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Kapitel Eins




Freunde sind etwas Besonderes.
Sie sind uns nah, sie teilen Gutes und Schlechtes mit uns und geben uns Halt, wo wir keinen finden.
Sie vermögen uns unsere besten Momente zu schenken … aber auch unsere schlimmsten!
Das galt jedenfalls definitiv für meinen besten Kumpel Nils. Wir kannten uns seit dem Kindergarten, und eigentlich verstand niemand, was uns so zueinander hin zog.
Ich war der brave Junge, der immer tat, was man ihm sagte und der Kindergarten-Tante sogar regelmäßig Blümchen pflückte.
Er dagegen war ein Wildfang wie er im Buche stand, dem kein Baum zu hoch und kein Bach zu breit war, der grundsätzlich gegen alles rebellierte und deshalb häufig in Schwierigkeiten geriet.
Daran änderte sich auch nichts, als wir in die Schule kamen, und wenn ich nun selbst erklären sollte, was uns zu Freunden machte, muss ich bis heute die Antwort schuldig bleiben.
Natürlich brachte er mich mit seinem Blödsinn mehr als einmal in die Bredouille, aber meistens war er es, der den größten Ärger bekam – er war eben berühmt-berüchtigt, schon von klein auf.
Im Gegensatz zu mir kam er aus einem sogenannten „zerrütteten Elternhaus“.
Sein Vater war Alkoholiker gewesen und hatte Nils, genau wie dessen Mutter häufig grün und blau geschlagen.
Ungefähr zu der Zeit, als wir Jungs in den Kindergarten kamen, war er jedoch seiner Alkoholsucht endgültig erlegen und seine Familie endlich frei.
Nun war seine Mutter alleinerziehend, und daran änderte sich auch in den folgenden Jahren nichts mehr. Sie arbeitete hart in mehreren Putzstellen, um sich und ihren Sohn durch zu bringen und war selten zuhause.
Daher blieb Nils oft sich selbst überlassen nach dem Unterricht, denn so etwas wie eine Betreuung gab es an unserer Schule nicht.
Meine Eltern merkten das irgendwann, und deshalb forderte meine Mutter mich auf, ihn doch öfters mit zu uns nach Hause zu bringen. Das tat ich dann auch, obwohl ich anfangs ein bisschen besorgt war, denn er war ja oft genug ziemlich unberechenbar.
Aber ich machte mir umsonst Sorgen. Nils war von der ersten Minute an charmant und zuvorkommend wie niemals sonst, sobald er die Schwelle unseres Hauses übertrat.
Es wurde dann praktisch zur festen Einrichtung, dass er die Nachmittage bei uns verbrachte, selbst als sich unsere schulischen Wege nach der Grundschule trennten. Er ging zur Realschule und ich – natürlich – aufs Gymnasium.
Es war fast so, als hätte ich einen Bruder.
Einen Bruder, der mir allerdings auch manchmal ziemlich auf die Nerven ging, sodass es durchaus Momente gab, wo ich ihn zum Teufel wünschte.
So auch an jenem verhängnisvollen Tag während unseres zehnten Schuljahres, wo er sich auf den Heimweg machte, nachdem wir uns wegen irgendeiner völlig unwichtigen Kleinigkeit in die Haare geraten waren. Grußlos ließ ich ihn gehen, zwei Stunden später klingelte das Telefon, und kurz darauf kam meine Mutter kreideweiß ins Zimmer, den Hörer noch in der Hand.
Sie berichtete mir stockend, dass Nils auf dem Nachhauseweg einen Unfall gehabt hatte. Es war November und früh dunkel. Nils kleidete sich meistens schwarz, und so hatte ein Autofahrer ihn zu spät gesehen, als er zehn Meter vom nächsten Zebrastreifen entfernt über die Straße flankte. Er hatte ihn voll erwischt, und Nils war noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.
Ich bekam schlagartig keine Luft und hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen.
Nils sollte tot sein? Ich sollte ihn nie mehr sehen und nie mehr die Gelegenheit haben, unseren Streit auszubügeln? Das war doch schlichtweg unmöglich, oder?
Aber ein Blick ins blasse Gesicht meiner Mutter bestätigte mir, dass es stimmte, dass es kein böser Traum war, und von dem Moment an war die Welt nicht mehr die Gleiche.
Drei Tage später war die Beerdigung, ich stand wie betäubt auf dem zugigen Friedhof und sah zu, wie der schlichte helle Fichtensarg in ein düsteres Erdloch hinabgelassen wurde, in dem knöchelhoch das Wasser stand, weil es die ganze Nacht geregnet hatte. Ich konnte noch immer nicht weinen und hatte die ganze Zeit das Gefühl, ich müsste meinen Freund aus diesem verdammten Sarg rausholen, weil alles ein furchtbarer Irrtum war.
Meine Eltern waren auch mitgekommen, und als die schreckliche Zeremonie endlich vorüber war, begleiteten sie Nils´ Mutter zum Wagen, während ich allein am Grab stehenblieb. Die Grube war noch offen, und ich sah hinunter auf die Erdschollen und die Blumen, die die Trauergäste Nils nachgeworfen hatten.
Erst in diesem Augenblick machte etwas „Klick!“ in meinem Kopf, und ich begriff, dass es tatsächlich vorbei war. Nils war fort und würde nie wieder zurückkommen. Er würde nie wieder lachend auf mich zurennen, um mir den neuesten Witz zu erzählen, und er würde nie wieder etwas anstellen, das uns beide in Schwierigkeiten brachte.
Er war für immer und unwiderruflich gegangen, und vor allem – es war meine Schuld!
Hätte ich mich nicht mit ihm gestritten und ihn nach Hause geschickt, wäre er mit Sicherheit noch am Leben!
Plötzlich spürte ich die Tränen aufsteigen, und im nächsten Moment heulte ich los, wie noch nie in meinem Leben. Ich bereute unseren Zank, und hätte alles dafür gegeben, ihn rückgängig zu machen.
„Nils!“ schluchzte ich. „Es tut mir leid, Mann! Es tut mir echt leid, hörst du? Ich würde alles für dich tun, wenn ich wüsste, dass du mir verzeihst! Alles!“
In diesem Zustand fand mich meine Mutter, und sie entschied, dass es besser war, wenn ich direkt mit meinen Eltern nach Hause fuhr, anstatt zum Beerdigungskaffee zu gehen. Mir war das egal, ich hatte meinen besten Freund verloren und fühlte mich unendlich allein und verlassen.
Eine halbe Stunde später lag ich im Jogginganzug auf meinem Bett, die schwarzen Klamotten hingen auf einem Bügel am Schrank, und ich starrte an die Zimmerdecke. Die Tränen waren versiegt, ich fühlte mich leergeweint, und wie ein Mantra kreiste ständig nur der eine Satz durch mein Hirn: Es ist allein Deine

Schuld

!
Irgendwann döste ich trotzdem ein, und im Traum begegnete mir Nils.
Er sah aus wie immer, von dem Unfall war ihm nichts anzusehen, ich rannte zu ihm hin und lachte erleichtert. Der Unfall war also nur ein böser Traum gewesen, Nils lebte, und es ging ihm gut!
Er lachte mit mir und fiel mir um den Hals, wie er es schon so oft getan hatte. Wir schwatzten über alles mögliche, und mein Herz war leicht, bis er plötzlich ernst wurde und wissen wollte: „Würdest Du wirklich alles für mich tun, Arno?“
Ich schaute ihn an und runzelte die Stirn. „Wie meinst Du das?“ fragte ich mit einer bösen Vorahnung.
„Würdest Du?“ beharrte er statt einer Antwort. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und mein anfangs so heller Traum begann sich rasant zu verdunkeln. Ich wich vor Nils zurück, denn ich wusste, dass gleich etwas kommen würde, was mir nicht gefiel. „Lass´ mich in Ruhe!“ rief ich. „Geh´ weg!“
Sein Gesicht wurde traurig, und plötzlich veränderte er sich. Seine Haut nahm eine wächserne Farbe an, unter seinen Augen blühten purpurne Blutergüsse, und von seiner linken Schläfe rann ein dunkler Blutfaden, bis zu seinem Kinn, wo er sich sammelte und dann auf sein schwarzes, zerrissenes Sweatshirt tropfte.
Ich wollte weglaufen, doch meine Füße lösten sich nicht vom Boden, ich stand nur keuchend vor Entsetzen da und starrte meinen besten Freund an, wie eine Gestalt aus einem Alptraum.
Nun, dazu entwickelte der Traum sich ja auch wirklich!
Ich hatte Nils nach dem Unfall nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber ich zweifelte keine Sekunde daran, dass das da vor mir der verunglückte, tote Nils war. Aus irgendeinem Grund war er aus dem Grab zurück gekommen und suchte mich heim, wie ein Zombie aus einem Horrorfilm.
„Hab´ keine Angst, Arno! Ich bin´s doch! Nils!“ versuchte er mich zu beruhigen und machte ein paar Schritte auf mich zu. Ich jedoch – weit davon entfernt mich zu beruhigen – wich vor ihm zurück und streckte abwehrend die Hände aus. „Nein!“ krächzte ich, „Verschwinde!“
Er blieb stehen und ließ die Schultern hängen. „Aber Du hast es mir versprochen!“ sagte er leise. „Oder hast Du das vergessen?“
„Was soll ich versprochen haben?“
Ich war vollkommen durcheinander, blieb aber stehen, denn er wirkte nicht im Mindesten wie ein hirnfressender Zombie, so unglücklich wie er aussah.
„Du hast doch gesagt, Du würdest alles für mich tun! Heute Nachmittag, an meinem Grab!“
Widerstrebend nickte ich. „Ja, das hab´ ich gesagt. Und?“
Er sah hoch, und neue Hoffnung leuchtete in seinen Augen. „Es gäbe da schon was, was Du für mich tun könntest.“
„Und was?“ hörte ich mich fragen.
Er zögerte. „Ich kann hier irgendwie nicht weg. Scheinbar hänge ich fest.“
Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst Du das?“
Er hob die Schultern. „Naja, eigentlich dürfte ich längst nicht mehr hier sein. Ich bin tot, und darum gehöre ich nicht mehr in diese Welt. Trotzdem bin ich noch da, also hält mich etwas hier fest.“ Er zögerte kurz und sagte dann leise: „Ich glaube, ich weiß auch, was das ist. Und deshalb brauche ich Deine Hilfe.“
„Wieso gerade meine?“ fragte ich abweisend. Er schaute hoch und erwiderte: „So wie es aussieht, bist Du der Einzige, der mich sieht und hört. Außerdem hast Du es mir doch versprochen, oder nicht?“
„Was meinst Du damit, ich kann Dich als Einziger sehen und hören? Das hier ist doch bloß ein Traum, oder etwa nicht?“
Er lächelte und legte den Kopf schief. „Ja und Nein. Wie man´s nimmt. Ich wollte Dich nicht zu sehr erschrecken und habe mir Deinen Traum zunutze gemacht. Aber Du kannst jetzt ruhig aufwachen. Ich bin trotzdem noch da!“ ...

...Heftig atmend fuhr ich in die Höhe und wusste im ersten Moment gar nicht, wo ich mich befand. Ich war noch ganz gefangen in meinem Traum und brauchte eine Weile, bis mein Zimmer aufhörte, sich um mich zu drehen.
Mit beiden Händen rieb ich mir das Gesicht und sah mich dann um.
Was hatte ich denn da für einen Blödsinn zusammen geträumt?
„Na – wach?“ erklang eine Stimme aus Richtung meines Sessels, und bei ihrem Klang blieb mir fast das Herz stehen. Das konnte einfach nicht sein, das war unmöglich!
Nils? Wirklich und wahrhaftig?
Ich schaute hin und erstarrte. Da saß tatsächlich Nils in meinem Sessel, scheinbar heil und gesund, nur ein wenig blasser als sonst.
Ruckartig fuhr ich vom Bett hoch und stolperte einen Schritt zur Seite, wobei ich nicht darauf achtete, wohin ich trat, prompt auf einen meiner Schuhe stieg, die dort standen und mit hilflos rudernden Armen zu Boden ging.
Dabei knallten meine Kiefer heftig aufeinander, und einen Augenblick lang sah ich Sternchen.
„Hey, hey, sachte, Kumpel!“ beschwichtigte Nils mich von seinem Platz aus. „Sehe ich so furchtbar aus?“
Er blickte an sich hinunter und grinste dann sein typisches Nils-Grinsen. „Das ja wohl nicht! Schätze, ich war die bestaussehendste Leiche, die die seit langem unter die Erde gebracht haben!“
Mir wurde übel, und ich fuhr ihn an: „Lass´ gefälligst diesen Scheiß! Mit sowas macht man keine Witze, Du Blödmann!“
„Was? Wieso denn nicht? Schließlich rede ich von mir selbst, Mann!“
Grummelnd erhob ich mich und versuchte dabei, nicht in Panik zu verfallen.
Sah ich tatsächlich einen Geist in meinem Zimmer?
Unsinn! Ich war nur überreizt und wahrscheinlich schlief ich sowieso noch und träumte das alles.
Genau, das musste es sein!
„Wach´ auf, Arno! Wach´ einfach auf!“ beschwor ich mich selbst leise, doch es nützte nichts. Der Anblick blieb der Gleiche, und Nils sah mich an wie ein begriffsstutziges Kind.
„Mensch, Alter,“ stöhnte er und verdrehte die Augen, „schnallst Du es immer noch nicht? Du bist wach, und ich bin tot. T – O – T! Du warst heute Nachmittag auf meiner Beerdigung und hast mir versprochen, Du würdest alles für mich tun! Und wag´ es ja nicht, jetzt zu sagen, Du hättest es nicht so gemeint! Sonst wäre ich nämlich gar nicht hier, kapiert? Ich brauche Dich, Arno!“
Mit jedem Wort das er sagte, steigerte sich mein Entsetzen, und ich schob mich unauffällig Richtung Tür. Als ich sie endlich erreicht hatte, riss ich sie auf und stürmte in den Flur. Aufs Geratewohl öffnete ich eine weitere Tür und fand mich im Badezimmer wieder. Mit fliegenden Fingern schloss ich hinter mir ab und ging dann rückwärts, bis ich mit dem Rücken ans Waschbecken stieß. Daraufhin drehte ich mich um und das kalte Wasser auf, um mir das Gesicht damit zu waschen.
Hatte ich etwa so was wie einen Nervenzusammenbruch?
Geister gab es nicht, basta!
Wenn ich glaubte, einen zu sehen, dann stimmte was nicht mit mir!
„Was machst Du denn hier?“
Ich fuhr hoch und stieß mit dem Kopf so hart unter die Kante des Spiegelschränkchens, welches genau über dem Waschbecken hing, dass ich zum zweiten Mal an diesem Abend Sternchen sah.
Als mein Blick sich wieder geklärt hatte, sah ich Nils, der lässig am Türrahmen gelehnt hatte und nun mit besorgtem Gesicht zu mir kam. Abwehrend streckte ich eine Hand aus, während ich mit der anderen über meinen Hinterkopf fuhr, wo ich eine Beule ertastete und etwas Warmes und Klebriges fühlte.
„Bleib´ … wo Du bist!“ schrie ich und nahm meine Finger in Augenschein. Sie glänzten nass und rot, und mir war klar, dass ich mir nicht nur einfach eine Beule geholt hatte.
„Verdammt!“ rief ich nicht weniger laut als vorher, und in meinem Kopf ging alles durcheinander.
„Lass´ mich in Ruhe! Geh´ weg! Du bist nur eine Halluzination, weiter nichts! Also verschwinde endlich!“ schrie ich außer mir vor Angst und Entsetzen.
Nur einen Moment später wurde an der Türklinke gerüttelt, und ich hörte die Stimme meiner Mutter, sehr besorgt und eindringlich: „Arno? Bist Du da drin? Was ist denn los? Warum schreist Du so? Lass´ mich bitte rein! Arno? Hörst Du mich?“ Jetzt klopfte sie mit der flachen Hand gegen das Türblatt, und ich erschrak.
Was sollte ich tun? Würde sie Nils auch sehen, wenn ich sie hereinließ? Oder nicht?
Und was war mir eigentlich lieber? Dass sie ihn sah und damit den Beweis antrat, dass sich ein Geist hier herumtrieb, oder dass sie ihn nicht sah und damit nur die Erklärung blieb, dass ich Halluzinationen hatte?
Wobei … Moment, hatte Nils nicht gesagt, außer mir könnte ihn niemand sehen oder hören?
Mir schmerzte der Schädel, von dem heftigen Stoß genau wie vom Nachdenken, und da wurde auch schon mit der Faust an die Tür gehämmert. Arno? Bitte, mach´ jetzt endlich auf!!“
Das klang inzwischen schon mehr als beunruhigt, und Nils schob sich zur Seite, als ich einen zögernden Schritt Richtung Tür machte. Ich öffnete, und meine Mutter kam herein. Ihr Gesicht war blass und voller Sorge, und als sie das Blut an meinem Hinterkopf sah, sog sie erschrocken die Luft ein.
„Was hast Du denn gemacht, um Himmels willen?“ wollte sie wissen, während sie mich auf den Badewannenrand dirigierte und aus dem Schränkchen Verbandmaterial holte. Mit geschickten Bewegungen reinigte sie die Wunde und inspizierte die Sache aus der Nähe.
„Ich hab´ mir das Gesicht gewaschen und bin mit dem Kopf unter die Kante geknallt! Sonst nichts!“ erklärte ich und schielte aus dem Augenwinkel zu Nils hinüber, der gelassen an der Duschkabine lehnte. Meine Mutter hatte durch nichts erkennen lassen, dass sie ihn sah, und das konnte nur bedeuten, dass sie ihn WIRKLICH nicht sehen konnte.
War er also wahrhaftig ein Geist? Ein Geist, den nur ich sehen konnte?
Ich schloss die Augen und senkte den Kopf. „So ein Quatsch!“ murmelte ich, und meine Mutter horchte auf.
„Was hast Du gesagt?“ Rasch hob ich den Blick und sagte: „Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht.“
Sie musterte mich eindringlich und setzte sich dann neben mich.
„Hör´ zu, Arno, Du hast einen schweren Verlust erlitten. Nils wird uns allen fehlen, das weißt Du, aber Du warst sein bester Kumpel und manchmal habe ich in ihm mehr Deinen Bruder gesehen, als Deinen Freund. Es wird nicht leicht werden, das zu verarbeiten, und vergessen wirst Du ihn hoffentlich nie, aber mit der Zeit wird es leichter werden an ihn zu denken. Es ist nur wichtig, dass Du Deine Gefühle nicht immer nur unterdrückst. Du hast ein Recht darauf, zu trauern, zu weinen und auch wütend zu sein. Friss´ es also nicht immer nur in Dich hinein, hörst Du? Wir – Dein Vater und ich – sind für Dich da und hören Dir zu, wenn Du es möchtest! Also lass´ uns Dir helfen, ja?“
Sie drückte mich an sich, und ich dachte nur: „Wenn Du wüsstest! Der Typ, von dem Du hier redest, steht keinen Meter von Dir entfernt und hört jedes Wort!“
Nachdem sie mir mit einem Einmalrasierer ein paar Haare wegrasiert hatte, klebte sie noch einen Verband auf die Wunde und meinte abschließend: „Da hast Du Glück gehabt. Es ist nur eine kleine Wunde. Wer weiß, womöglich hätten wir sonst noch in die Klinik fahren und es nähen lassen müssen!“
Dann umarmte sie mich fest und strich mir über den Rücken.
„Willst Du nicht noch nach unten zu uns kommen?“fragte sie, doch ich verneinte so höflich wie möglich. „Nein, Mama. Ich denke, ich gehe gleich duschen und lege mich dann ins Bett. Der Tag war doch ziemlich heftig, und ich bin echt fertig. Außerdem hab´ ich ja die letzten Nächte auch nicht wirlich viel geschlafen.“
Sie nickte widerstrebend und wandte sich zur Tür. „In Ordnung, Arno. Und denk´ bitte dran, was ich Dir gesagt habe, ja?“
„Okay.“ erwiderte ich und folgte ihr in den Flur. Sie ging nach rechts, zur nach unten führenden Treppe, und ich betrat mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und ließ mich in meinen Sessel fallen. So saß ich mit Blick zur Tür und wartete auf Nils. Wie erwartet, erschien er auch nur einen Moment später, materialisierte sich direkt vor meinen Augen und hockte sich wortlos auf mein Bett.
„Und? Glaubst Du mir jetzt?“ wollte er wissen, doch ich starrte ihn nur stumm an. Die Antwort, die er hören wollte, war ich nicht bereit zu geben.
„Arno?“ Er zog die Augenbrauen hoch und beugte sich vor.
„Lass´ mich in Ruhe! Ich höre Dich nicht, und ich sehe auch nichts! Du bist nichts weiter als pure Einbildung. Hervorgerufen durch Schlafmangel und Schuldgfühle! Alles was ich brauche ist Schlaf – und zwar ungestörter, tiefer, langer Schlaf! Und morgen werde ich mich irgendwie ablenken! Computerspielen oder ins Kino vielleicht! Genau! Spätestens morgen Abend bist Du verschwunden! Garantiert!“
„Was?“ Er setzte sich kerzengerade hin und starrte mich entsetzt an. „Arno! Was redest Du denn da? Bitte, Du musst mir glauben! Ich brauche Deine Hilfe!“
Doch ich ignorierte ihn und streifte mir den Pyjama über, steckte dann zur Sicherheit noch meine Ohrenstöpsel ein und kroch unter meine Bettdecke. Ganz fest kniff ich die Augen zu, und als ich nach einer Weile probeweise noch einmal ins düstere Zimmer linste, war nichts von ihm zu sehen.
Erleichtert rollte ich mich auf den Rücken und starrte ins Dunkel über mir. Gott sei Dank, also war ich wohl doch nicht verrückt!
Die Bilder des hinter mir liegenden Tages huschten durch meinen Geist, rannen jedoch bald träge ineinander, vermischten sich zu einem unentwirrbaren Gemisch, und ich träumte alles durcheinander. Mal stand ich auf dem Friedhof, an Nils´ Grab, dann wieder stand er neben mir, und schließlich lag ich selbst dort unten und versuchte, mich bemerkbar zu machen. Doch mein Körper war kalt und steif, und niemand hörte meine verzweifelten Schreie. Die Schollen polterten auf den Deckel meines Sarges, und der Geruch nach Blumen und feuchter Erde füllte meine Nase.
Wie konnten sie mich begraben? Ich war doch nicht tot!
Schon wurde mir die Luft knapp, mein Schreien erstarb und wurde zu heiserem Röcheln. Ich fühlte, wie mir die Augen aus den Höhlen traten und fuhr mit einem Aufschrei aus dem Schlaf. Keuchend und japsend, mit dem Dröhnen meines Herzschlages in den Ohren saß ich eine Weile nur so da und versuchte, dem Gefühl der Panik Herr zu werden, dass mich während des Alptraumes in den Klauen gehabt hatte. Meine Hände zitterten unkontrolliert, während ich mir über das schweißnasse Gesicht fuhr und die Stöpsel aus meinen Ohren pulte. Dann erst sah ich mich um. Ein Blick auf den Wecker offenbarte, dass es noch halbwegs Nacht war. Vor dem Fenster herrschte Finsternis und Regen fiel klickend dagegen. Ich schaute mich weiter um, sah nichts und wollte schon erleichtert wieder ins Bett sinken, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Ich fuhr herum und sah Nils, der es sich vor meinem Bücherregal gemütlich gemacht hatte. Er hatte die Ohrstöpsel meines MP3-Players eingesteckt und schmökerte in einem meiner Bücher.
Ein Geist, der Musik hörte und Science-fiction-Romane las?
Aber ich widerstand dem Drang, ihn anzusprechen, rollte mich wieder in die Bettdecke und schlief tatsächlich relativ bald wieder ein.

Als ich das nächste Mal aufwachte, fiel ein trübes Novemberlicht in mein Zimmer. Mein erster Blick galt dem Wecker – es war nach neun Uhr. Zwar war eigentlich ein ganz normaler Schultag, aber ich war schon seit Nils` Tod nicht mehr in der Schule gewesen.
Meine Eltern hatten gemeint, das sei besser, denn sie wollten mir Gelegenheit geben, die erste Trauer zu verarbeiten, bevor ich mich wieder mit Lehrern und Mitschülern befassen musste. Und heute war sowieso Freitag, da hätte es sich ohnehin nicht mehr gelohnt, zur Schule zu gehen. Meine Zensuren waren gut, sodass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, und ich war ihnen dankbar für soviel Rücksichtnahme.
Apropos Nils …. Ich blickte mich um, konnte ihn jedoch nicht entdecken.
War er weg? Hatte der Schlaf einer einzigen Nacht tatsächlich schon ausgereicht, um meine Halluzination zu vertreiben?
Vorsichtig ließ ich den angehaltenen Atem entweichen und kletterte aus dem Bett.
Entgegen meiner Ankündigung hatte ich am Vorabend nicht mehr geduscht, daher stieg ich als Erstes unter die heiße Brause und zog mich dann an. Während der ganzen Zeit sah ich kein Zipfelchen von Nils und begann schon zu glauben, dass er wirklich nur eine stressbedingte Halluzination gewesen und nun verschwunden war.
Mit neu gewonnenem Appetit löffelte ich kurz darauf mein Müsli in mich hinein und vertiefte mich in die Zeitung, die mein Vater auf dem Tisch liegen gelassen hatte.
Meine Eltern waren beide berufstätig, mein Vater in einer Pharmafirma und meine Mutter als Arzthelferin, von daher war ich allein, aber das war mir nur recht.
Natürlich schmerzte mich der Gedanke an den Tod meines Freundes noch immer, wie hätte es auch anders sein können, aber wenigstens hockte kein eingebildeter Nils mehr in meinem Dunstkreis herum und verlangte Hilfe!
Ich war nicht verrückt, nur etwas mitgenommen!
„Also, ich hab´ ja nie verstanden, wie Du schon zum Frühstück dieses widerlich süße Zeug in Dich reinstopfen kannst!“
Vor Schreck verschluckte ich mich und ließ den Löffel klatschend in die Schüssel fallen, während ich hustend und spuckend dem Erstickungstod zu entrinnen suchte. Die Tränen traten mir in die Augen und durch den Schleier hindurch sah ich eine verschwommene, dunkle Gestalt mir gegenüber am Tisch sitzen.
Nachdem ich mich endlich ausgehustet und mir die Sicht klar gewischt hatte, erkannte ich – wen wohl? - Nils.
Er saß auf dem gleichen Stuhl wie sonst immer, wenn er bei uns gewesen war und zog ein bekümmertes Gesicht.
„Tut mir leid.“ sagte er leise. „Ich schätze, ich mache nichts als Schwierigkeiten, was? Aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll! Ich war gerade bei meiner Mutter und habe versucht, zu ihr durch zu dringen, aber sie sieht und hört mich einfach nicht! Arno, Du bist meine letzte Hoffnung!“
Er sah mich mit großen Augen an, und plötzlich rollten Tränen über seine Wangen. Ich war verblüfft.
Konnten Geister weinen?
„Ich will nicht für immer hier bleiben müssen, wo mich niemand sieht und hört, verstehst Du das nicht? Ich finde es sowieso schon beschissen genug, dass ich so früh gestorben bin, aber glaubst Du, ich hätte Bock auf immer und ewig ein Geist zu bleiben? Ich meine, vielleicht wäre das ja ganz lustig, wenn ich die Leute ein bisschen erschrecken könnte, ich wüsste da schon welche, bei denen ich das gern mal ausprobieren würde, aber es geht ja nicht! Niemand nimmt mich wahr, überhaupt niemand! Wenn Du nicht wärst, würde ich wahrscheinlich verrückt werden und mich fragen, ob es mich wirklich gibt, oder ob ich nur eine Art Hirngespinst bin!“
Jetzt weinte er richtig, und der Anblick seiner Tränen ließ mich nicht kalt. Zu Lebzeiten hatte er nur sehr selten geweint und noch seltener hatte er einen anderen Menschen seine Tränen sehen lassen.
Zögernd stand ich auf und ging um den Tisch herum, bis ich direkt vor ihm stand. Er hatte sich vornüber gebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben. Unschlüssig stand ich da und wagte zunächst nicht, ihn zu berühren. Doch schließlich gab ich mir einen Ruck und streckte die Hand nach ihm aus. Als meine Finger ihn berührten, spürte ich eine Art kühles Prickeln, doch er fühlte sich durchaus fest und solide an, genau wie immer.
Als er meine Berührung spürte, sah er zu mir hoch, und in seinen verweinten Augen stand soviel Kummer, dass ich nicht anders konnte, als meine Arme um ihn zu legen und ihn an mich zu drücken, wie ich es schon öfter getan hatte. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an mich, und ohne zu überlegen strich ich ihm mit der Hand begütigend übers Haar.
Sein Körper war kühl und fühlte sich seltsam fremd an, aber gleichzeitig berührte mich irgendetwas an ihm tief drinnen in meiner Seele, etwas das mich beschwichtigte und mir zuflüsterte: Das ist wirklich Nils, kein

Zweifel! Und er sagt die Wahrheit! Er braucht meine Hilfe, weil er sonst niemanden hat, und es ist meine verdammte Pflicht, ihm zu helfen, schließlich ist er mein bester Freund! Wenn ich ihn nicht weggeschickt hätte, wäre er vermutlich noch am Leben! Also reiß´ Dich jetzt gefälligst mal zusammen und hilf´ ihm!


