlte, dass ihm der Schweiß über Gesicht und Körper strömte. Er wollte etwas sagen, wollte den Verdacht, der nun auf einmal auf ihm lastete, mit ein paar vernünftigen Sätzen wegwischen, doch er brachte kein Wort heraus. Und während er noch mit seinen widerspenstigen Stimmbändern kämpfte, merkte er plötzlich, dass er nackt war …




Mit einem Aufschrei fuhr er im Bett hoch. Er war schweißnass und wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er in seinem eigenen Bett lag und geträumt hatte.
Aufstöhnend wischte er sich übers Gesicht und sah dann auf seinen Wecker, der gerade einmal halb zwölf Uhr mittags anzeigte.
Normalerweise schlief er länger, aber heute hatte er genug von Schlaf und Träumen, warf die dünne Decke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett.
Einen Augenblick lang war er irritiert, dass kein Essensgeruch in der Luft lag, doch dann fiel ihm die Episode vom Vortag wieder ein. Jan war fort und würde es auch bleiben, diesmal endgültig!
Entschlossen stand er auf, ging in die Dusche und dann in die Küche, wo er sich eine Dose Ravioli in eine Schüssel kippte und in die Mikrowelle stellte. Weil es ihm zu still war, schaltete er das Radio ein und suchte einen Sender mit Rockmusik.
Als er mit seiner Mahlzeit fertig war, saß er noch eine Weile am Tisch, rauchte eine Zigarette und hing seinen Gedanken nach.
Er dachte an Steffie und Ingeborg, an Daniela und Marie, an all die Mädchen und jungen Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, seit damals, seit jenem verhängnisvollen Tag, wo Jan ihn unerwartet geküsst hatte.
Bei Jeder hatte er geglaubt, verliebt zu sein, bis zu einem bestimmten Punkt war er auch gern mit ihnen zusammen gewesen, aber im entscheidenden Moment … konnte er nicht.
Noah war sich sicher, dass dieser verfluchte Kuss daran schuld war, gerade so, als wäre er seitdem verhext. Jedesmal schob sich die Erinnerung dazwischen, wenn er eine Frau küsste. Und im Bett hatte er plötzlich Jans Bild vor Augen, wie er unter Marc lag, was auf seine Erregung ähnlich wirkte, wie ein Guss eiskalten Wassers.
So kam es, dass er allein lebte. Er hatte zwar nicht aufgehört, Frauen hinterher zu sehen, er flirtete auch, wenn es sich ergab, aber mehr lief da schon lange nicht mehr. Stattdessen pflegte er ein sehr inniges Verhältnis zu seiner rechten Hand.
Und nun tauchte Jan plötzlich selbst auf und brachte alles durcheinander, was er so mühsam aufgebaut hatte. Wie ein Wirbelwind fegte er innere Mauern um, brachte Blockaden zum Einsturz und zwang Noah, sich erneut mit merkwürdigen Wünschen und Gefühlen auseinanderzusetzen.
Aber er war doch nicht schwul, verdammt! Und er würde es auch nie sein! Schon allein weil er es nicht wollte!
Jan bei sich aufzunehmen war der größte Fehler gewesen, den er je gemacht hatte, aber das war ja jetzt vorbei, nicht wahr? Für diesen kleinen Stricher würde er ganz sicher nicht seinen inneren Frieden aufs Spiel setzen! Es war gut, dass er ihn vor die Tür gesetzt hatte!
Energisch drückte er seine Zigarette im Teller aus und räumte dann das Geschirr in die Spüle. Anschließend kochte er sich eine Tasse Kaffee und wartete, dass es Zeit wurde, ins Noahs!

zu gehen.


Die Tage vergingen, flossen ruhig ineinander, und von Jan gab es kein Lebenszeichen. Noah lebte sein Leben weiter, wie zu der Zeit, bevor der Blonde aufgetaucht war, und mit jedem Tag der verging, war er ein wenig mehr erleichtert. Seine Erinnerungen kamen zur Ruhe, und jedesmal war es ein bisschen leichter, sie an den Platz zu verbannen, wo sie schon die letzten zehn Jahre begraben gewesen waren.
Etwas mehr als eine Woche, seit Jans Verschwinden war vorüber, als sich das erneut änderte.
Es war ein Samstag, und Noah hatte seine Kneipe gerade erst geöffnet, als plötzlich die Tür so heftig aufgestoßen wurde, dass sie an der Wand dahinter anschlug. Erschrocken und unwillig blickte Noah hoch und sah einen Jungen im Türrahmen stehen, völlig außer Puste, und mit einem Blick wie ein gehetztes Tier.
Im nächsten Moment wurden Noahs Augen groß, denn da hatte der Junge ihn entdeckt, kam auf ihn zu, und er erkannte ihn – es war niemand anderer als Jan!
Er hatte sich allerdings sehr verändert: Seine Haare waren kurz geschnitten und dunkelbraun, er trug eine zerschlissene Jeans und ein weites Hemd, die Füße steckten in Turnschuhen, und alles in allem konnte man ihn durchaus für einen Teenager halten.
Seine blauen Augen waren panisch, als er auf Noah zustürzte und nach seinem Arm fasste.
„Bitte! Du musst mir helfen! Sie suchen nach mir, und ich weiß nicht, ob sie mich erkannt haben! Bitte – versteck´ mich! Die sind gleich hier!“ stammelte er, doch Noah, der kein Wort verstand, machte sich ungeduldig los und wich ein Stück zurück.
„Wieso muss ich Dir helfen? Wer ist hinter Dir her? Ich hab´ keine Ahnung, wovon Du redest!“
Jan überwand die Distanz zwischen ihnen jedoch sofort wieder und griff erneut nach Noahs Hemdärmeln.
„Bitte, Noah, ich schwör´ Dir, ich erklär´ Dir alles! Aber nicht jetzt! Ich muss mich verstecken! Hilf´ mir!“
Noah rang mit sich, kämpfte den ersten Impuls nieder, der Jan um jeden Preis beschützen wollte. Doch der ließ nicht locker, und plötzlich verdunkelte sich die grüne Milchglasscheibe der Eingangstür. Jemand machte Anstalten einzutreten, und Jan schob sich mit aufgerissenen Augen rückwärts Richtung Theke.
„Scheiße!“ Noah packte ihn beim Arm und drängte ihn vollends hinter den Tresen. Dort öffnete er das Fach, wo er eigentlich immer ein zweites Bierfass als Reserve kühlte und schubste ihn hinein. Kaum hatte er es geschlossen, quietschte die Tür, und zwei Männer traten ein. Beide trugen etwas, was Noah in Ermangelung eines besseren Ausdrucks im Stillen schon seit langem als Zuhälterlook bezeichnete: Markenjeans, weiße, enganliegende Shirts, in jedem Halsausschnitt eine teure Designersonnenbrille, die Haare mit Gel zurückfrisiert, dazu Goldkettchen und irgendeine teure, protzige Armbanduhr.
Langsam schlenderten sie zum Tresen und sahen sich dabei aufmerksam nach allen Seiten um. Noah nickte ihnen wie beiläufig zu und wischte scheinbar ungerührt mit einem Lappen über das Chrom des Spülbeckens hinter der Theke.
„Was darf´s sein?“ fragte er und war selbst erstaunt, dass seine Stimme völlig ruhig klang. Diese Typen sahen nicht so aus, als wäre mit ihnen gut Kirschen essen. Wenn die tatsächlich hinter Jan her waren, dann hatte er seinen Arsch mächtig tief in irgendeine Scheiße geritten. Zwar lag das Noahs!

in keiner richtig üblen Gegend, aber sie war auch weit davon entfernt, als Musterbeispiel für familientaugliches Wohnen herhalten zu können. Ein paar Blocks weiter begann der Straßenstrich, und Noah machte sich keine Illusionen über seine Kundschaft. Es gab sicher genug unter ihnen, die von seiner Kneipe aus diese sündige Meile ansteuerten. Und auch von den Mädchen selbst kamen einige nach der „Arbeit

“ bei ihm vorbei, auf ein Bier, oder einen Hamburger. Etliche von ihnen kannte er mit Namen, und sie gehörten mittlerweile zur Stammkundschaft.
Jedenfalls war Noah nah genug am Puls der Halbwelt, um zu wissen, dass die Typen, die er jetzt vor sich hatte, alles andere als harmlos waren.
Auf seine Frage hin waren sie an die Theke getreten, und einer der Beiden verlangte ein Bier, während der Andere etwas aus der Tasche zog.
Ein Foto, wie Noah gleich darauf feststellte, als er es beim Bierzapfen vor die Nase gehalten bekam.
„Den schon mal gesehen?“
Er warf einen mäßig interessierten Blick darauf und tat, als dächte er nach, griff schließlich sogar danach und starrte es eine ganze Weile an. Es war ein Bild von Jan, also hatte der zumindest nicht gelogen, was seine Verfolgung anging. Allerdings passte das nicht zu der Geschichte, die er ihm erzählt hatte, über die verheiratete Frau, deren Mann nach ihm suchte. Das hier roch nach etwas anderem.
Er zuckte die Achseln. „Wär´ möglich.“ sagte er und gab das Bild zurück. „Aber hier ist jeden Abend volles Haus, da kann ich mich nicht an jedes Gesicht erinnern. Das Einzige, was ich sicher sagen kann: er ist kein Stammkunde, denn dann würde ich mich an ihn erinnern.“ Am Gesicht des Fragers war nichts abzulesen.
Noah stellte das Bier auf die Theke und nahm das Geld entgegen. Nachdem er es in die Kasse hatte fallen lassen, wandte er sich noch einmal an die Kerle.
„Warum sucht Ihr denn nach dem Typen?“ Er lehnte sich nach vorn auf den Tresen und blickte gespannt zu den Männern auf – ganz der neugierige Kneipier.
Der Kerl mit dem Bild sah ihn abschätzend an und lächelte schweigend, doch der Andere, der gerade einen großen Schluck Bier getrunken hatte, stellte das Glas ab, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und sagte: „Er hat genommen, was ihm nicht gehört. Wenn wir ihn finden, werden wir ihn höflich fragen, ob er es uns vielleicht zurückgibt. Falls ja, bekommt er einen Klaps auf die Hand und das war´s!“
Sein Begleiter brach in schallendes Gelächter aus, doch Noah brachte nur ein schiefes Grinsen zustande, und der Sprecher selbst verzog keine Miene, während er in durstigen Zügen das Bierglas leerte. Noah griff danach und stülpte es umgehend ins Spülwasser.
„Haha! Sehr witzig!“ brummte er, noch immer in seiner Rolle als nichtsahnender, aber neugieriger Kneipenwirt.
„Ja!“ feixte der mit dem Bild. „Unser Reggie ist halt ein echter Spaßvogel.“ Dann fischte er aus seiner Hosentasche eine Visitenkarte und ließ sie, plötzlich wieder ganz ernst, auf den Tresen fallen.
„Wenn der Typ hier auftauchen sollte, dann ruf´ uns an.“
Noah zuckte die Schultern und meinte mürrisch: „Wieso sollte ich das? Wer seid Ihr denn, dass Ihr mir so kommt?“ Noch einmal ließ der Eine seine Zähne aufblitzen. „Das willst Du gar nicht wissen. Aber wenn Du weißt, was gut für Dich ist, dann tust Du, was wir Dir gesagt haben, klar?“
Damit wandten sich die Zwei ab und gingen zur Tür. Auf dem Weg dahin hörte Noah den Einen sagen: „Ich sag´ Dir, das ist Zeitverschwendung! Der Typ eben war doch noch nicht mal blond! Das war er nicht!“
Der Angesprochene wehrte sich: „Aber Du wirst doch zugeben, dass das verdächtig ist: Er sieht uns, bleibt stehen und rennt dann weg! Der wusste garantiert, wer wir sind!“
Darauf wieder der Erste: „Shit, Mann, Du bist ja paranoid! Wer weiß, warum der Typ weggerannt ist? Das war doch nur irgend so ein Punk, weiß Gott, was der alles auf dem Kerbholz hat! Vielleicht kennt er uns ja wirklich? Der Boss hat eben in vielen Sachen die Finger drin, und vielleicht hat er schon mal mit uns zu tun gehabt? Echt, Mann – Du siehst Gespenster!“
Dann fiel die Tür hinter den Männern ins Schloss, und ihre Unterhaltung war abgeschnitten.
Noah blieb noch einen Moment stehen und atmete tief durch. Dann warf er den Lappen mit einer ärgerlichen Geste auf die Theke. Er schnappte sich die Visitenkarte und warf einen Blick darauf, aber außer ein paar Initialen und einer Handynummer stand nichts darauf. Mit verächtlichem Schnauben schob er sie in seine Brusttasche, öffnete dann die Klappe, hinter der Jan kauerte und zerrte den Blonden dann unsanft nach draußen.
„So, Freundchen, Du kommst jetzt erst mal mit!“ knurrte er, schleifte ihn hinter sich her nach hinten, wo er ein Büro hatte und warf nur im Vorbeigehen einen kurzen Blick in die Küche.
„Jutta!“ rief er, „Übernimm´ für einen Moment die Theke, falls schon Gäste kommen, ja? Ich muss da erst mal was klären!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er weiter, stieß die Tür zu seinem Büro auf und schleuderte Jan mit Nachdruck in den Schreibtischstuhl. Im nächsten Moment beugte er sich zu ihm hinunter und fasste die Armlehnen mit beiden Händen.
„So, Du wirst also von einem Kerl verfolgt, dessen Frau Du flachgelegt hast?“ sagte er eisig und funkelte den vor ihm Sitzenden wütend an. Der sah aus, als würde er am liebsten im nächsten Mauseloch verschwinden und leckte sich nervös über die Lippen.
„Ich sag´ Dir was,“ fuhr Noah fort, „ich hab´ eben gerade zwei ziemlich üble Typen angelogen, und ich möchte mir nicht vorstellen, was dabei rauskommt, wenn die das mitkriegen! Ich denke, ich hab´ jetzt ein bisschen Ehrlichkeit Deinerseits verdient, meinst Du nicht? Also – raus mit der Sprache! Und zwar sofort! Wem hast Du was geklaut?“
Er beugte sich noch ein bisschen weiter vor, und Jan sank in sich zusammen. Er senkte den Kopf und drehte ihn zur Seite.
„Marc.“ flüsterte er. Noah sagte nichts, war zu verblüfft, den Namen seines alten Gangchefs zu hören und Jan setzte nach: „Ich hab´ Marc 25.000 Euro geklaut.“
Seine Stimme war so leise, dass Noah Mühe hatte, ihn zu verstehen, doch gleichzeitig schlug die Botschaft mit der Gewalt einer Bombe ein.
„Marc? Du meinst – unser Marc?“ Jan nickte, ohne ihn anzusehen, und Noah richtete sich auf.
„Du hast Marc ... 25.000 Euro geklaut?“ Irgendwie schien die nackte Tatsache nicht in seinen Verstand zu passen.
„Was hast Du denn mit dem zu tun? Du hast doch gesagt, Du wärst fertig mit ihm?“
Jan nickte wieder, heftiger diesmal und sagte: „Bin ich ja auch – jetzt schon.“ fügte er leiser hinzu.
„Jetzt schon?“ echote Noah und stieß ein heiseres Lachen aus, drehte sich halb um die eigene Achse und warf die Arme in die Höhe. „Das ist ja ganz toll, Jan! Echt ganz toll!“
Nun hob der Blonde den Kopf und machte Anstalten aufzustehen. „Ist ja schon gut, Noah.“ sagte er. „Ich haue ja schon ab.“
Wie von der Tarantel gestochen fuhr Noah herum, das Gesicht eine Maske der Wut.
„Ach ja? Und für wie lange diesmal? Was kommt als Nächstes? Fällst Du mir dann wieder irgendwo halbtot vor die Füße? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Du Dich ewig verstecken kannst?! Wieso bist Du überhaupt noch in der Stadt, Du Vollidiot? Wenn man sowas durchzieht, bringt man doch erst mal soviel Entfernung wie möglich zwischen sich und die Anderen.“
Jan betrachtete ihn mit einem Ausdruck leichter Überraschung und meinte dann lächelnd: „Fast könnte man meinen, Du machst Dir Sorgen um mich?“
Noah wechselte schlagartig die Farbe und machte eine wegwerfende Geste. „Red´ Dir nicht solchen Quatsch ein!“ knurrte er. „Aber nachdem ich Dir jetzt geholfen habe, will ich auch die ganze Geschichte hören. Ich will wissen, wofür ich meinen Kopf hingehalten habe! Also?“
Er wies auf den Stuhl, und nach einem Moment des Zögerns setzte Jan sich wieder hin. Dann aber schwieg er, schien nicht recht zu wissen, wo er beginnen sollte. Sein Blick flackerte durch den Raum und blieb schließlich an Naoh hängen.
„Ich bin ganz Ohr!“ sagte der und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sich ganz bewusst zwischen Jan und die Tür schob.
„Naja,...“ fing der an, „ eigentlich gibt’s da nicht viel zu erzählen. Marc hat über all die Jahre die Rolle als mein Zuhälter gespielt. Nachdem er mit der Schule fertig war, hat er angefangen, die ganze Sache im großen Stil aufzuziehen. Er hat ein paar Kontakte spielen lassen und mir die richtig wohlhabenden Kunden verschafft, hat mich sozusagen als Edelnutte aufgebaut.“ Ein weiteres, leicht bitteres Lächeln spielte um seine Lippen.
„Das Geld, das er mit mir verdient hat, hat er dann in den Aufbau seines Geschäfts investiert. Anfangs war das alles Kleinvieh, aber mit der Zeit wurde es mehr. Heute ist er einer der ganz Großen in dem Business. Prostitution, Internet-Pornographie, DVDs, das ist die legale Seite. Aber er steckt auch im Menschenhandel mit drin. Frauen aus Osteuropa oder Asien und Ausreißer, die seine Leute von der Straße picken. Die finden sie in der Stricherszene, so wie mich damals.“ Er machte eine erneute Pause und sah zu Boden.
„Ich war lange Zeit sein bestes Pferd im Stall. Meine Kunden kommen allesamt aus der Oberschicht. Anwälte, Industrielle, sogar ein paar Politiker sind dabei. Aber egal, wie beliebt man ist, irgendwann ist der Hype vorbei, dann kommt ein Neuer, mit einem frischeren Gesicht und einem jugendlicheren Körper. Das ist in dem Geschäft auch nicht anders, als im Showbusiness. Marc hat einen neuen Favoriten gefunden, den er gerade systematisch aufbaut – genau wie mich früher. Der Junge ist sechzehn und von zuhause weggelaufen. Wenn ich ihn ansehe, denke ich manchmal, ich sehe mich selber!“
Jan knetete die Hände ineinander. „Jedenfalls hat Marc beschlossen, dass er mit mir den größten noch möglichen Profit machen und mich an einen SM-Club verkaufen will.“
Seine Stimme erstarb, und er musste sich räuspern, um weiterreden zu können. Noah hatte den Eindruck, dass allein der Gedanke an diesen Club ihn vor Angst beinahe lähmte.
„Ich war schon öfters in diesem Club. Manchmal mit Kunden, aber meistens wenn ich für irgendwas bestraft werden sollte. Marc kennt meine Angst vor Schmerzen. Aber er weiß auch, wie verdreht ich bin, dass mein Körper drauf abfährt, wenn man ihm wehtut. Und dass das für mich das Schlimmste ist, was es gibt. Weil es mich an meinen Stiefvater erinnert.“
Das Letzte flüsterte er nur noch und wischte sich dann mit den Fingern übers Gesicht.
„Auf jeden Fall hab´ ich das Geld nur genommen, weil ich all die Jahre von der ganzen Kohle, die er mit mir gemacht hat, so gut wie nichts gesehen habe. Ich hatte immer nur ein kleines Taschengeld in der Hand, und immer war irgendwo mindestens einer seiner Wachhunde in meiner Nähe. Ich hatte eine Wohnung in Marcs Haus und durfte nirgends allein hingehen. Die 25.000 sind doch nur ein Bruchteil dessen, was er kassiert hat!“ sagte er plötzlich heftig und blickte dabei zu Noah hoch. „Und diese 25.000 sind auch der Grund, warum ich noch hier bin! Ich gehe nicht ohne das Geld weg! Es steht mir zu, und ich brauche es, wenn ich irgendwo neu anfangen will! Aber ich muss es erst holen, leider!“
„Holen? Wo holen?“ Noah war irritiert.
„Ich hab´ es bei meiner Flucht zwar mitgehen lassen, aber ich wusste ja nicht, ob ich es schaffe. Immerhin habe ich noch eine Tracht Prügel kassiert, als einer der Leibwächter mich mit den Fingern in der Kasse erwischt hat.“ Er lächelte und fuhr fort: „Dem hab´ ich dann eins mit der Schreibtischlampe übergezogen! Zum Glück hat er vorher ein bisschen tief in die Wodkaflasche geschaut, sonst hätte das wohl nicht so funktioniert?! Als ich dann durch die Tiefgarage aus dem Haus raus bin, standen da noch zwei seiner Gorillas, und mir war klar, dass die mich sehen, wenn ich vorbeigehe. Ich musste mich ranschleichen und versuchen, ihre Überraschung auszunutzen, indem ich losrenne. Ich bin ziemlich schnell, wenn ich es drauf anlege, aber die Kerle sind leider auch ziemlich gut im Training. Es bestand die Möglichkeit, dass sie mich erwischen. Wenn sie dann das Geld bei mir gefunden hätten, ... Ich hab´ Panik gekriegt, also habe ich es versteckt, bevor ich getürmt bin. Ich hab keine andere Möglichkeit gesehen, wie gesagt, ich hatte echt Panik! Leider hab´ ich es bis jetzt noch nicht geschafft ranzukommen. Ich muss irgendwie auf das Grundstück zurück, aber ich hab´ leider keine Ahnung, wie ich das machen soll, ohne dass sie mich bemerken.“
Noah schüttelte den Kopf. „Also, ich hab´ zwar keine Ahnung, in was für einem Hochsicherheitstrakt Marc heute wohnt, aber nach allem, was Du mir da erzählst, solltest Du das Geld sausenlassen und verschwinden!“
„Auf keinen Fall!“ brauste Jan auf. „Ich hab´ doch nicht mal einen Ausweis! Und wenn ich mir Einen machen lassen will, kostet mich allein das schon mindestens einen Tausender, zumindest wenn ich gute Qualität will!“
Der Dunkelhaarige schnaubte und stemmte die Hände in die Hüften.
„Hast Du mal dran gedacht, den legalen Weg zu nehmen und zur Polizei zu gehen? Immerhin hat Dich Marc jahrelang gegen Deinen Willen festgehalten!“
Jan schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Keine Polizei! Die glauben mir doch sowieso nicht!“
„Hä?“ Noah zog die Brauen hoch. „Wieso das denn?“
„Erstens hat Marc einen Haufen teurer Anwälte, zweitens hab` ich es schon mal miterlebt, wie so eine Geschichte ausgegangen ist. Eine von den Frauen ist abgehauen und zur Polizei gegangen. Es hat nicht mal ein Verfahren gegeben, weil Marc nichts bewiesen werden konnte. Die Frau wurde abgeschoben und das war´s! Und damit hat sie vermutlich noch Glück gehabt, denn so kann Marc sie wenigstens nicht mehr erreichen! - Glaubst Du, ich serviere mich ihm auf dem Silbertablett? Auch wenn´s da nicht sehr viel gibt, wofür es sich lohnt – ich hänge an meinem jämmerlichen Leben!“
Bei diesen Worten verzog er das Gesicht, wollte offenbar cool wirken, doch das ging gründlich in die Hose. Vielmehr begann sein Kinn zu beben, und er drehte das Gesicht weg, damit Noah es nicht sehen sollte.
Der hatte es aber sehr wohl bemerkt und war nun hin und her gerissen. Seine Vernunft mahnte ihn, Distanz zu wahren, sich auf nichts einzulassen, gleichzeitig verspürte er den schier unwiderstehlichen Drang, Jan in die Arme zu schließen und einfach nur festzuhalten.
Schließlich räusperte er sich betont und schob die Finger in die Taschen seiner Jeans, während er hilflos auf Jan hinunterschaute.
„Bleib´ erst mal hier im Büro.“ sagte er dann. „Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern, dann bringe ich Dich zu mir, wenn Du willst. Da können wir in Ruhe reden.“
Jan sah erstaunt zu ihm hoch. „Du willst mich wieder mit zu Dir nehmen?“ Ein prüfender Ausdruck schob sich auf seine Züge. „Hast Du keine Angst, dass ich Drogen in Deine geheiligten Hallen einschleppe?“
Noah erwiderte seinen Blick ernst. „Muss ich die haben?“
Einen Moment lang hielt Jan seiner Musterung stand, dann senkte er den Kopf. „Nein.“ sagte er leise. „Wie denn auch? Das was Du mir weggenommen hast, war alles, was ich noch hatte. Und Geld hab´ ich auch keins mehr. Außerdem waren das keine Drogen, sondern nur ein paar Muntermacher, Partypillen halt! Deine Paranoia war also absolut ...“ „Gerechtfertigt!“ fiel Noah ihm in einem Ton ins Wort, der keine Widerrede duldete. „Von wem hast Du das Zeug überhaupt? Wenn Du selber immer so wenig Geld hattest, muss es Dir doch irgendjemand gegeben haben! Wer war das? Marc?“
Jan zögerte, nickte jedoch gleich darauf stumm, und Noah nahm die Geste auf.
„Klar. Wer auch sonst. Kapierst Du denn nicht, was er damit bezweckt? Ich dachte, Du willst weg von ihm und diesem ganzen Milieu? Also, warum nimmst Du den Scheißdreck dann weiter? Oder war das alles nur leeres Geschwätz?“ Er war heftig geworden, ohne sich selbst so richtig erklären zu können, wieso.
Jans Gesicht verfinsterte sich, während er zuhörte, und als Noah geendet hatte, brach es aus ihm heraus: „Tut mir echt leid, dass ich so ein Riesenblödmann bin! Aber weißt Du was? Ich hab´ die letzten zehn Jahre damit verbracht, für meinen Luden den Arsch hinzuhalten, da hatte ich nicht so besonders viel Spaß! Also sieh es mir nach, dass ich hier und da das Bedürfnis habe, ein paar kleine, bunte Spaßmacher einzuwerfen, wenn ich es nicht mehr aushalte! Es ist nicht jedem vergönnt, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, Noah, und da muss man schon mal ein bisschen nachhelfen, damit man die stinkenden Scheißhaufen, die einem das Schicksal vor die Füße klatscht, nicht so deutlich sieht, oder sich zumindest einbilden kann, sie würden nach Veilchen duften!“
Auch er war laut geworden und hatte sich aus dem Stuhl erhoben. Seine Augen blitzten, und er wandte sich zur Tür. Dort blieb er kurz stehen und atmete tief durch.
„Vielen Dank für Deine Hilfe, und ich weiß Dein Angebot wirklich zu schätzen.“ sagte er dann, schon wesentlich ruhiger. „Aber ich glaube nicht, dass das gut geht. Du hast keine Ahnung, wie es da draußen wirklich zugeht, Noah, und das ist auch gut so. Ich hab´ lange genug da gelebt, ich komm´ schon irgendwie klar. Mein Geld hole ich mir auch irgendwann, keine Sorge, und von jetzt an werd´ ich Dich garantiert nicht mehr belästigen. Versprochen!“
Er hatte die Türklinke schon in der Hand, als Noah ihn am Arm fasste und zurückzerrte. Jan riss überrascht die Augen auf, als er die wutverzerrten Züge seines Gegenübers sah, doch da hatte Noah schon ausgeholt und ihm einen Faustschlag unters Kinn verpasst, dass er einen Augenblick lang Sterne sah und gegen die Tür taumelte. Gleich darauf wurde er gepackt und erneut in den Schreibtischstuhl gedrückt.
Wie vorhin auch packte Noah die Armlehnen mit beiden Händen und beugte sich zu Jan hinab.
„Du glaubst wohl, Du hast die Weisheit als Einziger mit Löffeln gefressen, hä?“ zischte er wütend. „Wenn hier jemand keine Ahnung vom Leben hat, dann bist das doch wohl Du! Du hast zehn Jahre lang in einem Elfenbeinturm gehaust! Er mag schmutzig gewesen sein, aber das Prinzip bleibt sich gleich! Du hast den Weg nach draußen gefunden und redest jetzt davon, Dir ein neues Leben aufzubauen, aber gleichzeitig schluckst Du bunte Pillen, damit Dir die Realität nicht so bitter erscheint und klammerst Dich an gestohlenes Geld! Das ist alles Bullshit, mein Junge! Nichts als Bullshit! Wie lange wird es noch dauern, bis Du Dich wieder verkaufst? Einen Monat? Zwei? Oder doch nur ein paar Tage? Und sei es nur, damit Du Dir ein paar kleine, bunte "Spaßmacher"