„Sch!“ machte ich etwas hilflos und wiegte ihn in meinem Arm wie ein kleines Kind. „Ich helfe Dir ja, hörst Du?“
Er löste sich von mir und sah mich mit einer Mischung aus Freude und Unglauben an. „Wirklich? Du hilfst mir? Ganz ehrlich?“ Ich nickte, und er strahlte, dass es kaum auszuhalten war.
„Aber was soll ich denn nun eigentlich für Dich tun?“ wollte ich wissen, als er sich mit den Händen die Tränen wegwischte. „Naja,“ er lachte verlegen, „das ist ein bisschen peinlich, um ehrlich zu sein.“
„Peinlich?“ Ich starrte ihn an und fragte mich, in was für einen Schlamassel ich mich da gerade hineinmanövrierte, wenn es sich um etwas handelte, das Nils peinlich war!
„Es gibt da jemanden, in den ich mich verliebt habe, weißt Du? Und ich hatte keine Gelegenheit mehr, es zu gestehen. Das müsstest Du für mich tun!“
Einigermaßen konsterniert starrte ich ihn an. Das war alles? Wieso war das denn peinlich? Und wieso hielt ihn das hier fest?
Seit Nils 14 Jahre alt war, war er so oft „verliebt“ gewesen, dass ich es aufgegeben hatte, mit zu zählen.
Da musste sein neuester Schwarm ja ein mächtig heißer Feger sein, wenn sie ihn über den Tod hinaus derart beschäftigte?!
„Und wer ist die Glückliche? Kenne ich sie?“ fragte ich, und er kratzte sich am Kopf, schien meinen Blicken auszuweichen.
„Tja, weißt Du … die Sache ist die ...“ Er druckste eine Weile herum, doch dann gab er sich einen Ruck: „Es ist keine Sie, es ist ein Junge, so, nun weißt Du´s.“
„Was?“ Wie vom Donner gerührt fiel ich auf den nächsten Stuhl. „Du machst Witze, oder?“ fragte ich hoffnungsvoll, aber er schüttelte den Kopf. „Nein, mache ich nicht. Ich hab´ nur so verdammt lange gebraucht, bis ich es mir selbst eingestehen konnte. Und jetzt ist es zu spät für mich. Darum bitte ich Dich jetzt, dass Du zu ihm gehst und es ihm sagst.“
Vor meinen Augen schien alles zu verschwimmen. „Ich soll... ?“ ächzte ich. „Bist Du bescheuert? Du erwartest, dass ich den Postillion d´amour

für Dich spiele und das bei einem Typen?“
Mit bittendem Gesichtsausdruck saß er vor mir und sah zu mir auf.
Aaargh! Diesem Welpenblick hatte ich noch nie widerstehen können, und das wusste er auch!
Ich holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vergiss´ es! Das mache ich nicht! Auf keinen Fall!“
Ich bemühte mich um einen entschlossenen Tonfall. Er musterte mich einen Augenblick lang, und ich fürchtete schon, er würde sich aufs Bitten verlegen. Doch er setzte bloß eine resignierte Miene auf und nickte.
„Ja, ich dachte mir schon, dass Du das sagen wirst. Ist schon okay, Arno. Dann muss ich wohl hierbleiben. Aber naja, solange ich in Deiner Nähe bin, wird es schon nicht zu schlimm für mich werden, nicht wahr? Du wirst mich schon trösten, wenn ich mich einsam fühle! Und es wird bestimmt interessant zu sehen, wie Du alt und grau wirst, während ich so bleibe, wie ich jetzt bin!“
Er sah listig zu mir empor, während Schreckensvisionen von einer Zukunft durch mein Hirn zogen, in der Nils zu meinem ständigen, geisterhaften Begleiter geworden war.
Verdammt! Damit hatte er mich!
Zähneknirschend schloss ich die Augen und rieb mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.
„Okay!“ sagte ich, meinen Ärger mühsam unterdrückend. „Okay, Du hast gewonnen! Ich mache es! Aber wehe, wenn Du danach nicht sofort verschwindest!“
Im nächsten Augenblick hing Nils jubelnd an meinem Hals und warf mich beinahe mitsamt dem Stuhl rückwärts um. „Danke!“ rief er. „Danke, Arno! Du bist ein wahrer Freund! Wie kann ich das wieder gutmachen?“
„Ja, ja, schon gut! Spar´ Dir das, ja?“ Ich schob ihn von mir weg und fragte: „Also, dann sag´ schon – wer ist der Kerl? Doch hoffentlich keiner von den Schlägertypen aus Deiner Schule?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, keine Sorge! Ganz im Gegenteil! Er geht zwar in meine Klasse, aber meistens ist er derjenige, auf dem die Anderen rumhacken. Dabei ist er echt nett. Er heißt Niklas. Lass´ uns heute nach Schulschluss hingehen, dann zeige ich ihn Dir!...“
So ging es weiter, er war so begeistert, seine Augen leuchteten und ich war fassungslos. Mein bester Kumpel Nils, vor dem kaum ein attraktives Mädel sicher gewesen war, saß hier vor mir und schwärmte von einem Kerl!
Verstohlen kniff ich mich in den Unterarm, und von dem Schmerz schossen mir die Tränen in die Augen.
Also war ich zumindest wach!
Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?

Kapitel Zwei




Am frühen Nachmittag machte ich mich in Nils` Begleitung auf den Weg zu seiner Schule. Sie lag am entgegengesetzten Ende der Stadt, und es dauerte eine Weile, bis die hohe Sandsteinmauer, die das Gelände umgab vor uns auftauchte. Nils begleitete mich und plapperte dabei die ganze Zeit, vermutlich um seine Nervosität zu überspielen.
Allerdings brachte er mich damit an den Rand eines Wutausbruchs, denn ich konnte seine Schwärmerei schon sehr bald nicht mehr ertragen. Doch so oft ich ihn auch bat, das Thema zu wechseln, kam er doch auf irgendwelchen, verschlungenen Pfaden wieder zurück zu seinem Dreh- und Angelpunkt – Niklas!
Am liebsten hätte ich ihm eine reingehauen, doch das ging nicht – der Weg führte durch belebte Straßen, und was würden die Leute denken, wenn sie sahen, wie ich da scheinbar sinnlos in die Luft drosch?
Zähneknirschend stieß ich also meine Fäuste in die Taschen und bemühte mich, sein Geschwätz auszublenden.
Als wir vor der Schule anlangten, war der Unterricht noch nicht zu Ende, der Pausenhof lag leer und verlassen da, und Nils und ich suchten uns ein ruhiges Eckchen, wo wir auf den Gong zum Schulschluss warten konnten.
„Sag´ mal, Nils,“ fing ich an, bevor er Gelegenheit hatte, wieder in seinen Niklas-Monolog zu verfallen, „heißt das Alles jetzt eigentlich, dass Du schwul bist, oder was?“
Er sah mich an und antwortete mit einer Gegenfrage: „Und - wäre das ein Problem für Dich?“
Ich öffnete schon den Mund, um zu antworten, doch plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mir darüber noch gar keine Gedenken gemacht hatte.
Bedeutete es etwas für mich, wenn Nils auf Jungs stand? Selbst jetzt noch, nach seinem Tod?
Vermutlich schaute ich ziemlich blöd aus der Wäsche, denn Nils setzte sein übliches, breites Grinsen auf und schlug mir auf die Schulter. „Lass´ gut sein, Kumpel! Weißt Du, um ehrlich zu sein, kann ich Dir die Frage selber nicht beantworten. Ich meine, ich hab´ für so viele Tussis geglüht, und jetzt ist es plötzlich ein Kerl, pfft … ! Keine Ahnung, ob das heißt, dass ich schwul bin, oder nicht. Mein Bauch sagt Nein!

, mein Kopf sagt Ja!

, ich weiß es nicht! Das Einzige, was ich sicher weiß ist, dass ich diese Gefühle für Niklas habe. Und ehrlich gesagt, ist es mir auch völlig egal, ich meine, ich bin eh tot, oder?“
„Wenn Du so vieles gar nicht weißt, wieso bist Du Dir dann so sicher, dass es das ist, was Dich hier hält?“ wollte ich wissen, und Nils wurde mit einem Mal todernst. „Das spüre ich einfach, Arno. Das ist eine unerledigte Sache, MEINE unerledigte Sache, und die hängt mir wie ein Mühlstein um den Hals!“
Ich schnaubte leise und seufzte dann. „Mensch, Nils! Du bist noch eines Tages mein Untergang!“
Das brachte ihn zum Lachen, und ich konnte nicht anders, als mit ihm zu lachen, wenn auch ein wenig leiser und verhaltener als er.
Mitten in unser Gelächter hinein, schallte der Gong über den Hof, und kurz darauf quollen die ersten Schüler aus den breiten Eingangstüren der Gebäude. Nils war aufgestanden und schaute aufmerksam Richtung Haupteingang. Plötzlich wurde er ganz aufgeregt und stieß mich an.
„Da! Das ist er!“ Er deutete mit dem Finger, und ich sah hinüber in die Richtung, in die er wies. Eine Gruppe von mehreren schnatternden Mädchen verließ gerade das Hauptgebäude und versperrte mir die Sicht, doch dann waren sie endlich draußen, und dahinter trat ein Junge ins Freie.
Das war also der berühmte Niklas?
Auf den ersten Blick war nichts Besonderes an ihm. Er war ungefähr so groß wie ich und hatte dunkle, kurz geschnittene Haare. Bekleidet war er mit Jeans, Sweatshirt und Anorak, und auf der rechten Schulter hing seine Schultasche. Er schien es eilig zu haben und ging mit leicht gesenktem Kopf rasch über den Hof. Irgendetwas an seiner Haltung drückte großes Unbehagen aus, oder war es Angst?
Die Frage wurde gleich darauf beantwortet, denn da stürmten drei Typen aus der Tür und hinter ihm her, die genausogut ein Schild mit der Aufschrift „Wir

suchen Streit!“

hätten hochhalten können.
„Oh, nein! Die schon wieder!“ stöhnte Nils und ballte die Fäuste.
„Wer sind die?“ fragte ich. „Arschlöcher!“ knurrte er als einzige Antwort und beobachtete, wie die Drei Niklas einholten und umzingelten.
„Arno, Du musst was tun!“ bat Nils und sah mich bittend an. „Du musst ihm helfen! Bitte!“
„Wer? Ich? Machst Du Witze? Guck´ Dir die Drei doch mal an! Glaubst Du, ich will mich zusammenschlagen lassen?“ wehrte ich ab. „Du bist doch derjenige von uns, der Kickboxen gemacht hat!“
„Verdammt, das weiß ich auch!“ brüllte er wütend, und ich erschrak beim Anblick seines verzerrten Gesichts.
„Aber das hilft mir jetzt auch nicht! Ich bin tot, falls Du das vergessen hast! Wie soll ich da was machen?“
Vor Wut zitternd schaute er dort hinüber, wo die drei Schläger Niklas die Schultasche von der Schulter zerrten und ihn dann wie einen Punchingball zwischen sich hin und her zu stoßen begannen. Fieses Gelächter schallte bis zu uns, und schließlich landete die erste Faust in Niklas` Gesicht.
Nils stieß einen Schrei aus und rannte an den Ort des Geschehens, konnte dort aber nichts ausrichten – seine Schläge und Tritte waren substanzlos wie ein Windhauch. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Er sah in meine Richtung, und sein Gesichtsausdruck gefiel mir gar nicht. Den kannte ich nämlich von einer ganzen Reihe an Gelegenheiten, wo er Ideen ausbrütete, die uns beide in Schwierigkeiten gebracht hatten.
Aus dem Stand heraus kam er zu mir geflitzt, und im Rennen rief er: „Tut mir leid, Arno, aber es geht nicht anders!“
Ich wollte noch fragen, was er meinte, doch da war er schon bei mir, und weil er seinen Lauf nicht abbremste, prallte er volles Rohr mit mir zusammen, doch ganz anders als ich erwartet hatte.
Kurz bevor er mich erreichte, schloss er die Augen und dann – sprang er in mich hinein!
Es war ein seltsames, übelkeiterregendes Gefühl, so als würde mein Selbst plötzlich beiseite geschoben, und gleich darauf war ich plötzlich nur noch Beobachter dessen, was geschah. Ohne dass ich die Kontrolle darüber gehabt hätte, rannte mein Körper los und warf sich mitten zwischen die Kontrahenten.
„Lasst ihn gefälligst zufrieden!“ hörte ich meine Stimme schreien und fand mich mit ausgebreiteten Armen vor Niklas, während die drei Typen sich von ihrer Überraschung erholten.
„Was willst Du denn?“ fragte schließlich derjenige, dessen Denkprozesse mein plötzliches Auftauchen am schnellsten verarbeitet hatten. „Lasst Ihn in Ruhe!“ knurrte ich statt einer Antwort. „Legt Euch gefälligst mit Euresgleichen an!“
Scheiße! Das konnte doch nur böse enden!
„Meinst Du damit zufällig Dich?“ höhnte der Rowdy, und ich spannte meine Muskeln an.
„Naja, ich weiß nicht, ob ich es schaffe, einem Blödmann wie Dir was über Fairness beizubringen, aber hey – ich werde mein Bestes tun!“
Innerlich heulte ich auf. Das war doch wieder mal typisch Nils! Seine große Klappe hatte ihm ja schon so manchen Ärger eingebrockt, aber musste das ausgerechnet dann sein, wenn er sich ungefragt meinen Körper ausborgte?
Einen Moment lang starrten die Drei mich noch an – offenbar war die Verarbeitungsgeschwindigkeit ihrer mentalen Prozessoren doch nicht so hoch – und dann stürzten sie sich wie auf ein geheimes Signal alle gemeinsam auf mich. Ich versetzte Niklas noch einen Stoß, dass er aus dem Ring der Gladiatoren herauskatapultiert wurde, und da krachte auch schon der erste Körper gegen mich.
Ich erwartete halb, dass er mich sofort von den Füßen reißen würde, doch das geschah nicht. Mit leicht gespreizten Beinen stand ich da und parierte Schläge und Tritte so gut ich konnte – und das war erstaunlich gut! -, während pures Adrenalin durch meine Adern rauschte. Natürlich steckte ich auch den einen oder anderen Treffer ein, aber seltsamerweise spürte ich sie überhaupt nicht.
Keine Sorge!

beruhigte ich mich selbstironisch, das

kommt schon noch!...Gesetzt den Fall, dass Du das hier wirklich überlebst!


Im nächsten Moment schickte ein gut plazierter Schlag von mir den ersten Gegner zu Boden, und kurz danach taumelte der Zweite beiseite und hielt sich die blutende Nase. Daraufhin hielt der Dritte verunsichert inne und sah von seinen Kumpanen zu mir und wieder zurück.
Um ihm die Entscheidung leichter zu machen, machte ich einen Sprung auf ihn zu und rief: „Buh!“, worauf er die Fäuste sinken ließ und zusammen mit den übrigen Mitgliedern des „Trio Infernale“

davonrannte.
Ich konnte nicht anders – ich musste lachen, wobei mir allerdings die rechte Seite höllisch schmerzte, da, wo mich die Faust eines der Schläger erwischt hatte.
Und dann standen plötzlich nur noch Niklas und ich dort, denn angesichts der Auseinandersetzung hatten die übrigen Schüler rasch das Weite gesucht. Er stand mit großen Augen etwas abseits und musterte mich sichtlich verwirrt.
Ich spürte deutlich, wie Nils von seinen Gefühlen überwältigt zu werden drohte und versuchte verzweifelt, ihn auf mich aufmerksam zu machen, bevor er etwas Blödes anstellte. Schon machte er mit meinem Körper ein paar zögernde Schritte auf Niklas zu, und ich bot meine gesamte Willenskraft auf, um ihn zu stoppen.
„Du Idiot! Bleib´ stehen und halt´ bloß die Klappe!“ schrie ich innerlich aus vollem Halse, doch ich hätte genausogut einer Kuh ins Horn kneifen können, der Effekt war gleich Null.
Verdammt! Irgendwie musste ich ihn rauswerfen, sonst würde ich mich hier gleich absolut zum Affen machen. Nils machte keine halben Sachen! Wenn ich ihn jetzt gewähren ließe, musste ich damit rechnen, dass er dem verdutzten Niklas im nächsten Moment seine Liebe erklärte – und das in einem nagelneuen Arno-Kostüm!
Ich strengte meine mentalen Muskeln an und konzentrierte mich so sehr darauf, ihm Widerstand zu leisten, dass sich mein Gesicht verzog und mir der Schweiß auf die Stirn trat, aber ich hatte Erfolg!
Es fühlte sich an, als würde ich einen kompletten Klettenbusch aus einer Wolljacke ziehen, doch schließlich sah ich Nils wieder an meiner Seite, etwas taumelnd zwar und einigermaßen empört, aber auf jeden Fall getrennt von mir.
„Hey! Was machst Du denn?“ beschwerte er sich, und ich erwiderte: „Tu´ das ja nicht noch mal! Sonst kannst Du Dir meine Hilfe an den Hut stecken, kapiert?“
„E..E...Entschuldigung!“ stammelte Niklas, der Nils natürlich nicht sehen konnte und deshalb keinen Schimmer hatte, mit wem ich da redete. Er glaubte offenbar, ich meinte ihn, und es war seinem Gesicht anzusehen, dass seine Verwirrung sekündlich wuchs.
Es hätte nichts gebracht, hätte ich versucht, ihm etwas zu erklären, also versuchte ich es mit einem Themawechsel.
„Was wollten die denn von Dir?“ fragte ich, und er presste seine Schultasche, die er inzwischen vom Boden aufgehoben hatte fester an sich.
„Nichts Besonderes. Nur ein bisschen Spaß.“ sagte er leise und sah zu Boden. Trotzdem bemerkte ich, dass ihm die Röte ins Gesicht schoss. Scheinbar hatte Nils die Wahrheit gesagt, als er davon gesprochen hatte, dass Niklas öfter als Zielscheibe herhalten musste.
„Vielen Dank für Deine Hilfe!“ sagte er jetzt und schickte sich an, den Heimweg anzutreten.
Nils, der immer noch grummelnd neben mir stand, machte sofort eine auffordernde Geste in meine Richtung, doch ich beschloss, ihn zu ignorieren und schloss zu Niklas auf.
„Vielleicht sollte ich Dich ein Stück begleiten, falls diese Typen noch irgendwo auf Dich warten?“ sagte ich bemüht locker und schob die Hände in die Taschen. Meine Seite schmerzte noch immer, und auch meine Fäuste pochten von der ungewohnten Betätigung, doch ich ließ mir nichts anmerken.
Niklas warf mir einen misstrauischen Seitenblick zu, ging aber wortlos neben mir weiter. Nils lief auf meiner anderen Seite mit, doch ich hütete mich, ihn anzusehen, oder das Wort an ihn zu richten, obwohl seine Unzufriedenheit von ihm abstrahlte, wie Hitze von einer eingeschalteten Herdplatte.
Verstohlen musterte ich Niklas während wir so dahin liefen. Ich hatte nie einen von Nils` Klassenkameraden kennengelernt. Auch bei seiner Beerdigung war keiner von ihnen gewesen, denn seine Mutter hatte ausdrücklich darum gebeten, in aller Stille von ihrem Sohn Abschied nehmen zu können.
Auch aus der Nähe betrachtet schien absolut nichts Besonderes an ihm zu sein, doch mit meinen Überlegungen kam ich nicht weit, denn ein Rippenstoß von Nils holte mich in die Realität zurück – natürlich ein Stoß in die Seite, die ohnehin schmerzte. Wütend sah er mich an und machte eine weitere ungeduldige Geste. „Worauf wartest Du?“ fragte er.
„Aua!“ beschwerte ich mich, und Niklas sah besorgt zu mir hinüber. „Haben die Kerle Dich verletzt?“ wollte er wissen, doch ich - ganz tapferer Ritter - winkte ab. „Ach wo, das ist nichts. Wird vermutlich ein fetter, blauer Fleck, sonst nichts.“
„Warum hast Du das überhaupt gemacht?“ fragte er weiter. „Du kennst mich doch gar nicht. Da wäre es doch um Vieles leichter gewesen, es so zu machen, wie alle Anderen. So tun als ob man nichts sieht und sich aus allem raushalten.“ Seine Stimme klang bitter, als er das sagte, und diesmal war es an mir, ihn besorgt zu mustern.
„Wäre Dir das lieber gewesen?“ konterte ich, und er sah mich mit einem undefinierbaren Ausdruck an. Schließlich zuckte er die Schultern und meinte: „Ist ja Deine Gesundheit. Wenn Du sie an einen Loser wie mich verschwenden willst, bitte. Freunde wirst Du Dir damit hier jedenfalls nicht machen!“ Er schoss einen weiteren Blick auf mich ab und runzelte die Stirn. „Da fällt mir ein – bist Du eigentlich auch an meiner Schule? Ich hab´ Dich noch nie gesehen. Oder bist Du vielleicht neu?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin am Büchner-Gymnasium. Aber mein bester Freund war an Deiner Schule. Nils. Nils Börner.“ Er blieb stehen. „Nils? Der, der am Montag überfahren worden ist?“ fragte er überrascht. „Der war in meiner Klasse!“
„Ja, wirklich?“ heuchelte ich und schämte mich bis auf die Knochen dafür. „Die Welt ist klein, was?“
„Wie heißt Du überhaupt?“ wollte er dann wissen, und ich beeilte mich mit der Antwort. „Ah, sorry – ich bin Arno. Und Du?“ schob ich rasch hinterher, denn ich konnte ja schlecht zugeben, dass ich seinen Namen längst kannte … genau wie sein Lieblingsessen, sein Faible für Science-Fiction, seine Marotten und was mir Nils nicht noch so alles in die Ohren geblasen hatte seit ich mich bereit erklärt hatte, ihm zu helfen.
„Niklas Werner.“ lautete die knappe Antwort.
Danach schwiegen wir wieder, und ich zermarterte mir das Hirn, was ich noch sagen könnte, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Nils war Dein bester Freund?“ hörte ich da Niklas fragen. „Hmm. Wir kannten uns seit dem Kindergarten.“
Mehr fiel mir dazu nicht ein. Es war ja auch eine komische Situation – immerhin lief besagter bester Freund, für Niklas unsichtbar, kaum einen Meter neben mir, hörte jedes Wort und hielt dabei mit seiner Meinung nicht hinter den Berg.
„Jetzt mach´ aber mal!“ motzte er gerade. „Seit wann bist Du so maulfaul? Oder stehen die Mädels, für die Du Dich interessierst auf die große Schweiger-Nummer?“
Das war nicht eben hilfreich, und ich warf ihm einen bösen Seitenblick zu, was ihn allerdings nicht im Mindesten beeindruckte. „Mann – da vorne ist schon seine Haltestelle! Wenn er da ankommt, ist er gleich weg!“ schob Nils noch drängelnd hinterher. Doch es half alles nichts, außer ein paar unverbindlichen Brocken brachte ich nichts mehr heraus, fühlte mich zu sehr unter Druck gesetzt, von der Situation als solches und von Nils` Erwartungen an mich. So konnte ich nur hilflos zusehen, wie Niklas nach einem kurzen Nicken in meine Richtung in den bereits wartenden Bus einstieg und gleich darauf mit selbigem aus meiner Reichweite verschwand.
„Na, vielen Dank! Das hast Du ja toll hingekriegt! Da serviere ich ihn Dir quasi auf dem Silbertablett, und was machst Du? Kriegst die Zähne nicht auseinander! Prima! Echt toll!“
Nils´ war total sauer – zu Unrecht wie ich fand, und dementsprechend schwoll auch mir der Kamm.
„Was hast Du denn erwartet?“ giftete ich zurück. „Hast Du gedacht, ich überfalle den armen Kerl hier und jetzt mit Deinen Liebesschwüren, oder was? Du spinnst doch wohl! Versetz´ Dich doch zur Abwechslung mal in die Lage von jemand anderem, ja? Zum Beispiel in die von Niklas! Was würdest Du denn sagen, wenn ein völlig Fremder Dir plötzlich die Liebeserklärung eines Toten überbringt? Oder was ist mit mir? Denkst Du vielleicht, mir macht das hier Spaß? Ich tu´ das schließlich nur, weil Du mich praktisch dazu gezwungen hast, schon vergessen?“
Während meiner Tirade stand er schweigend vor mir und starrte mich entgeistert an. So kannte er mich nicht. Zwar hatten wir uns schon hier und da mal gestritten, aber meistens war er derjenige, der laut geworden war. Ich hatte meistens geschwiegen und seine Temperamentsausbrüche einfach über mich ergehen lassen. Hätte man mich gefragt, hätte ich vermutlich gesagt, dass mir solche Szenen einfach nicht lagen und wie eine Verschwendung von Zeit und Nervenkraft erschienen. Es kam höchstens vor, dass ich ihn dann – so wie an seinem Todestag – bat nach Hause zu gehen, oder ihn einfach stehen ließ. Am nächsten Tag war für gewöhnlich alles wieder vergessen, und wir knüpften da an, wo wir vor dem Streit aufgehört hatten.
Aber plötzlich war es anders – ich machte mir und meinen Gefühlen Luft, und Nils staunte Bauklötze.
„Hey, hey,“ sagte er „ist ja gut! Reg´ Dich ab, okay? War nicht so gemeint!“
Mir war jedoch reichlich unbehaglich zumute, was an den Blicken der wenigen Leute lag, die noch an der Haltestelle standen und auf einen der nächsten Busse warteten. Für sie musste es so aussehen, als wäre ich komplett schwachsinnig, immerhin brüllte ich jemanden an, der für sie unsichtbar war.
Ich wurde puterrot, zog den Kopf ein und wandte mich um. Mit langen Schritten bemühte ich mich möglichst schnell eine möglichst große Entfernung zwischen mich und die Bushaltestelle zu bringen.
Natürlich rannte Nils mir sofort hinterher. „Jetzt warte doch mal! Wo willst Du denn so schnell hin?“ fragte er, aber ich antwortete erst, nachdem ich um die nächste Ecke gebogen war und mich dort zunächst versichert hatte, dass keine Passanten in der Nähe waren. „Was glaubst Du denn wohl, wo ich hin will? Nach Hause! Bevor noch die Leute mit der Zwangsjacke und der Beruhigungsspritze kommen und mich in eine nette, weiche Gummizelle sperren!“
„Hä? Was ist los?“ Nils verstand sichtlich gar nichts, und ich sah mich zu einer weiteren, gereizten Erklärung genötigt. „Mann, kapierst Du das nicht? Keiner sieht Dich außer mir! Und eben an der Haltestelle habe ich Dich laut und deutlich angebrüllt! Was glaubst Du, was die Leute um uns rum gedacht haben? Die müssen doch glauben, ich hätte sie nicht mehr alle!“
Er winkte ab. „Ach so, das meinst Du! Mach´ Dir doch nicht über solche Kleinigkeiten so einen Kopf, Alter! Hier in der Stadt gibt es sicher eine Menge Bekloppte, da fällst Du doch gar nicht mehr auf!“
Er lachte, aber mir war überhaupt nicht komisch zumute, ganz im Gegenteil. Meine Laune befand sich auf dem Tiefpunkt! Er tat das so locker ab, ohne sich mal in meine Lage zu versetzen! Echt typisch Nils!
Aber mir reichte es jetzt. Nervlich befand ich mich ohnehin in einer Ausnahmesituation – zuerst Nils´ Tod und Begräbnis, dann tauchte er als Geist auf, eröffnete mir, dass er sich in einen Jungen verliebt hatte, und keine 24 Stunden später war ich a) in eine Prügelei verwickelt, deren Folgen ich vermutlich noch tagelang spüren würde und b) wurde ich von ihm zur Minna gemacht, weil ich seinem heißgeliebten Niklas nicht schon bei der ersten Begegnung reinen Wein eingeschenkt hatte! Das war doch wohl unglaublich!
Mühsam beherrscht drehte ich mich zu Nils um und betrachtete sein unbekümmertes Gesicht.
„Weißt Du was, Nils?“ fragte ich betont ruhig. „Du bist immer mein bester Freund gewesen, das stimmt. Aber Du bist auch so ziemlich das größte Arschloch, das ich kenne!“
Sein Grinsen erlosch, und er starrte mich überrascht an. „Was...?“ setzte er an, doch ich ließ ihn nicht ausreden.
„Tu´ mir einen Gefallen und verpiss´ Dich, ja? Hau´ ab, geh´ ins Nirwana, oder in die Hölle, oder was weiß ich wohin, aber verschwinde! Ich hab´ für heute echt genug von Dir!“
Damit drehte ich mich um und stapfte entschlossen den Weg zurück, den wir vor kurzem gekommen waren. Erst an der nächsten Ecke sah ich mich verstohlen um, doch von Nils war nichts mehr zu sehen, und ein wenig erleichtert ging ich nach Hause.
Bis ich dort ankam, war von dieser Erleichterung allerdings nicht mehr allzu viel übrig. Hatte ich nicht eigentlich viel zu heftig reagiert? Sicher, Nils war egoistisch und gedankenlos, aber das war ja nichts Neues, und was noch viel wichtiger war – er war mein Freund, und auf meine Hilfe angewiesen! Auf Hilfe, die nur ich ihm zukommen lassen konnte. Und so ganz nebenbei war es doch schließlich auch in meinem eigenen Interesse, wenn er diese Hilfe so schnell wie möglich bekam, denn nur dann konnte er diese Welt verlassen, und ich hatte meine Ruhe!
Im Klartext: ich bereute meine harten Worte und hatte ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, dass er womöglich irgendwo durch die Gegend irrte, für jedermann unsichtbar und unfähig sich jemandem mitzuteilen.
Diese Sorge hätte ich mir jedoch sparen können, denn kaum öffnete ich meine Zimmertür, prallte ich auch schon wieder retour: auf meinem Bett hatte es sich niemand anderer als der ach so unglückliche Nils gemütlich gemacht!
Er hatte wieder meinen MP3-Player okkupiert, lag auf dem Rücken und streckte die Beine an der Wand hinauf. Die Hände und Füße wippten dabei im Takt der Musik, und er sah definitiv alles andere als unglücklich aus.
Ich starrte noch mit offenem Mund, unschlüssig, ob ich erleichtert oder wütend sein sollte, da bemerkte er mich und setzte sich hoch, pulte die Ohrstöpsel aus den Ohren und grinste mich an.
„Na, hast Du Dich wieder beruhigt?“ wollte er fröhlich wissen, doch ich brummelte mir nur etwas Unverständliches in den Bart, während ich meine Jacke in den Schrank hängte.
Dann ließ ich mich in den Sessel fallen und angelte nach der angebrochenene Flasche Cola die daneben stand. Das Getränk schmeckte allerdings schon etwas abgestanden und war dazu zimmerwarm, trug also auch nicht gerade dazu bei, meine Laune zu verbessern. Währenddessen beobachtete er mich, bäuchlings auf dem Bett liegend, und das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt.
„Und? Wie geht’s jetzt weiter?“ fragte er dann, und ich zuckte die Achseln. „Was weiß ich?“
Er zog einen Flunsch und meinte: „Also, eine große Hilfe bist Du mir ja nicht gerade!“
„Ach? Das tut mir aber leid!“ gab ich mit falschem Bedauern zurück. Aber ich tat ihm den Gefallen und strengte meine grauen Zellen an, in der Hoffnung einen Geistesblitz zu produzieren.
„Weißt Du eigentlich, wo er wohnt?“ wollte ich von ihm wissen, und er hob die Schultern. „Naja, so ganz genau nicht. Ich kenne seine Adresse, die steht auf der Klassenliste, aber ich bin noch nie dort gewesen, wenn Du das meinst. Wieso?“
„Naja, wenn er hier in der Stadt wohnt, könnten wir vielleicht nochmal hinfahren, meinst Du nicht?“
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Niklas wohnt außerhalb, in Bendorf. Das sind gute 15 Kilometer. Sorry.“
„Und weißt Du, ob er irgendwas hier in der Stadt macht, Verein oder so? Irgendwas, was ihn am Wochenende in die Stadt treibt? Geht er vielleicht aus oder besucht jemanden?“
Betreten schüttelte Nils noch einmal den Kopf. „Nein, keine Ahnung. Weißt Du, früher hab´ ich nicht so auf ihn geachtet. Er war eben … Du weißt schon! Der typische Nerd halt. Und als ich gemerkt habe, dass sich bei mir was ändert, bin ich ihm zuerst aus dem Weg gegangen. Ich dachte doch, mit mir stimmt was nicht! Ich konnte diese Gefühle nicht akzeptieren und hab´ gedacht, das sie wieder verschwinden, wenn ich so wenig wie möglich mit ihm zu tun habe. Erst viel zu spät hab´ ich kapiert, wie dumm das war. Darum weiß ich eigentlich viel zu wenig über ihn. Klar, ich kenne seine Eigenheiten, sein Lieblingsessen und so was alles, aber das sind alles Dinge, die ich mitgekriegt habe, weil ich ihn heimlich beobachtet habe. Was er außerhalb der Schule so macht, davon hab´ ich keine Ahnung!“
Als er das sagte, sah er so unglücklich aus, dass ich ihm seinen Egoismus beinah auf der Stelle verzieh, aber ich dachte über das Gehörte auch noch weiter nach.
„Also, mit anderen Worten, Du hast keine Ahnung, wo er wohnt, wie er lebt und was er neben der Schule so macht. Du weißt nichts über seine Familie, und wenn ich das richtig verstanden habe, hast Du bisher kaum drei Worte mit ihm gewechselt. Trotzdem bist Du Dir sicher, dass Du in ihn verliebt bist und dass Dich dieses Gefühl an die sterbliche Welt fesselt. Richtig soweit?“
Nils sah mich mit großen Augen an und nickte dann.
„Ich weiß selbst, dass das total bekloppt klingt, aber es ist so! Glaub´ mir!“
Ich winkte seufzend ab. „Ja, ja, schon gut, ich glaub´s Dir ja. Aber was ich damit eigentlich sagen will ist, dass Du Dich gedulden musst. Heute ist Freitag, und vor Montag sehe ich keine Möglichkeit an ihn ran zu kommen. Selbst wenn wir mit dem Bus nach Bendorf fahren würden, was sollte ich ihm für meinen Besuch für eine Begründung liefern?“
„Mit dem Bus? Das ist eigentlich gar keine so schlechte Idee, Arno! Und es wäre DIE Gelegenheit für mich mal schwarz zu fahren, ohne befürchten zu müssen, dass man mich erwischt!“ erwiderte Nils und strahlte. „Lass´ uns raus nach Bendorf fahren! Jetzt gleich!“
Mir stand der Mund offen. Redete ich etwa klingonisch?
„Hallo? Erde an Nils! Bitte kommen? Hast Du mir nicht zugehört? Was soll ich ihm denn bitte für eine Erklärung liefern, wenn ich plötzlich bei ihm zuhause auftauche? >Guten Tag, ich bin von den Zeugen Jehovas

und wollte mich mit Dir über das bevorstehende Armageddon unterhalten und – ach ja, bevor ich´s vergesse, mein verstorbener Kumpel hat sich in Dich verliebt und wollte dass Du das erfährst, damit sein Geist endlich seine ewige Ruhe findet?<</font> Im günstigsten Fall hält er mich für einen Spinner, wenn ich Pech habe denkt er, ich wäre ein Stalker oder sowas! Und dann kriege ich richtig Ärger! Nicht Du, ICH!“
Doch Nils stieß mich nur übermütig in die Seite – natürlich prompt wieder in die lädierte – und legte mir dann den Arm um die Schulter. „Ey, jetzt mach´ Dich mal locker, Arno! Du siehst das viel zu verbissen! Wir fahren einfach mal raus nach Bendorf und sehen uns an, wo er wohnt. Wer weiß, vielleicht treffen wir ihn ja zufällig, und es ergibt sich die Möglichkeit zu einem netten, kleinen Plausch? Komm´ schon – gib´ Dir einen Ruck! Mir zuliebe?“
Wieder setzte er seinen Dackelblick auf, und natürlich ließ ich Blödmann mich breitschlagen. Ich hinterließ meinen Eltern eine kurze Notiz und machte mich dann auf den Weg zum zentralen Busbahnhof.
Keine halbe Stunde später saß ich zusammen mit Nils schon im Bus und zockelte Richtung Bendorf.

Kapitel Drei




Während der Fahrt konnten Nils und ich nicht miteinander reden, da noch andere Passagiere mitfuhren. Dabei hätte ich wirklich gern ein paar Dinge mit meinem Kumpel besprochen.
Zum Beispiel die Tatsache, dass das hier die mit Abstand blödeste Idee war, die er je gehabt hatte und dass mir das mit jedem Kilometer, den der Bus über die Landstraße Richtung Bendorf dröhnte klarer wurde. Ich war echt ein solcher Trottel, dass ich mich darauf eingelassen hatte!
Unruhig rutschte ich in meinem Sitz hin und her, sodass Nils mich erstaunt von der Seite ansah und sich schließlich grinsend erkundigte, ob ich neuerdings Hämorrhoiden hätte, wohl wissend, dass ich ihm die passende Antwort auf diese Frage schuldig bleiben musste.
Ich maß ihn mit einem vernichtenden Blick und schwieg angesichts der Tatsache, dass im Nebensitz eine neugierige Alte hockte, die mich die ganze Fahrt über missbilligend betrachtete und dabei ihre Handtasche fest an sich presste. Gerade so, als wollte ich mich im nächsten Augenblick mitten im Bus auf sie stürzen und ihr das hässliche Teil entreißen.
Ich versuchte mit einem gewinnenden Lächeln ihre Sympathie zu wecken, aber die einzige Reaktion darauf war, dass sie die Finger noch fester um das abgewetzte Leder krallte und misstrauisch die Stirn runzelte.
Ich gab es also auf, einen Preis für das charmanteste Lächeln gewinnen zu wollen und sah stattdessen aus dem Fenster. Es war inzwischen Spätnachmittag geworden und allmählich verabschiedete sich die fahle Novembersonne. Davon abgesehen gab es dort draußen allerdings nicht wirklich etwas Interessantes zu sehen. Der Bus brummte an längst abgeernteten und gepflügten Feldern vorbei, deren grobe, dunkle Schollen vom Regen der letzten Nacht glänzten, und an Wiesen, auf denen das Gras lang und fahlstrohig gewachsen war. Zwischen den Bäumen und in den Senken des Geländes hingen bereits die ersten Nebelschwaden und bereiteten sich auf ihren nächtlichen Auftritt vor, und hier und da klebten noch vereinzelte Spinnennetze, deren verschlissene Fäden vom Gewicht der in ihnen hängenden Wassertropfen nach unten gezogen wurden.
Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und ließ mich von der Wärme und dem dröhnenden Geräusch des Busmotors einlullen, bis mir die Augen zufielen und ich selbstvergessen vor mich hin döste.
Mein Dämmerzustand war kein richtiger Schlaf, und unterschwellig war ich mir meiner Umgebung die ganze Zeit bewusst, dennoch war ich nicht in der Lage, die Augen offen zu halten.
Als der Bus endlich in Bendorf hielt, war es trotzdem gut, dass Nils neben mir saß und mich anstupste, sonst wäre ich vermutlich weiter mitgefahren. So aber schreckte ich hoch und stolperte rasch hinter meinem Kumpel her aus dem Bus. Außer uns verließ niemand das Gefährt, und so blieben wir allein und in eine Dieselwolke gehüllt an der Haltestelle zurück.
Ich ließ meine Blicke die Straße auf und ab schweifen, sah jedoch niemanden. Die Haltestelle schien ziemlich zentral mitten im Ort an der Hauptstraße zu liegen, und trotzdem wirkte das Dorf hier wie ausgestorben.
Naja, was konnte man an einem späten Freitagnachmittag im November auch erwarten, in einem Kaff, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten und es vermutlich eine Sensation darstellte, wenn Bauer Jupp sich einen neuen Traktor zulegte?
Nicht, dass unsere Stadt eine pulsierende Metropole gewesen wäre, aber zumindest war da zu jeder Tages- und Nachtzeit irgendwo was los!
Nils studierte den Fahrplan und meinte dann zu mir: „Also, wenn ich das richtig sehe, fährt der letzte Bus zurück in zwei Stunden. Die Zeit sollten wir gut nutzen, meinst Du nicht auch?“ Er sah mich auffordernd an, und ich grinste freudlos.
„Ja, klar! Lass´ uns sehen, wo er wohnt, und wenn wir ihn nicht antreffen, verschwinden wir wieder! Ach ja – eins noch!“ hielt ich ihn zurück, als er sich schon zum Gehen wandte. „Hmm?“ Fragend schaute er mich an.
„Lass´ Dir ja nicht einfallen, nochmal sowas zu machen, wie heute Mittag, klar? Und schon gleich gar nicht, ohne mich vorher zu fragen, verstanden?“
Er nickte. „Versprochen! Nur in Notfällen!“ erwiderte er leichthin, doch damit war ich nicht zufrieden.
„Oh, nein, nein!“ widersprach ich. „Was Du unter einem Notfall verstehst, kann ich mir gut vorstellen, und ich glaube, dass unsere Vorstellungen da ziemlich weit auseinander laufen! Du machst es überhaupt nicht! Ist das klar?“
„Ja, ja, krieg´ Dich wieder ein!“ gab er genervt zurück, aber irgendwie schien mir das auch nicht die richtige Antwort zu sein.
Doch da plötzlich aus einem der Häuser ein alter Mann auf den Bürgersteig trat und neugierig in unsere Richtung blickte, verkniff ich mir, was mir auf der Zunge lag. Er musste ja nicht gleich denken, dass ich ein Irrer auf Heimaturlaub war, nur weil ich lautstark scheinbare Selbstgespräche führte...
In der hereinbrechenden Dämmerung trabten wir die Dorfstraße entlang, vorbei an einigen Bauernhöfen, von denen ein paar wenige offenbar noch bewirtschaftet wurden und zwischen denen eingestreut sich spätherbstlich triste Gärten voller kahler Bäume und struppiger Stauden mit schmucklosen Häuserfronten abwechselten, bei denen die Haustüren direkt auf den schmalen Bürgersteig führten.
Verkehr herrschte wenig, und es lag eine für mich ungewohnte Stille über dem ganzen Ort, die nur gelegentlich unterbrochen wurde, wenn ein Auto vorbeifuhr, oder irgendwo ein Hund bellte.
Als wir den pflichtbewussten Dorfreporter weit genug hinter uns gelassen hatten, fragte ich: „Wie heißt denn nun die Straße, wo Niklas wohnt?“
„Am Bahndamm.“ gab mein Freund zurück und ließ den Blick dabei weiter aufmerksam hin und her schweifen, so als rechne er damit, dass sein Schwarm gleich hinter der nächsten Ecke auftauchen würde. Ich tat es ihm gleich und schaute mich ebenfalls um.
Von der Hauptstraße, auf der wir uns befanden, zweigten in dieser Richtung nur wenige Nebenstraßen ab, doch keine davon hieß „Am Bahndamm“.
Ich richtete mich also schon innerlich darauf ein, den Weg wieder zurücklaufen und die Suche in der anderen Richtung fortsetzen zu müssen, als Nils plötzlich stehenblieb und mit dem Finger auf eine schmale Einmündung auf der anderen Seite deutete.
„Da! Da ist es! Am Bahndamm! Los komm´!“ Und schon schoss er über die Fahrbahn und verschwand in der wenig einladenden Gasse. Seufzend folgte ich ihm und fand mich gleich darauf zwischen den Rückfronten einiger Gehöfte. Düster war es dort und nicht gerade anheimelnd. Eine einzelne altmodische Peitschenlaterne erhellte die Szenerie, und in ihrem Schein sah ich, dass der Asphaltbelag in einigen Metern Entfernung von festgefahrenem, grasgesäumtem Lehm abgelöst wurde, in dem sich zwei Fahrspuren abzeichneten. Dieser Weg war allerdings auch nicht sehr lang und endete nach vielleicht zehn Metern vor dem breiten Tor eines großen Anwesens, welches gleichzeitig die Gasse begrenzte und sie zur Sackgasse machte. Da es das einzige Gebäude war, dessen Front zur Gasse wies, musste dies Niklas` Zuhause sein.
Neugierig blickte ich über das geschlossene Tor hinweg in einen riesigen, gepflasterten Hof, in dessen Zentrum ein gewaltiger, dampfender Misthaufen lag. Die Gebäude waren in einem nach vorn offenen Geviert darum herum gruppiert, und es schien sich neben dem Wohnhaus, um eine Scheune und mehrere Ställe zu handeln.
Obwohl einige Autos im Hof parkten, war niemand zu sehen, und ich wandte mich an Nils. „Wusstest Du, dass seine Familie einen Bauernhof hat?“
Doch er schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein. Ich hab´ Dir doch gesagt, dass ich nichts über sein Privatleben weiß. Ich bin ja selbst überrascht!“
Plötzlich erklang gedämpftes Wiehern, und im gleichen Moment fiel mir ein Schild am Tor ins Auge, welches verkündete, dass Standplätze für Pferde aller Größen zu vermieten seien und darunter eine Telefonnummer.
Aha! Also handelte es sich hier um Landwirtschaft nur im allerweitesten Sinne!
Ich stieß Nils an und deutete auf das Schild. „Das ist ein Reiterhof!“ Er schaute hin, und im selben Moment klang Hufschlag hinter uns auf. Wir drehten synchron die Köpfe und erblickten Niklas, wie er hoch zu Ross die Gasse entlang getrabt kam.
Als er sich uns näherte, zügelte er das Pferd und musterte mich erstaunt.
„Arno? Was machst Du hier?“ Er machte keine Anstalten abzusteigen, und unter seinem kühlen Blick fiel mir so schnell auch keine vernünftige Antwort ein.
Mist! Das war doch genau die Situation, die ich hatte vermeiden wollen!
Nils stand neben mir und sah feixend zwischen uns hin und her.
Typisch! Er hatte ja leicht grinsen – ihn konnte Niklas nicht sehen, nur mich, und mir war nur zu klar, dass dieses Zusammentreffen mehr als merkwürdig wirken musste.
„Ich …. ähm, also …. das ist so....“ stotterte ich.
Und dann fasste ich den Entschluss, alles auf eine Karte zu setzen. Schlimmer konnte es ja wohl kaum noch werden!?
Ich atmete tief durch und sagte: „Ich würde gern mit Dir reden. Unter vier Augen sozusagen. Wegen Nils.“
Er betrachtete mich noch eine Weile unschlüssig, dann stieg er aus dem Sattel und fasste den Zügel des Pferdes, um das Tor zu öffnen und es auf den Hof zu führen.
„Okay, dann komm´ mit. Ich muss Pegasus noch absatteln und füttern.“
Ohne sich nach mir umzudrehen, betrat er den Hof, schritt zielstrebig auf eines der Wirtschaftsgebäude zu, und nach einem Moment des Zögerns folgte ich ihm.
Nils, der ausnahmsweise einmal nicht seinen Senf dazu gegeben hatte, schlug mir lachend auf die Schulter und meinte: „Na also! Geht doch! Hätte ich Dir gar nicht zugetraut, Alter!“
Ich warf ihm einen Blick zu, der ihn garantiert gekillt hätte, wäre er nicht längst tot gewesen, und er wich immer noch lachend zurück und hob die Hände.
„Schon gut, schon gut! Nun geh´ endlich!“ Er deutete auf das Tor, in dem Niklas mitsamt dem Pferd verschwunden war, und ich ging leise vor mich hin grummelnd darauf zu.
Als Niklas näher an die Gebäude herangekommen war, waren drei helle Scheinwerfer aufgeflammt und beleuchteten jetzt den Hof, blendeten mich, und so sah ich kaum, wo ich hintrat. Prompt versenkte ich meinen rechten Fuß in einem Haufen Pferdeäpfel, die noch so frisch waren, dass sie im Flutlicht dampften – vermutlich hatte Pegasus sie fallen lassen, und vermutlich extra für mich Stadtpflanze!
Fluchend streifte ich die gröbste Schweinerei ab und hielt vergeblich nach einem Grasbüschel oder etwas Ähnlichem Ausschau, worin ich die Sohlen reinigen konnte.
Nils wäre beinahe zum zweiten Mal an diesem Abend gestorben, sofern das möglich gewesen wäre, denn er lachte sich sprichwörtlich halbtot über mich.
„Hör´ gefälligst auf zu lachen, Du Arschloch!“ zischte ich halblaut. „Das ist doch alles nur Deine Schuld!“
„Was kann ich dafür, wenn Du zu blöd bist, um zu gucken, wo Du hintrittst!“ gab er, sich den Bauch haltend zurück, und ich wollte ihm schon eine scharfe Antwort zukommen lassen, als Niklas seinen Kopf zur Stalltür herausstreckte.
„Ich dachte, Du wolltest was mit mir besprechen? Oder hast Du Angst vor Pferden?“
Hmpf! Das fehlte noch, dass der Typ mich für ein ängstliches Weichei hielt!
„Nein.“ gab ich zurück. „Ich bin da nur gerade ...“ Sein Blick folgte meinem und er grinste. „Ich seh´ schon! Na, dann komm´ hier rein, hier gibt’s Stroh. Damit kannst Du Dir die Schuhe abwischen.“ Er verschwand wieder im Inneren des Stalles, und ich schlüpfte ebenfalls hinein.
Drinnen war es düsterer als draußen im Hof, und meine Schuhe mit einem Büschel Stroh abreibend, blickte ich eine Stallgasse entlang, die zu beiden Seiten von einer Reihe von Boxen gesäumt war. Etwas mehr als die Hälfte davon schien belegt zu sein. Ich hörte leises Schnauben, Kaugeräusche und gelegentlich ein dumpfes Poltern, wenn eines der Pferde sich bewegte, während ich Niklas folgte, der bereits mehr als die Hälfte des Weges bis zur letzten Box zurückgelegt hatte.
Hier stand das Pferd, auf dem er eben angekommen war und dem er bereits Sattel und Zaum abgenommen hatte.
Er betrat die Box, klopfte dem Tier den Hals und griff nach einem verschlissenen Frotteetuch, mit dem er es dann trocken zu reiben begann. Nils hängte sich lässig über die Boxenwand, sah Niklas mit verträumtem Gesichtsausdruck zu, und mich irritierte seine selige Miene so sehr, dass ich kein Wort herausbrachte.
Schließlich drehte sich Niklas zu mir um und meinte: „Also, was ist jetzt? Ich bin hier gleich fertig, und dann gehe ich rein. Ich muss noch Hausaufgaben machen. Wenn Du also was mit mir bereden willst, tu´ es jetzt!“
Sein Tonfall war kühl, aber ich versuchte, mich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Ich musste es endlich zu Ende bringen!
„Naja, also, … die Sache ist die …. Nils hat....“
Verdammt! Es war schwerer, als ich gedacht hatte!
War es denn überhaupt richtig, so einfach mit der Tür ins Haus zu fallen?
Ich raufte mir die Haare und beschloss, es von einer anderen Seite aus anzugehen.
„Glaubst Du eigentlich an Geister?“
Niklas ließ die Hand mit dem Tuch sinken und starrte mich an. „Was?“
„Na, Geister, Gespenster, ruhelose Seelen, all sowas? Glaubst Du, dass es das gibt?“
Niklas´ Gesicht war eine undurchdringliche Maske, und es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
„Nein, tu´ ich nicht. Aus dem Alter, wo ich an Gespenstergeschichten geglaubt habe, bin ich raus.“
Bildete ich mir das ein, oder war es soeben um einige Grad kühler geworden?
Ich sah zu Nils hinüber, aber der schwieg und erwiderte meinen Blick mit unverhohlener Neugier.
Klar, für ihn war das hier bestimmt interessant, aber ich schwitzte gerade Blut und Wasser!
„Ja, siehst Du? Genau das habe ich auch immer gedacht. Zumindest bis gestern!“ haspelte ich nervös. „Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht total verrückt, aber … „ Ich stockte, denn Niklas hatte die Brauen zusammengezogen und musterte mich skeptisch.
Egal, jetzt war ich soweit gekommen, jetzt gab es nur noch eine Richtung: Vorwärts!
„Nils ist ein Geist. Er hängt mir seit gestern am Rockzipfel, weil er will, dass ich was für ihn erledige.“
Puh, nun war es heraus, und ich wartete gespannt auf seine Reaktion.
„Und was?“ fragte Niklas mit undurchdringlicher Miene.
„Hä?“ machte ich wenig intelligent, denn ich hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet.
„WAS sollst Du für ihn erledigen?“
Ich kratzte mich am Kopf und sah zu Nils hinüber. Der hatte sich gespannt aufgerichtet und hing nun förmlich an Niklas´ Zügen.
Gott verflucht! Wie sagte man sowas?
Ich machte die Augen zu und stieß es entschlossen hervor: „Er hat sich in Dich verliebt und konnte es Dir nicht mehr sagen. Deshalb kann er irgendwie nicht hier weg und hat mich um Hilfe gebeten. So,“ schloss ich tief atmend, „nun weißt Du`s!“
Beklommen öffnete ich die Augen wieder und sah ihn an. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber als ich ihm ins Gesicht schaute, erschrak ich. Wut spiegelte sich darin und noch etwas anderes, was schwerer einzuordnen war.
Resignation? Enttäuschung? Ich wusste es nicht zu benennen, aber ich kam auch gar nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, denn er schoss mit geballten Fäusten auf mich zu, dass ich instinktiv ein paar Schritte zurückwich.
„Findest Du das lustig, ja? Fein! Dann hattest Du ja jetzt Deinen Spaß und kannst abhauen!“ sagte er kalt und musterte mich aus schmalen, wütenden Augenschlitzen.
„Was? Aber …?“ Weiter kam ich nicht, denn er griff nach einer Mistgabel, die draußen an der Box lehnte und schwenkte sie in einer bedrohlichen Geste vor mir auf und ab.
„Hau ab!!!“ donnerte er durch die Stallgasse, und unterstrich seine Worte mit einer angedeuteten Stichbewegung in meine Richtung.
Plötzlich erschienen weitere Leute auf der Bildfläche. Teils tauchten sie aus den anderen Boxen auf, teils von sonst wo, aber allen gemeinsam war der überraschte und besorgte Gesichtsausdruck.
Ich stand noch einen Moment wie gelähmt da, dann drehte ich mich um und lief eilig Richtung Tor, gefolgt von Nils. Der schien ebenfalls aus dem Konzept gebracht und sagte zunächst einmal gar nichts.
Der Weg nach draußen schien endlos, und ich konnte die Leute nicht ansehen, an denen ich vorüber kam. Aber endlich, nach quälenden Sekunden, die mir wie Stunden vorkamen, langte ich am Tor an, drückte es auf und huschte ins Freie.
Hinter mir erhoben sich Stimmen, aber ich blieb nicht stehen, um zu hören was sie sagten, sondern eilte weiter, über den Hof und zurück auf die schmale Gasse. Auch dort hielt ich nicht an, sondern beschleunigte noch weiter, verfiel schließlich ins Rennen und stoppte trotz Nils Rufen erst, als ich wieder an der Bushaltestelle ankam.
Schnaufend wischte ich mir den Schweiß aus dem Gesicht und lehnte mich an das Haltestellenschild, sah Nils nicht an und drehte mich demonstrativ weg, als er meinen Blick suchte.
Hatte Niklas mich da eben tatsächlich mit einer Heugabel bedroht?
Ich konnte es nicht fassen!
„Tut mir leid, Arno.“ hörte ich Nils kleinlaut nuscheln, reagierte aber nicht darauf. „Ich hab´ mir das wohl zu einfach vorgestellt und dabei nur an mich selbst gedacht. Bitte sei nicht sauer!“ bat er, und ich schaute ihm ins Gesicht.
War ich sauer auf ihn?
Ich sollte es wohl sein, schließlich hatte er mir das eingebrockt.
Aber komischerweise fühlte ich keinerlei Ärger in mir, sondern – Bestürzung?
Was hatte Niklas zu so einer heftigen Reaktion bewogen?
Klar, ich hatte damit gerechnet, dass er mir nicht glaubte. Hatte erwartet, dass er lachen oder mich wegschicken würde, aber in seinen Augen hatte eine so kalte Wut gestanden, wie ich es noch nie vorher bei jemandem gesehen hatte. Ich hatte einen Moment lang wirklich geglaubt, er würde zustechen!
Und wie passte das zu dem Jungen, den die drei Rowdies in der Schule zwischen sich hin und her geschubst hatten? Da hatte er sich nicht mal gewehrt! Und das lag ja wohl bestimmt nicht nur an der Tatsache, dass er auf dem Pausenhof keine Mistgabel zur Verfügung hatte, oder?
„Arno?“ Nils sah mich bittend an, und ich machte ein wegwerfende Geste. „Geschenkt.“ sagte ich. „Du konntest ja auch nicht ahnen, dass er gleich mit der Mistgabel auf mich losgeht!“
Nils zog überrascht die Brauen hoch – er hatte wohl erwartet, dass ich ihm Vorwürfe machen würde. Genau genommen fragte ich mich selbst, wieso ich das nicht tat?
Um mich abzulenken, warf ich einen Blick auf den Fahrplan. „Wann hast Du gesagt, fährt der nächste Bus?“
„Hmm? - In … warte mal … etwas über einer Stunde.“
Ich fuhr mit dem Finger über die Zeiten, die im Plan angegeben waren und verharrte dann plötzlich auf der letzten Spalte. Blinzelnd sah ich noch einmal hin – das konnte doch nicht sein!
Aber die Zahlen und Symbole veränderten sich nicht, und ich drehte mich wie in Zeitlupe zu Nils um.
„Was ist? Stimmt was nicht?“ Er schaute mich besorgt an.
„Ob was nicht stimmt? Geht’s noch?“ explodierte ich. „Hast Du Dir überhaupt die Mühe gemacht, den Plan richtig zu lesen, Du Vollidiot?“
Plötzlich war mir egal, ob mich jemand sah oder hörte. Das war einfach zuviel!
„Heute ist Freitag! Und da unten neben der Uhrzeit steht ein kleines W! Das bedeutet – und für Volldeppen wie Dich steht auch das da! - dieser Bus fährt nur von Montag bis Donnerstag und NICHT am Freitag, Samstag und Sonntag!“
Bedröppelt sah er mich an, erwiderte aber nichts. Das stachelte mich nur noch mehr auf. Es war, als bräche sich das Adrenalin, welches mein Körper eben im Pferdestall ausgeschüttet hatte, nun ungehindert Bahn. Ich ritt auf einer roten Welle, und nichts, gar nichts konnte mich jetzt noch bremsen.
„Wieso bitte kannst Du nicht ein einziges Mal, nur ein einziges, beschissenes Mal was richtig machen? Warum muss ich immer Deine Scheiße ausbaden? Kapierst Du überhaupt, was das jetzt heißt? Wir hängen in diesem Scheißkaff fest, und ich hab´ keine Ahnung, wie ich hier wegkommen soll! Meinen Eltern habe ich geschrieben, dass ich einen längeren Spaziergang mache! Soll ich denen jetzt weismachen, dass ich bis nach Bendorf gelaufen bin? 15 Kilometer? Was glaubst Du, wie begeistert die sind, wenn ich sie jetzt anrufen und darum betteln muss, dass sie mich abholen?" Ich holte tief Luft und drehte mich einmal um meine eigene Achse, bevor ich zum verbalen Todesstoß ausholte. "Du hast schon nichts als Probleme gemacht, als Du noch gelebt hast! Kannst Du nicht wenigstens jetzt, nach Deinem Tod damit aufhören?“
Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand er vor mir und ließ meinen Ausbruch über sich ergehen. Als mir schließlich die Luft ausging, hob er den Blick und sagte leise: „Du hast ja recht. Tut mir echt leid.“
Sein unerwartetes Bekenntnis reizte mich seltsamerweise noch mehr, und ich fuhr auf: „Dein >Tut mir leid