besorgen kannst! Und was glaubst Du, wie lange braucht es dann noch, bis Marc Dich wieder in seinen dreckigen Klauen hat? Wenn Du wirklich einen Neuanfang machen willst, dann mach´ einen sauberen Schnitt und fang´ wirklich NEU an! Natürlich steht Dir das Geld irgendwo zu, immerhin hast Du es verdient, aber diese Denkweise bringt Dich nicht weiter, kapierst Du das nicht?“ Er machte eine kurze Pause, sah zur Seite und beruhigte sich mühsam. Als er weiterrredete, klang seine Stimme beherrscht.
„Ich weiß, ich hätte Dich damals nicht aufgeben dürfen. Aber ich war ja selbst noch ein halbes Kind und hatte eine Scheißangst vor Marc und seinen Schlägern. Sie haben mir zwei Rippen und die Nase gebrochen, nur weil ich nach Dir gesucht hatte! Ich will mich nicht entschuldigen, ich hätte zur Polizei gehen sollen, es meinen Eltern erzählen oder sonstwas, aber damals schienen das alles keine guten Ideen zu sein. Ich traute der Polizei genausowenig wie die mir, und meine Eltern hätten mir vermutlich auch nicht geholfen. Ich bezweifle heute noch, dass sie sich für einen minderjährigen Stricher engagiert hätten. Nach außen hin waren sie immer tolerant, aber nur, solange das Objekt ihrer Toleranz nicht auf den Teppich pinkelte – bildlich gesprochen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also tat ich gar nichts. Heute weiß ich, dass das falsch war, aber das ändert nichts mehr. Deshalb – wenn Du wirklich raus willst, wirklich und wahrhaftig, helfe ich Dir! Aber dann spielen wir das hier nach meinen Regeln!“
Jan hatte mit unbeweglicher Miene zugehört, doch nun hob er das Gesicht, sodass es dicht vor Noahs war.
„Warum hast Du damals überhaupt nach mir gesucht?“ fragte er, und Noah brachte hastig etwas Abstand zwischen sich und ihn. „Ich wollte Dir helfen.“ sagte er, und Jan rückte erneut näher.
„Warum?“ fragte er hartnäckig und fasste nach Noahs Handgelenken, als der Anstalten machte, sich aufzurichten.
„Weil Du mir leid getan hast!“ Noah versuchte sich loszumachen, aber Jan hatte ihn im Klammergriff und ließ nicht locker. „Ich hab´ Dir also leid getan, ja? Und wie ist es gerade jetzt? Tue ich Dir jetzt auch leid?“
Sein Gesicht war ganz nah, viel zu nah, und Noah drehte den Kopf zur Seite, weil Jan sich nach wie vor weigerte, ihn loszulassen. Sein Herz schlug so laut und heftig, dass es in seinen Ohren dröhnte, und sein Blick wurde immer wieder von Jans Lippen angezogen. Ob sie noch genauso süß schmeckten, wie vor zehn Jahren?
Unwillig schüttelte er endlich Jans Hände ab.
„Mach´ ich Dich nervös?“ fragte der mit einem koketten Lächeln, und Noah zog die Brauen zusammen. „Du gehst mir auf die Nerven, falls Du das meinst.“ brummte er und machte schnell einen Schritt nach hinten, der ihn aus der Gefahrenzone brachte. Dort atmete er etwas befreiter und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Also, was sagst Du?“ Jan sah zu ihm auf und schien ernsthaft zu überlegen. Plötzlich lachte er und erhob sich.
„Nach Deinen Regeln spielen? Ich sag´ Dir was, Noah: Ich hab´ viel zu lange nach der Pfeife anderer Leute getanzt! Das ist endgültig vorbei, und da mach´ ich auch für Dich keine Ausnahme. Wie gesagt, ich bin dankbar, dass Du mir vorhin geholfen hast, aber in Dein Bootcamp kannst Du allein einziehen! Mach´s gut!“
Noah sah ihm nach, wie er zur Tür ging, und erst als er schon beinah draußen war, sagte er ein einziges Wort: „Feigling!“
Jan blieb stehen wie angewurzelt, zögerte einen Moment und wandte sich dann lächelnd zu Noah um. „Ich weiß, dass ich ein Feigling bin, da sagst Du mir nichts Neues! Ich habe Angst vor Schmerzen, fürchte mich im Dunkeln und schlucke Pillen, wenn ich den Druck nicht aushalte. Aber was ist eigentlich mit Dir, hm? Hast Du darüber mal nachgedacht? Ist es nicht auch feige, wenn man sich selbst was vorlügt?“
Noch immer lächelnd wollte er weitergehen, doch da schoss Noahs Hand vor und knallte die Tür ins Schloss. Nur einen Wimpernschlag später, fand sich Jan fest an die Wand gepresst und seine Arme wie in einem Schraubstock in Noahs Griff gefangen. Seine blauen Augen sahen unsicher in Noahs dunkle Iriden und erkannten darin den Kampf, der sich in seinem Innern abspielte. Ärger, Verlangen, Wut und Hilflosigkeit mischten sich in ihnen zu einem emotionalen Kaleidoskop, ohne dass eines dieser Gefühle die Oberhand gewinnen konnte.
Schließlich senkte Noah den Kopf, und sein Griff lockerte sich. Er wollte sich abwenden, doch da hob Jan eine Hand und strich mit den Fingerspitzen sanft über Noahs Wange. Ihre Blicke kreuzten sich erneut, und diesmal hatte Noahs Widerstand keine Chance mehr.
Es war ein Gefühl, als hätte er bis eben an einem Seil, das immer dünner wurde, über einem Abgrund gebaumelt, nun war die letzte Faser gerissen, und er stürzte endgültig hinein.
Mit einem Laut wie ein Aufschluchzen fasste er Jans Gesicht und drängte seine Lippen auf dessen Mund. Und in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, wie lange er sich genau danach gesehnt hatte.
Seit dem Tag vor zehn Jahren, als er gesehen hatte, wie Marc den schmalen, blonden Jungen unter sich gezwungen hatte, war da diese Leere in seinem Herzen gewesen, und egal, was er auch versucht hatte, diese Lücke hatte sich mit nichts schließen lassen. Doch jetzt, als er diese weichen, warmen Lippen spürte, schien sich das Loch in seiner Brust mit neuem Leben zu füllen. Plötzlich fühlte er sich heil und ganz, und erst jetzt begriff er, dass er genau das all die Jahre nicht gewesen war. Nie war er wirklich vollständig gewesen, immer nur ein halber Mensch, erst jetzt, hier, mit Jan in seinen Armen war das anders. Eifrig öffnete er den Mund und tippte Jans Lippen mit der Zungenspitze an, worauf sie sich teilten und ihm willig Einlass gewährten. Wie von selbst wanderten Jans Hände um Noah herum und zogen ihn in eine feste Umarmung.
Lange Zeit war es still im Büro, bis auf ihr heftiges Atmen und die leisen Geräusche ihres Kusses. Dann klopfte es plötzlich an die Tür, und Noah machte sich hastig los.
Als wäre er aus einem Traum aufgeschreckt, wich er ein paar Schritte zurück und starrte Jan mit entsetztem Blick an.
„Chef?“ drang eine Frauenstimme durch das Holz der Bürotür. „Es wird langsam voll vorne, und da sind ein paar Gäste, die was essen möchten. Johann braucht mich in der Küche und lässt fragen, ob Du nicht langsam wieder hinter die Theke gehen kannst!?“
Noah stand wie angewurzelt und hatte Mühe, das Gehörte einzuordnen und zu erfassen. Viel zu groß war der Aufruhr in seinem Kopf. „J-Ja, geh` nur, Jutta! Ich bin sofort da!“ brachte er mühsam heraus und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, während sich draußen im Gang Juttas Schritte entfernten.
Verdammt, wie sollte er sich jetzt auf sein Geschäft konzentrieren?
„Soll ich doch lieber verschwinden?“ fragte Jan scheinbar leichthin. Nur wenn man ihn genau anschaute, konnte man das verräterischen Glitzern in seinen Augen erkennen. Noah öffnete den Mund, blieb jedoch stumm und machte ihn wieder zu. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte!
Plötzlich straffte er sich. Er steckte die Hand in die Hosentasche und zog den Zweitschlüssel heraus, den er mit sich herumtrug, seit Jan ihn zurückgelassen hatte.
„Findest Du den Weg allein?“ fragte er, als er ihn Jan hinhielt, und der sah einen Augenblick lang skeptisch darauf hinab, bevor er nickte, ihn nahm und in die eigene Tasche schob.
„Es ist Samstag,“ schob Noah noch hinterher, eine Hand schon auf der Türklinke, „da wird es spät, also leg´ Dich ruhig schlafen. Wir können morgen früh reden.“
Damit huschte er aus dem Raum, ohne Jan noch die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen oder zu tun. Gleich darauf stand er hinter dem Tresen und verdrängte gewaltsam jeden Gedanken an das, was vorgefallen war.
Darüber musste er später nachdenken, in ein paar Stunden, wenn es ruhig war, auf dem Heimweg, am nächsten Tag, nächste Woche, nächstes Jahr, oder sonst wann. Irgendwann, nur nicht gerade jetzt …!