wirklich

abging

“? Also hieß das, er glaubte mir doch nicht? Aber seine Reaktion vorhin an der Haltestelle sprach doch eine andere Sprache, oder?
Ich hörte Wasser rauschen, und mir wurde bewusst, dass ich mich noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte.
Rasch fasste ich also nach der Klinke der Tür, die er mir gewiesen hatte und drückte sie auf.
Der Raum dahinter entpuppte sich als Wohnzimmer und wirkte anheimelnd gemütlich. Auch hier war die Decke niedrig, und die Balken lagen frei. Die Wände dazwischen waren grob verputzt und weiß gestrichen. Die Möbel passten dazu, waren aus dunklem Holz gefertigt und geschmackvoll zusammengestellt. Auf dem Boden lag ein heller, grob gewebter Teppich, und vor den Fenstern hingen weiße Scheibengardinen.
Ein offener Kamin an der Stirnwand des Raumes vervollständigte das Bild, und ich war angenehm überrascht, dass dieses Ensemble altmodischer Gemütlichkeit keinen Brechreiz bei mir auslöste, sondern ganz im Gegenteil den Wunsch weckte, mich hier länger aufzuhalten und die entspannte Atmosphäre zu genießen.
Mit der Entspannung war es jedoch gleich darauf erst einmal vorbei, denn da kam Niklas durch die Tür, zwei Gläser in der Hand, die er auf dem niedrigen Couchtisch abstellte und bedeutete mir mir einem Wink, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
Etwas unsicher tat ich es, und kaum berührte mein Hintern die Sitzfläche, begann er auch schon mit seinem Verhör.
„Also, Du sagst, Du hast da draußen an der Haltestelle mit Nils gesprochen?“ Er schüttelte den Kopf und presste die Handflächen aneinander, das Gesicht eine Maske der Skepsis.
Was hatte ich zu verlieren? Ich nickte, und er sah schnaubend zur Seite.
„Entschuldige, aber das klingt wie der größte Haufen Mist, den ich jemals gehört habe! Ich glaube nicht an Geister!“ wiederholte er und klang ärgerlich, gleichzeitig jedoch nicht ganz so ungläubig, wie er sein wollte, oder irrte ich mich?
„Kann ich Dir nachfühlen! Wenn ich an Deiner Stelle wäre, ginge es mir genauso. Aber ich kann es nicht ändern! Nils ist ein Geist, und er nervt mich damit, dass ich ihm helfen soll.“
„Kannst Du das beweisen?“ wollte er wissen, und in seinen Augen glomm etwas auf, was ich zunächst nicht benennen konnte. Ich schüttelte den Kopf und hob gleichzeitig die Schultern.
„Wie denn? Ich bin doch kein Medium oder sowas. Und außerdem hat Nils gesagt, dass nur ich ihn sehen und hören kann. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass er abgehauen ist nach unserem Streit. Wer weiß, vielleicht ist er auch schon komplett weg? Immerhin habe ich ja getan, was er wollte und Dir gesagt...“
Hier stockte ich, denn es wollte mir kein zweites Mal über die Lippen. Aber Niklas verstand auch so, und diesmal wurden wir beide rot. Er wischte meinen Einwand mit einer Handbewegung beiseite und sah mir wieder ins Gesicht.
„Es fällt mir immer noch schwer, Dir zu glauben.“ sagte er mit mürrischer Miene, und ich griff nach meinem Glas, um meinen Händen etwas zu tun zu geben.
„Was hat Nils Dir über mich erzählt?“ feuerte Niklas die nächste Frage ab, und beinahe hätte ich mich verschluckt.
„Naja,“ druckste ich herum, „so ziemlich alles, was er über Dich weiß, schätze ich mal.“ versuchte ich mich elegant aus der Affäre zu ziehen. Ich konnte ihm doch nicht ernsthaft erzählen, dass Nils ihn in der letzten Zeit während der Schule praktisch auf Schritt und Tritt beobachtet hatte?!
Jungs meines Alters sollten auch nicht im Wohnzimmer eines anderen Jungen sitzen und solche Fragen beantworten müssen, fand ich! Aber mir blieb es trotzdem nicht erspart – ich spürte Niklas´ bohrenden Blick auf mir und wusste, dass ich nicht darum herum kam. Er hatte ein Recht auf die Antworten – ihn hatte es schließlich genauso unwillkommen getroffen wie mich!
Innerlich seufzend ergab ich mich also in mein Schicksal und beantwortete seine Fragen eine nach der anderen, bis er das Verhör endlich für beendet erklärte. Bis dahin hatte ich ihm alles haarklein berichten müssen, von der Freundschaft zwischen Nils und mir, dem Unfall, seiner Beerdigung, seinem erneuten Erscheinen in meinem Zuhause sogar von meiner unfreiwilligen Gastgeberrolle während der Auseinandersetzung am Mittag in der Schule, und natürlich nicht zu vergessen Nils´ Begeisterung für alles, was Niklas tat, sagte, anfasste und selbst aß!
„Und? Glaubst Du mir jetzt?“ fragte ich abschließend, und er schenkte mir einen widerwilligen Blick aus zusammengekniffenen Augen.
„Ich weiß nicht, das fällt mir verdammt schwer, Arno. Zugegeben, Du wirkst nicht wie jemand, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, und wenn das doch eine Verarsche sein soll, dann stellst Du Dich nicht gerade sehr geschickt an, aber deshalb werde ich nicht von jetzt auf gleich an Gespenster glauben! Das Alles könnte Nils Dir auch erzählt haben, als er noch lebte. Ich habe zwar keine Ahnung, was Du damit bezwecken könntest, aber trotzdem... Zumal Nils ja jetzt angeblich verschwunden ist! Du musst zugeben, dass das doch seltsam ist und Dir im Moment sicher sehr gelegen kommt, oder?“
„Stimmt, für Dich muss das komisch aussehen.“ räumte ich ein. „Aber was soll ich machen? Nils war schon immer unberechenbar.“
In diesem Augenblick klappte die Eingangstür, und gleich darauf trat Niklas´ Vater ins Zimmer. Er brachte einen Schwall kühle Novemberluft mit und reichte mir lächelnd die Hand.
„Du bist also Arno.“ stellte er fest. „Freut mich, Dich kennen zu lernen! Niklas bringt ja sonst nie jemanden aus der Schule mit, da freut es mich umso mehr, Dich zu sehen. Du möchtest mit mir in die Stadt zurück fahren, hat Niklas gesagt?“
Ich nickte und brachte kein Wort heraus. Sein Vater hielt mich ganz offensichtlich für einen Freund seines Sohnes, und Niklas tat nichts, um das richtig zu stellen. Daher beschränkte ich mich bei meinen Antworten auf möglichst unverbindliche Allgemeinplätze und hoffte, dass wir bald losfuhren. Er tat mir auch tatsächlich den Gefallen nicht allzu tief in mich zu dringen, und kaum zehn Minuten nachdem er ins Wohnzimmer gekommen war, saßen wir in seinem Wagen – einem etwas älteren Mercedes Kombi – und waren unterwegs Richtung Stadt.
Der Mercedes fuhr um einiges zügiger als der Bus am Nachmittag, und so dauerte es kaum eine Viertelstunde, bis wir am Bahnhof hielten und ich aussteigen konnte.
Während der Fahrt hatte Niklas´ Vater über belanglose Dinge gesprochen, doch entspannen konnte ich mich erst wieder, als ich nach ein paar Worten des Dankes die Tür hinter mir zugeschlagen und den roten Rücklichtern noch einen Augenblick nachgeschaut hatte.
Inzwischen war aus dem Nebel ein leises Nieseln geworden, und ich zog den Kopf zwischen die Schultern, als ich den Nachhauseweg einschlug. Unterwegs fragte ich mich, ob Nils tatsächlich für immer verschwunden war. Irgendwie bereitete mir diese Vorstellung Unbehagen. Niklas wusste jetzt Bescheid, also war meine Aufgabe erfüllt und es sollte nichts mehr geben, was ihn hier noch hielt, aber trotzdem hatte ich kein gutes Gefühl bei dem Gedanken an unsere Auseinandersetzung. Sollte das tatsächlich unsere letzte Begegnung gewesen sein?
Das war ja wieder genau wie am Anfang – als ich erfahren hatte, dass Nils den Unfall gehabt hatte, nachdem wir uns ebenfalls im Streit getrennt hatten...
Ach was!

beruhigte ich mich. Wenn ich nach Hause komme, hockt er

garantiert in meinem Zimmer und wartet auf mich! Genau wie heute Mittag!


Doch als ich in das dunkle, leere Haus kam, sah ich, dass ich mich geirrt hatte – niemand war dort.
Meine Eltern waren beide noch nicht von der Arbeit zurück und mein Zimmer war leer.
War Nils also wirklich endgültig weg?

Kapitel Vier




Die nächsten Tage fühlten sich seltsam unwirklich an. Nils blieb verschwunden, und obwohl ich mir das ja eigentlich genau so gewünscht hatte, war ich merkwürdig rastlos. Nach dem Wochenende ging ich wieder zur Schule, vermied aber darüber hinaus jeglichen Kontakt zu meinen Klassenkameraden und Bekannten, eilte stattdessen jedesmal nach Unterrichtsschluss so schnell wie möglich nach Hause und in mein Zimmer, in der uneingestandenen Hoffnung, Nils möge dort sein.
Aber mich erwartete immer nur ein leerer Raum, und mein schlechtes Gewissen wuchs von Tag zu Tag.
Manchmal fühlte ich mich beobachtet, doch wenn ich mich umsah war niemand zu sehen, der mir mehr als die übliche Aufmerksamkeit schenkte.
All diese Dinge forderten ihren Tribut, sowohl körperlich als auch seelisch. Ich schlief schlecht und verlor den Appetit, sodass meine Eltern sich bald besorgte Blicke zuwarfen. Noch sagten sie nichts, aber mir war klar, dass das nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Und dann, rund zwei Wochen nachdem ich Nils das letzte Mal gesehen hatte, stand plötzlich Niklas vor meiner Schule, als ich nach der letzten Stunde herauskam.
Es war wieder ein Freitag, erneut später Nachmittag, und obwohl laut Kalender zwei Tage später bereits die erste Kerze auf dem Adventkranz angezündet werden würde, hatte die Natur da andere Ansichten und präsentierte sich grau, düster und nass, also wenig adventlich.
Einzig die Lichter in den Fenstern und Vorgärten und die aufdringliche Festbeleuchtung in den Kaufhäusern ließen so etwas wie zaghafte Weihnachtsstimmung aufkommen.
Niklas hatte sich in eine dick gefütterte Jacke gemummelt und einen Strickschal um Hals und untere Gesichtshälfte geschlungen, sodass ich ihn beinahe nicht erkannt hätte.
Doch er kam direkt auf mich zu, und ich blieb überrascht stehen, denn ich hatte nicht erwartet, ihn jemals wieder zu sehen. „Niklas?“ fragte ich idiotischerweise, und er schob sich den Schal vom Gesicht. Ich prallte zurück, denn seine Miene war gelinde gesagt – angepisst.
„Was ist los?“ wollte ich wissen, und er fasste mich scharf ins Auge. „Können wir irgendwo ungestört reden?“
„Klar.“ nickte ich verwirrt. „Ich wohne gleich da drüben. Sollen wir zu mir nach Hause gehen?“
Statt einer Antwort packte er mich am Arm und schleppte mich mit sich in die angegebene Richtung. Bis zu mir war es nicht weit, tatsächlich genoss ich den Vorzug, dass meine Schule praktisch um die Ecke lag, sodass ich morgends immer ein paar Minuten Schlaf mehr herausschinden konnte, bevor ich mich nach einem ausgiebigen Frühstück auf den Weg machte.
Und auch nach Schulschluss, besonders wenn der erst spätnachmittags war, hatte es durchaus Vorteile, in wenigen Minuten zuhause zu sein und nicht wie manche anderen Schüler erst noch mühselig eine halbe oder gar ganze Stunde mit dem Bus oder Zug unterwegs zu sein.
Kaum fünf Minuten später waren wir in meinem Zimmer, und ich bat ihn, sich zu setzen, während ich meine Schultasche abstellte und die Jacke auszog. Bevor er das tat, spähte er misstrauisch in alle Richtungen und fragte dann: „Sind wir allein?“
Ich bejahte. „Meine Eltern sind noch beide in der Arbeit. Wir sind also völlig ungestört.“ Niklas verdrehte die Augen.
„Das meine ich nicht!“ blaffte er. „Ich will von Dir wissen, ob Nils hier ist oder nicht?“
Überrascht schwieg ich einen Augenblick. „Nils?“ gab ich dann reichlich dämlich zurück. „Wieso? Den habe ich seit wir bei Dir waren nicht mehr gesehen.“
Grimmig nickte er. „Und jetzt siehst Du ihn auch nicht?“ Ich schüttelte den Kopf, sah mich aber verstohlen noch einmal nach allen Seiten um.
Was hatte das jetzt zu bedeuten?
„Du hast mich gefragt, ob ich an Geister glaube. Damals habe ich Nein gesagt und es auch so gemeint. Ich habe Dir die story wegen Nils ehrlich gesagt nicht so richtig geglaubt, aber jetzt ...“ Er machte eine Pause, sah zur Seite und schüttelte den Kopf.
„Jetzt?“ hakte ich vorsichtig nach, denn ich ahnte etwas.
„Jetzt?“ Sein Gesicht flog zu mir herum. „Jetzt habe ich ein Gespenst am Hals! Kannst Du Dir vorstellen, was ich durchmache? Ich kann ihn nicht sehen oder hören, aber ich weiß, dass er da ist! Nachts werde ich wach, weil ich das Gefühl habe, dass mich jemand beobachtet und Sachen von mir verschwinden, die ich später an den unmöglichsten Plätzen wiederfinde! Manchmal streicht mir irgendwas Eiskaltes über den Nacken, und ich erschrecke mich zu Tode! Aber das Schlimmste sind die Träume! Ich träume von Nils, und jedesmal steht er da und sagt irgendwas, was ich nicht hören kann! Und das alles, seit dem Tag, wo Du bei uns auf dem Hof warst! Und nun sag´ mir, dass ich mir das alles bloß einbilde!“ forderte er kampflustig, und ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
Was erzählte er da? Konnte das wahr sein? Trieb Nils sich jetzt draußen in Bendorf als Gespenst auf dem Reiterhof herum, getrieben von dem Wunsch, Niklas nahe zu sein?
Als ich schwieg, stand Niklas auf und ging in meinem Zimmer hin und her. Schließlich blieb er vor mir stehen und sah auf mich herunter.
„Schaff´ mir diesen gefälligst Typen vom Hals!“ forderte er finster, und ich erwiderte seinen Blick, ratlos und völlig überfordert. „Und wie stellst Du Dir das vor? Wir sind doch hier nicht bei den Ghostbusters

!“ gab ich zurück.
Er zuckte die Achseln und stand dann mit hängenden Schultern vor mir.
„Aber was soll ich denn machen, Arno?“ fragte er leise, und da plötzlich, in genau diesem Moment, als er so vor mir stand und ganz offensichtlich nicht weiterwusste, glaubte ich mit einem Mal zu verstehen, was Nils in ihm gesehen hatte. Doch schon im nächsten Augenblick tadelte ich mich selbst wegen meiner abwegigen Vorstellungen und konzentriert mich wieder auf das Problem.
Mir kam ein Gedanke. Wenn Nils tatsächlich dort draußen auf dem Reiterhof war, dann bedeutete das, dass er noch immer hier festsaß, oder? Und wenn nach wie vor ich der Einzige war, der ihn sehen und mit ihm reden konnte, dann sollte ich vielleicht genau das tun – mit ihm sprechen und herausfinden, wie ich ihm helfen konnte.
...Nun ja, vielleicht sollte ich mich nebenbei auch bei ihm entschuldigen?
Mal immer gesetzt den Fall, Niklas bildete sich das alles nicht nur ein. Aber auch das würde ich nur herausfinden, wenn ich hinfuhr und nachschaute!
Ich sagte Niklas, was mir durch den Kopf ging, und er war einverstanden, dass ich mit ihm zum Reiterhof hinausfuhr. So machten wir uns gemeinsam auf den Weg und erwischten gerade noch den letzten Bus.
Eingedenk der Sorgen, die sich meine Eltern um mich machten, hatte ich ihnen diesmal eine ausführlichere Notiz hinterlassen, der zufolge ich mich bei einem Freund aufhielt und womöglich erst spät zurück kommen würde.
Satte 45 Minuten später waren wir in Bendorf und flitzten durch den mittlerweile strömenden Regen zum Hof.
Während der Fahrt hatte Niklas sich als angenehmer Begleiter erwiesen, und wir hatten einige gemeinsame Interessen entdeckt. Er hatte mir erzählt, dass er den Reiterhof einmal übernehmen wollte, und ich hatte aus ein paar Nebensätzen geschlossen, dass er ein verdammt guter Reiter sein musste, denn er hatte bereits einige Turniere gewonnen. Ursprünglich war es sein Traum gewesen, Veterinärmedizin zu studieren, aber als seine Noten nicht ausgereicht hatten, um aufs Gymnasium zu gehen, war es damit vorbei.
Seit ein paar Jahren florierte jedoch der Pensionsbetrieb für Pferde, und so hoffte die ganze Familie, dass dies bald das einzige finanzielle Standbein sein könnte. Vorläufig hatte Niklas´ Mutter aber noch einen Nebenjob in einer Anwaltskanzlei, und sein Vater kümmerte sich weitgehend allein um den Hof und die Tiere. Sein Sohn half ihm, wann immer er Zeit erübrigen konnte.
Ansonsten war Niklas ein begeisterter Leser (genau wie ich!), liebte Science fiction in fast jeder Form (genau wie ich!) und spielte halbe Nächte lang am Computer (ratet mal wer noch?).
Wir hatten Tips zu diversen Spielen ausgetauscht und über die Vorzüge verschiedener Science-fiction-Autoren gefachsimpelt, sodass die Zeit bis wir ankamen und aussteigen mussten, wie im Flug verging. Es war einfach schön, Niklas zuzuhören, wenn er von seinen Zukunftsplänen erzählte, und ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft.
Der Regen außerhalb des Busses holte uns dann wieder unangenehm kalt in die Wirklichkeit zurück, und mir fiel ein, warum wir eigentlich hier waren.
Nils!
Als wir den Hof erreichten waren wir trotz unserer Eile pitschnass und ziemlich außer Atem. Wir beeilten uns, ins Trockene zu kommen und die nassen Jacken auszuziehen. Wegen unserer Kapuzen waren unsere Köpfe weitgehend trocken geblieben, aber die Hosenbeine klebten unangenehm feucht an den Beinen. Niklas sah an uns beiden hinunter und bedeutete mir dann, ihm die Treppe hinauf zu folgen.
„Meine Jeans dürften Dir nicht passen, aber eine Jogginghose tut es vielleicht?“ meinte er über die Schulter zu mir, und oben angekommen öffnete er einen Wandschrank und kramte darin herum. Gleich darauf drückte er mir eine schwach nach Weichspüler duftende Sweathose in die Hand und schob mich in ein Zimmer, welches ich auf den ersten Blick als seines identifizierte.
Auch hier fanden sich die freiliegenden Balken wie auch sonst in allen Teilen des Hauses, die ich bis jetzt gesehen hatte, und dazwischen die rauh verputzten Wände, an denen Poster hingen - Filmposter, Science-fiction-Motive und natürlich auch Pferde.
In einem Wandregal standen ein paar Pokale und daneben hingen gerahmte Urkunden. Vor dem Fenster stand ein unordentlicher Schreibtisch, darauf ein Computerbildschirm und der zugehörige Rechner darunter, das Bett war ungemacht. Ein Fernseher stand auf dem Boden gegenüber vom Bett, hier und da lagen getragene Socken und andere Kleidungsstücke herum, mit anderen Worten, es war ein typisches Jungenzimmer.
Was mich allerdings am meisten davon überzeugte, dass es sich um Niklas` Zimmer handelte, war die Person, die wie ein Häufchen Elend in der Ecke kauerte – Nils!
Ich hielt mitten in der Bewegung inne und starrte ihn sprachlos an.
Es stimmte also tatsächlich – er war hier und war es vermutlich die ganze Zeit gewesen. Stumm erwiderte er meinen Blick, doch ich las keinen Vorwurf in seinen Augen, nur eine mutlose Resignation, die mich erschreckte.
„Was ist?“ Niklas war aufmerksam geworden. Ich sah kurz zu ihm und wies dann mit der Hand in die Zimmerecke. „Nils.“ sagte ich nur und nickte. „Du hattest recht. Er ist hier.“
Niklas war gerade dabei gewesen, sich auf dem Bett sitzend, die nasse Jeans vom Leib zu pellen und machte nun einen Satz in die Höhe, dass er fast hingefallen wäre.
Nils schaute zu ihm auf, und in seinem Blick lag eine so schmerzliche Sehnsucht, dass es schon beim Hinsehen wehtat, doch er rührte sich nicht vom Fleck.
Ich ging langsam zu ihm und ließ mich vor ihm auf ein Knie sinken. Wieder schaute er mich an, schwieg aber weiterhin und bewegte keinen Muskel. Beinahe schien es, als wüsste er nicht, wer ich war.
„Nils?“ fragte ich besorgt. So passiv, regelrecht teilnahmslos hatte ich ihn noch nie erlebt. Er antwortete nicht, sah mich nur aus großen Augen an, oder vielmehr - durch mich hindurch.
„Was ist denn los?“ wollte ich wissen. „Wieso bist Du überhaupt noch hier? Hast Du nicht gesagt, wenn Niklas Bescheid weiß, kannst Du gehen?“ Noch immer kam keine Antwort, und ich fasste behutsam nach seiner Hand, die daraufhin schlaff und kühl in meiner lag.
„Was ist?“ meldete sich Niklas. „Was sagt er?“
Unwillig über die Störung sah ich mit gerunzelten Brauen zu ihm hinüber und erwiderte: „Nichts. Das ist es ja gerade. Er sagt keinen Piep, und das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.“
Dann wandte ich mich wieder meinem Freund zu, doch dessen Augen klebten bereits wieder an Niklas.
„Nils! Hey, Nils! Was ist denn bloß los mit Dir? Hey, Mann! Rede mit mir!“
Aber es war zwecklos, meine Worte perlten an ihm ab, wie Wasser an einer Glasscheibe, und das Einzige, was er wahrzunehmen schien, war Niklas, der sich mit halb herabgestreifter Jeans nervös im Hintergrund hielt.
Plötzlich kam mir eine Idee. Ich winkte Niklas herbei, welcher aber nur sehr zögernd näher kam.
„Nun komm´ schon! Keiner tut Dir was!“ Davon schien er nicht so ganz überzeugt, kam aber trotzdem zu mir.
Ich fasste nach seiner Hand und zog ihn auf die Knie herunter. Verdutzt und überrascht schaute er mich an, und ich erklärte ihm, was mir durch den Kopf ging: „Er spricht nicht mit mir. Es hat fast den Anschein, als hört er mich überhaupt nicht. Er schaut die ganze Zeit nur Dich an. Vielleicht erfahren wir was, wenn Du mit ihm redest.“
„Was – ich?“ Niklas machte Anstalten aufzuspringen, aber ich hielt ihn fest. „Beruhig´ Dich, Mann! Willst Du dass er verschwindet oder nicht?“ Das half, und er ließ sich wieder neben mir nieder.
Vermutlich boten wir einen reichlich lächerlichen Anblick, wie wir da vor der scheinbar leeren Zimmerecke knieten, Niklas noch dazu mit heruntergelassenen Hosen, aber das war mir in dem Moment egal. Ich hatte plötzlich schreckliche Angst um Nils, und deshalb machte ich eine ungeduldige Geste zu Niklas, als der sichtlich unschlüssig zwischen mir und der Zimmerecke hin und her schaute, ohne etwas zu sagen.
„A...also gut.“ stotterte er schließlich. „Nils....“ wieder ein nervöser Seitenblick zu mir, „... also, ich sehe Dich nicht und ich … ich kann Dich auch nicht hören, aber Arno ….“ Seitenblick, „Arno hier meint, ich sollte mit Dir reden und ….“ Seitenblick, „naja, … was ich meine, ….“ Er brach ab und sah mich hilflos an. „Ich kann das nicht, Arno. Ich komme mir total bescheuert vor, hier zu sitzen und mit der leeren Luft zu reden!“
Ich seufzte, dann streckte ich die Hand aus und legte sie auf Nils´ Schulter. „Das ist keine leere Luft, Niklas! Da sitzt Nils, und er braucht unsere Hilfe! Da – meine Hand liegt jetzt auf seiner Schulter und hier,“ ich ließ die Finger an Nils` Arm hinunterwandern, „hier ist seine Hand. Bitte glaub´ mir, er ist wirklich hier bei uns im Zimmer. Und er sieht furchtbar aus! So … verloren.“ Mein Blick saugte sich an Nils` Zügen fest. Beinahe unbewusst redete ich weiter. „Du hättest ihn mal hören sollen, als er von Dir erzählt hat. Er hat regelrecht geschwärmt! Ich kenne ihn seit dem Kindergarten, und habe ihn schon einige Male erlebt, wenn er verliebt war, aber so wie bei Dir, war er noch nie! Was glaubst Du denn, warum er jetzt hier ist? Ich bin absolut sicher, er will Dir nichts Böses, er möchte nur in der Nähe des Menschen sein, den er liebt! Er kommt nicht hier weg, und ich - sein bester Freund - habe ihn davongejagt. Ich schätze, er weiß einfach nicht wohin. Stell´ Dir vor, Du könntest mit niemandem reden, keiner würde Dich sehen, und der Einzige, der das kann, schickt Dich zum Teufel. Was würdest Du dann machen?“
Zu meinem Erstaunen bemerkte ich eine einzelne Träne, die mir über die Wange rollte. Mein schlechtes Gewissen brannte wie Feuer, und ich senkte den Kopf. „Also bitte, Niklas, hilf uns. Hilf IHM! Rede mit ihm!“
Einen Augenblick lang geschah gar nichts, doch dann hörte ich, wie Niklas tief aufseufzte und zum Sprechen ansetzte ... und im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse.
Ich spürte eine sanfte, kühle Berührung an meiner Wange, hob den Kopf und sah in Nils´ Augen. Diesmal sah er mich direkt an, lächelnd und wie jemand, der nach langem Grübeln endlich die Lösung für ein schwieriges Problem gefunden hat. Verschwunden war der tote, teilnahmslose Blick, und er hauchte leise: „Tut mir leid, Arno!“ Ich wollte gerade noch fragen, was ihm leid tat, da schlüpfte er wie schon einmal in mich hinein, drängte mein Ich beiseite und wandte sich Niklas zu. Überrumpelt wehrte dieser sich nicht, als er mit meinen Händen gepackt und rücklings auf den Boden gedrängt wurde. Er riss nur ungläubig die Augen auf und wollte protestieren, doch da war ich schon über ihm, und meine Lippen ergriffen Besitz von seinen, meine Zunge schob sich zwischen seine geöffneten Lippen, und einen kostbaren Moment lang war er schlicht zu verblüfft, um sich ernsthaft zu wehren.
Mir ging es ähnlich. In gewisser Weise stand ich mit offenem Mund daneben und sah mir selbst völlig fassungslos dabei zu, wie ich Niklas küsste, seine Erstarrung ausnutzte und seinen Mund mit meiner Zunge erforschte. Obwohl es streng genommen nicht ich war, der da agierte, schoss mir die Röte ins Gesicht und trotzdem war ich nicht fähig, Nils Einhalt zu gebieten.
Doch was das Schlimmste war – es fing an mir zu gefallen!
Niklas´ Lippen waren weich und süß und sein Körper warm an meinem. Unter meinen Fingerspitzen pochte der Puls an seinen Handgelenken, und nur allmählich erwachte die Gegenwehr in ihm.
Doch dann drängte er mich heftig von sich weg, und Nils ließ es sich widerstandslos gefallen.
Hastig krabbelte Niklas rückwärts und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
„Was soll denn das? Spinnst Du?“ fuhr er mich an, und Nils saß regungslos vor ihm, sah ihn nur an und meinte dann: „Tut mir leid, Niklas! Aber das war meine einzige Chance, verstehst Du? Mach´ Arno bitte keine Vorwürfe, er kann nichts dafür. Ich hatte ihm versprochen, seinen Körper nicht wieder ungefragt zu benutzen, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten! Ich war die ganze Zeit in Deiner Nähe, hab versucht, zu Dir durch zu dringen, aber Du hast mich einfach nicht wahrgenommen! Und als dann vorhin plötzlich Arno hier auftauchte, da kam mir die Idee, wie ich wenigstens ein einziges Mal in den Genuss eines Kusses kommen könnte! Ich weiß, das war nicht okay, aber was hätte ich sonst machen sollen? Ich liebe Dich, und ich möchte bei Dir bleiben, aber andererseits gehöre ich hier nicht mehr hin und sollte endlich weitergehen! Ich dachte, wenn Du Bescheid weißt, bin ich frei, aber inzwischen weißt Du Bescheid, und ich bin immer noch hier! Also hatte ich plötzlich den Einfall, dass ein Kuss das Problem vielleicht lösen kann, so ähnlich wie im Märchen, verstehst Du? Wenn es funktioniert hätte, hätte ich außerdem noch zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, aber es hat eben leider doch nicht funktioniert!“
Wieder rollten Tränen über meine Wangen, und ich konnte Nils´ Verzweiflung in mir spüren, die ihn umgab wie eine finstere Wolke. Er ließ den Kopf hängen, und im nächsten Moment hatte er sich wieder aus mir zurückgezogen, hockte neben mir auf den Knien und vergrub das Gesicht weinend in den Händen.
Einen Augenblick lang saß ich noch wie vom Donner gerührt auf dem Boden, bevor ich zu ihm hinüberrückte, die Arme um ihn schlang und ihn an mich drückte. Sanft wiegte ich ihn, wie ich es vor kurzem schon einmal getan hatte und hörte dabei plötzlich, wie Niklas nach Luft schnappte.
Ich schaute zu ihm hinüber und sah, dass sein Gesicht plötzlich jegliche Farbe verloren hatte und seine Augen groß waren wie Untertassen. Er richtete sich wie in Zeitlupe auf und deutete mit einem zitternden Finger in unsere Richtung.
„Was ist?“ fragte ich beunruhigt, und er stotterte: „Da … da …. da …. das ist doch …. ist das ….?“
Hä? Konnte er Nils etwa plötzlich sehen?
Der hatte ebenfalls den Kopf gehoben und starrte in Niklas´ Richtung.
„Was siehst Du?“ fragte ich, und er schluckte. „Ich glaub´, ich spinne!“ flüsterte er. „Ich hab´ Halluzinationen, oder?“
Nils rückte von mir ab und näherte sich Niklas, der daraufhin noch einmal den Rückwärtsgang einlegte.
„Halt! Bleib´ bloß weg von mir!“ rief er und streckte die Hand vor sich aus, nicht ahnend, dass er gerade eine ziemlich überzeugende Kopie von mir lieferte, als ich Nils das erste Mal als Geist sah.
Doch im Gegensatz zu damals hielt Nils sofort inne und näherte sich nicht weiter. Stattdessen blieb er wo er war und sagte: „Bitte, hab´ keine Angst! Ich tu´ Dir wirklich nichts!“ Danach stockte er einen Herzschlag lang und wollte dann wissen: „Ist das wahr? Siehst Du mich jetzt? Und kannst Du mich auch hören?“
Niklas antwortete nicht, nickte aber und Nils war völlig aus dem Häuschen. „Das ist ja megakrass, Mann!“
Ich fühlte mich bemüßigt, seinen Überschwang etwas zu bremsen: „Nun mach´ mal halblang! Vorläufig hast Du ihn erst mal zu Tode erschreckt! Also brems´ Dich ein bisschen, ja?“
Mir schwirrte der Kopf. Wieso konnte Niklas ihn plötzlich sehen und hören? Aber vor allem – wieso war Nils immer noch hier? Niklas wusste Bescheid, Nils hatte ihn sogar geküsst! Also, was machte er immer noch hier?
Ich erinnerte mich an das Gefühl von Niklas` Lippen auf meinen, und mir lief es heiß und kalt über den Rücken.
Ich hatte – wenn auch nicht ganz freiwillig – einen anderen Jungen geküsst! Und als Ergebnis war ich nicht in der Lage, meine Gedanken und Gefühle zu sortieren und einzuordnen.
Vorhin noch hatte ich Nils unbedingt helfen wollen, und jetzt fühlte ich nichts als Ungeduld angesichts der Tatsache, dass er noch immer nicht verschwunden war. Wenn ich dagegen Niklas anschaute, dann kribbelte es in meinem Bauch, und ich erinnerte mich mit einem wohligen Schauder daran, wie er sich anfühlte.
Doch schon im nächsten Augenblick erschrak ich vor mir selbst – was dachte ich denn da? War ich bescheuert?
Niklas hatte inzwischen so halbwegs die Fassung wiedererlangt und bemerkte plötzlich, dass seine Jeans noch immer auf Halbmast um seine Beine schlackerte.
Hastig streifte er sie vollends aus und stand dann auf, um sich aus seinem Schrank eine trockene Hose zu holen. Seine Bewegungen waren energisch, doch sein rotes Gesicht strafte ihn Lügen. Als er fertig angezogen war, setzte er sich aufs Bett und fixierte Nils mit strengem Blick.
„So.“ sagte er fest. „Nun nochmal in aller Ruhe und im Klartext! Also Du“ er wies auf Nils, „Du sagst, Du bist in mich … verliebt.“ Das kurze Zögern war kaum zu bemerken, doch mir fiel es auf. Nils nickte.
„Und Du hast eben Arno – benutzt, um mich zu küssen?“ Wieder ein Nicken. „Also, warst Du auch die ganze letzte Zeit hier bei mir, hast mich nachts beobachtet und meine Sachen versteckt?“ Erneut ein, diesmal deutlich schuldbewussteres Nicken.
Niklas atmete tief ein und sah zur Seite. Dann drehte er das Gesicht wieder zu uns und sagte kühl: „Okay. Ich verstehe. Aber so leid es mir tut, Nils, ich erwidere Deine Gefühle nicht. Sorry, Leute, aber das ist mir alles zuviel auf einmal! Ich kann nichts für Nils tun, also geht bitte! Du auch, Arno!“ Er verschränkte die Arme, und es war mehr als deutlich, dass er meinte, was er sagte.
Das war hart, und ich sah Nils an, wie sehr es ihn traf. Er machte Anstalten, etwas zu erwidern, doch ich hielt ihn am Arm zurück, und als er sich mir zuwandte sagte ich: „Du hast es gehört! Er hat seinen Standpunkt klar gemacht, oder? Du hast kein Recht, ihn weiter zu belästigen. Also komm´, lass uns gehen!“
Niklas blieb mit abgewandtem Gesicht auf seinem Bett sitzen, während wir zur Tür gingen und sah uns nicht mehr an, bis wir draußen waren. Nils trottete mit hängenden Schultern hinter mir her, und auch ich fühlte mich seltsam.
Irgendwie leer und hohl, so als hätten mir die Geschehnisse alle Kraft abverlangt.
Dann standen wir unten vor der Haustür, und plötzlich fiel mir ein, dass ich – mal wieder! – keine Ahnung hatte, wie ich nach Hause kommen sollte.
Ursprünglich hatte Niklas gemeint, dass sein Vater mich fahren könnte, genau wie letztes Mal, aber daran hatte er wohl jetzt nicht mehr gedacht. Und ich mochte nun auch nicht mehr umkehren und ihn danach fragen. Also kratzte ich mich ziemlich ratlos am Kopf, und Nils sah mich fragend an.
„Was ist?“ wollte er wissen.
„Was soll schon sein? Ich stehe mal wieder da und weiß nicht, wie ich heimkommen soll! Das wird allmählich zur Gewohnheit, glaub´ ich! Eine reichlich beschissene Gewohnheit übrigens, wenn Du mich fragst!“
Ich wühlte in meiner Tasche, auf der Suche nach meinem Handy, denn was blieb mir anderes übrig, als meine Eltern anzurufen?
Ich hatte es eben gefunden, als plötzlich die Haustür aufging und Niklas` Vater heraustrat.
Als er mich sah, hellte seine Miene sich auf, und er reichte mir lächelnd die Hand. „Arno! Schön, Dich mal wieder zu sehen! Niklas hat mir gerade gesagt, dass Du gern wieder mit in die Stadt fahren würdest?“
Verdutzt erwiderte ich den Handschlag und nickte etwas benommen. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie Nils verschwand und hoffte, er würde bei mir zuhause auftauchen und Niklas in Ruhe lassen. Doch dann musste ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Mann vor mir zuwenden, denn er hatte etwas gefragt.
„Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“ Er schaute mir aufmerksam ins Gesicht und wiederholte: „Ich habe gefragt, ob Ihr Jungs Euch gestritten habt. Niklas war irgendwie komisch.“
„Nein, nein!“ beeilte ich mich zu versichern, während ein weiteres Mal die Erinnerung an den Kuss durch mein Hirn geisterte und mir die Röte ins Gesicht trieb. Er war offenbar zufrieden mit der Antwort und drang nicht weiter in mich. Ich folgte ihm zu seinem Wagen und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Zunächst herrschte Schweigen, doch als wir die Häuser und Lichter von Bendorf hinter uns gelassen hatten, wandte Niklas` Vater sich erneut an mich. Seine Miene war ernst.
„Hör´ zu, Arno, Du bist mir sympathisch, darum werde ich Dir jetzt etwas erzählen, was Du bitte für Dich behältst, ja? Niklas schließt normalerweise keine Freundschaften, deshalb war ich sehr erfreut, als Du hier aufgetaucht bist. Und weil ich mir wünsche, dass diese Freundschaft erhalten bleibt, möchte ich Dir erklären, warum Niklas so reserviert ist und warum er sich vielleicht manchmal etwas ... seltsam verhält.“
Ich horchte auf. Was war denn jetzt los? Aber er redete schon weiter: „Früher war er ganz anders. Er lachte viel und hatte keine Probleme damit, auf andere Menschen zuzugehen. Aber dann, als er in der 6. Klasse war, ist was passiert. Seine Mutter und ich waren damals ziemlich mit uns selbst und unserer Arbeit beschäftigt, deswegen haben wir lange nichts gemerkt. Der Reiterhof lief mehr schlecht als recht, wir hatten Schulden, Du kannst Dir vielleicht vorstellen, dass wir wenig Zeit für unseren Sohn hatten. Er wurde immer bedrückter und in sich gekehrter, aber wir dachten lange Zeit, das läge an der Pubertät. Bis wir eines Tages einen Anruf von seinem Klassenlehrer bekamen.“
Er stockte erneut und als ich zu ihm hinübersah, war sein Gesicht plötzlich uralt.
Er machte sich Vorwürfe, warum wusste ich noch nicht, und ich war mir auch gar nicht so sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte. Aber die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn er holte tief Luft und fuhr fort: „Ein paar seiner Klassenkameraden hatten sich einen Spaß daraus gemacht, ihn regelmäßig zu hänseln und als Schwuchtel zu beschimpfen. Es gab keinen konkreten Anlass dafür, er war eben schwächer als sie, und so wurde er zum Opfer.
Wenn es dabei geblieben wäre, hätten wir vermutlich nie was davon erfahren, aber an diesem Tag waren sie zu weit gegangen. Sie hatten Niklas in der Jungentoilette halbnackt ausgezogen und dann gefilmt. Unter Zwang musste er sagen, er sei schwul, und er würde jedem Mitschüler ...“
Er brach ab und mein Gesicht war heiß. Das war eine verdammt üble Sache, was Niklas da durchgemacht hatte, und es erklärte natürlich auch seine Reaktionen im Stall und vorhin in seinem Zimmer. Genau genommen war sein Verhalten vorhin in diesem Licht betrachtet sogar bewundernswert gefasst zu nennen!
„Das... das wusste ich nicht.“ brachte ich mühsam heraus.
„Natürlich nicht.“ erwiderte Niklas` Vater mit einem etwas gezwungenen Lächeln. „Darum habe ich es Dir ja erzählt. Er selbst spricht nicht darüber, mit niemandem und er weigert sich auch, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er hat sein Leben einfach weitergelebt seitdem. Aber er lässt niemanden mehr an sich heran. Den Kontakt zu seinen Freunden hat er damals einfach abgebrochen und Neue hat er sich nicht gesucht. Wir machen uns natürlich Sorgen, aber wenn wir versuchen, mit ihm darüber zu reden, blockt er ab. Und deshalb freut es uns natürlich umso mehr, dass Du aufgetaucht bist, verstehst Du? Und wir möchten gern, dass Du Dich nicht einfach verscheuchen lässt, wenn er …. seltsam reagiert. Nur darum erzähle ich Dir das alles, in der Hoffnung, dass ich damit keinen Fehler mache.“
Er schaute in meine Richtung, und beim Blick in sein Gesicht erkannte ich wie groß die Sorge um seinen Sohn war.
Hätte ich seine Hoffnungen zerstören sollen, indem ich erklärte, wie es wirklich war – dass ich mitnichten Niklas` Freund war und vermutlich nie wieder auftauchen würde?
Ich schwieg und nickte nur.
Gott, was war ich doch für ein Arsch!