Als Noah sich auf den Heimweg machte, wurde es bereits hell. Er hatte sich diesmal extra lang in seiner Kneipe aufgehalten, hatte eine Inventur gemacht und Bestellungen geschrieben, die Theke entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schon aufgefüllt, sämtliche Chromteile geschrubbt und gewienert und die ganze Zeit über versucht, den wirbelnden Gedanken und Bildern in seinem Hirn Einhalt zu gebieten.
Doch der Effekt seiner Verzögerungstaktik war genau gegenteilig gewesen, und nun fühlten seine Beine sich an, als bestünden sie aus Wackelpudding.
Wieso hatte er Jan bloß geküsst? Denn das die Initiative von ihm, Noah ausgegangen war, konnte er nicht einmal vor sich selbst abstreiten. Aber er war doch nicht schwul! … Oder?
Den ganzen Abend und die Nacht hindurch war er seinen Gästen gegenüber einsilbig bis an die Grenze zur Schroffheit gewesen, weil ihn genau diese Frage an den Rand der Verzweiflung trieb. Und jetzt wagte er kaum sich vorzustellen, wie es sein mochte, Jan gegenüber zu treten, mit ihm in der Wohnung allein zu sein.
Warum hatte er ihm auch seinen Schlüssel geben müssen? Er hätte sich ohrfeigen können! Hätte er ihn doch einfach abhauen lassen, als er es vorgeschlagen hatte!
Der heraufziehende Julimorgen war frisch, und Noah bemühte sich, langsam zu gehen, um seine Ankunft zuhause möglichst lange hinaus zu zögern, so dass er schließlich seine Finger in die Jackentaschen schob, weil er zu frieren begann. Trotz allem stand er schließlich vor seiner Tür und holte den Zweitschlüssel aus der Jackentasche, schloss auf und trat möglichst leise ein. Drinnen lehnte er sich einen Moment an die Tür und horchte ins düstere Zwielicht seiner vier Wände.
Alles war still, und er schlich so geräuschlos wie möglich ins Wohnzimmer. Dort machte er allerdings die Entdeckung, dass das Sofa leer war und er knipste das Licht an, als könne das frühmorgendliche Grau, das noch in allen Ecken hing, Jan vor seinen Blicken versteckt haben.
Doch auch im Schein der Halogenlampen blieb der Anblick der gleiche. Kissen und Wolldecke lagen so auf dem Möbelstück, wie Noah es am Vortag hinterlassen hatte. Hier hatte definitiv niemand geschlafen.
Grübelnd ging er weiter in sein Schlafzimmer und konnte sich nicht entscheiden, ob er beunruhigt oder erleichtert sein sollte. Doch kaum hatte er die Schwelle seines Schlafzimmers überschritten, prallte er entsetzt zurück, denn dort in seinem Bett lag der Gesuchte. Jan hatte sich tatsächlich in Noahs Bett gelegt!
Erwartete er etwa, dass Noah sich einfach so dazu legte?
Auf gar keinen Fall! Noah wich zurück in Richtung Flur. Also, was dann? Jan aufwecken und aus dem Bett scheuchen? Das würde aber auch bedeuten, möglicherweise unangenehme Fragen gestellt zu bekommen.
Wie ein Roboter stakste er zurück ins Wohnzimmer und sank auf die Couch nieder. Verflucht, die ganze Situation fühlte sich dermaßen unwirklich an, dass er versucht war, sich selbst in den Arm zu kneifen. Doch er wusste ja längst, dass das alles real war, auch wenn es ihm nicht gefiel.
Er sah sich um. So, wie die Dinge lagen, würde er nun wohl mit dem Sofa vorlieb nehmen müssen. Und wenn er wieder aufwachte, musste er sich Jan stellen. Er musste ihm klarmachen, dass die Sache mit dem Kuss ein Ausrutscher gewesen war, ein bedauerlicher Irrtum seinerseits, der nichts zu bedeuten hatte.
Bei diesem Gedanken bildete sich ein schwerer, dumpfer Knoten in seiner Brust, und eine bleierne Schwere ergriff Besitz von ihm.
Ach was!

sagte er sich, alles was ich jetzt brauche, sind ein paar

Stunden guter, gesunder Schlaf. Danach sieht alles anders aus!


Entschlossen streifte er Jeans und Hemd aus und kroch dann in Unterhose und T-Shirt unter die Wolldecke.

...


Die Stunden vergingen und Noah schlief tief und fest, nachdem er sich zunächst noch eine ganze Weile auf der Couch herumgewälzt hatte, bevor ihn endlich der Schlaf übermannte. Er merkte nicht, wie die Sonnenstrahlen durchs Wohnzimmer wanderten, von der einen Wand langsam herabglitten, wie goldener Honig über den Teppich flossen und an der gegenüberliegenden Wand wieder hinauf zu kriechen begannen. Er sah nicht, wie ein stehengebliebenes Glas auf dem Wohnzimmertisch einen bunten Regenbogen auf die weiße Rauhfasertapete warf, und er merkte auch nicht, wie Jan ins Zimmer kam, einen Moment in der Tür stehenblieb und dann leise zu ihm herüber kam. Vorsichtig setzte er sich auf die Kante der Couch, darauf bedacht, den Schlafenden nicht zu wecken.
Behutsam beugte er sich zu Noah hinab und hob die Hand, um mit den Fingern vorsichtig eine Haarsträhne aus seiner Stirn zu schieben. Auf halbem Weg überlegte er es sich anders und ließ die Hand wieder sinken.
Mit einem resignierten Seufzer drehte er den Kopf zur Seite und stand auf.
Einen Augenblick später klappte die Tür zum Badezimmer, und gleich darauf rauschte die Dusche.


Als Noah blinzelnd die Augen öffnete, wusste er einen Moment lang nicht, wo er sich befand. Er starrte an die Decke, welche definitiv nicht die in seinem Schlafzimmer war und überlegte, warum er nicht in seinem Bett lag.
Dann ertönte ein leises Klappern aus der Küche, und mit einem Schlag war seine Erinnerung wieder da: Jans plötzliches Wiederauftauchen, die beiden Schlägertypen und natürlich der Kuss...
Bei dem Gedanken daran lief ein heißkalter Schauer über Noahs Rücken, und er richtete sich hastig auf.
Er griff nach seinen Kleidern und verschwand zunächst im Bad, in der Hoffnung, dass der kräftige Wasserstrahl der Dusche die merkwürdige Benommenheit aus seinem Kopf vertreiben würde und er zumindest eine Ahnung bekam, wie er ab sofort mit Jan umgehen sollte.
Lange stand er unter der Brause, doch das Gewusel in seinem Hirn wurde nicht weniger, im Gegenteil – je näher der Moment rückte, wo er das Wasser endgültig abstellen, sich abtrocknen, anziehen und das Bad verlassen musste, umso nervöser wurde er.
Doch schließlich war es soweit: Er war fertig – absolut sauber, ordentlich rasiert und gekämmt, die Duschwanne war trocken und alles wieder ordentlich aufgeräumt.
Tief durchatmend, als gelte es, einem Zerberus gegenüber zu treten, fasste er nach der Türklinke und drückte sie herunter. Langsam ging er durch den kleinen Flur seiner Wohnung und betrat nach einem letzten Zögern die Küche.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es verdammt gut roch – Jan hatte wieder gekocht. Chili con Carne diesmal. Eigentlich etwas, was er sehr gern aß, doch jetzt gerade war ihm der Appetit komplett abhanden gekommen. Jan saß am gedeckten Tisch, ein Buch in der Hand und sah hoch, als Noah eintrat. Aufmerksam musterte er Noahs Gesicht, legte das Buch beiseite und machte eine auffordernde Geste mit der Hand.
„Setz´ Dich!“ sagte er und hob einen der Teller, um eine Portion Chili mit Reis darauf zu schöpfen.
Schweigend ließ Noah sich nieder, und nachdem Jan auch den zweiten Teller gefüllt hatte, begannen sie zu essen.
Keiner der Beiden sagte etwas, doch Noah bemerkte sehr wohl, dass Jan ihn immer wieder ansah. Er starrte dafür umso konzentrierter in seinen Teller und löffelte das Chili in sich hinein, als hinge sein Leben davon ab.
Als sie fertig waren, stand Jan auf, räumte die Teller ins Spülbecken, und noch immer hatte keiner ein Wort gesagt, sodass das Schweigen wie ein Zentnergewicht auf ihnen lastete.
Plötzlich räusperte sich Jan und fragte: „Warum hast Du denn auf der Couch geschlafen?“
Er stellte die Frage scheinbar leichthin, aber Noah war sich der scharfen Kanten unter der Oberfläche sehr wohl bewusst, deshalb zögerte er mit der Antwort. Schließlich erwiderte er: „Weil mein Bett besetzt war.“
Langsam, vorsichtig, jedes Wort auf die Goldwaage legend.
„Aber Dein Bett ist doch groß genug. Da hätten wir locker beide Platz gehabt.“ kam es von Jan. Seine Stimme klang höher als sonst, ein Zeichen dafür, dass auch er sich des dünnen Eises bewusst war, auf dem sie sich verbal vorantasteten.
Plötzlich hatte Noah genug davon. Er war von Natur aus kein geduldiger Mensch, und das Unbehagen, welches ihm die ganze bizarre Situation einflößte, tat ein Übriges. Mit einer ärgerlichen Geste wischte er über den Esstisch und blaffte: „Ich bin nun mal nicht daran gewöhnt, mein Bett mit einem Kerl zu teilen, schon gar nicht mit einem, der sich für Geld in den Arsch ficken lässt.“
Schon während er die Worte aussprach, taten sie ihm leid, und am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Doch der Schaden war angerichtet, und er brauchte Jan nicht zu sehen, um zu wissen, welche Wirkung dieser barsch hingeworfene Satz auf ihn hatte.
Noah saß mit dem Rücken zur Spüle, und hinter ihm war es still geworden.
Als Jan dann wieder zu sprechen begann, war seine Stimme klar und ruhig.
„Ich verstehe. Weißt Du, ich bin wirklich froh, dass Du so ehrlich bist. So wissen wir doch beide, woran wir sind.“
Er machte eine kurze Pause, dann redete er weiter. „Ich bin wirklich nicht stolz auf das, was ich die letzten zehn Jahre gemacht habe, aber - ob Du´s glaubst, oder nicht - ich schäme mich auch nicht dafür. Hätte ich eine Wahl gehabt, wäre mein Leben sicher anders verlaufen, aber mich hat leider niemand gefragt. Mein Stiefvater nicht, wenn er in mein Zimmer kam, mich zuerst prügelte und sich dann an mir verging und auch Marc nicht. Was sollte ich machen, damals, als ich auf der Straße lebte? Ich musste was essen, Klamotten brauchte ich auch gelegentlich, und ich war nicht viel mehr als ein Kind. Das Einzige, womit ich Erfahrung hatte, war Sex mit einem Mann. Also habe ich mich irgendwann überwunden und bin auf den Strich gegangen. Anfangs war es furchtbar. In jedem Freier habe ich meinen Stiefvater gesehen, aber ich habe es irgendwie ausgehalten. Welche Wahl hatte ich denn, außer vielleicht kriminell zu werden? Nur wäre dann das Risiko geschnappt zu werden, um einiges größer gewesen, und das hätte bedeutet, dass man mich wieder nach Hause schickt. Aber da konnte ich nicht wieder hin. Auf keinen Fall!“
Erneut machte er eine Pause, und Noah saß wie erstarrt auf seinem Stuhl, wagte nicht, sich zu rühren.
„Ich bin wirklich nicht stolz darauf, wie mein Leben verlaufen ist, aber auf eine Sache schon!“ Seine Stimme bebte unmerklich, als er fortfuhr: „Ich bin stolz darauf, dass ich heute hier bin! Dass ich am Leben geblieben bin und mich nicht aufgegeben habe! Und das war nicht immer so einfach, glaub´ mir!“
Nun wurde er allmählich lauter: „Du ekelst Dich vor mir? Okay, aber lass´ mich Dir erst noch eine Frage stellen: Wenn Du an meiner Stelle gewesen wärst, meinst Du, Du wärst heute auch hier? Was hat Dich in die Gang gebracht, hm? Soviel ich damals gehört habe, hatten Deine Eltern doch so richtig Schotter!? Ich behaupte nicht, dass Geld allein glücklich macht, aber was war es denn anderes als gepflegte Langeweile, die Dich nach einem Kick hat suchen lassen, den Du in Deinem behüteten Elternhaus nicht gefunden hast? Ich war zwölf, als mein Stiefvater mich das erste Mal vergewaltigt hat. Als ich weggelaufen bin, war ich vierzehn, und bis dahin habe ich schon lange nicht mehr mitgezählt, wie oft er es getan hat.“
Er brach ab, und nun endlich drehte Noah sich um, stand auf und sah ihm ins Gesicht.
Es war blass und die blauen Augen groß und dunkel, aber trocken.
Krampfhaft überlegte Noah, was er sagen konnte, um seinem gedankenlos hingeworfenen Satz von vorhin nachträglich die Schärfe zu nehmen, doch es fiel ihm nichts ein.
Und Jan ließ ihm nicht wirklich Zeit, sich etwas zurecht zu legen, denn er straffte den Rücken und redete weiter: „Ich weiß selbst, dass ich ein paar wirklich schlechte Entscheidungen getroffen habe, und mich auf Marc einzulassen war mit Abstand die dümmste. Aber meinst Du, Du hast immer alles richtig gemacht? Nie eine falsche Entscheidung getroffen? Es war doch wohl in erster Linie Zufall und für Dich reines Glück, dass ich in der Gosse gelandet bin und Du nicht! Zehn Jahre lang war ich Marcs Spielzeug, ein Instrument, mit dem er Geld gemacht hat, eine Menge Geld sogar, und es hat ihn einen Dreck interessiert, wie es mir dabei ging! Ich hatte niemanden, der mir Halt gegeben hätte, bei dem ich meine Wut, meine Angst und meinen Schmerz hätte abladen können, aber trotzdem bin ich nicht völlig vor die Hunde gegangen! Nach zehn Jahren bin ich endlich abgehauen, ganz allein und hab´ sogar noch einen Teil des Geldes mitgehen lassen, das ich über die Jahre verdient hatte! Als ich dann vor dieser Kneipe saß, war ich so fertig, dass ich dachte, ich sterbe, und plötzlich mache ich die Augen auf und sehe Dich! Ich glaubte zuerst, ich träume, aber dann warst Du es tatsächlich! Du hast mich hier aufgenommen, mich bei Dir wohnen lassen und alles, und ich hab mir eingeredet, dass Du vielleicht mehr für mich empfindest, als nur Sympathie und Mitleid. Und als Du mich heute geküsst hast ...“ Weiter kam er nicht, denn Noah fiel ihm heftig ins Wort: „Hör´ auf! Das reicht!“
Schwer atmend drehte er Jan wieder den Rücken zu und stützte sich auf die Lehne seines Stuhls. Ohne den Blick zu heben sagte er: „Das war ein Fehler. Der Kuss, meine ich, der war ein Fehler! Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist, aber es hätte nicht passieren dürfen. Es tut mir leid, wenn ich damit bei Dir irgendwelche Hoffnungen geweckt habe. Ich bin nicht schwul. Ich war es nie, und ich werde es auch nie sein!“
„Lügner!“

schrie es in seinem Inneren, doch er brachte die Stimme zum Schweigen. Allerdings konnte er sich nicht umdrehen und Jan ansehen, und er wollte es auch gar nicht, denn er fürchtete, dieser könnte ihm seine Gedanken am Gesicht ablesen.
„Verstehe.“ Hinter seinem Rücken klapperte plötzlich Geschirr, doch noch immer stand Noah wie festgewachsen.
„Ich verschwinde, sobald ich mit dem Abwasch fertig bin.“ sagte Jan, und seiner Stimme war nicht anzumerken, wie er sich fühlte. Nun, nach allem, was Noah wusste, hatte er wohl in den zurückliegenden Jahren genug Gelegenheit gehabt, sich im Verstecken seiner wahren Gefühle zu üben.
„Verschwinden? Wohin denn?“ fragte er dennoch und drehte sich wieder um. Jan hob die Schultern, ohne ihn anzusehen.
„Es wird sich schon was finden!“ erwiderte er. „Ein Plätzchen zum Schlafen gibt es überall, und duschen kann ich schon mal im Obdachlosenasyl.“
Noah betrachtete ihn von hinten. Er wirkte in der Tat nicht verwahrlost, aber dünner und schmaler als vor rund zwei Wochen. Seine Handgelenke wirkten wie die eines zarten Mädchens, so zerbrechlich und filigran, und in seinem gebeugten Nacken waren die Erhebungen der Wirbel deutlich zu sehen. Wieso war ihm das nicht früher aufgefallen?
„Nein.“ sagte er daher mit einem Mal entschlossen. Jan drehte den Kopf und sah ihn erstaunt an. „Was - Nein?“
„Du verschwindest nicht! Das meine ich! Du bleibst hier! Sieh Dich nur an, Du bestehst ja fast nur noch aus Haut und Knochen! Das kann ich nicht verantworten! Wenn Du kein Geld hast, um Dir was zu essen zu kaufen, landest Du über kurz oder lang doch wieder auf dem Strich! Und sowieso ist es nur eine Frage der Zeit, bis Du Marc oder seinen Schlägern in die Hände läufst, wenn Du auf der Straße lebst!“
Während er redete, hatte sich Jan vollends herumgedreht und stand nun mit hängenden Schultern vor Noah. Mit einem kleinen Lächeln schüttelte er den Kopf.
„Du bist echt ein komischer Kerl, weißt Du das?“
Noah sah zur Seite und bemühte sich, seine Verlegenheit zu überspielen.
„Ja, kann schon sein.“ Mit einer ungeduldigen Geste zuckte er die Achseln. „Also, was ist nun? Nimmst Du mein Angebot an? Ich warne Dich aber gleich: Wenn Du wieder Drogen anschleppst oder sonst was, werfe ich Dich raus, klar?“
Einen Moment lang wanderten Jans Augen noch prüfend über Noahs Gesicht. Schließlich nickte er. „Ja. In Ordnung.“
Für ein paar Minuten standen sie stumm voreinander, und die Atmosphäre zwischen ihnen schien sich auf seltsame Art aufzuladen. Noah hatte plötzlich das Gefühl, die Spannung buchstäblich mit den Händen greifen zu können und wandte sich deshalb der Kaffeemaschine zu. Mit leicht zitternden Fingern füllte er Wasser und Kaffeepulver ein und schaltete das Gerät an. Dabei zerbrach er sich den Kopf nach einem unverfänglichen Gesprächsthema, aber sein Herz hämmerte viel zu laut und zu schnell.
Idiot!

hörte er wieder die innere Stimme von vorhin. Wem willst Du hier was vormachen? Sieh Dich doch nur an: Deine Hände zittern, Du hast Herzklopfen und Schweißausbrüche – gesteh´ es Dir endlich ein – Du stehst auf ihn! - Nein! Das ist

nicht wahr!!

widersprach er sich gleich darauf selbst vehement.
Unwirsch warf er den Teelöffel in die Dose mit dem Kaffeepulver und knallte die Schranktür zu, nachdem er sie wieder hineingestellt hatte.
Jan, der inzwischen zwei Tassen von der Anrichte genommen und auf den Tisch gestellt hatte, blickte ihn verwundert an, sagte aber kein Wort. Eine Weile war nichts zu hören, außer dem Blubbern der Kaffeemaschine. Noah stand noch immer vor der Arbeitsplatte, auf der die Maschine stand und rührte sich nicht.
Erst als der Kaffee fertig war, kam er an den Tisch und goss sich eine Tasse ein. Jan hielt ihm seine Tasse ebenfalls hin, und dann saßen sie einfach nur da und nippten langsam an dem dampfenden Getränk.
Wieder lastete die Stille auf ihnen, und wieder war es Jan, der sie brach.
„Wieso warst Du eigentlich wirklich in der Gang damals? Warst Du echt nur auf der Suche nach einem Kick?“
Noah sah zu ihm hinüber. Also schien auch er sich in Gedanken noch immer mit dem Gespräch von eben zu beschäftigen.
Er zuckte die Achseln. „Gute Frage.“ erwiderte er. „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich schätze mal, ich war auf der Suche nach irgendwas. Nach mir, nach meinem Leben, keine Ahnung. Ich war siebzehn und hatte das Gefühl, dass es irgendwo da draußen was geben müsste, wofür sich der ganze Scheiß lohnt. Meine Eltern rackerten wie die Blöden mit ihrer Firma, und ich hab´ mich gefragt wozu? Sie hatten doch alles. Ein tolles Haus, Autos, Geld, aber irgendwie schien das immer noch nicht zu reichen. Sie haben einfach immer weitergemacht, wie ein Hamster im Laufrad. Haben Kohle gescheffelt und dabei verlernt, sich an dem zu freuen, was sie hatten.“
Er schwieg einen Moment, versunken in Erinnerungen, und Jan nickte verstehend. „Wie an Dir zum Beispiel.“ sagte er, und Noah blickte ihn erstaunt an. Das war etwas, was er immer gedacht, aber nie ausgesprochen hatte, und nun legte Jan den Finger punktgenau auf die Wunde, die ihn seit seiner Jugend schmerzte.
Er schien zu begreifen, was Noah dachte, lächelte entschuldigend und zog die Schultern hoch, während er die Hände fester um die Kaffeetasse schloss.
„Ja, vielleicht.“ sagte Noah gedehnt. „Auf jeden Fall wusste ich, dass ich nicht so enden wollte. Es musste noch was anderes geben, irgendwas, irgendwo. Ich bin dann nach dem Abitur für drei Jahre in die Staaten gegangen. Vorher gab es noch einen handfesten Krach mit meinen Eltern. Die erwarteten von mir, dass ich studiere und die Firma übernehme, aber ich hab´ abgelehnt. Das haben sie nie verstanden. Sie haben mich dann zwar nicht vor die Tür gesetzt, aber mir ganz klar gesagt, dass ich mit keinerlei Unterstützung ihrerseits rechnen dürfe. Gehört habe ich dann nie wieder von ihnen. Nicht mal, als es mit ihrer Firma bergab ging. Irgendwann waren sie völlig bankrott und eines Tages, im Winter vor vier Jahren sind sie auf einer eisglatten Straße verunglückt. Der Familienanwalt hat mich kontaktiert, und ich bin sofort nach Hause geflogen. Aber es war zu spät. Mein Vater war sofort tot und meine Mutter ist wenige Tage später auch gestorben, ohne nochmal zu sich zu kommen. Zwar stand der Verdacht im Raum, es könnte ein gemeinsamer Selbstmord gewesen sein, angesichts ihrer finanziellen Lage, aber es gab keine Beweise dafür. Darum hat die Lebensversicherung letztendlich gezahlt, und nachdem die Firma verkauft und die Schulden beglichen waren, blieb noch genug übrig, um das Noahs!

zu kaufen und einzurichten. Damals war es nur eine runtergekommene Spelunke, aber nachdem ich eine Menge Arbeit reingesteckt habe, ist es zu dem geworden, was Du heute siehst.“
Seinem Gesicht war anzumerken, dass Noah stolz war auf das, was er geschaffen hatte, und Jan nickte verstehend.
„Hmhm. Interessante Geschichte. Und – fehlen Dir Deine Eltern? Ich meine, hättest Du gern die Chance, alles wieder gerade zu rücken, was zwischen Euch stand?“
Noah überlegte, kramte eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Nachdem er den ersten tiefen Zug genommen hatte, blies er den Rauch gegen die Decke und meinte: „Manchmal schon. Aber es nützt ja nichts. Sie sind tot. Egal was ich tue, daran ändert sich nichts. Also ist es besser, nach vorne zu sehen, meinst Du nicht?“
Jan starrte auf die Tischplatte. Schließlich sagte er ohne aufzublicken: „Da hast Du vermutlich recht, aber ich kann das nicht so einfach. Ich hab´ keine Ahnung, ob meine Mutter und mein Stiefvater noch leben oder tot sind, aber sie waren ja beide noch nicht alt, also leben sie vermutlich noch. Und wenn ich daran denke, dann kommt eine derartige Wut in mir hoch …!“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Ich frage mich immer, ob meine Mutter gewusst hat, was ihr Mann mit mir angestellt hat, wenn sie nicht da war. Ich meine, ist es wirklich denkbar, dass sie über zwei Jahre lang nichts gemerkt hat? Aber wenn sie es tatsächlich gewusst oder auch nur geahnt hat – hätte sie mir dann nicht helfen müssen? Mir, ihrem eigenen Kind? Nie hat sie irgendwas gesagt, kein einziges Mal, aber manchmal hat sie mich so seltsam angesehen, fast so, als wäre sie … eifersüchtig auf mich.“
Betroffen sah Noah ihn an. Egal, wie mies und unverstanden er sich in seiner Jugend gefühlt haben mochte, derartige Abgründe hatten sich vor ihm nie aufgetan. Wenn er sich auch nur ansatzweise in Jan hinein zu versetzen versuchte, bekam er eine Gänsehaut.
„Wir hatten nie viel Geld.“ fuhr Jan jetzt fort und sah aus dem Fenster, als läge da draußen seine Vergangenheit vor seinen Blicken ausgebreitet. „Aber solange mein Vater noch bei uns lebte, war das nie wichtig. Wir hatten uns, waren eine Familie, da ging es immer irgendwie. Mein Vater arbeitete auf dem Bau, und meine Mutter saß in einem Supermarkt hinter der Kasse. Große Sprünge waren nicht drin, aber wir kamen zurecht.
Und dann, als ich zehn war, fand mein Vater eine andere Frau und ging weg. Meine Mutter war danach nicht mehr die Gleiche. Sie kam einfach nicht drüber weg, dass er sie verlassen hatte. Früher hat sie oft gelacht, danach eigentlich gar nicht mehr. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, sehe ich sie immer nur in der Küche sitzen, am Tisch, die Hände im Schoß und den Blick ins Leere gerichtet. Gute anderthalb Jahre später brachte sie dann meinen zukünftigen Stiefvater mit nach Hause, und ich dachte eine Zeitlang, jetzt würde alles wieder wie früher. Er zog bei uns ein und sie heirateten. Anfangs war auch alles gut, wir waren wieder eine Familie, und meine Mutter lachte wieder öfter.“
Erneut machte er eine Pause, trank einen Schluck Kaffee und hielt dann den Blick in die Tasse gesenkt.
„Tja, aber das war ein Irrtum. Der große Zampano oben im Himmel hielt es in seiner unergründlichen Weisheit für angebracht, meinen Stiefvater seinen Job verlieren zu lassen. Keine vier Wochen später hat er mich das erste Mal vergewaltigt. Anschließend hat er mir gedroht, dafür zu sorgen, dass ich ins Heim komme, wenn ich ihn verpfeife und ich hab´ ihm das geglaubt. Von da an machte er es sich zur Gewohnheit, mich immer, wenn meine Mutter nicht zuhause war, in meinem Zimmer zu besuchen. Als sie dann auch ihren Job verlor, wurde es noch schlimmer. Sie zog los und ging putzen, damit wir ein bisschen mehr Geld hatten, aber es reichte nie. Wie denn auch? Ihr Mann setzte den größten Teil ja in Schnaps und Bier um!“ schnaubte er. „Sie fingen an zu streiten, laut und hässlich und manchmal hat er sie auch geschlagen. Das konnte er gut, draufschlagen meine ich. Wenn ich mich gewehrt habe, hat er auch draufgehauen. Mit den Fäusten. In den Bauch oder die Rippen. Das hatte den größten Effekt und man sah es nicht auf den ersten Blick. Zwei Jahre hab´ ich es ausgehalten, hab´ immer gehofft, meine Mutter würde es merken und mir helfen. Aber stattdessen kamen diese komischen Blicke. Also bin ich irgendwann gegangen. Den Rest kennst Du.“
Noah hatte seine Zigarette vollkommen vergessen, und nun fiel die Asche auf die Tischplatte.
Hastig wischte er sie mit der Hand auf seine Untertasse und drückte die restliche Kippe aus, während Jan ihm mit hochgezogenen Brauen zusah.
„Das solltest Du aber noch üben, findest Du nicht?“ meinte er spöttisch, und Noah brummte sich etwas Unverständliches in den Bart. Noch immer stand er völlig unter dem Eindruck des soeben Geschilderten. Zwar hatte er gewusst, dass Jans Stiefvater ihn geschlagen hatte, aber von dem fortgesetzten Missbrauch hatte er an diesem Tag zum ersten Mal gehört. Was sagte man in so einer Situation?
Jan schien zu wissen, was ihm durch den Kopf ging, denn er grinste wieder und sagte: „Nun mach´ Dir keinen Kopf – das ist alles lange her. Und Du kannst schließlich nichts dafür, oder?“ Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Allerdings kann ich nicht garantieren, dass ich dem Schwein nicht die Fresse poliere, wenn er mir nochmal über den Weg läuft.“
„Ich helf´ Dir gern!“ nickte Noah aus vollem Herzen, und Jan lachte.
„Du bist ziemlich freigiebig mit Deinen Hilfsangeboten, für so einen alten Zyniker, meinst Du nicht?“
Da musste auch Noah grinsen. „Hmhm. Stimmt wohl.“ erwiderte er. „Ist irgendwie eine schlechte Angewohnheit von mir. Aber ich gelobe Besserung!“
Das brachte Jan noch mehr zum Lachen, und auch Noah stimmte verhalten mit ein. Plötzlich war die Missstimmung verschwunden, als wäre ein frischer Wind durch die Küche gefegt.
Nichts war klar zwischen ihnen, doch zumindest dieser Moment war schlichtweg perfekt.
Das sich anschließende Schweigen war einvernehmlich und fühlte sich nicht seltsam an. Nach einer Weile fragte Noah: „Sag´ mal, was hältst Du davon, wenn Du bei mir in der Kneipe aushilfst? Ich meine,“ fügte er rasch hinzu, als er Jans verdutzten Blick auffing, „ich brauche dringend eine Hilfskraft, und auf die Weise hockst Du nicht allein hier in der Wohnung rum. Das sollte die Versuchung wieder Pillen einzuwerfen doch zumindest etwas verringern. Du wärst beschäftigt.“ schloss er schulterzuckend und ein wenig verlegen.
Jan musterte ihn mit einem schiefen Lächeln, und sein Gesicht sah aus, als könne er sich nicht entscheiden, ob er lachen oder verärgert sein sollte. Schließlich schnaubte er leise und sah zur Seite.
„Oh Mann!“ stieß er hervor. „Du lässt wohl nicht locker, was? Man sollte Dich echt Terrier

nennen!“
Er verzog das Gesicht, doch das amüsierte Blitzen in seinen blauen Augen strafte ihn Lügen.
„Okay, ja, ist in Ordnung. Solange Du nicht von mir erwartest, den perfekten Kellner oder Barkeeper zu spielen. Davon habe ich nämlich null Ahnung. Als Mädchen für alles eigne ich mich vielleicht. Wenn das okay für Dich ist …?“
Noah nickte. „Ich schätze mal, das ist akzeptabel. Und keine Sorge, Du sollst wirklich nur in der Küche aushelfen. Jutta ist schon mit der Bedienung und allem anderen ausgelastet, aber Johann, mein Chef de Cuisine braucht unbedingt Hilfe. Nicht dass wir ausgefallene Gerichte anbieten, nur Pommes, Burger, Salat und all sowas, aber wenn die Bude voll ist, ist auch das eine Menge Arbeit! Und Johann ist in Ordnung, er bringt Dir schon bei, was Du wissen musst.“
Damit war es abgemacht, und wieder schwiegen sie eine Weile gemeinsam.
Doch es war nur zu deutlich, dass es noch etwas gab, das Noah beschäftigte. Er rauchte eine weitere Zigarette, und Jan saß geduldig da, bis er sie halb geraucht wieder ausdrückte.
„Da wäre allerdings noch eine Sache,“ begann er schließlich und fuhr sich durchs Haar, „wegen dem Geld, das Du Marc gestohlen hast.“ An dieser Stelle warf er Jan einen nervösen Blick zu, sah dass dessen Gesichtszüge sich verhärteten und sein Körper sich auf dem Stuhl versteifte. Rasch redete er weiter. „Du solltest es Dir wirklich nochmal durch den Kopf gehen lassen, ob es nicht besser ist, wenn Du darauf verzichtest. Du kannst doch nicht ernsthaft vorhaben, zurück zu Marcs Haus zu gehen, das ist doch viel zu gefährlich!“
Jan lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Ablehnung strahlte in kalten Wellen von ihm aus.
Bedächtig schüttelte er den Kopf. „Ich danke Dir wirklich für Deine Besorgnis, Noah,“ sagte er, „aber ich werde mir das Geld holen - irgendwie. Es gehört mir, und ich verzichte nicht darauf, auch wenn es nur ein kleiner Teil dessen ist, was ich verdient habe.“
Noah atmete tief auf – an Jans Entschlossenheit hätte man Stahl schmieden können, soviel war nun klar. Also nickte er zögernd. „Wenn Du meinst. Aber der Gedanke gefällt mir nicht.“
„Das muss er auch nicht.“ kam die prompte Antwort. „Er gefällt mir selber nicht, aber mein Entschluss steht fest.“
Noch einen Moment lang suchte Noah in seinem Gesicht nach Anzeichen für Zweifel, wurde aber nicht fündig.
Er musste sich wohl mit der Vorstellung vertraut machen, dass Jan in diesem Punkt jeden guten Rat in den Wind schlagen würde.
„Wo genau hast Du die Kohle denn überhaupt gelassen?“ wollte er dann wissen. Jan sah ihn forschend an, und Noah glaubte schon, er werde nicht antworten, oder ihm sagen, dass ihn das nichts anging, doch da beugte er sich nach vorn und erwiderte: „Hinter Marcs Haus wächst eine Ligusterhecke, die ist hoch und dicht. Da rein hab´ ich das Geldbündel gesteckt. Es waren lauter große Scheine, ist also nicht so riesig und außerdem in eine Plastiktüte gewickelt. Genau vor der Stelle wächst eine weiße Rose, also sieht man es nicht, wenn man nicht weiß, dass es da ist. Alles was ich tun muss, ist hinzugehen und es zu holen. Ich muss nur noch eine Weile warten, bis ein bisschen Gras über die Sache gewachsen ist.“
Noah sah ihn zweifelnd an. „Und wann soll das sein, bitte? Glaubst Du echt, Marc wird die ganze Sache vergessen?“
Jan hob die Schultern und sein Gesicht verschloss sich. „Ist mir egal. Wie ich schon gesagt habe, mein Entschluss steht fest.“


„Wie weit bist Du mit dem Salat?“
Johann wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und fuhr sich dann mit dem Handrücken über das verschwitzte Gesicht.
„Bin gleich soweit.“ Jan fügte die letzten Blätter, die er gerade noch geputzt hatte, der bereits übervollen Schüssel hinzu und richtete sich dann mit einem leisen Ächzen auf. Er stand seit einer Stunde gebückt über der Arbeitsfläche und arbeitete dem Koch zu, der zwischen Herd und Ausgabetheke hin und her huschte.
Das Noahs!

war voll wie an praktisch jedem Abend, und Jutta rief die Bestellungen im Minutentakt in die Küche.
Es war inzwischen August, und draußen vor der Tür stand die feuchte Hitze genauso wie drinnen, doch hier, wo Herd, Friteuse und Backofen ihren Dienst taten, herrschten trotz offener Fenster gut und gern Temperaturen wie in einer Vorhölle.
Nichtsdestotrotz war Jan glücklich.
Er arbeitete inzwischen seit etwas über zwei Wochen im Noahs!