Kapitel Fünf




Nachdem Niklas` Vater mich wie beim letzten Mal am Bahnhof abgesetzt hatte und ich mich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, ging mir das, was er mir erzählt hatte, permanent im Kopf herum. Dazwischen mischten sich Bilder von Niklas´ Gesicht und die Erinnerung an den erzwungenen Kuss, und obwohl ich ja eigentlich nichts dafür konnte, was passiert war, fühlte ich mich zunehmend mies.
Nicht, dass ich auch nur irgendetwas anders hätte machen können, wenn ich das alles vorher gewusst hätte, aber trotzdem! Ich konnte nur mutmaßen, was Niklas jetzt von mir hielt.
Daheim angekommen sagte ich kurz meinen Eltern Hallo

und verschwand dann schnurstracks in meinem Zimmer, wo ich heftig zusammenzuckte, als ich Nils in meinem Sessel sitzend vorfand. Ihn hatte ich über meiner Grübelei völlig vergessen!
„Was denn?“ fragte er verwundert. „Ich bin´s doch nur!“ Ich nickte zerstreut und streifte meine Jacke aus, hängte sie an die Türgarderobenleiste und ließ mich seufzend auf mein Bett fallen. Nils – erstaunlich feinfühlig! - merkte, in welcher Stimmung ich war und setzte sich neben mich.
„Ist noch irgendwas passiert, nachdem ich weg war?“ wollte er wissen. Ich ließ mich hintenüber fallen und starrte an die Decke, während ich antwortete.
„Nein, passiert ist nichts, aber ich hab´ da unterwegs was erfahren, das ist echt heavy!“
Auch Nils ließ sich zurücksinken und gab mir wortlos zu verstehen, dass ich weiterreden sollte. Das tat ich dann auch und erzählte ihm alles, was ich von Niklas` Vater gehört hatte. Als ich bei der Stelle anlangte, wo seine Klassenkameraden ihn als Schwuchtel

gehänselt hatten, stemmte er sich auf die Ellbogen hoch und drehte sich zu mir.
„Shit!“ war das Einzige, was er sagte, aber mehr war auch nicht nötig.
Als ich meinen Bericht beendet hatte, setzte Nils sich auf und stützte den Kopf in die Hände.
„Oh, shit!“ wiederholte er. „Das erklärt natürlich, wieso er mit der Mistgabel auf Dich los ist!“ fügte er dann noch hinzu. Ich nickte und musterte ihn. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund ärgerte mich seine zerknirschte Haltung und reizte mich erst recht, ihm Einen rein zu würgen.
„Es wäre ja auch weiß Gott nicht nötig gewesen, ihn heute dermaßen zu überfallen! Aber Feingefühl hattest Du ja noch nie!“ sagte ich vorwurfsvoll und beobachtete befriedigt, wie er sich unter meinem Vorwurf krümmte.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sank noch mehr in sich zusammen.
„Scheiße, ja, das weiß ich selber! Musst Du mir das so reindrücken? Ich hab´ doch nicht gewusst ...“
Ich fiel ihm heftig ins Wort. „Natürlich nicht! Du weißt doch eigentlich überhaupt nichts über ihn, ist es nicht so? Aber anstatt ihn erst mal kennen zu lernen, knutschst Du ihn gleich ab! Und benutzt dazu auch noch mal eben ungefragt meinen Körper! Denkst Du eigentlich auch mal daran, wie es anderen geht, anstatt immer nur an Dich selbst?“
Mist! Ich steigerte mich gerade erneut in eine völlig unangebrachte Rage! Wenn ich nicht aufpasste, würde es mir hinterher wieder leid tun! Mühsam kämpfte ich meine wütenden Impulse nieder und bemühte mich, an etwas anderes zu denken.
„Wieso bist Du eigentlich überhaupt noch hier?“ fragte ich dann und hörte selbst, dass mein Tonfall noch immer feindselig war. Er sah kurz in meine Richtung. „Hm? Warum ich noch hier bin?“ Er schnaubte leise und bitter. „Das wüsste ich selbst gern! Ich war so sicher, dass ich verschwinde, sobald Niklas Bescheid weiß.“ Er zog die Beine aufs Bett hoch und die Knie ans Kinn. Dann schlang er die Arme um seine Beine und legte den Kopf auf die Knie. „Glaub´ mir, ich würde lieber heute als morgen gehen, wenn ich es nur könnte!“ murmelte er.
„Und wie kommt es eigentlich, dass Niklas Dich plötzlich sehen kann?“ fiel mir dann noch ein. Er hob die Schultern. „Das weiß ich nicht so richtig, aber zumindest habe ich eine Theorie. Ich denke, er hat nach der Sache mit dem Kuss angefangen, an mich zu glauben. An mich als Geist, meine ich. Und vielleicht liegt es daran?“
Ich überlegte. „Also, mit anderen Worten – es ist eine Glaubenssache, ob man Geister sehen kann oder nicht? Aber ich habe vorher auch nicht an Gespenster geglaubt.“
Er grinste. „Du hast geglaubt, Du würdest nicht an sie glauben! Aber tief drin hast Du doch dran geglaubt, oder?“
Das hing mir zu hoch, und ich machte eine ärgerliche Kopfbewegung. „Tolle Theorie! Weißt Du, was ich davon halte? Das ist alles Bullshit!“ fauchte ich, und das Grinsen in seinem Gesicht erlosch.
„Mann, ich kann doch wirklich nichts dafür!“ sagte er leise. „Glaubst Du vielleicht, mir macht das hier Spaß?“
Nein, das glaubte ich natürlich nicht, aber zugeben mochte ich es in diesem Moment noch weniger.
„Und?“ fragte er nach einer Weile unbehaglichen Schweigens. „Was und?“ gab ich missmutig zurück.
„Na, ich meine, was machen wir jetzt? Wir können doch nicht einfach alles so lassen, wie es ist!“ Nils schaute mich ratsuchend an, und mir schwoll augenblicklich wieder der Kamm.
„Ach – und wieso nicht? Ist Dir schon mal der Gedanke gekommen, dass es das Beste sein könnte, Niklas einfach in Ruhe zu lassen?“
„Das kann doch nicht Dein Ernst sein, Arno!“ Ungläubig zog er die Augenbrauen himmelwärts.
„Und warum nicht?“ Ich setzte mich ebenfalls auf und stützte die Ellbogen auf den Knien ab.
„Na, weil … weil … ach, ich weiß auch nicht, aber es fühlt sich einfach falsch an!“ Nils wedelte mit den Armen.
„Falsch?“ Ich schnaubte verächtlich. „Soll ich Dir mal sagen, was hier falsch läuft?“
Bingo! Es war soweit – ich verlor die Beherrschung!
„Falsch ist zum Beispiel, dass ich mich permanent auf Deine strunzdämlichen Ideen einlasse, und falsch ist, dass ich einem wildfremden Jungen nachsteige, weil Du ihm angeblich Deine Liebe gestehen musst, damit ich Dich endlich los werde, was dann aber seltsamerweise doch nicht funktioniert! Und weißt Du, was noch falsch ist? Dass Du ohne zu fragen über andere Menschen herfällst und ihnen Deine Gefühle aufzwingst, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was sie vielleicht davon halten könnten!!“
Ich war so wütend geworden, dass ich mich buchstäblich mit Gewalt daran hindern musste, laut zu werden, denn das hätte unweigerlich meine Eltern auf den Plan gerufen. Da ich aber irgendwo hin musste, mit meiner Wut, war ich aufgesprungen und stand nun mit geballten Fäusten und schweratmend vor Nils, der mich völlig entgeistert anstarrte.
Verdammt! Was war eigentlich heute mit mir los?
Ich hatte ja schon vor zwei Wochen selbst bemerkt, dass die Auseinandersetzungen mit Nils eine andere Qualität hatten, als zu seinen Lebzeiten, aber eine solche heißkalte Rage, das war mir denn doch neu! Irgendwie reizte mich schon sein bloßer Anblick! Und wenn ich mir nun vorstellte, dass er Niklas tatsächlich weiter behelligen wollte, kochte mir die Galle über!
„Lass´ Niklas in Ruhe!“ herrschte ich ihn abschließend an, und plötzlich erstarrte er zur Salzsäule.
Lange Sekunden fixierte er mich mit einem merkwürdigen Blick, doch dann beugte er sich leicht vor.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast sagen, Du bist eifersüchtig!“ kam es halblaut von ihm, und schlagartig schoss mir das Blut ins Gesicht.
Wie konnte er so etwas behaupten? Ich und eifersüchtig? Wegen Niklas? Was für ein Blödsinn! …... Oder?
Ich wollte nicht darüber nachdenken, denn obwohl ich das niemals zugegeben hätte, fürchtete ich mich vor den Erkenntnissen, die da womöglich auf mich warteten. In meinem Hinterkopf lauerten ein paar fiese Schimpfworte, deren hässliche Bedeutung mir selbstverständlich bekannt war, seit ich die Grundschule absolviert hatte, allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich einmal fürchten würde, sie selbst an den Kopf geworfen zu bekommen.
So schnell wie sie aufgestiegen war, schwand die Röte aus meinen Wangen, und ich merkte, wie ich blass wurde.
„Red´ nicht solchen Quatsch!“ protestierte ich, aber ich merkte selbst, dass es irgendwie viel zu schwach und unglaubwürdig klang. Während er mich weiterhin nicht aus den Augen ließ, stieß Nils den Atem in einem zischenden Laut aus und stand ebenfalls auf. „Von wegen Quatsch!“ sagte er, und er klang kalt und abweisend.
„Ich sehe es Dir doch an! Du stehst auf ihn, auch wenn Du es vielleicht selbst noch nicht richtig gerafft hast! Mann!“ Er stemmte die Hände in die Seiten. „Und ich dachte, Du wärst mein Freund und ich könnte mich auf Dich verlassen! Deshalb bist Du auch heute so angepisst und willst, dass ich Niklas in Ruhe lasse, stimmt`s?“
Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und stieß mit einem Zeigefinger in meine Richtung. „Aber das sage ich Dir - ich bin vielleicht tot, aber nicht blöd! Und ich werde nicht zulassen, dass Du mir Niklas ausspannst!“
„Das wird auch nicht nötig sein!“ gab ich heftig zurück. „Denn erstens bist Du tatsächlich tot, Kumpel, zweitens habe ich noch nichts davon bemerkt, dass ihr zusammen seid und drittens ist mir das eh wurscht, weil ich nämlich NICHT auf Jungs abfahre, kapiert?“
Wie Kampfhähne standen wir voreinander, so dicht, dass wir einander hätten küssen können, hätten wir es gewollt. Stattdessen zuckte es plötzlich um Nils` Mundwinkel, und er senkte den Kopf. Das Absurde an der Situation kam nun auch mir zu Bewusstsein, und ich spürte, wie meine Lippen sich ebenfalls ganz von allein kräuselten. Ein erstes, unterdrücktes Glucksen kam von Nils, und im nächsten Moment brachen wir in völlig hysterisches Gelächter aus. Wir lachten, bis uns die Tränen aus den Augen liefen und die Bäuche wehtaten, aber jedesmal wenn wir dachten, wir hätten uns beruhigt, sahen wir uns an und sofort brandete der blödsinnige Lachflash wieder auf. Irgendwann fielen wir aufs Bett und japsten nach Atem, sodass das Gekicher regelrecht erstickte, und endlich meinte Nils: „So, so, das ist Dir also wurscht

?“ Er gackerte erneut, und ich stieß ihn in die Rippen. „Dafür bist Du was? Tot aber nicht blöd

?“ Wir grinsten beide über dieses geniale Satzkonstrukt, und mit einem Mal setzte sich Nils hoch.
„Arno – das ist es!“ Er sah aus, als wäre ihm soeben eine nobelpreiswürdige Erleuchtung gekommen, und ich schaute ihn verdutzt an. „Was ist was?“ fragte ich irritiert und schuf damit ebenfalls einen Anwärter auf den dämlichsten Satz aller Zeiten.
Er störte sich aber nicht daran, sondern fasste aufgeregt nach meinem Arm. „Darum bin ich noch hier! Und deshalb kannst Du mich sehen und hören! Mann, jetzt kapiere ich es endlich!“ Er schlug sich vor die Stirn und sah mich beifallheischend an.
„Tut mir leid.“ erwiderte ich. „Wenn Du nicht noch ein paar erhellende Einzelheiten für mich hast, habe ich keinen Schimmer, was Du meinst!“
Nun packte er mich an den Schultern und rüttelte mich. „Na, das ist doch ganz logisch! Meine Aufgabe! Das was mich hier festhält! Jetzt hab´ ich´s endlich kapiert! Ich dachte, ich müsste Niklas meine Liebe gestehen, aber das war völliger Blödsinn! Ich muss dafür sorgen, dass Ihr beiden zusammen kommt! Das ist es!!!“
Noch immer rüttelte er an mir, und ich begann zu fürchten, er würde mir das Hirn bei den Ohren hinausschütteln, doch was er da sagte, ließ mich beinahe wünschen, er würde es tun. Ich machte mich los und rückte ein Stück von ihm weg. „Was? Bist Du jetzt völlig bescheuert?“ Entgeistert starrte ich ihn an. „Du willst mich und Niklas verkuppeln?“ Das konnte er doch unmöglich ernst meinen, oder?
Ein Blick in sein leuchtendes Gesicht bewies mir das Gegenteil, und mir war klar, dass ich ihn so schnell wie möglich ausbremsen musste, sonst lief er über kurz oder lang auf Autopilot und brockte mir eine Suppe ein, die ich im Leben nicht auslöffeln konnte, geschweige denn, dass ich das überhaupt wollte!
„Untersteh´ Dich, auch nur ansatzweise irgend sowas Dämliches zu machen!“ blaffte ich ihn an, doch er lächelte nur und klopfte mir begütigend auf die Schulter.
„Ist schon okay, Du brauchst nicht verlegen zu werden! Ich weiß,“ fuhr er fort, „ich war zuerst echt sauer, aber wenn man es genau nimmt, bin ich nun mal wirklich tot.“ Er kratzte sich am Kopf. „Und von daher kann es doch nichts Besseres geben, als dass mein bester Kumpel mit dem Jungen zusammenkommt, den ich liebe, oder?“
Ich war allen Ernstes versucht, ihm mit den Fingerknöcheln an die Stirn zu klopfen, einfach nur um zu hören, wie hohl es klang! Denn hohl musste es sein, angesichts solch elementarer Ignoranz!
„Sag´ mal, hörst Du überhaupt, was ich sage?“ versuchte ich es noch einmal. „Ich steh´ nicht auf Kerle! Kapier´ das endlich!“
„Ja, ja, schon gut!“ erwiderte er, doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass er mir gar nicht zuhörte. Ich fasste ihn daher bei den Schultern und drehte ihn so, dass er mich ansehen musste, dann brachte ich mein Gesicht dicht vor seines und sagte so eindringlich wie möglich: „Jetzt pass´ mal auf! Das ist nur wieder eine von Deinen Schnapsideen, und wenn Dir wirklich was an Niklas und mir liegt, dann vergisst Du das ganz schnell wieder, verstanden?“
Er wirkte enttäuscht, nickte aber gehorsam. „Naja, wenn Du meinst!?“
„Ja, das meine ich!“ beharrte ich nachdrücklich, und er gab tatsächlich klein bei.
Ich war erleichtert, und nachdem das geklärt war, machte ich mich auf den Weg in die Dusche, obwohl eine leise Stimme in meinem Kopf darauf beharrte, dass die Sache noch nicht ausgestanden war.
Hatte Nils nicht etwas zu schnell eingelenkt? Oder war ich einfach zu misstrauisch? Aber ich mochte nicht länger über dieses Thema nachgrübeln, sondern wünschte mir nur, es so schnell wie möglich zu vergessen.
Entschlossen schob ich alle Gedanken an Niklas und unseren Kuss beiseite, und nach der heißen Dusche ging ich hinunter zu meinen Eltern, um mir mit ihnen zusammen einen Film anzusehen. Sie freuten sich darüber, und ich versuchte auch wirklich, der Handlung aufmerksam zu folgen, aber soweit es mich betraf, hätte der komplette Film in Kisuaheli gesprochen sein können. Die Sequenzen rauschten an mir vorbei, ohne dass ich einen durchgehenden Handlungsstrang hätte identifizieren können. Dafür kreisten meine Gedanken fortwährend um Niklas und das, was Nils gesagt hatte. Stimmte es etwa wirklich? War ich in Niklas verknallt? Ich kannte ihn doch so gut wie gar nicht! ... Aber stellte das denn ein Hindernis dar, wenn man sich verliebte?
Der Super-Gau kam dann, als auf dem Bildschirm der Held und die weibliche Hauptrolle eine heiße Liebesszene hatten. War auch sonst nicht viel von der Handlung zu mir durchgedrungen, so nahm ich jetzt jede Einzelheit umso deutlicher wahr. Die Geräusche ihrer Küsse und die lasziven Bewegungen ihrer Körper, die sich sacht aneinander rieben. Plötzlich waren es nicht mehr die zwei Schauspieler, die sich da vor meinen Augen räkelten, sondern ich sah Niklas vor mir, Niklas und mich selbst, eng umschlungen und selbstvergessen küssend.
Uaaah!!! Mir wurde übel, und ich stand so hastig auf, dass der Couchtisch ins Wackeln geriet. Erstaunt sahen meine Eltern zu mir auf. „Ist was, Arno?“ fragte meine Mutter besorgt, und ich schüttelte schnell den Kopf.
„Nein, gar nichts. Ich bin nur müde.“ Ich zwang meinen Mundwinkeln ein Lächeln ab und ergänzte: „Der Spaziergang hat mich wohl ziemlich geschlaucht, schätze ich. Ich gehe lieber ins Bett, bevor mir die Augen noch hier unten zufallen.“ Sie nickte und lächelte verständnisvoll, während ich das Wohnzimmer verließ und nach oben ging.
Dort angekommen lehnte ich mich einen Moment von innen an das Türblatt und schloss die Augen.
Das alles war doch der reinste Alptraum!
„Hast Du was?“ Nils lag auf dem Bett und schmökerte in einem meiner Taschenbücher.
„Wie kommst Du denn darauf?“ antwortete ich ironisch und bleckte die Zähne in der Parodie eines Lächelns. „Ist doch alles in bester Ordnung, oder nicht?“
Er stand auf und kam zu mir, legte stirnrunzelnd die Hand auf meine Stirn und meinte dann: „Also, Fieber hast Du nicht, wie´s scheint. Aber Dein Gesicht ist ganz rot. Bist Du sicher, dass alles in Ordnung ist?“
Das war doch zum aus der Haut fahren! „Mensch, Nils! Schon mal was von Ironie gehört? Nichts ist in Ordnung, gar nichts!“ Frustriert wandte ich mich ab und fing an, mich auszuziehen. Wütend schleuderte ich meine Kleider durchs Zimmer, und Nils sah mir schweigend dabei zu. „Willst Du drüber reden?“ fragte er schließlich, doch ich schlüpfte nur in meinen Pyjama und warf mich ins Bett.
„Reden?“ Ich lachte geringschätzig auf. „Nein, ich will ganz sicher nicht reden! Ich will eigentlich nur schlafen, morgen früh wach werden und feststellen, dass alles bloß ein blöder Traum gewesen ist! Ich schätze allerdings, die Chancen dafür, dass das wirklich passiert stehen denkbar schlecht!“
Damit mummelte ich mich in meine Decke und drehte ihm entschlossen den Rücken zu. Das Einzige, was ich von ihm an diesem Abend noch sah, war seine Hand, mit der er nach dem Buch angelte, in dem er gelesen hatte, als ich eintrat. Hastig kniff ich die Augen zu und tat, als würde ich schon nichts mehr sehen, oder hören, doch in Wirklichkeit dauerte es noch ziemlich lange, bis ich einschlief.
Und wie eine Endlosschleife sah ich auf der Innenseite meiner Augenlider immer nur Niklas...


In der nächsten Zeit bemühte ich mich nach Kräften, nicht an Niklas zu denken. Das war schwerer als gedacht, denn mein geisterhafter Untermieter tat genau das Gegenteil. Immer wieder fing er von seinem Lieblingsthema an und war praktisch nur mit brachialer Gewalt davon abzubringen. Anfangs begleitete er mich sogar zur Schule, doch nachdem er mich einmal dermaßen vollquatschte, dass ich drauf und dran war, ihm eine zu scheuern, verbat ich mir seine weitere Gesellschaft dort vehement, und er merkte wohl selbst, dass es unserer Beziehung nicht gerade zuträglich war, wenn er sich ständig in meiner Nähe aufhielt. So hatte ich wenigstens während der Schulstunden meine Ruhe vor ihm.
So vergingen die Tage, fügten sich zu Wochen, aus November wurde Dezember, und nicht nur Weihnachten rückte langsam näher, sondern auch die Ferien. Der Gedanken, dass ich mich dann wohl oder übel den ganzen Tag lang mit Nils unter demselben Dach herumtreiben musste, verursachte mir Bauchschmerzen, denn es war klar, dass er das für DIE Gelegenheit halten würde, mich zu „bekehren

“!
Traditionell war es in unserer Familie üblich, den Weihnachtsbaum am zweiten Adventswochenende zu kaufen, und zwar mit der gesamten Familie. So auch dieses Jahr. Allerdings war ich dieses Mal nichts weniger als in Weihnachtsstimmung!
Ich hatte Nils unter Gewaltandrohung dazu verdonnert, zuhause zu bleiben, denn ich wollte nicht riskieren, seinem Geschwätz ausgeliefert zu sein, ohne mich verdrücken zu können.
Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte ich also bald darauf über das Freigelände der Gärtnerei am Stadtrand, schaute an den langen Reihen Douglasien, Fichten und Nordmanntannen entlang, ohne sie wirklich wahrzunehmen und hörte mit einem Ohr zu, wie meine Eltern sich gegenseitig auf die Vorzüge der verschiedenen Baumarten hinwiesen. Auch das war so ein alljährliches Ritual – sie begutachteten die ausgestellten Bäume des Langen und des Breiten, und am Ende würden sie doch wieder eine Nordmanntanne von ungefähr 1,80 m Höhe kaufen.
Kalt war es geworden, seit etwa einer Woche herrschte strenger Frost, und die Zweige der potentiellen Weihnachtsbäume waren mit Rauhreif überzogen, der im strahlenden Sonnenschein glitzerte. Das Gras des schmalen Weges zwischen den Gewächshäusern, auf dem ich mich befand, knirschte unter meinen Schuhsohlen, und überall liefen Leute herum, die nach dem passenden Baum suchten, einzelne Exemplare aus den Reihen herausholten, sie von allen Seiten begutachteten und dann entweder zurückstellten oder sie am Stamm fassten und zu der großen Metallröhre schleiften, die am anderen Ende des Geländes aufgestellt war und mit deren Hilfe man die Bäume in ein dichtes Kunststoffnetz verpacken konnte.
Nach einer Weile hatten meine Eltern sich – welche Überraschung! - auf eine ca. 1,80m hohe Nordmanntanne geeinigt, und nachdem ich geistesabwesend mein Okay dazu gegeben hatte, schleiften sie sie ebenfalls zur Netzröhre. Ich trottete langsam hinterher und sah von weitem, dass da noch zwei Kunden vor uns standen.
Ein Mann und ein Junge, mit einer Edeltann zwischen sich, die um einiges höher war, als unser Baum.
Als ich näher kam, begann es in meinen Eingeweiden zu kribbeln, denn die beiden Gestalten, von denen ich bis jetzt nur die Rückseite sehen konnte, kamen mir ungeheuer bekannt vor. Jetzt drehte sich der Mann etwas zur Seite und mir blieb fast das Herz stehen – es war Niklas` Vater! Und demnach war es nur logisch, dass der Junge neben ihm Niklas selbst war!
Da wandte sein Vater das Gesicht in unsere Richtung, und sein Blick fiel auf mich. Ein breites, erfreutes Lächeln erhellte seine Züge, und er hob grüßend die Hand. „Na sowas, Arno! Das ist ja ein Zufall!“
Ich suchte vergeblich nach einem Mauseloch, in dem ich verschwinden konnte, doch meine Eltern waren bereits aufmerksam geworden und wandten sich erstaunt zu mir um.
„Ihr kennt Euch?“ fragte meine Mutter, und es blieb mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Ja. Das ist Herr Werner. Niklas hier war ein Klassenkamerad von Nils. Daher kennen wir uns.“
Das war nah genug an der Wahrheit fand ich, und zu meiner Erleichterung sagte auch Niklas nichts, was diese Aussagen ins falsche Licht gerückt hätte.
Er sagte genau genommen überhaupt nichts, sondern musterte mich nur mit finsterem Blick. Doch meine Eltern bemerkten es nicht, denn sein Vater reichte beiden gerade freundlich die Hände und begrüßte sie.
„Sie sind Arnos Eltern, nehme ich mal an! Freut mich sehr! Ich habe mich schon gefragt, ob Arno krank ist. Er war schon eine Weile nicht mehr draußen bei uns auf dem Hof.“ Dabei warf er mir einen Blick zu, den ich sehr wohl verstand – er dachte wohl an die Dinge, die er mir auf der letzten Heimfahrt erzählt hatte.
„Auf dem Hof?“ echote mein Vater, und ich wand mich verlegen. Über meine Ausflüge nach Bendorf hatte ich bisher natürlich noch kein Sterbenswörtchen verloren.
„Ich war ziemlich im Stress in letzter Zeit, Schule und so.“ sagte ich lahm an Niklas` Vater gerichtet und schielte dabei zu Niklas hinüber, der sich weiterhin schweigend im Hintergrund hielt. Er war ein bisschen blass fand ich, und er schaute demonstrativ in eine andere Richtung. Den Erwachsenen schien das jedoch nicht aufzufallen, sie vertieften sich in den üblichen Smalltalk, machten sich miteinander bekannt und überließen ihren Nachwuchs sich selbst.
Schließlich hielt ich das Schweigen nicht mehr aus. „Wie geht’s Dir?“ fragte ich und bekam ein Schulterzucken zur Antwort. „Okay soweit.“ fügte Niklas dann noch an. „Und dir?“
Jetzt war ich an der Reihe mit Schulterzucken. „Ja, schon.“
Erneutes Schweigen.
„Was macht Nils? Ist er immer noch da?“ wollte Niklas dann wissen, und ich grinste schief.
„Ja, ist er. Leider.“ Das entlockte auch ihm ein leises Grinsen, und plötzlich waren sie da – Schmetterlinge in meinem Bauch, ganze Heerscharen davon!
Sie flatterten herum wie verrückt und machten keinerlei Anstalten, sich in absehbarer Zeit zu beruhigen.
Shit! Was war denn jetzt los?
Die Sonne ließ Niklas` dunkles Haar glänzen und seine blauen Augen aufleuchten, während mir die Beine wacklig wurden. Ich fühlte, wie ich rot wurde und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er nichts von meiner Verfassung merkte, und in diesem Augenblick sprach sein Vater mich an: „Wie wäre es, Arno, ich habe Deine Eltern gerade gefragt, ob Ihr nicht nächsten Sonntag zu uns rauskommen wollt. Da findet unser jährliches Weihnachtsturnier statt, und es gibt auch Stände mit Glühwein und Würstchen. Da herrscht immer viel Betrieb, Niklas reitet auch beim Turnier mit, und ich dachte, Du würdest vielleicht gern kommen und zusehen?“
Ich räusperte mich zunächst etwas umständlich, denn ich traute meiner Stimme nicht und wollte außerdem wenigstens noch ein paar kostbare Sekunden lang darüber nachdenken.
Sollte ich das machen? Das würde doch bedeuten, mir einzugestehen, dass Niklas bereits viel mehr war, als nur ein Klassenkamerad von Nils, oder? Vielleicht sollte ich besser unter irgendeinem Vorwand ablehnen?
Ich zögerte, doch schließlich wurde mir die Entscheidung von meinen Eltern abgenommen. Meine Mutter wandte sich mit breitem Lächeln an Herrn Werner und sagte: „Aber natürlich kommen wir! Ich habe als Mädchen Pferde geliebt! Leider konnten meine Eltern sich nie einen Reitkurs für mich leisten, und später kam dann die Familie und der Beruf. Also, keine Bange! Ich werde meine Männer auf jeden Fall nach Bendorf schleppen!“
Mein Vater lachte und legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich sehe schon, ich habe gar keine andere Wahl!“ sagte er, und Herr Werner stimmte in das Lachen mit ein.
„Also, abgemacht! Dann sehen wir uns nächsten Sonntag. Das Turnier fängt um 15 Uhr an, und wenn es später dunkel wird, gibt es noch ein großes Lagerfeuer. Vielleicht bekommen wir ja bis dahin noch Schnee, so wie im letzten Jahr! Dann ist die Atmosphäre besonders schön!“
Mit diesen Worten verabschiedete er sich, packte den Baum und schleppte ihn mit Niklas` Hilfe Richtung Parkplatz. Niklas sagte nichts mehr und sah auch nicht mehr in meine Richtung, während er davonging.
Mir dagegen war reichlich mulmig zumute. Ich fühlte mich ein wenig überfahren und hatte außerdem immer noch mit den widerspenstigen Flattermännern in meinem Bauch zu kämpfen.
Scheiße, Mann – hatte ich mich etwa wirklich in Niklas verknallt?
Das konnte doch nicht sein, oder?
Aber zum Nachdenken kam ich nicht, denn kaum waren die Beiden verschwunden, nahmen mich meine Eltern ins Kreuzverhör, und ich musste gewaltig aufpassen, dass ich ihnen nicht versehentlich Informationen lieferte, die mich geradewegs in die Klapsmühle hätten befördern können. Ich erzählte ihnen also lediglich, dass ich zweimal in Bendorf auf dem Werner´schen Reiterhof gewesen war und dass ich Niklas flüchtig kannte, weil er in Nils` Klasse gewesen war. Dass ich nur dort gewesen war, weil ich mit ihm über Nils hatte sprechen wollen, weil er ihn gut gekannt hatte und dass es eben einfacher für mich gewesen war, mit einem Gleichaltrigen über meine Gefühle nach Nils` Tod zu sprechen.
Dafür hatten sie wie erwartet Verständnis, ermahnten mich bloß, das nächste Mal Bescheid zu sagen, wenn ich bis nach Bendorf hinausfuhr, und innerlich bat ich Gott um Verzeihung für meine Lügen.
Meine Eltern fragten nicht einmal, warum ich ihnen meine Besuche dort verschwiegen hatte, vermutlich dachten sie, es wäre mir unangenehm gewesen, mit einem von ihnen über meine Trauer zu reden.
Oh, Mann! Ich fühlte mich schon wieder wie eins der ringelschwänzigen, rosa Borstentiere!
Zuhause angekommen wäre ich gern so schnell wie möglich in meinem Zimmer verschwunden, um allein und in Ruhe über alles nachzudenken – besonders natürlich über die Schmetterlingsinvasion in meinen Eingeweiden! –, aber dort wäre ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Nils getroffen, und der war so ziemlich die letzte Person, der ich jetzt gegenübertreten wollte.
Ich drückte mich also so lang wie möglich im Erdgeschoss herum, doch mir blieb nichts erspart, denn irgendwann tauchte Nils ebenfalls dort auf. Ich saß gerade allein im Wohnzimmer und rieb mir geistesabwesend mit den Fingern die Stirn, im Bemühen mir einzureden, dass ich mir meine Gefühlsaufwallung bei Niklas` Anblick nur eingebildet hatte, da sprach er mich mit einem Mal von der Seite an, und ich fuhr zusammen.
„Hey, hey, was ist denn? Warum erschrickst Du so?“ fragte er, und ich wusste im ersten Moment nicht, was ich sagen sollte. Grinsend ließ er sich neben mich aufs Sofa plumpsen und musterte mich gut gelaunt.
„Hast Du ein schlechtes Gewissen? Was ausgefressen?“ Seine gute Laune ging mir auf den Keks und ohne groß nachzudenken platzte ich heraus: „Ich hab´ nichts ausgefressen! Ich bin nur gerade eben Niklas begegnet!“
Im nächsten Augenblick hätte ich mich ohrfeigen können! Ich war doch sowas von dämlich! Musste ich Nils eine solche Steilvorlage liefern?
Aber es war zu spät, ich konnte seinem Gesicht ansehen, dass die kleinen Zahnrädchen in seinem Kopf auf Hochtouren liefen und wappnete mich innerlich gegen das, was unweigerlich folgen musste – und da ging es auch schon los: „Scheint Dich aber ganz schön mitgenommen zu haben, was?“
Er lächelte süffisant und rückte näher an mich heran. „Hast Du´s endlich eingesehen, dass ich recht habe? Streite es bloß nicht ab, auf Deiner Stirn steht es nämlich mehr als deutlich geschrieben – Du stehst auf ihn, habe ich recht?“
Doch ich wehrte ihn ab – heftiger als nötig – und stand auf. „Lass´ mich endlich mit dem Scheiß zufrieden! Nur weil Du plötzlich schwul bist, heißt das nicht, dass ich das auch werde, klar? Ich hab´ Dir gesagt, dass ich es für besser halte, wenn wir Niklas in Ruhe lassen, und das meinte ich auch so! Wir sind rein zufällig beim Gärtner in ihn und seinen Vater reingelaufen, sonst nichts! Aber meine Eltern sind leider so verflucht nett, dass sie sofort einen auf gute Bekannte gemacht haben, und jetzt haben sie beschlossen, dass wir nächstes Wochenende raus nach Bendorf fahren, zum Weihnachts-Reitturnier! Heilige Scheiße!“ fluchte ich und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.
Nils setzte ein selbstzufriedenes Lächeln auf, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.
„Na, das läuft ja besser, als ich gehofft hatte! Und das ganz ohne mein Zutun!“ feixte er, und eine Welle der Übelkeit raste durch meinen Körper.
„Mann, jetzt hör´ schon auf!“ zischte ich wütend. Viel lieber hätte ich mir lautstark Luft gemacht, aber meine Mutter war nebenan in der Küche und bereitete das Abendessen vor, und mein Vater war bestimmt auch irgendwo in der Nähe.
„Du bringst einfach alles durcheinander!“ fauchte ich. „Wenn Du nicht meinen Körper benutzt hättest, um Niklas zu küssen, dann wäre ich nie im Leben auf solche komischen Vorstellungen gekommen! Wie oft soll ich es noch sagen? Ich steh´ nicht auf Kerle!“ Vor Ärger zitternd stand ich vor ihm, und er sah mit einem nachdenklichen Blick zu mir hoch. Schließlich seufzte er und stand auf.
„Du bist echt ein schwieriger Fall, Arno, weißt Du das? Warum hörst Du nicht endlich auf, Dir was einzureden, was nicht stimmt? Was ist so schlimm daran, wenn Du auf einen Jungen stehst? Wir leben doch nicht mehr im finsteren Mittelalter?“
„Genau genommen bin ich der Einzige von uns beiden, der irgendwo LEBT, denn Du bist tot, Kumpel!“ fuhr ich ihn wütend an. „Du bringst hier nur alles durcheinander, ohne dafür Probleme fürchten zu müssen! ICH bin derjenige der damit klarkommen muss, wenn Du erst weg bist!“
Er grinste frech. „Tja, aber so wie es aussieht, werde ich ja noch eine lange Zeit hier sein, so wie Du Dich gegen das Offensichtliche sperrst!“
„Da ist gar nichts offensichtlich!“ brauste ich auf, und er seufzte in gespieltem Bedauern. „Sieht so aus, als hilft bei Dir nur praktischer Unterricht!“ sagte er, und bevor ich dazu kam, etwas zu erwidern, hatte er mich gepackt und die Arme um mich geschlungen. Er zog mich eng an sich und presste dann seinen Mund auf meine Lippen.
Einen Moment lang war ich wie erstarrt, doch dann begann ich heftig zu strampeln, um ihn abzuschütteln.
Das Gefühl seiner Lippen auf meinen war so gänzlich anders, als bei Niklas, zwar nicht direkt Ekel, aber überhaupt kein Vergleich mit der Süße und Wärme, die ich bei ihm empfunden hatte.
Als ich es endlich geschafft hatte, mich los zu machen, stand ich fassungslos und reichlich aufgelöst mitten in unserem Wohnzimmer und kam mir vor, als wäre ich gerade von irgendeinem fernen Planeten auf die Erde gebeamt worden. Mit einer Hand wischte ich mir über den Mund, und Nils erwiderte meinen Blick wie ein Lehrer, der gerade erfolgreich eine Lektion an den Mann, bzw. Schüler gebracht hat.
Und dem war auch tatsächlich so. Ich brauchte nicht zu fragen, was er damit hatte bezwecken wollen, ich wusste es auch so. Die Botschaft war eindeutig: Auch wenn ich davon überzeugt war, nicht auf Kerle zu stehen, so war der Kuss, den ich – zugegebenermaßen unfreiwillig – mit Niklas getauscht hatte, doch etwas ganz Besonderes gewesen. Etwas Wundervolles und Kostbares, und wenn ich nun endlich ganz und gar ehrlich zu mir selbst war, dann wollte ich es wieder erleben! Ich wollte Niklas küssen und ihn im Arm halten, seine Wärme spüren und ihm nahe sein!
Der Kuss zwischen Nils und mir war dagegen bloß simpler Lippenkontakt, nicht mehr und nicht weniger, stumpf und bedeutungslos.
In meinem Kopf herrschte Aufruhr. War das möglich? Dass ich mich nach Küssen und Zärtlichkeiten mit einem anderen Jungen sehnte? Alles in mir wehrte sich dagegen, aber eigentlich wusste ich längst, dass jede Gegenwehr zwecklos war.
Nils sah mich immer noch mit seinem Lehrerblick an, womöglich wartete er darauf, dass ich etwas sagte. Aber ich brachte kein Wort heraus, schob mich nur langsam rückwärts Richtung Flur, und als ich mit dem Rücken dagegen stieß, warf ich mich herum, stürmte aus dem Raum und floh nach oben in mein Zimmer. Dort lehnte ich mich an meine Tür und rutschte dann kraftlos und wie in Zeitlupe daran herunter, bis ich auf dem Boden saß, schlaff wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hat.
Ich war fassungslos, die Selbsterkenntnis überwältigte mich und wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich nie wieder dort aufgestanden.
Was sollte denn jetzt aus mir werden?

Kapitel Sechs




Ein bisschen fühlte es sich an, wie eine Galgenfrist, als die Tage vergingen und allmählich wieder das Wochenende näherrückte. Ich fühlte mich in dieser Zeit ein wenig wie in einer Achterbahn, denn mit meinen Gefühlen ging es geradezu rasant auf und ab. Mal überwog die Vorfreude, Niklas erneut zu treffen, dann wieder fiel ich in ein tiefes Loch beim Gedanken daran, dass er auf Nils` Geständnis so ablehnend reagiert hatte. Zwischendurch haderte ich noch mit Gott, der Welt und mir selbst.
Das war doch schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit, dass ich plötzlich schwul geworden sein sollte!!!
Ich kramte in meinem Gedächtnis und suchte nach Beweisen für das Gegenteil, nur leider fiel mir dadurch erst so richtig auf, dass ich noch herzlich wenig Erfahrung mit der Liebe im Allgemeinen und Mädchen im Besonderen hatte. Gewiss, da gab es die eine oder andere kurze Episode, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war – und das fiel mir ausgesprochen schwer! - dann musste ich mir eingestehen, dass sich da nie sonderlich viel abgespielt hatte, außer ein bisschen Küssen oder ein, zwei Dates. Es war immer rasch wieder Schluss gewesen, und ich hatte mich immer mit dem Gedanken getröstet, dass da eben die Richtige noch nicht dabei gewesen war.
Allerdings konnte ich mich auch nicht entsinnen, dass ich jemals etwas für einen anderen Jungen empfunden hatte, was über bloße Sympathie hinausging.
Ich hatte trotzdem nie viele Freunde gehabt - eigentlich war Nils sogar der Einzige, der sich von meiner kopfgesteuerten Art nie hatte abschrecken lassen und dessen Anwesenheit sich wie ein roter Faden durch meine gesamte Kindheit und Jugend zog. Alle Anderen waren eigentlich immer mehr gute Bekannte, als richtige Freunde, doch das hatte mich nie gestört. Ich hatte kein Problem damit, auch mal allein zu sein, und dennoch gab es jetzt diesen einen Menschen, mit dem ich auf einmal mehr als alles andere zusammen sein wollte – Niklas! Diese Empfindungen irritierten und schockierten mich, und ich bekam nicht besonders viel Schlaf in dieser Woche.
In der Schule wurden noch ein paar letzte Klausuren geschrieben, denn am Mittwoch der folgenden Woche fingen die Weihnachtsferien an, und natürlich musste jeder verschnarchte Lehrer, der die Monate vorher höchstens mal einen beiläufigen Blick auf den Kalender geworfen hatte, jetzt Panik schieben, denn Weihnachten samt Ferien kam ja wieder so verdammt unerwartet! Genau wie jedes Jahr ....
Als ich mich am Freitag nach der neunten Stunde auf den Heimweg machte, war mir ziemlich mulmig zumute.
Einerseits weil nun unübersehbar das Wochenende und damit auch der Sonntag und das Turnier in Bendorf vor der Tür standen, andererseits aber auch, weil ich mir sicher war, dass meine sämtlichen Klausuren dieser Woche bestimmt alles mögliche waren, nur keine Glanzstücke.
Ich war seit Tagen nervös und gereizt, selbst Nils hielt Abstand und meistens sogar die Klappe, was schon was heißen wollte, denn normalerweise besaß er das Einfühlungsvermögen einer mittelgroßen Nacktschnecke.
Zu allem Überfluss hatte ich seit ein paar Tagen auch noch fast jede Nacht Träume von Niklas, deren Inhalt ich lieber schnellstmöglich vergessen wollte. Allein bei der Erinnerung daran brannte mir die Schamesröte im Gesicht. Anfangs fragte ich mich ja, ob Nils da womöglich seine Finger im Spiel hatte, er hatte schließlich bei unserer ersten Begegnung nach seinem Tod auch meinen Traum manipuliert, und selbst Niklas hatte von Träumen erzählt, in denen Nils vorkam, als dieser sich die zwei Wochen auf dem Reiterhof eingenistet hatte.
Doch ich sagte nichts, denn ich war mir nicht sicher, dass es sich tatsächlich so verhielt, und wenn ich ihm dann auf diese Weise mitgeteilt hätte, dass ich von Niklas träumte, wäre das nur wieder Wasser auf seinen Mühlen gewesen und darauf konnte ich verzichten.
Außerdem wollte ich ihm auch nicht die Genugtuung gönnen, mich aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben, gesetzt den Fall, dass er doch damit zu tun hatte.
Aber natürlich kostete es mich Nervenkraft - und vor allem Schlaf!
Am Sonntagmorgen hatte ich beim Aufstehen Augenringe wie ein Bassett und fühlte mich wie gerädert, als ich schon um sechs Uhr früh nach unten in die Küche schlurfte. Normalerweise mussten meine Eltern mich am Wochenende buchstäblich mit dem Brecheisen aus dem Bett stemmen, aber diesmal flüchtete ich regelrecht aus den weichen Kissen, nachdem ich wieder einmal aus einem mehr als irritierenden Traum hochgefahren war. Nils hatte in meinem Sessel gehockt und mir nur einen freundlich-verwunderten Blick geschenkt. Er hatte zu seinen Lebzeiten oft genug hier übernachtet, um sich über mein neu entwickeltes Frühaufstehertum zu wundern, doch ich brummte nur etwas Unverständliches, streifte mir meinen Bademantel über und tappte leise die Treppe hinab.
Es war noch dunkel draußen, und bevor ich in der Küche das Licht einschaltete, warf ich einen Blick in den Vorgarten. Es hatte tatsächlich ein wenig geschneit während der Nacht, deshalb lag ein leichter bläulicher Schimmer über allem, und trotz meiner Verfassung freute ich mich über das zuckrige Weiß. Die dünne Puderschicht nahm der winterlich-tristen Welt die Schärfe und ließ endlich so etwas wie Weihnachtsstimmung aufkommen.
Immerhin dauerte es nur noch knapp zehn Tage bis Heiligabend!
Meine Eltern hatten sich am Vorabend bereits darüber unterhalten, wie wir in diesem Jahr den Silvesterabend verbringen wollten und bei dieser Gelegenheit auch ihr Bedauern geäußert, dass Nils´ Mutter noch vor Weihnachten die Stadt verlassen wollte. Sie hatte sich entschlossen, zu ihrer Schwester zu ziehen, die ebenfalls allein lebte, und meine Eltern verliehen nun ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sie dort zur Ruhe kommen würde. Sie war noch keine alte Frau, aber das Leben hatte ihr übel mitgespielt, und ich stimmte ihnen von Herzen zu.
Was ich ihnen allerdings nicht erzählte war, dass ich von dem bevorstehenden Umzug bereits seit einigen Tagen wusste, denn natürlich besuchte Nils seine Mutter gelegentlich – vor allem dann, wenn ich in der Schule war – und hatte bei diesen Besuchen von ihren Umzugsplänen erfahren. Besonders traurig war er nicht darüber, denn für ihn war es ein Leichtes, sie auch in noch so großer Entfernung aufzusuchen, wenn ihm danach war. Er brauchte nur daran zu denken, und schon war er dort.
Seiner Mutter dagegen fiel es trotz aller schlechten Erinnerungen nicht so leicht, einfach alle Zelte hier abzubrechen, denn wenn sie in Zukunft das Grab ihres Sohnes oder ihres Mannes besuchen wollte, bedeutete es jedesmal eine längere Anreise. Zudem lebte sie seit ihrer Jugend hier, und die Vorstellung in einer anderen Stadt ganz von vorn anzufangen war wohl etwas beängstigend, auch wenn sie dort noch ihre Schwester hatte. Dennoch war sie entschlossen, diesen Weg zu gehen, das hatte sie offenbar bei einem längeren Telefongespräch mit meiner Mutter so gesagt, und nun hofften wir alle das Beste für sie.
Während ich diesen Gedanken nachhing, deckte ich geistesabwesend den Frühstückstisch und setzte Kaffee auf. Schließlich entschloss ich mich sogar, zum Bäcker zu gehen und Brötchen zu holen, denn auf die Weise kam der kleine Junge in mir sogar noch in den Genuss, den ersten Schnee des Jahres aus nächster Nähe zu erleben, bevor die Schritte der Menschen und die Reifen der Autos, Busse und Lkws, nicht zu vergessen natürlich die Besen, Schneeschieber und Streusalzfanatiker ihm den Garaus machten, ihn in ein unansehnliches, braunes Gematsche verwandelten und er als graubraune Dreckbrühe in den Gullys der Stadt verschwand.
Fünf Minuten später war ich angezogen und schlüpfte möglichst leise aus dem Haus. Inzwischen war es fast sieben Uhr, und allmählich wich die Dunkelheit. Da Sonntag war, herrschte noch kaum Verkehr, und ich sog den Anblick des beschneiten Wohnviertels in mich auf. Obwohl ich nur wenig Schlaf gehabt hatte, fühlte ich mich dadurch erfrischt und ließ meinen Atem als weiße Wolke vor mir aufsteigen.
Je näher ich dem Bäcker kam, desto zahlreicher wurden die Fußspuren im frischen Schnee, und hier und da war der Gehweg bereits komplett geräumt. Im Laden lag ein großer, klitschnasser Putzlappen direkt hinter der Eingangstür, und vom Schnee, den die Kunden hineingetragen hatten,war der Boden glänzend nass und rutschig. Ich kaufte Brötchen und Croissants und machte mich dann wieder auf den Heimweg, sodass ich bereits um zwanzig Minuten nach sieben Uhr voll angezogen mit einer dampfenden Tasse Kaffee und einem frischen Croissant in der Hand am Frühstückstisch saß, als mein Vater die Treppe herunterkam und mich erstaunt musterte.
Er warf noch einen ungläubigen Blick auf die Wanduhr und meinte dann: „Was ist denn mit Dir los? Bist Du aus dem Bett gefallen?“ Nachdem er den gedeckten Frühstückstisch ausgiebig gemustert hatte, fuhr er fort: „Frühstück hast Du auch gemacht!? Ist was passiert? Hast Du irgendwas angestellt oder so?“ Er grinste dabei und setzte sich mir gegenüber.
„Muss denn irgendwas Schlechtes passiert sein, nur weil ich mal Frühstück gemacht habe?“ gab ich ein bisschen gekränkt zurück. Er zuckte die Achseln und grinste noch breiter. „Ich meine ja nur. Immerhin kann ich mich nicht erinnern, dass Du freiwillig am Wochenende aufstehst, und Frühstück hast Du das letzte Mal wann gemacht?“
Er zog die Brauen zusammen und tat, als würde er scharf nachdenken. „Ich schätze, das muss so in der Grundschulzeit gewesen sein, an Muttertag?“
Nun wurde ich doch ein bisschen verlegen, überspielte es aber betont lässig. „Na, dann solltest Du Dich lieber freuen, dass ich es jetzt getan habe, oder?“
Da lächelte er wieder und meinte: „Tu ich ja auch. Immerhin hast Du mir erspart, bei der Kälte zum Bäcker zu laufen.“ Er drehte den Kopf zum Fenster und sah hinaus. „Geschneit hat es auch. Da muss ich gleich noch den Gehweg fegen, bevor jemand ausrutscht und wir Ärger kriegen. Gut, dass es nicht so viel Schnee ist, sonst wäre unser Ausflug nach Bendorf womöglich noch ins Wasser gefallen.“
Schlagartig schmeckte mir mein Croissant nicht mehr. Ich legte ihn auf den Teller und nahm einen Schluck Kaffee, aber auch der hatte plötzlich große Ähnlichkeit mit einem flüssigen Brechmittel.
„Was ist denn?“ fragte mein Vater, der wohl gemerkt hatte, wie ich plötzlich die Farbe wechselte.
„Nichts.“ erklärte ich und zwang mir ein Lächeln ab. „Ich hab´ bloß nicht gut geschlafen.“ schob ich hinterher.
Der Rest der Mahlzeit verlief zumeist schweigend, was mich aber nicht störte. Eigentlich bemerkte ich es kaum, denn ich war mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, und die kreisten ausschließlich um den bevorstehenden Nachmittag und das Wiedersehen mit Niklas.
Bei unserem zufälligen Zusammentreffen vor rund einer Woche hatte er eigentlich nicht wirklich sauer gewirkt.
Naja, er wusste schließlich genauso gut wie ich, dass es in Wirklichkeit Nils gewesen war, als ich ihn geküsst hatte. Aber trotzdem musste es ein seltsames Gefühl sein, mir wieder gegenüber zu stehen.
Ob er sich wohl jetzt im Moment ebenso unbehaglich fühlte wie ich, wenn er an den Nachmittag dachte?
Als ich mich vom Tisch erhob, war meine Mutter noch nicht aufgestanden, was nicht ungewöhnlich war. Sie blieb am Wochenende gern länger liegen. Überhaupt ging es bei uns am Samstag und Sonntag eher gemütlich zu.
Wir widmeten uns mit Genuss den Dingen, für die wir unter der Woche keine Zeit hatten, und dabei wurden Spaß und Erholung ganz groß geschrieben. Natürlich ging ich abends auch aus, und das Gleiche galt für meine Eltern.
Gemeinsame Ausflüge wie der für den heutigen Tag Geplante waren dagegen eher eine Seltenheit.
Natürlich hätte ich auch einfach absagen und meine Eltern allein fahren lassen können, aber mir stand noch immer der Blick vor Augen, den Niklas` Vater mir zugeworfen hatte. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann wollte ich Niklas auch selbst gern wiedersehen, trotz Magendrücken, feuchter Hände und wackliger Knie … oder vielleicht gerade deswegen? Junge, ich war ja wohl echt hoffnungslos!
Langsam stieg ich die Treppe wieder hinauf und ließ mich in meinem Zimmer aufs Bett sinken. Nils, der auf der Fensterbank saß, als ich hereinkam, schaute zu mir herüber und meinte: „Was ist? Du siehst aus, als wäre Dir schlecht? Hast Du was?“
Brummelnd drehte ich ihm den Rücken zu, erreichte allerdings nur, dass er von seinem Sitzplatz herunterrutschte und zu mir kam. Die Matratze schwankte leicht, als er sich setzte, und dann beugte er sich über mich, um mir ins Gesicht sehen zu können.
„Na, sag´s schon dem Onkel!“ witzelte er und patschte mir auf den Kopf. Ich wehrte ihn ärgerlich ab und setzte mich wieder hoch. „Hör´ schon auf!“ verlangte ich unwirsch und wischte seine Hand beiseite. „Mir ist gerade echt nicht nach Witzen zumute!“
Einen Augenblick lang saß er still neben mir, und dann sagte er mit so sanftem Tonfall, dass ich verwundert den Kopf hob: „Du bist aufgeregt und durcheinander, weil Du Niklas heute Nachmittag wiedersiehst und nicht weißt, ob Du Dich freuen oder fürchten sollst, weil Du keine Ahnung hast, wie Du Dich verhalten sollst und was er tun oder sagen wird. Ist es nicht so?“
Zuerst starrte ich ihn wortlos an, dann nickte ich. Und dann brach alles aus mir heraus:
„Ich bin völlig durch den Wind, Nils! Ich meine, ich hab´ mich doch nie für Jungs interessiert, NIE! Und jetzt plötzlich kriege ich das große Flattern, wenn ich nur an Niklas denke! Was stimmt denn nicht mit mir? Ich kann doch nicht von heute auf morgen schwul geworden sein?“
Nils erwiderte meinen Blick ernst und meinte dann: „Also, ich würde nicht gerade sagen, dass ich ein Experte bin, was das Thema angeht. Ich kann nur von mir selbst ausgehen, und würde sagen, dass es Dir gerade genauso geht wie mir, als ich gemerkt habe, dass Niklas für mich viel mehr geworden ist, als nur ein Klassenkamerad. Ich bin damals total erschrocken und ihm deshalb aus dem Weg gegangen, wo ich nur konnte. Stattdessen hab´ ich ihn heimlich beobachtet – fast schon wie ein Stalker!“ An dieser Stelle lachte er leise und ein bisschen wehmütig. „Gleichzeitig musste ich mich höllisch in acht nehmen, damit niemand anderer was merkt. Schließlich sollte mich ja keiner für schwul halten! In der Zeit war ich auch völlig durch den Wind! Sag´ bloß nicht, Du hättest das nicht bemerkt?“
Ich zuckte die Achseln. „Wann war das denn? Du warst öfter etwas daneben.“
Er grinste und versetzte mir einen Rippenstoß. „Das war vor einem Vierteljahr! Kurz vor Deinem Geburtstag. Weißt Du denn echt nicht mehr, dass ich beinah Deine Party vergessen hätte? Du warst doch voll sauer deswegen!“
Ja, daran erinnerte ich mich. Damals war ich wirklich mehr als genervt gewesen, weil Nils einen Tag vor meiner geplanten Party, von der ich bereits seit Tagen redete Null Plan gehabt hatte, und ich es schließlich merkte, weil er mich völlig verständnislos anstarrte, als ich ihm erzählte, wie sehr ich auf das Kommen eines bestimmten Mädchens hoffte. Aber ich hatte angenommen, es wäre seiner üblichen Gedankenlosigkeit zuzuschreiben gewesen. Den wahren Grund hätte ich im Traum nicht erraten.
„Na, siehst Du, jetzt fällt es Dir ein, oder?“ grinste Nils, als sich wohl die Erinnerung auf meinem Gesicht abzeichnete. Im nächsten Moment stutzte ich. „Vor einem Vierteljahr? Mann, so lange geht das schon? Wieso hab´ ich davon nie was gemerkt?“
Diesmal hob er die Schultern. „Naja, ich wollte ja gar nicht, dass es jemand merkt! Und dann ausgerechnet Du! Ich glaube, ich wäre vor Verlegenheit tot umgefallen, wenn Du das mitgekriegt hättest!“
„Na, inzwischen scheint sich das ja geändert zu haben, oder?“ gab ich sarkastisch zurück, und er nickte ernst.
„Stimmt. Aber ich hab´ ja auch was Wichtiges dazugelernt seitdem.“
„Und was? Wie man seinen besten Freund in Schwierigkeiten bringt?“ fragte ich zurück, doch er schien die Spitze gar nicht zu bemerken, sondern schüttelte nur den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen. „Nein, Arno. Aber dass man nicht imer nur grübeln, sondern einfach mal hin und wieder seinem Gefühl nachgeben sollte. Es könnte nämlich ganz plötzlich zu spät dafür sein! So wie bei mir. Und heute tut es mir leid, dass ich so lange gezögert habe. Klar hätte ich mir einen Korb holen können, oder vielleicht hätten die Anderen mich auch als Schwuchtel gehänselt, wer weiß? Aber zumindest würde ich dann nicht diese ganzen Was wäre wenn