und war selbst erstaunt darüber, wie wohl er sich dort fühlte, trotz Hektik, Hitze und Fettdunst. Johann und Jutta hatten ihn freundlich aufgenommen, und da er bewiesen hatte, dass es ihm mit der Arbeit ernst war, behandelten sie ihn schon bald wie einen langjährigen Kollegen. Er erzählte nicht viel von sich, aber das schien sie nicht zu stören, und so hatte er rasch seine Reserviertheit im Umgang mit ihnen abgelegt. Mittlerweile flaxten sie bei der Arbeit völlig selbstverständlich herum, und auch wenn es stressig und der Ton etwas rauer wurde, tat das ihrem guten Einvernehmen keinen Abbruch.
So gesehen war Jan tatsächlich glücklich. Allerdings gab es eine Sache, die sein Befinden trübte, und das war seine Beziehung zu Noah.
Nicht, dass diese Bezeichnung überhaupt angemessen gewesen wäre. Zwar lebten sie nach wie vor gemeinsam unter einem Dach, aber mehr war da nicht.
Jan hatte wieder Quartier im Wohnzimmer bezogen, und obwohl er sich ziemlich sicher war, dass Noah etwas für ihn empfand, so war doch eine spürbare Distanz zwischen ihnen.
Warum er sich dennoch so sicher war, was Noahs Gefühle anging, konnte er nicht genau sagen, es waren Kleinigkeiten, nicht wirklich greifbar und doch existent. Manchmal fühlte er sich beispielsweise von ihm beobachtet, doch wenn er aufsah, war Noah mit irgendetwas Anderem beschäftigt und würdigte ihn scheinbar keines Blickes.
Auf dem Weg zur Arbeit und wieder retour, die sie gemeinsam zurücklegten, schwieg Noah meistens, oder wenn Jan ihm ein Gespräch aufnötigte, erwies er sich als einsilbig und wenig zugänglich. Und Jan litt unter dieser Situation. Sein Herz schlug Purzelbäume, wenn er in Noahs Nähe war und er sehnte sich nach mehr. Auf diese Weise hatte sich in ihm einiges an Frust aufgestaut, und das war es vermutlich, was ihn schließlich auf eine komplett wahnwitzige Idee hatte kommen lassen.
Und heute war der Tag, wo er sie umsetzen wollte...
Während der Arbeit in der Küche beschäftigte er sich in einem fort gedanklich mit seinem Plan und war kaum bei der Sache, bei dem was er tat. Johann warf ihm ein paar Mal einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts, vermutlich weil er normalerweise absolut zuverlässig arbeitete.
Es war ein Donnerstag, also noch mitten in der Woche, und der Klangteppich aus Stimmengewirr, Lachen, Musik und Gläserklirren, der durch die Ausgabetheke zu ihnen drang, wurde nach Mitternacht allmählich leiser. Gegen zwei in der Frühe steckte Jutta den Kopf zur Tür herein und verkündete, dass die letzten Gäste soeben gegangen waren und Noah daher zusperren würde, obwohl er normalerweise noch rund zwei Stunden geöffnet hatte.
Johann und Jan räumten daher ihren Arbeitsplatz auf und machten alles sauber, sodass sie schon eine halbe Stunde später abmarschbereit waren. Noahs Angestellte verabschiedeten sich, und Jan ging an die Theke, während er selbst noch in seinem Büro saß und abrechnete.
Rasch füllte Jan zwei Gläser mit kalter Cola und ging damit nach hinten. Das eine Glas stellte er auf Noahs Schreibtisch, setzte sich und trank mit großen, durstigen Schlucken aus seinem eigenen.
„Ah, das tut gut!“ meinte er, und Noah sah auf. „Hm?“ Sein Blick fiel auf die Cola in dem beschlagenen Glas.
„Ist die für mich?“ fragte er und Jan nickte. Den Blick wieder auf seine Zahlen senkend, griff Noah nach dem Getränk und stürzte es in wenigen Zügen hinunter. Anschließend widmete er sich aufs Neue seiner Abrechnung.
Jan blieb schweigend sitzen, trank seine Cola und beobachtete ihn.
Nach einer Weile legte Noah den Stift aus der Hand und steckte einen Finger in den Ausschnitt seines T-Shirts. Sich auf dem Schreibtischstuhl zurücklehnend, fächelte er sich mit der freien Hand Luft zu und meinte: „Herrgott, ist das eine Hitze! Du und Johann habt doch sicher in der Küche geschwitzt wie in der Sauna?“
Jan nickte und stellte sein Glas ab. „Ja, doch. Ist schon ziemlich warm da drin.“
Erneut beugte sich Noah über die Rechnungsbücher. Aber schon bald rieb er sich mit den Fingern die Nasenwurzel und die Augen. „Ich schätze,“ meinte er, „ich sollte für heute Schluss machen. Das Zeugs läuft mir ja nicht weg, und ich hab´ echt Mühe, mich bei der Schwüle zu konzentrieren.“
Er verstaute alles im Schreibtisch, schloss ihn ab und packte das Geld in den Wandtresor. Gemeinsam sperrten sie alles zu und machten sich auf den Weg nach Hause.
Noch bevor sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, begann Noah leicht zu schwanken, und Jan fasste rasch zu, damit er nicht stürzte.
„Alles in Ordnung?“ fragte er, und Noah runzelte die Stirn.
„Jaa.“ meinte er gedehnt. „Keine Ahnung, was los ist. Ich hab´ doch nur ein Bier getrunken heute Abend. Ansonsten nur Wasser und von Dir die Cola.“
„Wird wohl der Kreislauf sein.“ erwiderte Jan leichthin. „Du arbeitest einfach zuviel! Und dann die Hitze!“
„Hmhm.“ machte Noah halbherzig, ließ es aber zu, dass Jan ihn um die Taille fasste und auf dem restlichen Weg stützte. Er ertappte sich sogar dabei, dass er die körperliche Nähe zu Jan angenehm fand. Er roch den frischen Schweiß und die Küchendüfte, die ihm noch anhafteten, spürte die Wärme des an ihn gepressten Körpers und konnte nicht verhindern, dass ihm einige höchst unanständige Dinge in den Sinn kamen.
Im nächsten Moment stutzte er. Was malte er sich denn da gerade aus? Das sollte er sich besser schleunigst aus dem Kopf schlagen!
Doch sein Körper hatte offenbar eigene Vorstellungen, und er bemerkte zu seinem Schrecken, dass er langsam aber sicher einen Ständer bekam!
Scheiße!

dachte er. Was mache ich denn jetzt?

Wenn Jan das mitkriegt, bekommt er doch völlig falsche Vorstellungen!

- Aber sind die denn wirklich so falsch?

mischte sich eine unwillkommene Stimme aus dem hintersten Geheimstübchen des Unterbewusstseins in seine Überlegungen.
Gib´s doch endlich zu, Noah! Du sehnst Dich doch danach, ihn im Arm zu halten, ihn zu streicheln und zu küssen, seine nackte Haut an Deiner zu fühlen und zu hören, wie er vor Lust stöhnt!


Aufkeuchend schloss er die Augen. Was war denn nur mit ihm los?
Bisher hatte er sich derartige Vorstellungen doch immer erfolgreich verboten und sie, wenn sie doch einmal aufkamen, stets erfolgreich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verdrängt, wo sie ihm nicht gefährlich werden konnten.
Wieso gelang ihm das jetzt nicht?
Inzwischen waren sie in seiner Wohnung angelangt und Jan hatte ihm sogar die Treppe hinaufhelfen müssen, so schwindlig war ihm mittlerweile. Um die Tür aufzuschließen, hatte Jan ihn loslassen müssen, doch als Noah jetzt mit unsicheren Schritten in den Flur taumelte, griff er zu und wollte ihn wieder festhalten. Angesichts seines inneren Chaos stieß Noah ihn jedoch heftig von sich, sodass er an die gegenüberliegende Wand schleuderte und dort zunächst wortlos stehenblieb.
„Was ...“ setzte er dann an, doch er kam nicht dazu, noch mehr zu sagen, denn Noah machte einen schwankenden Schritt auf ihn zu, packte ihn bei den Schultern und küsste ihn, hart und fordernd.
Nach einem Augenblick des Zögerns schlang Jan die Arme um ihn und erwiderte den Kuss begierig, öffnete die Lippen, und gemeinsam fielen sie zu Boden, wo es nicht lange dauerte, bis Noah keuchend und an Jans Kleidern zerrend, auf ihm zu liegen kam.
Noah verstand nicht, was mit ihm geschah, wollte auch gar nicht darüber nachdenken, das Einzige, was er wollte war, Jan zu spüren, die heiße Haut an seiner eigenen, ohne störende Stoffschichten dazwischen. Erst, als er Hände und Lippen auf der nackten Brust umherwandern lassen konnte, beruhigte er sich ein wenig.
Genug, um die samtige Elastizität unter seinen Fingern bewusst wahrzunehmen, aber bei weitem nicht genug, um loszulassen. Und als Jan dann plötzlich seine Hand in Noahs Schritt legte und die steinharte Wölbung die er dort vorfand eifrig zu reiben begann, war es gänzlich um ihn geschehen.
Wie ein brünstiges Tier stöhnte er auf, riss Jan die restlichen Kleidungsstücke vom Leib und eroberte seinen Körper mit Händen, Lippen und Zunge. Irgendwie schafften sie es schließlich in sein Schlafzimmer und dort auf dem Bett hatte er einen letzten klaren Moment, in dem er sich fragte, was zum Teufel er da eigentlich trieb! Wollte er tatsächlich hier und jetzt mit Jan schlafen?
Er blickte auf den jungen Mann hinunter, der mit halbgeschlossenen, lustverhangenen Augen zu ihm aufsah und wollte zurückweichen. Doch Jan hielt ihn fest, wickelte seine schlanken Beine um ihn und rieb sich an ihm, wie eine rollige Katze. Kehliges Stöhnen drang aus seinem Mund, und dieser Anblick gab Noah den Rest.
Er ließ sich fallen, hinein in Jans Umarmung, hinein in dieses Gefühl der Ekstase und der Wollust. Sein Verstand setzte gleichsam aus und seine Geilheit übernahm das Ruder …


Hämmernde Kopfschmerzen holten Noah zurück in die Realität. Stöhnend richtete er sich halb auf, und sein Körper quittierte diese Bewegung mit einer Welle der Übelkeit.
Himmel! Was war denn bloß passiert? Das fühlte sich an, wie der gewaltigste Kater, den er je gehabt hatte – mit zehn multipliziert!
Mit geschlossenen Augen ließ er sich wieder zurücksinken, während er noch immer in seinem Gedächtnis nach Bildern der zurückliegenden Stunden kramte. Sollte er sich tatsächlich dermaßen betrunken haben? Das sähe ihm gar nicht ähnlich. Seit er eine eigene Kneipe besaß, rührte er Alkohol nur noch in äußerst geringen Mengen an, weil er sich sagte, dass es nichts Schlimmeres gab, als einen Kneipenwirt, der sein eigener bester Kunde war.
Und Drogen hatte er nicht mehr genommen, seit er den Vereinigten Staaten den Rücken gekehrt hatte. Der Tod seiner Eltern hatte ihn in gewisser Weise erwachsen werden lassen. Jedenfalls mehr als alles, was er vorher ausprobiert hatte.
Doch so sehr er sich auch bemühte, es stellte sich keine Erleuchtung ein, seine Erinnerung endete ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo er sich in seinem Büro an den Schreibtisch gesetzt hatte, um die Abrechnung zu machen.
Er würde zuerst etwas gegen den Scheißkerl unternehmen müssen, der in seinem Schädel hockte und mit dem Vorschlaghammer auf seine Hirnwindungen einschlug, als würde er dafür bezahlt.
Im Badezimmer hatte er eine angebrochene Schachtel Aspirintabletten, und da mit ziemlicher Sicherheit keine gute Fee auftauchen würde, die sie ihm herbeizauberte, führte kein Weg daran vorbei, dass er sie sich selber holte und wenn ihm der Gedanke auch noch so zuwider war.
Er atmete also tief durch und wappnete sich, bevor er sich ein zweites Mal in die Höhe stemmte, langsamer diesmal und mit nach wie vor geschlossenen Augen. Mit den Händen tastete er nach Halt und berührte plötzlich etwas, was neben ihm unter der zerwühlten Decke verborgen lag. Es war warm und weich, und als er nachfasste, bewegte es sich mit einem Mal, sodass er erschrocken zurückzuckte und die Augen aufriss.
Ruckartig drehte er den Kopf, und allein diese Bewegung reichte aus, um ein Inferno aus Schmerz bis in seine Haarwurzeln zu schicken. Doch er ignorierte dies, zog die Bettdecke beiseite und blickte dann auf den schlafenden Jan hinab.
Als wäre dieser Anblick der einzige Anstoß gewesen, den sein Verstand gebraucht hatte, fiel ihm schlagartig wieder ein, was passiert war, hier in seinem Schlafzimmer, in seinem Bett!
Der Schock ließ ihn erstarren und jagte die Drehzahl seines Pulses in schwindelnde Höhen. Im Ausgleich dazu spürte er auf einmal die Kopfschmerzen kaum noch, hatte nur ein Gefühl, als sei sein Schädelinneres mit Watte ausgestopft.
Er sah an sich herunter, dann aufs Laken und bemerkte nun auch erstmals die verräterischen Spuren an seinem Körper und der Bettwäsche.
Sein Blick ging zu Jan, dann suchend durch den Raum, doch er fand nicht, was er suchte. Daraufhin schlug er beide Hände vors Gesicht und stöhnte verzweifelt auf. Er hatte mit Jan geschlafen und zwar ohne Kondom! Heftig, beinahe brutal hatte er ihn genommen, hatte ihn unter sich gezwungen und seine Gegenwehr mit reiner Kraft unterdrückt!
Wie hatte das nur passieren können?
Er war so geil gewesen, so begierig darauf, ihn endlich zu spüren, ihn zu nehmen! Wieso? Das war doch sonst nicht seine Art!?
Die Bilder seiner Tat führten vor Noahs geistigem Auge wüste Tänze auf, während er auf der Bettkante hockte und nach einer Erklärung suchte, die er doch nicht fand.
Er fühlte Bewegung neben sich und sah hoch. Jan hatte sich auf die Seite gedreht und öffnete blinzelnd die Augen.
„Guten Morgen.“ sagte er, noch schlaftrunken und lächelte leicht. Noah war zu keiner Antwort fähig und schaute ihn nur hilflos an. Jan schien zu merken, das etwas nicht in Ordnung war, denn er stemmte sich auf die Ellbogen hoch und legte den Kopf schief.
„Was ist?“ fragte er. „Tut´s Dir etwa leid?“
Noah schreckte zusammen und erwiderte Jans blauäugigen Blick beklommen.
„Natürlich tut´s mir leid!“ stieß er hervor. „Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist! Bist Du... ich meine, hab´ ich Dir … Scheiße, bist Du in Ordnung?“
Jans Blick wurde verwirrt. „Ob ICH in Ordnung bin?“ Er lachte kurz auf. „Himmel, ja, Mann! Ich hatte absolut geilen Sex! Wie soll´s mir da nicht gut gehen?“
Seine Reaktion ließ Noah verstummen.
„Du fandest das … gut?“ fragte er nach, worauf sich Jan vollends aufsetzte und Noah verständnislos musterte.
„Himmel, ja! Hab´ ich doch gesagt, oder nicht? Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass Du so rangehst! Was so ein bisschen Chemie doch alles bewirken kann!“
„Chemie?“ Noahs Gesicht war ein einziges Fragezeichen, und Jan strich ihm zärtlich mit der Hand über die Wange.
„Ja, Chemie!“ bestätigte er in sanftem Tonfall. „Ich will Dich, Noah! Mehr als ich je etwas gewollt habe! Und spätestens jetzt wissen wir doch beide, dass es Dir genauso geht! Aber nachdem Du mich abgewiesen hattest, was sollte ich da noch machen? Auf eine Initiative von Dir hätte ich doch bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten können. Also hab´ ich ein bisschen nachgeholfen. Naja,“ er verzog das Gesicht, „ein bisschen viel, wenn ich es genau bedenke. Aber trotzdem war es toll!“
Noah war bei seinen Worten noch blasser geworden, als er ohnehin schon war, nach diesem katastrophalen Erwachen.
„Du hast – nachgeholfen? Wie soll ich das verstehen?“ Er fasste nach Jans Hand und wischte sie aus seinem Gesicht.
„Naja,“ zuckte dieser die Schultern, „es gibt da dieses Zeugs, „X-Teasy“

heißt das. Das bringt einen ziemlich auf Touren, sexuell meine ich. Das hab ich mir von einem früheren Kumpel besorgt. Und davon war gestern Abend was in Deiner Cola.“
Noahs Mund war plötzlich trocken, und seine Kopfschmerzen kehrten mit Macht zurück.
„Soll das heißen, Du hast mich unter Drogen gesetzt, damit ich über Dich herfalle?“
Jan nickte und hatte wenigstens den Anstand verlegen zu wirken, als Noah abrupt aufstand, noch viel zu fassungslos, um etwas zu sagen. Er wanderte durch den Raum, nackt wie er war und strich sich mit beiden Händen die Haare zurück. An der Tür blieb er stehen und wandte sich Jan wieder zu.
„Du bist echt das Letzte, Du verdammtes Arschloch!“ brüllte er ohne Vorwarnung los, dass Jan zusammenzuckte und beklommen zu ihm aufsah. Doch Noah war nicht zu bremsen.
„Du gottverdammte Schwuchtel! Und ich hab´ mich gerade noch beschissen gefühlt, weil ich dachte, ich hätte Dich zu was gezwungen! Dabei hast Du mir irgendwelchen Mist verpasst, der mich in ein verfluchtes Sex-Monster verwandelt hat! Ich steh´ nicht auf Kerle, wann kapierst Du das endlich? Lass´ mich mit dem Scheiß doch endlich in Ruhe!“
Jan sah noch immer mit großen Augen zu ihm hoch, und das ließ seine Wut in geradezu astronomische Höhen steigen.
„Du haust jetzt besser ab, Du mieses Stück Scheiße! Bevor ich mich vergesse!“ drohte er, doch Jan blieb sitzen, senkte nur den Kopf, und Noah verlor die Beherrschung. Er stürmte hinüber, riss ihn am Arm aus dem Bett, dass er auf den Fußboden fiel und konnte sich nur mühsam davon abhalten, ihm nicht einen saftigen Schlag ins Gesicht zu verpassen.
Er schleifte Jan hinter sich her zur Tür und öffnete sie, wollte ihn mit Schwung hinausbefördern, doch der krallte sich plötzlich an ihm fest, stumm, zusammengekrümmt, ganz offensichtlich in Erwartung, dass er ihn tatsächlich schlagen würde und das Gesicht tief auf die Brust gebeugt.
„Lass´ mich los und verschwinde, Du Drecksau!“ herrschte Noah ihn an, und mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihm, Jan von sich zu stoßen. Mit einem kräftigen Stoß beförderte er ihn in den Flur, wo er zu Boden stürzte und reglos liegenblieb. Schwer atmend blickte Noah auf ihn hinunter, und dann sah er etwas, was seine Wut schlagartig verpuffen ließ.
Jans Wangen waren nass, und noch immer liefen ihm lautlose Tränen aus den Augen, doch er machte sich nicht die Mühe, sie weg zu wischen. Er lag einfach da, wie ein kaputtes Spielzeug und ließ die Tränen laufen, ohne einen einzigen Ton von sich zu geben.
Unschlüssig starrte Noah auf ihn hinab. Als Jan sich auch nach einer ganzen Weile nicht gerührt hatte, machte er einen Schritt in seine Richtung und beugte sich zu ihm.
„Jan?“ Keine Reaktion, nur immer weiter dieses geräuschlose Weinen aus weit geöffneten Augen.
Nach einem Moment des Zögerns fasste Noah ihn bei den Schultern und schüttelte ihn leicht.
„Jan? Jan!“ Bei Noahs Berührung zuckte er zusammen, reagierte aber sonst noch immer nicht.
„Verdammte Scheiße!“ fluchte Noah, bückte sich tiefer und hob ihn auf seine Arme. Mit dem nackten Jan kehrte er dann ins Schlafzimmer zurück und legte ihn auf dem Bett ab. Er breitete die Decke über ihn und setzte sich auf die Bettkante. Jans Blick ging an ihm vorbei und es hatte auch nicht den Anschein, als würde er überhaupt etwas sehen. Noah fasste nach seinem Kinn und drehte seinen Kopf zu sich, doch noch immer war die Reaktion gleich Null.
Allmählich bekam er Angst. Hatte er ihn womöglich zu hart auf den Boden geschleudert?
Er war ja so verdammt wütend gewesen. Andererseits war Jan nicht mit dem Kopf aufgeschlagen, soweit er sich erinnerte. Oder hatte er sich auch wieder irgendwelche krassen Drogen reingezogen, die jetzt ungeahnte Nebenwirkungen entfalteten?
Das wäre doch zumindest denkbar, nachdem er ihm schon diese seltsame Sexdroge in die Cola gemischt hatte!?
„Jan! Mann, sag´ doch irgendwas!“ bat er inständig, doch es kam keine Antwort.
Vielleicht war es besser, den Notruf zu wählen? Hastig stand er auf und ging in den Flur, wo seine Kleider lagen. Er bückte sich nach seiner Jeans, um das Handy aus der hinteren Tasche zu fischen, was ihm eine neuerliche Welle an Hammerschlägen im Kopf bescherte. Die Ziffern der Handytastatur flimmerten vor seinen Augen, während er die 112 eingab und die Stimme am anderen Ende bat, einen Rettungswagen zu seiner Adresse zu schicken.
Anschließend wankte er ins Badezimmer und schluckte rasch zwei Aspirin, wusch sich das Gesicht und hielt schließlich den gesamten Kopf für einen Moment unter das kalte Wasser. Kurz darauf kam er zurück ins Schlafzimmer und prallte noch in der Tür zurück: Das Bett war leer.
Suchend blickte er sich um, ging in den Flur und bemerkte, dass auch Jans Kleider verschwunden waren.
„Jan?“ rief er, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Er sah in alle Räume, während draußen immer lauter werdende Sirenen zu hören waren. Bis an seiner Tür Sturm geklingelt wurde, war er sicher: Jan war fort.


Eine knappe Stunde später ließ sich Noah mit einem abgrundtiefen Seufzer auf sein Sofa fallen. Endlich war er die Besatzung des Rettungswagens, den Notarzt und die Polizisten losgeworden.
Der Arzt hatte sich nach seinem Eintreffen und nachdem er festgestellt hatte, dass hier kein Patient seiner Hilfe bedurfte, verschaukelt gefühlt und in der ersten Rage sofort die Polizei angerufen. Es hatte Noah seine gesamte Überzeugungskraft gekostet, damit sie ihm glaubten, was Jans plötzliches Verschwinden anging.
Sein eigener, etwas desolater Zustand hatte wohl mit dazu beigetragen, dass sie ihm seine Geschichte schließlich abkauften, und zum Glück hatte Jan auch außer seinen Kleidern nichts von seinen persönlichen Dingen mitgenommen, sodass die story vom plötzlich verschwundenen Untermieter zusätzlich untermauert werden konnte.
Die Beamten hatten Noah allerdings auch gefragt, ob er eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte und ihn gebeten, zu diesem Zweck aufs Revier zu kommen. Er hatte genickt, genau wie zu ihrer Versicherung, dass sie die Meldung sofort an alle Kollegen weitergeben wollten, da nicht auszuschließen war, dass der Vermisste gesundheitliche Probleme hatte. Sie versprachen, die Augen offen zu halten, und dann zogen sie gemeinsam mit den Rettungskräften wieder ab.
Endlich war er allein in seiner Wohnung und konnte nachdenken.
Seine Kopfschmerzen waren zu einem dumpfen Pochen abgeklungen, und er ließ die Geschehnisse seit dem vergangenen Abend noch mehrmals Revue passieren. Allerdings erschienen sie selbst nach der x-ten Wiederholung in keinem besseren Licht als vorher.
Das Klingeln seines Telefons riss ihn aus seinen Betrachtungen, und er meldete sich mit einem knurrigen „Ja?“.
„Bist du das, Noah?“ Die Stimme am anderen Ende schien ihm vage bekannt, doch er wusste sie nicht einzuordnen.
„Wer will das wissen?“ fragte er barsch, und ihm antwortete zunächst lediglich ein amüsiertes Kichern.
„Na, hör mal! Begrüßt man so einen alten Bekannten? Hör zu!“ Plötzlich schienen Eiszapfen am Hörer zu wachsen. Jedes Amüsement war aus der Stimme des Anrufers gewichen.
„Ich habe hier jemanden zu Besuch, der fühlt sich einsam ohne Dich! Du kommst besser sofort her, sonst wird er vermutlich noch vor Sehnsucht sterben

!“
Eine frostige Hand strich Noah über den Rücken, und schlagartig fiel ihm auch ein, woher er die Stimme kannte. Es war tatsächlich kein Anderer als Marc, den er da am Hörer hatte!
Und seine Worte – hieß das, er hatte sich Jan geschnappt?
„Ich hab´ keine Ahnung, wovon Sie reden.“ sagte er betont langsam, doch Marc lachte nur.
„Nun komm´ aber!“ sagte er. „Willst Du ernsthaft versuchen, mich zu verarschen? Junge, da musst Du nicht nur früher aufstehen, leg´ Dich besser gar nicht erst hin! Nehmt ihm das Klebeband ab!“ kommandierte er, offenbar an jemanden gerichtet, der sich im gleichen Raum mit ihm befand. Im Hintergrund wurde Tumult hörbar, und dann erklang unverkennbar Jans Stimme.
„Lasst mich los, Ihr Wichser!“ rief er. „Ich hab´ Euch gesagt, dass dieser Typ nichts mit der Sache zu tun hat, also lasst ihn in Ruhe! Ich hab´ kein Geld genommen! Frag´ doch mal Deine eigenen Leute, Marc! Schon mal dran gedacht, dass der Arsch, der mich angeblich dabei erwischt hat, sich vielleicht selbst bedient hat? Das muss doch....“ Der Rest ging in unverständlichem Gemurmel unter, und Noah hörte Marc seufzen.
„Ein hoffnungsloser Fall! Selbst nach zehn Jahren hat er noch immer nicht gelernt, wann es zwecklos ist zu lügen!
Aber wie dem auch sei – ich denke, ich habe meinen Standpunkt jetzt klar gemacht? Ich erwarte Dich in spätestens dreißig Minuten hier bei mir, ansonsten ist der kleine Stricher nach einunddreißig Minuten eine Leiche!“ Er nannte ihm noch die Adresse und legte dann auf.
Wie vom Donner gerührt stand Noah mit dem tutenden Hörer in der Hand da und war zunächst nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander.
Warum wollte Marc, dass er kam?
Hatte Jan ihm etwa erzählt, ER hätte das gestohlene Geld?
Aber das ergab keinen Sinn, nicht nach dem, was er gerade am Telefon mitgehört hatte. Also warum dann?
Plötzlich durchzuckte ihn die Erleuchtung: Er, Noah, sollte den Köder für Jan abgeben! Das war die einzige Erklärung, die passte.
Hatten die Typen vielleicht herausgefunden, dass Jan Gefühle für ihn hegte? Falls ja, dann würden sie garantiert versuchen, ihn unter Druck zu setzen, indem sie Noahs Leben bedrohten!
So gesehen grenzte es an Irrsinn, Marcs Anweisungen zu befolgen.
Andererseits – wenn er nicht ging, brachte er damit wiederum Jans Leben in Gefahr.
Und selbst wenn es bis zu einem gewissen Grad unwahrscheinlich war, dass sie ihn tatsächlich töteten, immerhin wollte Marc sein Geld zurück, so war doch zumindest anzunehmen, dass sie nicht gerade zimperlich mit ihm umgehen würden.
Und allein die Vorstellung, dass sie ihm wehtaten, reichte damit sich alles in Noah schmerzhaft zusammenkrampfte!
Er fuhr sich durchs Haar und sah auf die Uhr. Fünf Minuten hatte er bereits mit sinnlosen Gedankenspielereien verplempert. Zwar war die angegebene Adresse nicht so weit entfernt, aber wenn er jetzt nicht schleunigst aufbrach, dann hatte er keine Chance mehr, rechtzeitig anzukommen.
Es gab nur einen Weg …
Fluchend schnappte er sich sein Handy und stürmte aus der Wohnung.


Vornübergebeugt saß Jan auf dem Boden der Lagerhalle. Hier wurden normalerweise Sexvideos gedreht, deshalb standen überall Requisiten herum, Betten, Fake-Wände, die verschiedene Zimmer vortäuschen konnten, ein paar Tische, Stühle und Stehlampen, aber auch aufgerollte Teppiche, Scheinwerfer, Mikrofone und Ähnliches. Hinter einer Gipskartonwand waren Garderoben und ein Waschraum abgeteilt und ein Büro für Marc.
Jan kannte das Gebäude, er war schon einige Male hier gewesen, denn auch er hatte in diversen Filmchen mitgespielt.
Sein Bauch und seine Rippen schmerzten von den Schlägen und Tritten, die er hatte einstecken müssen, und sein Shirt war auf der Vorderseite blutig. Einer der Typen hatte ihm ein paar Mal ins Gesicht geschlagen, und seine Nase war zwar nicht gebrochen, hatte aber heftig geblutet. Außerdem war das rechte Auge so stark angeschwollen, dass er damit kaum noch etwas sah.
Trotz alldem war er eisern bei der Behauptung geblieben, dass er das Geld nicht genommen hatte. Allerdings hätte er viel mehr damit gerechnet, dass Marc ihn aus Wut totprügeln würde. Dass er so weit ging und Noah herholte, hatte er nicht erwartet.
Zwar hegte er immer noch die schwache Hoffnung, dass Noah nicht kam, aber sicher war er sich dessen nicht. Bei aller äußerlichen Schroffheit war Noah doch ein sehr warmherziger Mensch, das hatte er ihm gegenüber längst bewiesen.
Nur leider war seine letzte Aktion mit der Sex-Droge ziemlich nach hinten los gegangen und im Nachhinein verwünschte er sich dafür. Ob Noah ihn jetzt dafür hasste?
Jan ertappte sich dabei, dass er sich genau das wünschte, denn dann brauchte er nicht zu befürchten, dass er hier auftauchte!
Er fühlte, wie aufsteigende Tränen in seinem lädierten Auge brannten und schluckte sie mühsam hinunter. Er würde den Typen hier bestimmt keine Show liefern! Diesmal nicht!
Pfeifend sog er die Luft durch die Nase und bewegte versuchsweise die Lippen unter dem Klebeband. Es ziepte, bevor es sich an ein paar Stellen von der Haut löste, gelockert von seinem Schweiß. Die Finger der hinter dem Rücken gefesselten Hände kribbelten, als er sie öffnete und schloss, denn die Kabelbinder, die zur Fesselung benutzt worden waren, saßen eng und schnürten die Blutzufuhr ein.
Marc saß in einem Sessel in der Nähe, und vier seiner Gorillas verteilten sich in der Halle, vom Eingang bis zur Hintertür. Sein ehemaliger Zuhälter sah demonstrativ auf die Uhr und fasste Jan dann wieder scharf ins Auge.
„Kann es sein, dass Du nicht mehr der großartige Fick bist, der Du mal warst? Oder wieso dauert das so lange? Müsste der Kerl nicht längst hier sein?“
Jan blinzelte zu ihm hoch, konnte aber logischerweise nicht antworten. Doch Marc spann seine Mär bereits weiter. „Ich hoffe doch nicht, Du hast ihn im Bett enttäuscht? Kann es sein, dass er schon genug von Dir hat und deshalb gar nicht kommt?“
Er stand auf und kam zu Jan hinüber. Einer der vierschrötigen Kerle, die er als seine persönlichen Bodyguards und Vollstrecker in Personalunion eingestellt hatte, gesellte sich zu ihm und blieb hinter ihm stehen, bereit einzugreifen, sollte der Gefangene etwas Dummes versuchen.
Direkt vor Jan blieb Marc stehen und bückte sich zu ihm hinunter. Mit einer Hand fasste er nach dessen kurzen Haarsträhnen und ließ sie durch seine Finger gleiten. Er schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge,
„Junge, hast Du wirklich geglaubt, dass ich mich davon täuschen lasse? Als Reggie von dem Typen erzählte, den er und Dingo bis zu dieser Kneipe verfolgt haben, wurde ich sofort hellhörig. Als ich dann erfuhr, dass diese Kaschemme niemand anderem gehört, als unserem alten Freund Noah, hab ich eins und eins zusammen gezählt! Und gestern erfahre ich auch noch, dass Du bei Deinem alten Kumpel Tino aufgetaucht bist und ein paar interessante Pillen gekauft hast. Da war alles klar, und ich musste nur warten, bis der Vogel das Nest verlässt!“ Er machte eine Pause und musterte Jan abschätzend. „Allerdings überraschst Du mich auch – ich hätte nicht gedacht, dass Du so lange durchhältst. Hattest Du nicht immer so eine Angst vor Schlägen? Wie kommt es dann, dass Du den Mund nicht aufmachst? Hm? Du zwingst mich dazu, zu härteren Mitteln zu greifen, ich muss Deinen Freund herholen, und das kostet Zeit! Ich bin kein besonders geduldiger Mensch, weißt Du? Und diese Warterei macht mich sauer! Ich will meine 25.000 zurück, und ich bekomme sie, also warum ersparst Du uns nicht diese Scheiße und spuckst endlich aus, wo Du die Kohle versteckt hast?“
Doch Jan sah nur zu ihm hoch und verzog keine Miene.
In Wahrheit arbeitete es fieberhaft in seinem Kopf. Marc hatte nur allzu deutlich gemacht, dass er sich an Noah schadlos halten würde, wenn er nicht endlich den Mund aufmachte, aber solange noch die geringste Hoffnung bestand, dass Noah nicht auftauchte, würde er kein Sterbenswörtchen sagen. Sollten sie ihn doch abknallen, ihm war es egal. Er hatte so ziemlich alles verbockt in seinem Leben und würde sich gewiss nicht beklagen, wenn er hier sein Ende fand!
Plötzlich gab es Unruhe an der Tür nach draußen, und Marc erhob sich. Ein weiterer seiner Männer kam herein und meldete: „Er ist da, Boss! Soll ich ihn reinbringen?“
Jan schloss die Augen.