– Gedanken mit mir rumtragen! Denn weißt Du, es ist zwar Scheiße, hier festzuhängen, von so gut wie niemandem wahrgenommen zu werden und sich nicht mitteilen zu können, aber das Schlimmste ist der Gedanke was hätte sein können, wenn ich nur ein klitzekleines bisschen mehr Mut gehabt und zu meinen Gefühlen gestanden hätte! Ich hatte die Chance auf etwas ganz Besonderes, verstehst Du? Und ich hab´ sie einfach ungenutzt verstreichen lassen und mir einzureden versucht, es wäre nichts, nur weil ich Angst hatte. Es gibt nicht sehr viel, was ich wirklich bereue, aber das gehört auf jeden Fall dazu!“
Das verschlug mir die Sprache, ich starrte ihn wortlos an und schluckte schwer. So hatte ich das noch nicht betrachtet, und auf einmal erschienen mir meine Gefühle in einem etwas anderen Licht.
Homosexualität war ein Thema, über das ich nicht wirklich viel wusste. Es hatte ja auch nie die Notwendigkeit bestanden, dass ich mich damit befasste, im Gegenteil - wenn man zuviel Interesse dafür zeigte, lief man höchstens Gefahr, selbst für schwul gehalten zu werden! Und ich kannte keinen einzigen Jungen meines Alters, der das riskiert hätte, mich selbst eingeschlossen!
Wer hatte denn nicht schon bei dem Wort „schwul“ die typische Klischee-Witzblatt-Tunte vor Augen? Die beim Sprechen mit den Händen wedelt, die Hüften schwenkt, in näselndem Tonfall und mit klimpernden Wimpern über die neueste Mode redet und jeden mit „Liebchen“ oder „Süßer“ tituliert? Denn genau so stellt sich doch die eine Hälfte der Bevölkerung die Schwulenszene vor, oder? Für die andere Hälfte gehören vielleicht kurzgeschorene Haare, Sonnenbrillen und Lederkleidung dazu...?
Ich schüttelte diese unwillkommenen Bilder ab und konzentrierte mich wieder auf die Realität. Nils saß noch immer neben mir und betrachtete mich aufmerksam. Vermutlich spiegelte mein Gesicht, was in mir vorging, denn er lächelte plötzlich.
„Weißt Du, eigentlich beneide ich Dich!“ sagte er dann, und ich riss die Augen auf.
„Mich?“ Ich schnaubte. „Recht schönen Dank auch! Aber ehrlich gesagt fühle ich mich momentan nicht besonders beneidenswert!“
Das brachte ihn erneut zum Grinsen, und er fuhr fort: „Das glaube ich Dir glatt, aber zumindest hast Du jemanden wie mich, der versteht, wie es Dir geht und mit dem Du reden kannst.“
Und da wurde mir mit einem Mal bewusst, dass er recht hatte. Bisher war mir seine Anwesenheit nur als ein Ärgernis erschienen, mit dem ich mich abfinden und irgendwie arrangieren musste, bis ich einen Weg gefunden hatte, ihn los zu werden. Doch jetzt plötzlich war die alte, ursprüngliche Vertrautheit wieder da.
Wir waren wieder Freunde, beste Kumpels, die über alles reden konnten, und fast erschien es mir unglaublich, dass es das erste Mal seit seinem unerwarteten Auftauchen war, dass wir so offen miteinander redeten! Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich sah seinem Gesicht an, dass er ähnlich empfand. Ich räusperte mich und legte dann den Arm um ihn. „Scheiße, komm´ her, Mann!“
Er erwiderte meine Umarmung, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als wäre eine schwere Last von mir genommen worden.
Vermutlich würde er mich noch bevor der Tag zu Ende ging, erneut zur Weißglut treiben – besonders da wir später hinaus nach Bendorf fahren wollten! - aber jetzt gerade war ich einfach nur froh, dass er bei mir war.
Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen zwischen uns – ein gutes Schweigen diesmal. Dann jedoch räusperte ich mich und stellte die eine Frage, die mir seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte.
„Aber sag´ mal – was ist denn eigentlich mit Dir? Ich meine, macht Dir das gar nichts aus? Du bist doch in Niklas verliebt, hast Du gesagt. Bist Du gar nicht sauer auf mich?“ - „ Mal abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass er diese Gefühle jemals erwidern wird!“ schob ich rasch nach.
Nils stützte den Kopf auf die Hand und sah mich nachdenklich an.
„Sauer? Hmmm. Naja, am Anfang war ich schon angepisst und hab´ mich irgendwie verarscht gefühlt. Aber zum Einen hast Du ja gehört, was Niklas gesagt hat – er erwidert meine Gefühle nicht, und zum Anderen würde es ja auch nichts ändern, wenn ich es an Dir auslasse. Für Deine Gefühle kannst Du ja genausowenig was wie ich. Naja, und außerdem glaube ich doch auch fest daran, dass ich endlich von hier wegkomme, wenn ich Dir helfe.“ Er lächelte, als er das sagte, aber es war so ziemlich das traurigste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte, und auf einmal spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, so als wäre mir gerade erst richtig klargeworden, was es bedeutete, dass Nils tot war. Er saß zwar noch hier vor mir, ich konnte ihn anfassen und mit ihm reden, aber irgendwann würde das vorbei sein, und dann würde er mir furchtbar fehlen. Dadurch, dass er so kurz nach seinem Tod als Geist wieder bei mir aufgetaucht war, hatte ich mich mit dieser Tatsache noch gar nicht auseinandergesetzt.
Einen Moment lang zögerte ich noch, aber schließlich umarmte ich ihn ein weiteres Mal, denn bei aller Verlegenheit kam mir wieder in den Sinn, was er gerade eben über verpasste Chancen und dergleichen gesagt hatte.
Ich fühlte mich merkwürdig zerrissen – einerseits wollte ich ihn nicht verlieren, aber andererseits war mir klar, dass er nicht bleiben konnte. Er gehörte hier nicht mehr hin, und auf Dauer würde er unglücklich sein, in seiner Halbexistenz.
Und nicht zuletzt würde er mich vermutlich über kurz oder lang in den Irrsinn treiben, wenn er blieb!
„Glaubst Du eigentlich an Wiedergeburt oder so´n Zeugs?“ fragte er da plötzlich und riss mich damit aus meinen trüben Gedanken. Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Darüber hab´ ich noch nie nachgedacht. Du?“
Er wedelte mit der Hand. „Nö. Eigentlich nicht. Aber wäre doch cool, oder? Stell´ Dir mal vor, man würde wieder geboren und könnte sich dran erinnern, wer man vorher war! Das wäre doch krass, oder nicht?“
Ich überlegte. „Hat da nicht mal irgend so´n Typ Experimente mit Hypnose gemacht und Leute von ihren früheren Leben erzählen lassen?“
„Echt jetzt?“ Nils riss die Augen auf und ich nickte. Dann grinste er breit und stieß mich in die Seite. „Also, wenn ich tatsächlich wiederkomme, dann melde ich mich bei Dir, ja? Nur damit Du Bescheid weißt!“ Er lachte, und auch ich grinste mit. „Wenn also eines Tages ein frecher, kleiner Stöpsel bei mir vor der Tür steht und mich blöde angrient, dann weiß ich, dass Du es bist, oder wie?“ stichelte ich.
„Klar. Und wenn ich erst erwachsen bin, dann spanne ich Dir altem Knacker Niklas wieder aus, stell´ Dich drauf ein!“ Er ließ sich lachend hintenüber aufs Bett fallen, und obwohl das Gespräch eine doch recht seltsame Wendung genommen hatte, fühlten wir uns beide in diesem Moment einfach sauwohl miteinander.


Am frühen Nachmittag machten wir uns tatsächlich auf den Weg nach Bendorf. Es hatte zwar wieder angefangen zu schneien, aber nur leicht. Große, pudrige Schneeflocken segelten träge vom Himmel und verwandelten die Landschaft in ein atemberaubendes Wintermärchen … nicht dass ich viel davon gesehen hätte!
Ich war vollauf mit mir selbst beschäftigt, und mit dem, was Nils mir alles erzählt hatte.
Natürlich war er nicht bei uns im Wagen, ich schätzte, dass er sich bereits auf dem Reiterhof herumtrieb und mich dort erwartete.
Als wir Bendorf erreichten, staunte ich allerdings nicht schlecht. Die Straße, die beim letzten Mal so ausgestorben gewirkt hatte, war dicht befahren, und alle hatten scheinbar das gleiche Ziel wie wir. An der gesamten Hauptstrasse entlang waren zu beiden Seiten die verschiedensten Autos geparkt, etliche mit Pferdeanhängern, viele aber auch ohne, und wir entdeckten ein handgemaltes Schild mit einem Pfeil und einem großen P, welches uns den Weg zu einer Wiese am Ortsrand wies, wo bereits gut die Hälfte der Fläche ebenfalls zugestellt war. Und noch immer kamen weitere Wagen angefahren. Offenbar hatte Niklas` Vater nicht übertrieben, als er davon gesprochen hatte, dass auf ihrem Weihnachtsturnier viel Betrieb herrschte, im Gegenteil.
Ich wies meinen Eltern nach dem Aussteigen den Weg zu der schmalen Gasse, und kurz darauf befanden wir uns auf einem regelrechten Jahrmarkt. Es wimmelte nur so von Menschen jeden Alters, die auf dem Hof herumstanden und -liefen, Glühweinbecher jonglierten, miteinander redeten und lachten. Wir bahnten uns einen Weg bis zu dem schmalen Durchgang zwischen Reithalle und Stall und erreichten so den eigentlichen Turnierplatz, ein großes, abgezäuntes Geviert, welches mit Sägemehl ausgestreut und mit verschiedenen Hindernissen bestellt war. Ein kleines Stück entfernt, war eine weitere Fläche abgesteckt, wo gerade einige Pferde hin und her geführt wurden. Auch dort standen ein paar Hindernisse, allerdings nur drei Stück.
Ich hatte keine Ahnung vom Springreiten und sah nur mäßig interessiert hin, als eine Reiterin in schwarzer Jacke und mit Helm auf einem Apfelschimmel in den Parcours hineinritt. Stattdessen schaute ich mich unauffällig um, in der Hoffnung Niklas oder wenigstens Nils irgendwo zu entdecken.
Die meisten Menschen gruppierten sich mittlerweile am Zaun des Sprungparcours und schauten zu, wie die Reiterin ihr Tier in für mich unbegreiflichem Schlängelkurs über die verschiedenen Hindernisse lenkte. Bedauerndes Gemurmel kam auf, als der Schimmel plötzlich vor einem zweiteiligen Hindernis die Vorderbeine in den Boden stemmte und sich weigerte, seiner Reiterin zu gehorchen. Sie zog die Zügel an, lenkte das Tier in einem Bogen noch einmal heran und diesmal klappte es. Wider Willen war ich von dieser Szene abgelenkt und schrak daher heftig zusammen, als mir plötzlich jemand kräftig auf die Schulter schlug.
Natürlich war es Nils, wer auch sonst, und natürlich war ihm klar, dass ich meinem Ärger hier keine Luft machen konnte, weil so viele Menschen um uns herum waren. Nach einem raschen Blick in die Runde, der mich überzeugte, dass niemand, nicht einmal meine Eltern etwas gemerkt hatten, zischte ich wütend: „Spinnst Du? Ich hab´ mich total erschrocken!“
Er grinste nur breit und verschränkte die Arme. „Klar. Das war ja auch der Zweck der Übung!“
Grummelnd wandte ich mich ab, und er sagte: „Und? Hast Du Niklas schon irgendwo entdeckt?“ Ich schüttelte den Kopf, und weil gerade Applaus aufbrandete, nachdem die Reiterin das letzte Hindernis überwunden hatte, fügte ich halblaut hinzu: „Und Du?“
Er verneinte ebenfalls und meinte dann: „Lass´ uns doch einfach mal näher rangehen. Er reitet doch mit, hast Du gesagt. Dann wird er früher oder später schon auftauchen. Außerdem schätze ich, dass er vorher sowieso keine Zeit für uns hat.“
Das klang sinnvoll, wie ich ungern zugeben musste und so bahnte ich mir einen Weg zwischen den Zuschauern hindurch, die sich in den letzten Minuten doch ziemlich vermehrt hatten und fand mich schließlich ganz vorn am Zaun wieder, wo ich den gesamten Parcours überblicken konnte. Nils hatte es nicht so schwer wie ich, die Leute rückten ganz von allein zur Seite und ließen ihm eine Lücke frei, gerade so, als würden sie seine Anwesenheit spüren.
Ein paar weitere Reiter absolvierten den Hinderniskurs, doch ich sah hin, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Meine Augen waren ständig in Bewegung und suchten den Bereich außerhalb des Parcours nach der vertrauten Gestalt von Niklas ab, und dann endlich, nach fast einer Dreiviertelstunde, war es soweit. Plötzlich tauchte er auf, führte ein Pferd zu dem abseits gelegenen Geviert, wo er aufsaß, eine Weile hin und her ritt und ein paar Probesprünge absolvierte.
Schließlich näherte er sich dem eigentlichen Parcours und wartete außerhalb davon, dass er an die Reihe kam.
Er trug eine hellbraune Jacke, darunter eine weiße Reithose, schwarze Stiefel und einen schwarzen Helm. Die Hände steckten in ebenfalls hellbraunen Handschuhen, und mir stockte buchstäblich der Atem, so eine gute Figur machte er in den Sachen. Nichts erinnerte an den hilflosen Jungen, der von den Rowdies traktiert wurde, er wirkte beherrscht und selbstsicher.Während er wartete, klopfte er seinem Pferd ein paar Mal beruhigend den Hals, schien aber selbst völlig gelassen.
Nachdem sein Vorreiter den Parcours unter einigem Applaus verlassen hatte, ritt Niklas hinein. Auf Höhe der Preisrichter hielt er kurz an und grüßte, und dann ging es los. In meiner Umgebung klang aufgeregtes Gemurmel auf, bevor es wieder still wurde, offenbar war sein reiterisches Können unter den Anwesenden bekannt.
Schon hatte er das erste Hindernis erreicht und flog mit seinem Tier darüber hin, als wäre es nichts, korrigierte dann die Richtung und nahm das Nächste in Angriff. Ich hielt die Luft an und war vollkommen gebannt.
Das Herz schlug mir bis zum Hals, und meine Hände wurden feucht, als ich ihm zusah. Immer mehr Hindernisse übersprang er mit Leichtigkeit und Eleganz, und niemand war auf das vorbereitet, was dann geschah.
Einige Gäste hatten auch Hunde dabei, und natürlich waren diese Hunde sich nicht alle grün. Hier und da wurde geknurrt und gekläfft, aber im Großen und Ganzen hatten die Menschen ihre Vierbeiner im Griff.
Doch plötzlich riss sich einer der Hunde los und schoss quer über den Parcours – aus welchem Grund auch immer - wie es der Teufel wollte, direkt vor die Hufe von Niklas` Pferd! Dieses scheute und stieg, machte einen Satz zur Seite und im nächsten Augenblich fiel Niklas herunter.
Wie in Zeitlupe sah ich ihn durch die Luft fliegen, und dann krachte er mit dem Kopf gegen die Stangen eines Hindernisses. Der Aufschrei blieb mir in der Kehle stecken, doch die übrigen Zuschauer schrien dafür umso lauter.
Niklas bekam davon nichts mehr mit. Er stürzte vollends zu Boden und hatte nur insofern Glück, dass sein Pferd nicht noch auf ihn trat, als er reglos liegenblieb.
Ich stand wie vom Donner gerührt und hatte das Gefühl, eine eiskalte Hand griffe nach meinem Herzen. Menschen rannten zu dem liegenden Körper. Einige fingen das noch immer scheuende Pferd ein, aber die meisten stürzten zu Niklas.
Ich wäre gern ebenfalls hingerannt, doch in meiner Schockstarre war ich nicht in der Lage dazu. Meine Mutter dagegen war sofort losgerannt und ich sah, wie sie mit bestimmenden Gesten Anweisungen gab.

Kapitel Sieben




Einen endlosen Moment lang schien die Welt still zu stehen, doch dann schlug der einsetzende Tumult über mir zusammen wie eine gigantische Woge.
Ich stand da wie gelähmt und starrte hinüber zu der Stelle, wo Niklas reglos im weiß überstäubten Sand lag. Nils an meiner Seite sagte etwas zu mir, doch ich hörte nichts. Alles in mir drängte mich, hinüber zu rennen, neben Niklas auf die Knie zu gehen, ihn anzufassen, mich zu vergewissern, dass er lebte … aber ich stand wie angewachsen an meinem Platz.
Stattdessen sah ich, wie meine Mutter sich unter dem Zaun hindurchbückte und rasch zu dem Liegenden rannte, um den sich bereits in den wenigen Augenblicken seit seinem Sturz eine Menge Leute geschart hatten. Mit ruhiger Autorität erteilte sie Anweisungen, und gleich darauf zückte einer der Umstehenden ein Handy und wählte – vermutlich den Notruf.
Jetzt erschien auch Niklas` Vater auf der Bildfläche, und meine Mutter hob den Kopf.
„Ist zufällig ein Arzt hier?“ rief sie, doch offensichtlich war das nicht der Fall.
Etwas berührte mich am Arm, und als ich mich umwandte, sah ich in Nils` Gesicht.
„Hey!“ sagte er beklommen. „Du musst weiteratmen! Arno, Du bist weiß wie ein Laken!“ Dabei stand in seinen Augen die gleiche Angst, die auch ich fühlte.
Mein Vater trat neben mich, und wir beobachteten gemeinsam, wie meine Mutter Niklas in die stabile Seitenlage brachte und ihn dann mit der Decke zudeckte, die einer der Umstehenden gebracht hatte.
Wo blieb denn nur der Rettungswagen?
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich endlich ein Martinshorn, leise und weit entfernt, welches sich aber rasch näherte. Und als dann endlich die Rettungsassistenten und der Notarzt im Laufschritt auf dem Reitplatz auftauchten ging plötzlich alles rasend schnell – zumindest schien es mir so.
Innerhalb kürzester Zeit lag Niklas auf einer Trage und war an eine Infusion angeschlossen. Noch während die Trage angehoben wurde, bewegte er sich jedoch auf einmal und öffnete blinzelnd die Augen. Im nächsten Augenblick machte er eine ruckartige Bewegung mit dem Oberkörper und gab alles von sich, was er im Magen hatte.
Die Helfer stellten die Trage wieder ab, und meine Mutter eilte an Niklas` Seite. Sie stützte ihn und hielt seinen Kopf, was gar nicht so einfach war, immerhin war er auf der Trage angeschnallt.
Nun ist es wahrlich kein schöner Anblick, wenn sich jemand die Seele aus dem Leib kübelt, trotzdem fühlte ich in dem Moment eine unglaubliche Erleichterung: Wer so kotzen konnte, war jedenfalls definitiv am Leben!
Als der erste Schwall draußen war, setzten sich die Sanitäter wieder in Bewegung, begleitet von meiner Mutter und natürlich auch Niklas` Eltern. Automatisch folgte ich dem kleinen Zug ebenfalls, und Nils blieb ebenfalls an meiner Seite.
Am Tor folgte ein kurzer Disput, und schließlich kletterte Niklas` Mutter mit in den Rettungswagen. Gleich darauf schlug dessen rückwärtige Tür zu, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Ich starrte hinterher unfähig, wieder zurück zum Turnierplatz zu gehen. Alles in mir zog mich mit Gewalt zu Niklas. Ich wollte zu ihm, mich vergewissern, dass es ihm gut ging, dass ihm nichts Ernstes fehlte, und mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen bei der Vorstellung, was noch alles passieren konnte.
Meine Eltern hatten mich schon mehrmals angesprochen, doch nur langsam und allmählich sickerte diese Tatsache in mein Bewusstsein.
„Was?“ Ich drehte den Kopf, und mein Vater verzog das Gesicht. „Warum nicht gleich