Als Noah mit dem bulligen Typen im Rücken in die Halle trat, sah er sich sofort nach Jan um und entdeckte ihn ein Stück weit entfernt. Er kauerte blutig und zerschlagen auf dem Boden und sah nicht hoch. Noah wollte zu ihm gehen, doch ein Mann, der in seiner Nähe stand, und in dem er Marc erkannte, schob sich zwischen sie und machte eine Geste, woraufhin ein weiterer Typ herbeigeeilt kam und ihn zusammen mit dem Ersten festhielt.
Er wehrte sich nicht, das wäre nur Verschwendung von Zeit und Kraft gewesen. Gegen diese wandelnden Schrankwände kam er nicht an.
„Ich bin hier.“ sagte er überflüssigerweise. „Also – was nun?“
Marc lächelte nur, wandte sich dann um und sagte an Jan gerichtet: „Sieht so aus, als läge ihm doch was an Dir, auch wenn er praktisch erst in allerletzter Minute aufgetaucht ist! Willst Du ihn nicht wenigstens mal ansehen? Damit Du wenigstens eine Erinnerung daran hat, wie er mal ausgesehen hat, bevor er Deine Sturheit ausbaden musste?“
Das schien zu wirken. Jan, der bisher nur dagesessen hatte, ohne den Blick zu heben oder einen Muskel zu rühren, riss den Kopf hoch und starrte Noah und Marc abwechselnd mit weit aufgerissenen Augen an. Er zerrte an seinen Handfesseln und machte Anstalten, auf die Füße zu kommen, was ihm jedoch seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit wegen nicht gelang.
Marc machte eine Bewegung mit dem Kinn zu einem seiner Gorillas, der postierte sich umgehend hinter Jan und drückte ihn in die sitzende Position zurück.
„Sieht ganz so aus, als würdest Du Deine Sturheit schon bereuen, hm, Jan?“
Nachdenklich ließ Marc seinen Blick von Noah zu Jan wandern und wieder zurück. „Aber wir wollen ja sichergehen, dass Du mich nicht wieder anlügst, nicht wahr? Außerdem verdienst Du eine Strafe! Und nachdem Du die Schläge so mannhaft eingesteckt hast, bin ich mir sicher, dass es Dir sehr viel mehr wehtun wird, wenn ich anstatt Dir Deinen Freund hier bestrafe!“ Er grinste, und wie von Zauberhand erschien plötzlich ein Messer in seiner Hand. Schon schritt er auf Noah zu, und der spannte unwillkürlich die Muskeln an.
Er musste auf Zeit spielen – aber wie? Er tat es auf die einzige Weise, die ihm einfiel.
„Ich weiß, wo das Geld ist!“ stieß er hervor. „Jan hat´s mir gesagt!“
Marc stoppte in der Bewegung und musterte Noah prüfend.
„Wusste ich´s doch. Du hast es genommen.“ sagte er dann in Jans Richtung, während er ein paar weitere Schritte auf Noah zu machte, wobei er das Messer jedoch vorerst sinken ließ.
„Und? Wo ist es? Sag schon!“ forderte er ungeduldig.
„In der Hecke hinter Deinem Haus. Hinter einer weißen Rose.“
Marc drehte den Kopf und scheuchte zwei seiner Männer mit einer Geste davon. Sicher sollten sie nachprüfen, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Dann setzte er sich wieder in den Sessel und bedeutete den Gorillas, Noah loszulassen.
„Setz´ Dich doch.“ meinte er und deutete auf einen zweiten Sessel neben sich. Er fühlte sich augenscheinlich sehr sicher – und wieso auch nicht? Auch wenn jetzt zwei Bodyguards weniger anwesend waren, so waren es immer noch drei, von Marc ganz zu schweigen. Noah hätte keine Chance, zumal die Zurückgebliebenen jetzt Schusswaffen herausholten und Noah genau im Auge behielten, als er sich setzte.
Er warf einen Blick zu Jan hinüber, der ihn noch immer mit großen Augen anstarrte. Sein Atem ging hektisch, und seine ganze Haltung drückte aus, was in ihm vorging. Er war erstarrt vor Angst, aber in seinem Blick war zu lesen, dass es keine Angst um sich selbst war, sondern seine Sorge einzig und allein Noah galt.
Ein spöttisches Hüsteln unterbrach ihren Blickkontakt und Noah drehte den Kopf. Auf Marcs Zügen hatte sich ein süffisantes Lächeln ausgebreitet. „Tut mir ja leid, Eure Wiedervereinigung zu unterbrechen, aber solange wir warten, würde ich mich gern mit Dir unterhalten, Noah.“ sagte er und schlug die Beine übereinander.
„Du hast eine eigene Kneipe, wie ich höre. Wie laufen die Geschäfte denn so? Nach allem, was ich erfahren habe, brummt der Laden ziemlich?“
Noah starrte ihn wortlos an. Sein früherer Gangchef hatte sich kaum verändert seit ihrer letzten Begegnung. Noch immer war er groß und muskulös, wenn auch nicht so kantig und klotzig wie seine Bodyguards. Trotzdem konnte er vermutlich noch immer verdammt gut austeilen, denn er machte nicht den Eindruck, als sei er in den zurückliegenden Jahren verweichlicht.
„Ach, komm´ schon!“ beschwerte der sich jetzt. „Das ist langweilig, wenn Du nichts sagst! Und wer weiß,“ fügte er hinzu, „auf was für Ideen ich komme, wenn mir langweilig wird?“ Er feixte und beobachtete Noah, offensichtlich gespannt auf dessen Reaktion.
Dem schlug das Herz bis zum Hals hinauf, aber er musste Marc noch eine Weile von Jan ablenken.
„Meine Geschäfte gehen Dich einen Dreck an.“ sagte er darum und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
„Oho!“ Marc lachte amüsiert. „Meinst Du nicht, es wäre besser, wenn Du etwas netter zu mir bist?“
„Wieso?“ gab Noah zurück. „Du warst schon damals ein Arschloch, und daran hat sich nichts geändert. Und zu Arschlöchern kann ich nun mal nicht nett sein.“
Marc stand immer noch grinsend auf und kam zu ihm herüber. Er beugte sich lässig zu Noah hinab und schlug ohne Vorwarnung plötzlich zu. Seine Faust grub sich in Noahs Magen, dass dieser sich hustend nach vorn krümmte. Als wäre nichts geschehen, ging er dann zurück zu seinem Sessel und nahm wieder Platz.
„Beantwortet das Deine Frage nach dem Wieso?“ lächelte er in Noahs Richtung und glättete sein Hemd.
Noah war zunächst nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Er schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen und hatte Mühe, nicht vornüber aus dem Sessel zu kippen.
„Also, versuchen wir´s nochmal.“ meinte Marc. „Wie laufen Deine Geschäfte?“
Noah drehte das Gesicht in seine Richtung, sah dann kurz zu Jan hinüber. Der saß regungslos und seine Augen hingen mit flehendem Ausdruck an ihm.
„Ich bin zufrieden.“ keuchte Noah schließlich, und Marc grinste.
„Na, siehst Du? War doch gar nicht so schwer! Höflichkeit unter Geschäftsmännern ist wichtig, findest Du nicht?“
Er betrachtete Noah einen Moment, den rechten Arm lässig über die Rückenlehne des Sessels gelegt.
„Hatten Deine Alten damals nicht eine gutgehende Firma? Ich meine, mich dunkel an sowas zu erinnern.“
Noah durchbohrte ihn regelrecht mit Blicken. Hätte Hass töten können, wäre Marc tot zu Boden gerutscht. Doch in der Realität befanden sich leider sämtliche Trumpfkarten in seiner Hand und er wusste das auch.
Er nickte also, und Marc tat es ihm gleich.
„Wusste ich´s doch! Was ist denn aus der Klitsche geworden? Ich meine, normalerweise würde man doch erwarten, dass der Sohn in die Fußstapfen seiner Eltern tritt, oder? Haben sie Dich enterbt, weil Du eine Schwuchtel bist?“ Er lachte, doch Noah starrte ihn nur finster an.
„Du wirst schon wieder so schweigsam! Hast Du Deine Lektion schon vergessen?“ beschwerte sich Marc im nächsten Augenblick. Eine Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, und auch Noah sah auf.
Jan rutschte unruhig auf dem Boden herum, schüttelte den Kopf und verzog dabei das Gesicht. Seine Augen waren auf Marc gerichtet, der ihm mit einem amüsierten Funkeln im Blick zusah.
„Scheint, als ob der Kleine hier echt Angst um dich hat!“ Er legte den Kopf in den Nacken und lachte wiehernd.
„Nun entspann´ Dich mal!“ sagte er dann an Jan gerichtet. „Wenn die Jungs gleich mit der Kohle hier sind, ist alles gut, keinem wird ein Haar gekrümmt und Ihr könnt Euch verziehen! Also hör´ auf mit der Showeinlage, ja? Ich will mich ungestört mit meinem alten Kumpel Noah unterhalten!“ Noch einmal lachte er, und Noah, der ihn von der Seite ansah glaubte ihm kein Wort.
Doch Jan schien zu schwanken, er schaute noch einmal zwischen ihnen hin und her und saß dann wieder ruhig.
„Gut. Also, wo waren wir?“ Marc tat, als würde er angestrengt überlegen, und dann hob er einen Finger.
„Richtig! Wir waren dabei, dass Du eine Schwuchtel bist und Deine Eltern Dich deshalb enterbt haben! Aber mal so ganz unter uns,“ er rückte ein Stückchen näher und senkte die Stimme, „musste es denn unbedingt diese kleine Nutte sein? Es gibt doch sicher eine Menge netter und ansehnlicher Kerle da draußen, die bestimmt nicht abgeneigt wären. Du siehst doch gar nicht so übel aus, Noah, da hätte sich doch bestimmt ein Anderer finden lassen!?“
Der Angesprochene sah zu Boden und biss die Zähne aufeinander. Wie gern würde er Marc jetzt so richtig eine verpassen! Aber das durfte er nicht. Ihrer beider Leben hing davon ab. Daher schwieg er verbissen und vermied es, Marc anzusehen. Doch der goss weiterhin genüsslich Essig in Noahs seelische Wunden und wusste es noch nicht einmal.
„Ich gebe ja zu, Jan ist ganz niedlich, aber hast Du eine Vorstellung davon, was für eine Armee an Schwänzen in den letzten Jahren durch seinen Arsch marschiert ist? Ekelt Dich diese Vorstellung nicht an?“
Gespannt beobachtete er, wie Noah darauf reagierte. Dem fiel es immer schwerer, ruhig zu bleiben, angesichts des Unflats den Marc über Jan ausgoss.
Was glaubst du denn, warum das so war?

hätte er ihm jetzt am liebsten entgegen geschrien, und die Kehle wurde ihm eng. Er schaute erneut zu Jan hinüber und sah, dass der den Kopf gesenkt hielt, sodass man sein Gesicht kaum sehen konnte.
Noahs Herz zog sich zusammen bei dem Anblick, denn es war offensichtlich, dass Jan sich schämte. Auch wenn er noch vor kurzem in Noahs Küche behauptet hatte, er täte es nicht, war an der Rotfärbung seiner Wangen und Stirn deutlich zu erkennen, dass es ihm nicht so gleichgültig war, wie er gern tat. Und wer war schuld daran? Doch niemand anderer als Marc! Natürlich nicht allein, aber doch in maßgeblicher Weise.
Noah zwang sich Marc anzusehen, obwohl allein sein Anblick ihm inzwischen Übelkeit bereitete.
Wo blieben denn nur diese Typen mit dem Geld?
„Ich weiß, ich weiß,“ schwadronierte Marc unterdessen weiter, „ich hab´ ihn ja auch gehabt. Aber das war damals. Da war er noch unverbraucht, süß und kaum benutzt, weißt Du? Und sein Arsch war ganz sicher besser, als jede Muschi! Glaub´ mir – ich muss es wissen! Ich fahre schließlich seit jeher zweigleisig.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
„Ach?“ entfuhr es Noah. „Und mich nennst Du eine Schwuchtel? Was bist Du denn anderes?“
Marcs Gesicht verdüsterte sich, und er runzelte die Brauen. „Ich bin keine Schwuchtel, klar? Ich benutze Männer, wenn es sich angestaut hat und sich gerade nichts Anderes ergibt. Außerdem hab´ ich eben manchmal Bock auf Sex ohne das ganze übrige Programm vorher. Einfach nur Druck ablassen, ´ne schnelle Nummer schieben, weiter nichts. Das klappt mit Frauen einfach nicht. Bei ´nem Kerl weißt Du, woran Du bist, einfach und unkompliziert. Der weiß, was sich gut anfühlt, weil er selber einen Schwanz spazieren trägt. Sei doch mal ehrlich: Wie oft hast Du ewig an ´ner Braut rumgebaggert und konntest trotzdem keinen wegstecken? Und immer nur wichsen? Ist doch öde auf Dauer! Aber nur, damit Du es wirklich kapierst, nochmal zum Mitschreiben: Ich – bin – nicht – schwul, klar?“
Er streckte einen Zeigefinger aus und stach damit bei jedem Wort in Noahs Richtung. Seine Augen blitzten, doch nicht mehr amüsiert, wie vorhin, sondern überaus gefährlich. Er war wütend, und es war bestimmt besser, ihn nicht weiter zu provozieren.
Da wurde die Tür aufgerissen, und die beiden Kerle, die er fortgeschickt hatte, kamen herein. Der Eine trug ein schmales Bündel in der Hand und brachte es jetzt zu Marc. Noah sah weiße Kunststofffolie und hörte sie knistern, als Marc in das Päckchen hineinsah. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er reichte es zurück an den Mann, der es gebracht hatte.
„Zähl´ nach, Mort. Ich hoffe für Dich, dass nichts fehlt.“ sagte er, den Blick fest auf Jan gerichtet. Der hatte hoch geschaut, als sich die Tür geöffnet hatte und sein Blick klebte nun förmlich an Noah.
Der Typ mit dem Bündel nahm es umständlich auseinander und begann die Scheine zu zählen. Noah tauschte einen fragenden Blick mit Jan und der schüttelte kaum merklich den Kopf.
Wollte er damit nun sagen, dass er nichts von dem Geld genommen hatte, oder nur, dass er keinen Ausweg sah?
Noah wusste es nicht und leckte sich nervös über die trockenen Lippen. Wie lange war er jetzt hier? Eine halbe Stunde? Mehr? Oder weniger? Sein Zeitgefühl war ihm völlig abhanden gekommen.
Erstmals sah er sich in der Halle um und suchte mit den Augen die Oberlichter ab. War da nicht etwas?
Ein Klicken weckte seine Aufmerksamkeit, und als er den Blick senkte, sah er direkt in den Lauf einer Pistole mit Schalldämpfer. Einer der Gorillas hatte sie auf ihn gerichtet, und Noah fühlte, wie er plötzlich ganz ruhig wurde.
Das war es also? Hier endete sein Leben? Er sah zu Jan hinüber und bemerkte, wie dem wieder die Tränen aus den weit aufgerissenen Augen strömten.
„Lässt Du Jan wenigstens gehen?“ fragte er, ohne den Blick abzuwenden.
Ein schnaubendes Lachen antwortete ihm. „Ihn gehen lassen? Junge, von welchem Planeten kommst Du denn?“
„Du hast es aber gesagt.“ erwiderte Noah, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er log.
„Na und? Dann hab´ ich es eben gesagt! Ich bin Geschäftsmann, ich muss mich an meine Verträge und Verbindlichkeiten halten. Der Süße hier arbeitet ab morgen in einem SM-Club. Das steht alles längst fest und es ist gut, dass wir ihn noch rechtzeitig zu fassen gekriegt haben, sonst wäre mir nicht nur eine Stange Geld flöten gegangen, sondern auch mein Ruf. Und der ist mir wichtig, ob Du´s glaubst oder nicht!“
Noah drehte den Kopf in Marcs Richtung, löste den Blickkontakt mit Jan und bedauerte, dass er nicht mehr die Gelegenheit bekommen würde, sich bei diesem zu entschuldigen, für seine Sturheit, sein Beharren auf einer Tatsache, die keine war und dafür, dass er nicht schon vor zehn Jahren alles daran gesetzt hatte, ihm zu helfen.
Ich liebe Dich, Kleiner!

dachte er. Es laut zu sagen, dafür reichte seine Courage selbst jetzt nicht, nicht vor all den Anderen im Raum.
Noch einmal sah er zu Jan hinüber und versuchte, all seine Gedanken und Gefühle in diesen Blick zu legen, dann schloss er die Augen.
„Na, mach´ schon.“ forderte er den Typen mit der Waffe auf und dann …

-


… plötzlich ging alles ganz schnell. Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig. Die Vordertür wurde aufgestoßen und knallte gegen die Wand, desgleichen die Hintertür. Schwere Tritte wurden laut, von einer Vielzahl von Füßen. Die Männer in der Halle erstarrten und sahen verwirrt hin und her, Befehle wurden gebrüllt, und das alles in weniger als einer Minute.
Noah hatte die Augen wieder geöffnet und sah die hereinstürmenden Polizisten. Gott sei

Dank!

dachte er und blickte zu Jan. Der jedoch war gerade dabei, auf die Füße zu springen, und nun war es an Noah, verwirrt dreinzublicken. Doch schon im nächsten Augenblick war Jan bei ihm, prallte gegen ihn und warf ihn zu Boden, während ein einziger Schuss fiel. Gleich darauf fand sich Noah auf dem Boden wieder, begraben unter Jans schmalem Körper. Benommen versuchte er, sich zu befreien und wollte Jan von sich schieben, doch als er die Hand unter dessen Brust hervorzog, war sie feucht und klebrig. Verständnislos starrte er darauf und brauchte einen Moment, bis er begriff, dass es Blut war, Jans Blut, das da an seinen Fingern klebte. Die Kugel hatte also ihn getroffen!
„Jan!!“ Hastig machte er sich frei und drehte den schlaffen Körper auf den Rücken. „Jan

!!!“
Um ihn herum war der Aufruhr noch in vollem Gange, doch er bemerkte es kaum.
Marc, die Waffe mit der er geschossen hatte, noch in der Hand, wurde von den Beamten aufgefordert, sie fallen zu lassen, tat es jedoch nicht, sondern zielte auf die Polizisten, was ihm einen Schuss ins Bein einbrachte. Schreiend ging er zu Boden, und damit war der eigentliche Kampf auch schon vorbei. Sämtliche Männer wurden entwaffnet und festgenommen und die Halle systematisch durchsucht.
Noch Stunden später war die Spurensicherung dabei, das Büro auseinander zu nehmen und Beweise zu sichern.
Noah saß inzwischen in einem miefigen Büro und wiederholte zum gefühlt hundertsten Mal seine Aussage.
Er war müde, seine Kopfschmerzen hatten sich zurückgemeldet, und vor allem wollte er nur noch eins: Aus dieser verfluchten Polizeiwache raus und ins Krankenhaus, zu Jan!
Der hatte beängstigend blass ausgesehen, als er auf einer Trage, mit einem Schlauch im Hals und einer Infusion in den Rettungswagen verfrachtet worden war. Seitdem hatte Noah nichts mehr von ihm gehört.
„Also, lassen Sie mich das nochmal zusammenfassen: Sie kannten Marc Benedikt aus ihrer Jugend, genau wie Jan Herschel, und letzterer ist vor ein paar Wochen plötzlich zufällig bei Ihnen aufgetaucht. Sie haben ihn aus Mitleid bei sich aufgenommen und in Ihrer Kneipe arbeiten lassen.“
Der Beamte sah über den Rand seine Brille zu Noah hoch, und seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er von der ganzen Geschichte hielt.
Noah nickte und hatte Mühe, seine Ungeduld zu unterdrücken. „Ja. Das hab´ ich Ihnen doch nun schon mindestens dreimal erklärt.“ sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Polizist brummte etwas, was eine Zustimmung sein mochte oder auch nicht, schob die Brille höher und blickte wieder auf das Blatt, das vor ihm lag.
„Heute Mittag haben Sie gegen 14 Uhr den Notruf gewählt, weil Ihr Untermieter apathisch dalag und sie sich Sorgen machten, er könnte Drogen genommen haben. Als der Notarzt eintraf, war er jedoch verschwunden und sie haben den darauf von dem Mediziner herbeigeholten Beamten erklärt, sie seien nur kurz im Badezimmer gewesen und bei Ihrer Rückkehr das Bett leer vorgefunden. Nachdem die Beamten und die Rettungskräfte gegangen waren, erhielten sie einen Anruf von Marc Benedikt, in dem er Ihnen mitteilte, dass er Ihren Untermieter in seiner Gewalt habe und verlangte, dass sie innerhalb von 30 Minuten in das alte Lagerhaus in der Gutmannstraße kommen. Falls nicht, drohte er damit, Herrn Herschel zu töten. Ist das soweit richtig?“
„Ja. Immer noch!“ erwiderte Noah und atmete tief durch.
Der Beamte ließ sich davon nicht erschüttern und fuhr fort: „Sie haben daraufhin den Notruf ein zweites Mal gewählt, eine Entführung gemeldet und die Adresse des Lagerhauses durchgegeben. Nach allem, was sie hier bei mir zu Protokoll gegeben haben, hat Marc Benedikt Herrn Herschel über einen Zeitraum von rund zehn Jahren mehr oder weniger gefangen gehalten und zur Prostitution gezwungen. Vor ein paar Wochen ist dem dann die Flucht geglückt und außerdem hat er noch eine Summe von 25.000 Euro mitgehen lassen, die er aber auf der Flucht verstecken musste.“
Erneut traf Noah ein fragender Blick, und er zuckte die Achseln. „So hat man es mir gesagt.“ erklärte er knapp.
„Und die heutige Geiselnahme diente dem Zweck, Herrn Herschel zum Reden und zur Herausgabe des Geldes zu zwingen?“ hakte der Polizist nach.
„Ja!“ Noah spürte, wie sein Geduldsfaden langsam aber sicher riss. „Ja, Herrgott nochmal! Wie oft soll ich das denn noch erzählen? Glauben Sie, die Tatsachen verändern sich, wenn Sie mich das noch zehn Mal wiederholen lassen?“
Der Beamte legte das Blatt auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Abschätzend betrachtete er Noah einen Moment, bevor er wieder etwas sagte.
„Wissen Sie eigentlich, was für ein Gottesgeschenk Sie und Herr Herschel für mich und meine Leute sind?“
Verdutzt starrte Noah ihn an, und sein Gegenüber lächelte plötzlich zum ersten Mal seit Beginn der Befragung. Er nahm seine Brille ab und rieb sich über die Augen.
„Ich sage Ihnen was, Herr Lewandowski. Marc Benedikt ist für uns hier beileibe kein Unbekannter. Wir sind schon lange hinter ihm her. Er hat seine Hände in einer Menge krimineller Machenschaften drin, aber wir konnten ihm nie etwas nachweisen. Seine Anwälte haben jede potentielle Anklage zerpflückt. Aber diesmal haben wir ihn am Arsch! Er hat vor Zeugen auf sie geschossen und Herrn Herschel lebensgefährlich verletzt. Dazu kommt zumindest noch Freiheitsberaubung und räuberische Erpressung. Keiner seiner Gorillas wird sich für ihn hinhängen lassen, darauf wette ich! Mit anderen Worten: diesmal fährt er ein. Und nicht nur das – wir werden endlich Gelegenheit bekommen, seine Geschäfte unter die Lupe zu nehmen. Es sollte mich wundern, wenn da nicht noch mehr zusammenkommt! Wenn ich sie also bitte, die einzelnen Punkte immer wieder zu bestätigen, dann nur deshalb, weil ich ganz sicher gehen möchte, dass die Sache dieses Mal wasserdicht ist und kein noch so teurer Anwalt sie abschmettern kann! Ich will Marc Benedikt hinter Gittern sehen!“
Noah blinzelte.
Während dieser vergleichsweise langen Erklärung hatte sich mit einem Mal ein warmes Gefühl in seiner Brust ausgebreitet. Der Polizist glaubte ihm. Und nicht nur das! Er war genauso sehr an einer Bestrafung für Marc interessiert, wie er selbst.
Keine halbe Stunde später stand er draußen vor dem Polizeirevier und überlegte, wie er am schnellsten ins Krankenhaus kam. Sein Geldbeutel lag zuhause in seiner Wohnung, am entgegengesetzten Ende der Stadt, also schieden Taxi und Bus aus. Zu Fuß war es ein strammer Marsch von einer guten halben Stunde, aber was blieb ihm übrig?
Er schob die Hände in die Hosentaschen und ging los, doch nach wenigen Metern hielt ein Wagen neben ihm, und die Seitenscheibe wurde heruntergekurbelt. Der Beamte, der seine Aussage aufgenommen hatte, beugte sich vom Fahrersitz herüber und fragte: „Wollen Sie zufällig ins Krankenhaus?“
Noah nickte und wurde daraufhin ins Auto gewunken. „Dann haben wir den gleichen Weg. Ich habe eben da angerufen und gehört, dass Herr Herschel inzwischen aus der Narkose aufgewacht ist. Die Kugel hat wohl sämtliche lebenswichtigen Organe verfehlt, er hat Riesenglück gehabt. Also werde ich mir jetzt seine Version der Geschichte anhören, wenn es möglich ist.“
Noah nickte, das war jedoch nicht mehr als eine Art automatischer Reflex. Ihn durchströmte eine so gewaltige Erleichterung, dass ihm ganz schwindlig wurde. Jan lebte und es ging ihm den Umständen entsprechend gut!
Allein das reichte, ihn seine Umwelt völlig vergessen zu lassen.
Der Beamte bemerkte wohl seine Verfassung, ließ ihn jedoch zuerst völlig in Ruhe. Erst nach ein paar Minuten wollte er wissen: „Wie stehen Sie eigentlich genau zu Herrn Herschel?“
Noahs Kopf ruckte herum, und er fühlte, wie sein Gesicht warm wurde. Er war versucht, eine ausweichende Antwort zu geben, doch er stockte.
Der Moment in der Halle fiel ihm wieder ein, als Marcs Bodyguard mit der Waffe auf ihn gezielt hatte und er sich endlich seine Gefühle eingestanden hatte.
„Ich ...“ Er zögerte, musste sich räuspern und sagte dann: „Ich liebe ihn.“
Mehr nicht. Aber es war genug.


Es war schwer gewesen, aus der Schwärze ans Licht zu steigen.
Weich wie Watte und in komfortabler Schmerzlosigkeit hatte sie ihn umfangen und zärtlich gehalten, doch jetzt war es damit vorbei.
Er hörte, wie jemand seinen Namen sagte, spürte eine Hand auf seiner Stirn und schlagartig überfiel ihn das Brennen und Reiße, biss sich in seinen Eingeweiden fest, wie ein wütender Köter, und er konnte nicht anders, als das Gesicht zu verziehen und leise zu stöhnen.
„Schwester! Geben Sie dem Patienten eine Ampulle Dolanthin i.m.! Er hat offenbar doch noch starke Schmerzen. Wie ist denn der Kreislauf?“ Eine männliche Stimme, dicht neben seinem Kopf.
„Ganz okay soweit.“ kam die Antwort, etwas weiter entfernt.
Endlich klärte sich sein Blick, und er blinzelte gegen die Helligkeit des Zimmers, in dem er sich befand. Eine weißgekleidete Gestalt ragte neben ihm auf, und er hatte zunächst ein wenig Mühe, deren Züge genauer zu erkennen.
„Guten Tag, Herr Herschel! Schön, Sie wieder unter den Lebenden zu sehen!“ begrüßte ihn die Gestalt und fuhr gleich darauf fort: „Sie sind im Krankenhaus. Wissen Sie noch, dass man auf sie geschossen hat?“
Jan überlegte, und nachdem die Rädchen in seinem Kopf sich knirschend wieder in Bewegung gesetzt hatten, zuckte er plötzlich zusammen.
„Noah!!“ stieß er hervor und machte eine Bewegung, als wollte er in die Höhe springen. Doch er sank sofort wieder zurück und sog zischend die Luft ein. Sein Bauch schmerzte höllisch und verdammte ihn zur Regungslosigkeit.
Der Arzt hatte sich erschrocken vorgebeugt und fasste ihn am Arm, um ihn im Bett zu halten.
„Sachte, Herr Herschel! Sie haben eine frische OP-Wunde am Bauch, da ist solche Gymnastik keine gute Idee!“
Verzweifelt sah Jan zu ihm hoch. „Aber – Noah! Was ist mit ihm? Ist er in Ordnung?“ Er packte den Ärmel des Mediziners, und der hatte seine liebe Not, ihn zu beruhigen.
„Also, ich weiß zwar nicht, wer dieser Noah ist, aber ich kann Ihnen versichern, dass außer Ihnen kein Patient mit einer Schussverletzung eingeliefert worden ist. Bitte beruhigen Sie sich, sonst besteht die Gefahr, dass Ihre Narbe wieder aufgeht, und dann müssen Sie noch einmal operiert werden!“
Jan ließ ihn los, gerade in dem Moment, als die Schwester mit der verordneten Spritze hereinkam.
„Herr Doktor,“ sagte sie, „im Dienstzimmer ist ein Beamter von der Kripo am Telefon. Der fragt, ob er Herrn Herschel ein paar Fragen stellen kann. Was sollen wir ihm sagen?“
Der Arzt sah noch einmal kurz auf Jan hinunter und meinte dann: „Ich rede mit ihm. Und Sie,“ er hob den Finger in Jans Richtung, „bleiben bitte im Bett! In ein paar Tagen können Sie wieder herumlaufen wie vorher, das verspreche ich Ihnen, aber vorläufig seien Sie bitte ein gehorsamer Patient! Schwester Marianne wird sich gut um sie kümmern.“
Besagte Schwester Marianne steuerte das Bett an, während der Arzt hinausrauschte. Keine Zwei Minuten später hatte sie ihm geschickt eine Ladung Schmerzmittel in den Allerwertesten gejagt und half ihm, sich wieder einigermaßen bequem zurecht zu legen.
„Was war denn los eben?“ fragte sie dann und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ach, nichts Besonderes.“ erwiderte Jan ausweichend, und sie legte den Kopf schief. Es war klar, dass sie ihm nicht glaubte. Aber Jan schloss die Augen, und nach einem Moment hörte er sie sagen: „Ich lege Ihnen die Klingelschnur aufs Bett. Wenn Sie etwas brauchen, melden Sie sich, ja?“
Er nickte, ohne die Augen zu öffnen und hörte wie ihre Schritte sich entfernten. Die Tür klappte, und er war allein.
Die Augen wieder öffnend drehte er den Kopf und sah sich um. Er lag ganz offenbar in einem Zweibett-Zimmer, dessen anderes Bett unbenutzt dastand. Seines stand am Fenster und er konnte den blauen Spätsommerhimmel sehen. Die Wände des Zimmers waren in einem zarten Grün gestrichen, und ein Farbdruck hing an der gegenüberliegenden Wand.
Doch während seine Augen umherwanderten und sein Gehirn alles in sich aufnahm, was er sah, war er in Gedanken nur bei Noah.
Dieser Augenblick in der Halle, als Marc die Waffe gezogen hatte und Noah es nicht gesehen hatte, war auf ewig in seiner Seele eingebrannt. Irgendwie hatte ihm dieser Anblick Flügel verliehen, er war hochgeschnellt und auf Noah zugesprungen, hatte sich vor ihn geworfen und es war ihm tatsächlich gelungen, die Kugel abzufangen. Aber ab diesem Moment war seine Erinnerung hinter einem blickdichten Vorhang versteckt, und er hatte keine Ahnung, was danach passiert war. Hatte Marc noch ein zweites Mal geschossen? Auf Noah? Hatte er ihn getroffen?
Die Ungewissheit war umso schlimmer, als er noch immer Noahs letzten Blick auf sich spürte. Dieser Blick, bevor er wie gottergeben die Augen schloss, der war so ganz anders gewesen, als die Blicke, die er sonst für ihn übrig gehabt hatte. Bedauern hatte darin gelegen, ein stummes Flehen um Verzeihung und – Liebe?
Konnte das sein? Oder bildete er sich das nur ein?
Eine Träne rollte ihm aus dem Augenwinkel, und er machte die Augen zu, weil sie brannten.
Die Schmerzen ließen allmählich nach, und obwohl er es nicht vorgehabt hatte, schlief er wieder ein, mitten in seinen trüben Gedanken an Noah, trotz seiner Angst und Sorge um ihn.
Das nächste Aufwachen ging schneller und war mit wesentlich weniger Unbehagen verbunden. Er schlug die Augen auf, fragte sich noch, was ihn geweckt hatte, da öffnete sich schon die Zimmertür, und ein groß gewachsener Mann mittleren Alters kam herein, in dem er sofort und instinktiv einen Polizisten erkannte.
Jans Herzschlag beschleunigte sich, und er raffte die Bettdecke enger um sich, als könne er sich auf die Weise vor den unangenehmen Dingen schützen, die jetzt vielleicht auf ihn zu kamen.
„Herr Herschel?“ Der Beamte kam zu ihm ans Bett, und Jan nickte beklommen.
Würde er ihm jetzt womöglich mitteilen, dass Noah schwer verletzt war, oder gar tot?
„Wie fühlen Sie sich?“ fragte der Polizist und zog sich einen Stuhl heran. Jan wusste nicht so recht, was er antworten sollte, daher schwieg er und sah zu dem Mann auf, wie er seine Jacke auszog und sich setzte.
„Der Arzt hat mir grünes Licht gegeben, dass ich Ihnen schon ein paar Fragen stellen darf. Sind Sie damit einverstanden?“
Erneut nickte Jan, ohne etwas zu sagen.
„Zunächst lassen Sie mich Ihnen sagen, dass Sie nicht Gegenstand unserer Ermittlungen sind. Es geht allein um Marc Benedikt und seine illegalen Aktivitäten. Mir liegt die Aussage eines Zeugen vor, nach der Benedikt sie zehn Jahre lang mehr oder weniger gegen Ihren Willen festgehalten und zur Prostitution gezwungen hat. Ist das richtig?“
Jan starrte ihn an. „Wer hat Ihnen das gesagt?“ wollte er wissen, und der Beamte lächelte.
„Das war Ihr … Vermieter. Noah Lewandowski.“
„Noah?“ Schlagartig saß Jan kerzengerade im Bett, obwohl seine frische Narbe protestierte und ihn stöhnend die Hand darauf pressen ließ. „Wo ist er? Geht es ihm gut? Ist er verletzt?“ sprudelte es aus ihm heraus, und der Beamte hob erschrocken die Hand.
„Bitte, Herr Herschel, bleiben Sie liegen! Sie sind doch frisch operiert! Herrn Lewandowski geht es gut. Er ist mit mir hergekommen und sitzt draußen vor der Tür. Sobald ich hier fertig bin, wird er hereinkommen!“
Doch Jan schüttelte heftig den Kopf.
„Ich kann jetzt nicht mit Ihnen reden!“ widersprach er. „Ich muss mit Noah sprechen! Ich muss ihm sagen, dass es mir leid tut! Bitte, holen Sie ihn!“
Unschlüssig sah der Polizeibeamte einen Moment auf Jan hinunter, dann jedoch fügte er sich in das Unvermeidliche, denn er sah ein, dass so nichts mit Jan anzufangen war.
„Na schön.“ sagte er und stand auf. „Ich komme dann morgen noch einmal wieder, in Ordnung?“
Von Jan kam keine Antwort, er starrte nur auf die Tür, hinter der sich Noah befand, als könnte er ihn mit reiner Willenskraft hereinlocken.
Der Beamte ging hinaus, und Jan hörte, wie er hinter der angelehnten Tür ein paar Worte mit jemandem wechselte. Dann öffnete sie sich ganz, und Noah kam herein.
Sein Gesicht war ernst und voller Sorge, als er zum Bett herüber kam. Er setzte sich auf den Stuhl, der noch dort stand und musterte Jans blasses Gesicht.
„Wie geht’s Dir?“ fragte er schließlich.
Jan zuckte die Schultern. „Ging schon mal besser.“
Damit schien ihr Repertoire erschöpft, und es herrschte Schweigen. Keiner schien zu wissen, wie er mit dem beginnen sollte, was ihm auf der Seele lag.
Nach einer Weile räusperte sich Jan und sagte, ohne Noah anzusehen: „Es tut mir leid. Das mit den Drogen, meine ich. Ich hätte Dir dieses Zeugs nicht geben dürfen, so hinter Deinem Rücken. Ich will das auch gar nicht beschönigen, aber ich war so frustriert. Seit damals, seit ich Dich das erste Mal geküsst habe, habe ich Dich nie vergessen." Er machte eine kurze Pause, rang offenbar mit sich und dem, was ihm alles auf der Seele lag.
"Als Junge hatte ich ein Poster über meinem Bett hängen, so ein Inselpanorama." fuhr er schließlich fort. "Und immer, wenn mein Stiefvater sich an mir vergriffen hat, hab ich mich da hin geträumt. Das war meine Zuflucht, da konnte mir nichts passieren. Auch später, als ich in diesem alten Haus gelebt habe, bei der Gang, habe ich immer, wenn ich glaubte, ich halte es nicht mehr aus, daran gedacht. Aber nach diesem Kuss, da warst plötzlich Du meine Zuflucht. Die Erinnerung an unser gemeinsames Essen an diesem Abend und an den Kuss, die waren es, die mich bei Verstand gehalten haben, die ganzen zehn Jahre lang. Verrückt, oder?“ Er lächelte wehmütig und sah flüchtig zu Noah hoch, ließ ihn aber nicht zu Wort kommen.
„Und nun hatte ich Dich plötzlich vor der Nase. Ganz dicht. Ich sehnte mich so sehr danach, dieses Gefühl von damals noch einmal zu erleben und - mehr! Ich weiß nichts über Liebe, nur über Sex. Darum wollte ich unbedingt mit Dir schlafen. Aber Du warst so … so ...“ Er suchte nach dem richtigen Wort, doch Noah unterbrach ihn: „Dumm. Sag´s ruhig. Ich war ein absoluter Blödmann! Selbst ich hätte kapieren müssen, dass man sich gegen diese Gefühle nicht auf Dauer wehren kann!“
Er streckte die Hand aus und fasste nach Jans Fingern.
„Ich war schroff und gemein zu Dir, aber kein einziges Mal war das wirklich das, was ich tief drinnen gefühlt habe. Ich konnte es mir nicht eingestehen, aber es ist schon so: Ich liebe Dich, Jan Herschel, und ich wäre sehr glücklich, wenn Du mir verzeihen könntest, auch wenn ich es vermutlich nicht verdiene.“
Noahs Gesicht war bei diesen Worten langsam rot angelaufen, und nun sah er verlegen zu Boden, während er auf eine Antwort wartete.
Die blieb jedoch zunächst aus. Dafür erklang ein erstickter Laut, sodass er erschrocken den Kopf hob.
Jan lag im Bett, lachte und weinte gleichzeitig und löste seine Hand aus der von Noah. Er streckte sie ihm entgegen, und Noah folgte der Aufforderung mit klopfendem Herzen.
„Komm schon her, Du Blödmann!“
Als er sich tiefer hinabbeugte, schlangen sich Jans Arme um seinen Hals, und diesmal ging der Kuss von ihnen beiden aus. Ohne Hast und ohne Ungestüm, einfach nur voller Zärtlichkeit und Liebe.
Als kurz darauf die Schwester hereinkam, blickte sie etwas verdutzt auf den großen, dunkelhaarigen Mann, der neben dem Bett des Patienten saß und seine Hand hielt. Die Männer redeten nicht, aber es schien auch nicht, als bräuchten sie viele Worte, um sich zu verständigen. Eine Aura der Zusammengehörigkeit umgab sie, und die Schwester ertappte sich dabei, dass sie sie beneidete...

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Tag der Veröffentlichung: 11.03.2012

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