?“ fragte er und schüttelte den Kopf, kassierte aber sofort einen Rippenstoß von meiner Mutter.
„Nun sei doch nicht so!“ meinte sie ein wenig ungehalten. „Du siehst doch, dass ihn das ziemlich mitgenommen hat.“ Etwas leiser, aber immer noch so laut, dass ich es verstand, auch wenn das sicher nicht beabsichtigt war, fügte sie hinzu: „Immerhin ist Nils noch nicht so lange tot! Hab´ doch mal ein bisschen Verständnis, ja? Er hat das doch alles noch gar nicht verdaut!“
Der besagte Nils stand derweil für sie unsichtbar neben mir und schwieg, warf mir nur einen ernsten Blick zu, und ich sah die Angst und die Sorge um Niklas die darin standen und meine eigenen Gefühle widerspiegelten.
„Sorry, Arno, aber ich kann nicht hier bleiben! Ich sehe nach, wie es Niklas geht, okay?“ meinte er, und ich nickte leicht. Er sollte ruhig gehen, da war mir wenigstens ein bisschen leichter ums Herz, denn so bestand doch zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ich in absehbarer Zeit erfahren würde, wie es um Niklas stand. Nur Sekundenbruchteile später war Nils verschwunden, und ich atmete tief durch.
Mein Vater nickte gerade ergeben, nachdem meine Mutter, von mir unbeachtet, halblaut auf ihn eingeredet hatte. „Ja, Du hast ja recht! Schon gut!“ sagte er, und mit einem Blick zu mir: „Wie ist es, sollen wir zurück zum Turnier gehen?“
Ich glotzte ihn verständnislos an – das war mit Abstand das Letzte, was ich jetzt tun wollte! Wieder schaltete meine Mutter sich ein. „Oder möchtest Du lieber nach Hause?“
Das wollte ich genausowenig – es gab eigentlich nur einen Ort, wo ich gerade sein wollte: bei Niklas!
Ich schluckte, und mein Mund war trocken, als ich schließlich bat: „Können wir nicht ins Krankenhaus fahren? Ich möchte wissen, ob mit Niklas alles in Ordnung ist!“
Einen Augenblick schwiegen meine Eltern – vermutlich überrascht, denn ich kannte Niklas ja kaum, doch dann nickte meine Mutter und fasste meinen Vater am Arm.
„Klar, Arno. Komm`!“ Sie zog meinen Vater mit sich, und so saßen wir kurz darauf wieder in unserem Auto.
Während der Fahrt zur Klinik sah ich stumm aus dem Fenster, und mein Magen war ein harter, kalter Knoten. Die Angst um Niklas hatte wieder voll zugeschlagen.
Nur gut, dass meine Mutter wohl dachte, ich sei noch traumatisiert durch Nils` Tod und wollte deshalb ins Krankenhaus fahren. In meiner Verfassung war ich mir nicht sicher, ob ich mich bei irgendwelchen Nachfragen oder Diskussionen nicht verplappert hätte …
Meine Gedanken zogen unsinnige Bahnen.
Was würden meine Eltern wohl sagen, wenn sie wüssten, dass ich mich in einen Jungen verliebt hatte?
Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass sie ausflippten, dafür waren sie doch eigentlich viel zu liberal eingestellt, aber trotzdem war die Vorstellung, es ihnen zu gestehen unangenehm.
Als die Klinik in Sicht kam, schob ich diese Überlegungen beiseite und konnte es kaum erwarten, aus dem Auto zu steigen.
Das erwies sich als gar nicht so einfach, denn es war Sonntag, und offenbar hatte sich eine komplette Großstadt verschworen, ausgerechnet an diesem Nachmittag in Scharen das Krankenhaus heimzusuchen und sämtliche verfügbaren Parkplätze zu belegen!
Es dauerte fast zehn Minuten, bis wir auf dem am weitesten von den Gebäuden entfernten Parkdeck noch eine Lücke ausmachten, und erleichtert ließ mein Vater den Wagen hineinrollen.
Es war ein ziemliches Stück Weg vom Parkplatz bis zur Klinik, und ich machte große Schritte, denen meine Eltern kaum folgen konnten. In der Lobby angekommen, sah ich mich um und versuchte mich zu orientieren. Hier war ich noch nie vorher gewesen und hatte daher keine Ahnung, wohin ich mich wenden musste.
Wo kamen denn die Rettungswagen an?
Meine Mutter kam zu mir - ein wenig außer Puste - und deutete auf eine Art Schalter, der mitten in der riesigen Halle platziert war. Dort saßen zwei Männer, von denen einer gerade telefonierte, während der andere vor einem Computerbildschirm saß und etwas eintippte.
„Das ist die Information.“ sagte meine Mutter. „Lass´ uns da hingehen und nachfragen. Ich schätze zwar, dass Niklas noch in der Notaufnahme ist, aber da werden sie es genau wissen, wenn seine Daten schon im Computer sind.“
Zielstrebig steuerte sie den Tresen des Informationsschalters an, und als ich kurz nach ihr dort anlangte, hatte sie ihr Anliegen bereits vorgebracht, sodass der eine Pförtner bereits im Datennetz der Klinik nach Niklas suchte.
Einen Moment später hellte sich sein Gesicht auf, und er wandte sich an meine Mutter.
„Nach dem, was hier steht, ist er tatsächlich noch im Notfallbereich. Wollen Sie dorthin?“
Meine Mutter sah kurz zu mir, und dann nickten wir unisono, worauf der Pförtner die Hand ausstreckte und in eine Ecke der Eingangshalle wies.
„Nehmen Sie den Fahrstuhl 3 und fahren Sie runter ins Stockwerk -2. Wenn sie dann aus dem Treppenhaus kommen, gehen Sie rechts. Ab da ist es ausgeschildert.“
Wir bedankten uns und steuerten den Lift an, wobei ich mich suchend umsah, denn ich konnte meinen Vater nirgends entdecken.
„Wo ist Papa?“ wollte ich wissen, und meine Mutter antwortete ohne mich anzusehen. „Er wartet draußen auf uns. Er hat gemeint, wir müssten ja nicht alle hier reinstürmen, sonst bekäme Niklas und auch seine Mutter womöglich einen falschen Eindruck von uns, von wegen aufdringlich und so. Aber wenn Du mich fragst,“ sie grinste ein wenig, „dann hat nur seine Angst vor Ärzten wieder zugeschlagen.“
Nun war es an mir zu staunen. „Papa hat Angst vor Ärzten?“
Sie nickte. „Yupp. Und vor Krankenhäusern.“
„Seit wann denn das? Davon weiß ich ja gar nichts!“
Erneut grinste sie und erwiderte: „Ja, klar, das ist ihm ja auch furchtbar peinlich! Was glaubst Du denn, warum immer nur ich mit Dir zum Arzt gegangen bin, wenn was war? Aber immerhin haben wir uns so kennengelernt.“
„Was? Wie?“ Ich verstand nur Bahnhof.
„Naja,“ sie wedelte mit dem Arm, „er kam eines Tages zu uns in die Praxis, mit einer schwer entzündeten Wunde am Fuß. Wegen seiner Phobie hatte er den Arztbesuch immer wieder vor sich her geschoben, und nun stand er kurz vor einer Sepsis. Natürlich musste der Fuß aufgeschnitten werden. Als der Arzt dann ins Sprechzimmer kam, wo ich ihn schon vorbereitet hatte, schlotterte er vor Panik am ganzen Körper, und als er das Skalpell sah, wurde er glatt ohnmächtig!“ Sie gluckste leise. „Ich glaube, das war der Moment, wo ich mich in ihn verliebte.“
Ich sah sie von der Seite an und konnte kaum fassen, was ich da hörte. Mein Vater, der starke Held meiner Kindertage, war aus Angst vor einem Arzt ohnmächtig geworden!?
Aber wenn ich so darüber nachdachte, fielen mir jetzt im Rückblick doch hier und da gewisse Kleinigkeiten auf, bei denen ich mir nie etwas gedacht hatte, die die Geschichte meiner Mutter jedoch untermauerten.
Während dieser kurzen Unterhaltung waren wir in den Fahrstuhl gestiegen und abwärts gefahren. Mit einem misstönenden „Pläng!“ stoppte der Lift, und wir stiegen aus.
Kaum waren wir aus dem Treppenhaus heraus, fanden wir uns in einem fensterlosen, elend langen Gang wieder, dessen mintgrün gestrichene Betonwände nicht wirklich mit dem dunkelbraunen Kunststoffbelag auf dem Boden harmonierte und der von in die Decke eingelassenen und mit lamellenartigen Gittern abgedeckten Neonröhren erleuchtet wurde.
Wie uns der Pförtner gesagt hatte, wandten wir uns nach rechts und weit vorne, wo sich das Ende des Flurs abzeichnete, fiel ein Streifen Tageslicht durch eine breite Glasfront ein.
Das Krankenhaus war in einen Hang hinein gebaut, sodass man auf der einen Seite des Gebäudes ebenerdig in die Eingangshalle treten konnte, dann aber, zwei Stockwerke tiefer auf der anderen ebenfalls ebenerdig dasselbe wieder verlassen konnte.
Dort lag die Notaufnahme mit der Zufahrt für die Krankenwagen, wo tagtäglich unzählige Patienten durchgeschleust wurden. Sie wurden per Rettungswagen gebracht, oder kamen per eigenem Pkw, mussten notfallmäßig behandelt werden, oder hatten einen Termin in einer der zahlreichen Spezialsprechstunden, die dort ebenfalls angeboten wurden. Immerhin war es die größte Klinik im Landkreis, und selbst von weit her kamen Patienten, beispielsweise wegen einer Herzoperation. Das wusste sogar ich, denn manchmal redete meine Mutter davon, deren Chef auch recht oft Patienten an dieses Krankenhaus überwies.
Sie liebte ihre Arbeit eben und war mit Leib und Seele dabei. Und oft genug konnte sie erst abschalten, wenn sie sich Frust, Kummer und Stress von der Seele geredet hatte.
Als wir in der Notaufnahme ankamen, herrschte dort hektische Betriebsamkeit.
Ich war selber noch nie dort gewesen und sah mich um, in der Hoffnung Niklas oder wenigstens seine Mutter irgendwo zu sehen, doch das war zunächst vergebens.
Links hinter der hydraulischen Tür, durch die wir eintraten, lagen fünf weitere Türen, im Abstand von jeweils etwa zwei Metern, durchnummeriert und allesamt geschlossen. Auf der anderen Seite blickte man in einen offenen Wartebereich, wo eine Menge Leute saßen und mäßig interessiert aufsahen, als meine Mutter und ich hereinkamen. Ein ganzes Stück den Flur hinunter lag der Aufnahmeschalter, hinter dem gerade eine Schwester mit Papieren hantierte, während sie gleichzeitig telefonierte.
Meine Mutter steuerte sofort darauf zu und ließ sich auch von dem genervten Gesichtsausdruck der Schwester nicht abschrecken, sondern sprach sie an, sobald diese den Hörer aufgelegt hatte.
Während ich mit einem Ohr zuhörte, ließ ich den Blick weiter schweifen, noch immer in der blödsinnigen Hoffnung, ich hätte Niklas nur übersehen.
Ich sah ihn trotzdem nicht, dafür war plötzlich Nils an meiner Seite. Er bedeutete mir, ich solle mit ihm kommen, und ich ließ mich von ihm um die nächste Ecke dirigieren.
Dort waren wir allein, und so bestürmte ich ihn in der nächsten Sekunde mit Fragen: „Wo ist er? Geht’s ihm gut? Was sagen die Ärzte?“
Nils machte eine beschwichtigende Geste, und ich zwang mich still zu sein und ihm zuzuhören. Das Gespräch meiner Mutter mit der Schwester würde nicht ewig dauern, und dann hatte ich erst mal keine Gelegenheit mehr, meine Fragen zu stellen.
„Zu Frage eins: Er wird gerade geröntgt.“ antwortete Nils. „Zu zwei: es geht ihm ganz gut. Er hat anscheinend Glück gehabt und ist mit einer Gehirnerschütterung davongekommen. Der Helm hat Schlimmeres verhindert. Trotzdem machen sie eine Röntgenuntersuchung, um sicher zu gehen. Und die Ärzte möchten ihn gern eine Nacht lang hier behalten, um ihn zu überwachen. Wenn´s ihm morgen immer noch gut geht, kann er wieder nach Hause!“
Ich war so erleichtert, dass mir fast die Knie weich wurden. Es ging ihm gut – Gott sei Dank!
Doch da kam schon meine Mutter um die Ecke und hielt Ausschau nach mir.
„Arno? Ach, hier bist Du! Also, pass´ auf ...“ Was sie mir dann erzählte, deckte sich im Wesentlichen mit dem, was Nils mir bereits gesagt hatte, und als sie fertig war, schaute sie mich fragend an.
„Also? Was machen wir jetzt?“ wollte sie wissen. „Willst Du hier warten, oder sollen wir gehen?“
Ich senkte den Blick zu Boden und erwiderte leise: „Können wir noch warten? Ich möchte ihn unbedingt sehen und mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist.“
Ich konnte spüren, wie mir dabei die Röte ins Gesicht schoss, aber wenn meine Mutter dieses Ansinnen für seltsam hielt, so zeigte sie es jedenfalls nicht.
Sie nickte vielmehr und wies auf den Wartebereich. „Dann sollten wir uns aber hinsetzen, meinst Du nicht? Es kann noch eine Weile dauern, bis er zurückkommt.“
Das war dann auch tatsächlich der Fall, denn eine knappe Stunde später saßen wir noch immer da. Nils war wieder verschwunden, und ich vermutete, dass er sich in Niklas` Nähe aufhielt. Ich beneidete ihn fast ein bisschen, immerhin konnte er bei ihm sein und ich nicht.
Draußen wurde es allmählich dunkel, meine Mutter hatte bereits per Handy meinen Vater informiert und ihn gebeten, in der klinikseigenen Cafeteria auf uns zu warten. Blieb nur zu hoffen, dass er seine Krankenhaus-Phobie soweit überwinden konnte, denn sonst würde das für ihn eine reichlich frostige Angelegenheit werden.
Aber eigentlich interessierte mich das in diesem Moment nicht die Bohne. Meine Gedanken waren bei Niklas, und je länger ich untätig herumsaß, desto wildere Kapriolen schlug meine Fantasie, sodass ich irgendwann aufstand und hin und her zu gehen begann, weil es mich nicht mehr auf meinem Sitz hielt. Im Geiste malte ich mir schon wieder die furchtbarsten Horrorszenarien aus und steigerte mich in eine irrationale Besorgnis hinein, die in keinem Verhältnis zu den gegebenen Tatsachen stand.
Meine Mutter dagegen saß entspannt da und blätterte sich durch den Stapel zerlesener Klatsch- und Tratschzeitungen, die man in so gut wie jedem Wartezimmer findet. Nur manchmal blinzelte sie zu mir hinüber, sagte aber nichts.
Jedesmal wenn die Hydrauliktür zum Gang sich öffnete, sah ich erwartungsvoll auf, nur um immer wieder enttäuscht zu werden.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wurde ein Kliniksbett hereingeschoben und darin lag – noch reichlich blass um die Nase – Niklas!
Mein Herz machte einen Satz, und am liebsten wäre ich sofort zu ihm gestürzt. Aber ich beherrschte mich noch gerade eben, auch wenn meine Erleichterung bestimmt mehr als deutlich zu sehen war.
Ein Pfleger schob das Bett, Niklas` Mutter ging hinterdrein, und als Letzter folgte Nils. Er lächelte in meine Richtung und machte eine auffordernde Geste, ich sollte herüberkommen. Das Bett wurde ein Stück weiter unten im Flur abgestellt, und der Pfleger nahm einen großen, braunen Umschlag vom Fußende, bevor er in einem der Behandlungsräume verschwand.
Meine Beine wollten mir kaum gehorchen, als ich mich in Bewegung setzte, doch da schob sich schon meine Mutter an mir vorbei. Sie trat direkt an Niklas` Bett und lächelte.
„Hallo Niklas! Schön zu sehen, dass Dir anscheinend nichts Ernstes fehlt! Wie fühlst Du Dich denn?“
Er verzog das Gesicht und meinte: „Naja, es ging mir schon besser, aber ich schätze, ich habe echt Glück gehabt!“
Jetzt mischte sich auch seine Mutter ein und reichte meiner lächelnd die Hand.
„Sie haben sich doch nach dem Sturz um ihn gekümmert, nicht wahr? Vielen Dank!“
Inzwischen war ich auch angelangt und stand nun stumm und reichlich blöde da. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und der Blick, mit dem mich Niklas bedachte, war auch nicht dazu geeignet, meine Kommunikationsfähigkeiten aus der Reserve zu locken.
Er wirkte abschätzend, kühl, fast schon feindselig, und so sagte ich schließlich überhaupt nichts.
Unsere Mütter redeten dafür umso mehr, aber irgendwann schien ihnen einzufallen, dass wir auch noch da waren.
Frau Werner wandte sich plötzlich an mich und streckte auch mir die Hand hin.
„Ach, entschuldige bitte! Ich wollte nicht unhöflich sein, ich bin nur noch ein bisschen durcheinander! Du bist Arno, oder?“ Ich ergriff die dargebotene Rechte und nickte höflich. „Mein Mann hat mir schon von Dir erzählt! Das ist sehr nett von Dir, dass Du Dir solche Sorgen um Niklas machst! Aber Du kannst beruhigt sein, das Röntgen hat nichts Besorgniserregendes ergeben. Er hat wirklich nur eine Gehirnerschütterung.“ Sie lächelte und sah kurz zu ihrem Sohn.
„Da werden für ihn die Weihnachtsferien eben schon ein paar Tage früher anfangen!“
Ich bewegte meine Mundwinkel nach oben und hoffte, dass es passte und nicht zu künstlich wirkte. Noch immer spürte ich Niklas` bohrenden Blick, der mich lähmte und mir den Mund versiegelte.
„Magst Du auch Pferde?“ fragte seine Mutter da plötzlich und brachte mich damit völlig aus dem Konzept.
Was sollte ich auch darauf antworten? Bisher waren Pferde für mich einfach nur irgendwelche großen Tiere mit vier Beinen gewesen, die meistens auf Wiesen herumstanden und Gras kauten, mehr nicht. Ich zuckte also hilflos die Achseln und war meiner Mutter überaus dankbar, als sie mir beisprang.
„Ich glaube, Arno hatte noch keine Gelegenheit sich zu entscheiden, ob er Pferde mag oder nicht. Wir wohnen in der Stadt, und da hat er noch keinen Kontakt zu vielen Tieren gehabt. Das höchste der Gefühle ist in unserer Wohngegend mal ein Hund oder eine Katze, verstehen sie?“
Frau Werner lächelte und nickte verständnisvoll. Dann wandte sie sich wieder an mich.
„Also, wenn Du möchtest, komm´ doch in den Ferien ab und zu vorbei. Wer weiß, vielleicht machen wir ja doch noch einen Pferdenarren aus Dir!“
Nun – die Zossen konnten mir meinethalben gestohlen bleiben, aber das war ja fast so gut, wie ein Sechser im Lotto! Eine solche Einladung bedeutete, dass ich zukünftig keine Entschuldigung mehr zu suchen brauchte, wenn ich Niklas sehen wollte!
Fast wäre mir die untere Gesichtshälfte abgefallen, so breit war mein Grinsen, doch Niklas versetzte mir im nächsten Augenblick mit seiner Reaktion einen Dämpfer:
„Also, soweit es mich betrifft, braucht Arno nicht unbedingt zu kommen!“ sagte er mit finsterem Blick. Seine Mutter war schockiert und fuhr zu ihm herum.
„Niklas! Was ist denn los mit Dir? Warum bist Du so unhöflich? Und das, nachdem sich Arnos Mutter so um Dich gekümmert hat, nachdem Du gestürzt bist! Und nun haben sie sich sogar die Mühe gemacht hierher zu fahren, nur um zu sehen, wie es Dir geht!“
Er zuckte nur die Schultern, ohne hoch zu sehen, und ich fühlte mich bemüßigt zu erwidern: „Keine Sorge, Frau Werner, das ist schon in Ordnung! Wenn Niklas es nicht will, dann komme ich selbstverständlich nicht!“
Es tat weh, das zu sagen, aber hey? Es wäre ja auch zu schön gewesen, oder?
Doch Frau Werner schüttelte vehement den Kopf. „Ach was, das meint er doch gar nicht so! Nicht wahr, Niklas? Er hat nur einen ziemlichen Bums auf den Kopf gekriegt, das ist alles! Also lass´ Dich davon nicht beeindrucken und komm´ ruhig, hörst Du?“
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zu einem der Behandlungsräume, und der Pfleger von vorhin erschien im Türrahmen. Er wandte sich Niklas` Bett zu und erklärte, dass der Arzt Niklas jetzt noch einmal sehen wollte.
Das war dann unser Stichwort, und meine Mutter und ich verabschiedeten uns.
Nils, der die ganze Zeit schweigend daneben gestanden hatte, trottete hinter uns her, noch immer ungewöhnlich still. Doch eigentlich war mir das gerade sehr recht, zu sehr war ich noch damit beschäftigt, mir einen Reim auf Niklas` plötzliche Feindseligkeit zu machen.
Okay, uns als Freunde zu bezeichnen wäre nun wirklich übertrieben gewesen, aber musste er so tun, als wäre ich ein gesuchter Schwerverbrecher?
In der Eingangshalle trafen wir wieder mit meinem Vater zusammen, und gemeinsam machten wir uns auf den Heimweg. Natürlich wollte er auch wissen, wie es um Niklas stand, doch ich konnte mich nicht aufraffen, ihm erschöpfende Auskunft zu geben. Ich wollte nur noch nach Hause, in meinem Zimmer verschwinden und alles und jeden aussperren.
Abgesehen von Nils natürlich – wie sollte ich den auch bitte schön aussperren?
Er war in der Halle plötzlich verschwunden, und mir war klar, dass er vermutlich zuhause auf mich warten würde.
Aber ich täuschte mich.
Nachdem wir daheim angekommen waren, entfernte ich mich so bald wie möglich unter dem Vorwand, ich sei müde und stieg die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, mich innerlich wappnend gegen die unweigerliche Quasselattacke von Nils.
Doch als ich tief durchatmend meine Tür aufdrückte, fand ich das Zimmer verlassen.
Nils war nicht da.
Seufzend warf ich mich aufs Bett, überzeugt dort mindestens für die nächsten fünfzig Jahre liegenbleiben zu wollen. Müde schloss ich die Augen, aber dann sah ich nur Niklas` finsteres Gesicht vor mir und riss sie wieder auf. Was hatte ich ihm denn bloß getan? Na gut, da war noch immer die Sache mit dem Kuss, die irgendwie zwischen uns stand, aber ich hatte eigentlich gedacht, das wäre abgehakt. Und abgesehen davon, so kalt und ablehnend wie am heutigen Tag war er mir gegenüber noch nie gewesen, außer damals, als er mit der Mistforke auf mich losgegangen war!
Ich kam zu keinem Ergebnis, und allmählich ging es mir doch auf die Nerven, dass Nils nicht da war.
Wo steckte er denn bloß?
Ich wälzte mich noch eine Weile auf meinem Bett herum, doch irgendwann schlief ich ein.


Als ich aufwachte, war es mitten in der Nacht. Mir war kalt, weil ich ohne Decke geschlafen hatte, und ich war desorientiert, denn normalerweise schlief ich durch bis zum Morgen.
Ganz automatisch wanderte mein Blick durch den Raum, in der Erwartung, Nils irgendwo zu sehen, doch diesmal war alles dunkel und still und – leer. Ich war allein.
Plötzlich hellwach setzte ich mich auf und rieb mir das Gesicht, während ich überlegte.
Wo konnte er sein? Niklas war im Krankenhaus, also war er bestimmt nicht bei ihm, oder? Andererseits …
Meine Blase drückte, und ich rappelte mich vom Bett hoch. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf meinen Radiowecker – halb drei.
Während ich ins Bad tappte, kam mir der Gedanke, dass Nils möglicherweise unten im Erdgeschoss war, und kaum war ich fertig, schlich ich leise die Treppe hinunter. Ich schaute in alle Räume, doch nirgends war eine Spur von ihm zu sehen.
Ich überlegte. Was konnte ich tun? Nun – genau genommen nichts. Außer Niklas wusste niemand von Nils´ geisterhafter Präsenz, und der war im Moment für mich unerreichbar. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig, als wieder ins Bett zu gehen und abzuwarten, ob Nils am Morgen wieder da war.
Ich stapfte daher wieder nach oben, streifte meine Kleider aus und den Schlafanzug an, kroch unter meine Bettdecke und mummelte mich hinein.
Leider hatte ich es geschafft und mich so richtig wach gemacht, mit meinem treppauf-, treppablaufen. Dementsprechend lag ich nun schlaflos im Bett und wälzte mich grübelnd herum.
Niklas kam mir wieder in den Sinn und der kalte Tonfall, in dem er sich meine Besuche verbeten hatte. Vielleicht sollte ich seinem Willen entsprechen und ihn einfach nie wiedersehen?
Der Gedanke schmerzte, und ich krampfte die Finger ins Bettzeug. Wenn doch nur Nils hier wäre! Mit ihm hätte ich darüber reden können! So langsam wurde ich wütend auf ihn, dass er so einfach verschwunden war, ohne zu sagen wohin.
Das letzte Mal, als ich auf die Uhr schaute, war um kurz nach fünf Uhr früh. Danach döste ich tatsächlich noch einmal ein und als mein Wecker klingelte, fuhr ich aus dem Schlaf, als wäre neben mir eine Bombe hochgegangen. Ich fühlte mich, wie eine dieser Comicfiguren, die mit zerrauften Haaren und weit aufgerissenen Augen dasitzen, nachdem man sie hochgescheucht hat, und vermutlich sah ich auch genauso aus.
Kurze Zeit später torkelte ich einigermaßen wach die Treppe hinunter und setzte mich an den Frühstückstisch. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, irgendetwas stimmte nicht, und als ich den Löffel in mein Müsli tauchte, fiel mir auch ein was: Nils war noch immer nicht zurück!
Verdammt! Wo steckte der Typ?


Der Schultag rauschte an mir vorbei, wie eine Kakophonie an durcheinander geschmierten Tönen und Farben. In meinen Kopf herrschte Chaos. Meine Sorge um Nils und die Konfusion in die Niklas mich gestürzt hatte, mischten sich zu einem zähen Gedankenbrei, dem ich nicht entkommen konnte und der mich daran hinderte, mich auf den Unterricht zu konzentrieren.
Ich war froh, als die letzte Stunde endlich vorbei war, und kaum hatte es geläutet, stob ich aus dem Unterrichtsraum, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Nils war doch jetzt bestimmt wieder da?
Ich rannte die kurze Strecke bis zu meinem Zuhause, stürmte durch die Haustür, sah mich kurz um und rannte dann die Treppe hinauf in mein Zimmer.
Aber der Raum empfing mich so leer, wie ich ihn am Morgen verlassen hatte.
Einen Augenblick stand ich reglos da, dann schleuderte ich wütend meine Schultasche gegen die nächste Wand.
„Verdammte Scheiße! Nils! Wo bist Du?“
Ich bekam keine Antwort und ließ mich schwer auf mein Bett fallen.
War er etwa doch bei Niklas?
Einen kurzen Moment lang spürte ich einen Stich in der Brust und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es Eifersucht war, was sich da breit machte.
War sein ganzes Gerede über Freundschaft und so weiter doch nur hohles Geschwätz gewesen? Versuchte er es jetzt auszunutzen, dass Niklas nicht zur Schule ging und versuchte sich bei ihm einzuschmeicheln? Er war doch gestern auf dem Rückweg von der Notaufnahme die ganze Zeit so schweigsam gewesen. Hatte er sich da seinen Plan zurechtgelegt, um Niklas doch noch für sich zu gewinnen?
Auf der einen Seite war mir klar, dass ich mich gerade in vollkommen abstruse Vorstellungen hineinsteigerte, gleichzeitig kam ich jedoch nicht dagegen an, und meine Laune sank wie ein Stein dem absoluten Tiefpunkt entgegen.
Ich überlegte, was ich tun konnte. Ob Niklas schon wieder zuhause war?
Kurz entschlossen ging ich nach unten, entnahm dem Schreibtisch meines Vaters das Telefonbuch und blätterte es auf.
Tatsächlich fand ich einen Eintrag für einen „Pferdehof Werner“ in Bendorf und griff nach dem Telefon.
Nachdem ich gewählt hatte, klingelte es eine ganze Weile, und ich dachte schon, es sei niemand zuhause. Doch als ich gerade auflegen wollte, meldete sich eine Frauenstimme, die ein wenig barsch und abgehetzt klang.
„Werner!?“ Es war offenbar Niklas` Mutter.
„Ähm ... Hier ist Arno!“ Ich hatte mir gar keine Gedanken gemacht, was ich sagen sollte, darum stotterte ich jetzt ein wenig unbeholfen herum. „Ich wollte fragen … Niklas …. ich meine – ist er schon...?“
Sie verstand offenbar auch so, was ich wollte, denn sie unterbrach mich: „Du willst sicher wissen, ob Niklas schon aus dem Krankenhaus entlassen wurde, oder? Entschuldige, wenn ich ein bisschen kurz angebunden bin, aber um ehrlich zu sein, kommen wir gerade aus der Klinik. Wir haben ihn abgeholt, also – ja, er ist zuhause. Wenn Du möchtest, komm´ doch vorbei! Dann kann er Dir alles selbst erzählen, ja?“
Ich fühlte mich ein bisschen überfahren, trotzdem war ich natürlich auch froh, dass ihr diese Einladung so einfach von den Lippen gekommen war. Ich beeilte mich also, dankend zuzusagen und legte dann auf.
Keine halbe Stunde später saß ich im Bus und war auf dem Weg nach Bendorf.


Mit mächtigem Herzklopfen und weichen Knien läutete ich schließlich an der Tür des Werner´schen Wohnhauses, und kurz darauf wurde mir von Niklas` Vater geöffnet. Er lächelte, als er mich sah und schüttelte mir die Hand.
„Arno! Schön, Dich zu sehen! Geh´ nur nach oben, Du weißt ja, wo Niklas` Zimmer ist, nicht wahr? Und lass´ Dich nicht von seiner schlechten Laune runterziehen, hörst Du? Keine Ahnung, welche Laus ihm über die Leber gelaufen ist, aber ich hoffe, Dein Auftauchen vertreibt sie!“
Er lachte, und ich versuchte ein Lächeln, das allerdings ein wenig schief ausfiel. Niklas war schlecht gelaunt? Hieß das etwa, Nils war bei ihm und ging ihm auf die Nerven?
Etwas beklommen stieg ich die Treppe nach oben und stand dann unschlüssig vor der geschlossenen Tür zu Niklas` Zimmer. Das Herz schlug mir bis in die Kehle hinauf, als ich endlich mit zitternden Händen anklopfte.
Von drinnen kam ein knurriges „Ja?“, und nach einem letzten tiefen Atemholen trat ich ein.
Halb hatte ich ja erwartet, Nils dort drinnen vorzufinden, aber ich sah mich getäuscht, Niklas war allein.
Er lag auf seinem Bett, voll bekleidet und mit einem Buch in der Hand. Offenbar hatte er nicht mit mir gerechnet, denn als er mich erkannte, wurde sein Gesicht finster und mürrisch.
„Arno?“ fragte er unterkühlt. „Was machst Du denn hier? Habe ich gestern nicht klar und deutlich gesagt, Du brauchst nicht zu kommen?“
Verlegen blieb ich an der Tür stehen und ließ die Schultern hängen. „Naja, … ich wollte nur … ich meine ...“ stotterte ich. Dann jedoch gab ich mir einen Ruck und riss mich zusammen.
„Ist Nils bei Dir?“ fragte ich so fest wie möglich, und einen Moment lang schimmerte ein Riss in Niklas` unnahbarer Fassade. Doch sofort hatte er sich wieder in der Gewalt. „Nils? Nein, wieso? Ist der nicht bei Dir?“ fragte er und schüttelte dann schnaubend den Kopf.
„Nicht dass ich Bedarf an seiner Anwesenheit hätte, um Himmels willen! Reicht mir schon gerade, dass Du hier bist, da muss der andere Spinner nicht auch noch herkommen!“
Seine Ablehnung verletzte mich, und ich fragte mich erneut, was ich ihm getan hatte, dass er mich so behandelte.
„Soll das ein Witz sein?“ fragte er, und mir wurde plötzlich klar, dass ich die Frage laut gestellt hatte.
„Hast Du schon vergessen, was passiert ist, als Du das letzte Mal hier warst? Mein Bedarf an sowas ist vorläufig gedeckt!“
Verlegen sah ich zu ihm hinüber, während mir die Röte ins Gesicht stieg. Zu meinem Erstaunen hatte auch Niklas` Gesicht eine zart rosa Tönung angenommen.
War ihm die Angelegenheit also so unangenehm?
Ein unbehagliches Schweigen entstand, und mitten hinein schrillte die Türklingel. Wir hörten leise Stimmen und gleich darauf leichtfüßige Schritte, die die Treppe hinaufgeeilt kamen.
Es klopfte, und im nächsten Moment schlüpfte eine schlanke Mädchengestalt ins Zimmer.
„Na sag´ mal, Niki?“ wurde der im Bett Liegende fröhlich begrüßt, „Was treibst Du denn, wenn ich mal nicht in der Nähe bin?“
Die Besucherin trat ans Bett und setzte sich völlig selbstverständlich auf die Kante desselben. Dann erst schien sie mich zu bemerken und lächelte auch mir zu. „Oh, Du hast Besuch? Hallo, ich bin Anna!“
Sie streckte mir die Hand entgegen, und ich ergriff sie automatisch, während ich ihre Besitzerin musterte.
Blonde Locken ringelten sich um ein schmales Gesicht mit zarten Zügen, und ein paar blaue Augen blitzten mit den weißen Zähnen um die Wette, als sie meinen Händedruck erwiderte.
Früher wäre ich Hals über Kopf auf diesen Typ Mädchen abgefahren, aber jetzt regte sich ein ganz anderes Gefühl in meiner Brust, das ich noch nicht zu benennen wagte.
So vertraut wie sie sich gab, bedeutete das, dass sie und Niklas …?
Ich mochte den Gedanken gar nicht zu Ende denken. Und mitten hinein klang plötzlich noch Niklas` Stimme: „Kein Problem, Anna. Arno wollte sowieso gerade gehen!“
Er warf mir einen eisigen Blick zu, und was blieb mir da anderes übrig? Ich ließ den Kopf hängen, murmelte einen Gruß und ging zur Tür.
„Ciao, Arno!“ rief Anna mir noch gut gelaunt nach und dann hörte ich sie sagen: „So, jetzt lass´ Dich aber erst mal richtig begrüßen!“ Neugierig was das wohl heißen mochte, drehte ich mich in der Tür noch einmal um und sah, wie sie Niklas in ihre Arme zog und er diese Geste ebenso erwiderte.
Das hatte eine Wirkung auf mich, wie der sprichwörtliche, kalte Guss. So war das also!
Niklas und Anna waren zumindest sehr vertraut miteinander, wenn nicht mehr.
Plötzlich hob Niklas den Kopf, und unsere Blicke kreuzten sich.
Und darin stand auf einmal etwas völlig anderes, als noch kurz zuvor. Nicht mehr diese kalte Ablehnung, sondern etwas, was ich nicht einordnen konnte, seine Augen aber in seltsamem Glanz schimmern ließ, bevor er sich rasch wieder abwandte.
Ich eilte nach unten und stürmte aus der Haustür, froh darüber, keinem seiner Eltern mehr begegnet zu sein.
Alles in mir war in wildem Aufruhr und in meiner Brust krampfte sich das Herz zusammen, wenn ich an Niklas und Anna dachte und daran, was wohl jetzt geschah, wo sie allein miteinander waren!
Und was war das für ein Blick gewesen, den er mir da zugeworfen hatte? Ich hatte beinahe geglaubt, er würde jeden Moment anfangen zu weinen, aber das war doch Blödsinn, oder?
Tief in meine Grübeleien versunken langte ich wieder bei der Bushaltestelle an. Glücklicherweise kam schon bald ein Bus, mit dem ich zurück in die Stadt fahren konnte. So war ich keine zwei Stunden nach meinem Aufbruch schon wieder zuhause und verfluchte mich, dass ich überhaupt losgefahren war. Wäre ich daheim geblieben, hätte ich mir einiges erspart! Andererseits, so überlegte ich, hatte ich jetzt etwas erfahren, was mir vielleicht helfen konnte, über meine Gefühle hinweg zu kommen: Ich wusste jetzt, dass es ein Mädchen gab, Anna, und es sah ganz danach aus, als wären sie und Niklas mehr als nur gute Freunde. Es gab also keinen Grund anzunehmen, Niklas könnte sich irgendwann auf die gleiche Weise für mich interessieren, wie ich für ihn. Da ich das jetzt wusste, konnte ich gleich damit anfangen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen!
… Plötzlich stieg eine heiße Welle in meiner Brust auf, drängte sich in meine Kehle und dann in Form eines erstickten Schluchzers über meine Lippen. Alle Kraft wich aus meinem Körper, und ich sank auf mein Bett. Tränen strömten mir übers Gesicht, und ich rollte mich zusammen wie ein Embryo, als könnte ich mich so vor dem Sturm schützen, der über mich hinwegfegte.
So wie jetzt hatte ich nicht mehr geweint, seit ich zehn Jahre alt gewesen war, nicht einmal nach Nils` Tod.
Und irgendwie weinte ich um alles, was seit diesem furchtbaren Tag passiert war: Um den Tod meines besten Freundes, meine gefühlsmäßige Achterbahnfahrt, Nils Verschwinden, und nicht zuletzt die Tatsache, dass ich meine gerade erst mühsam halbwegs akzeptierten Gefühle für Niklas wohl begraben musste, bevor überhaupt irgendetwas gelaufen war, was sich zu begraben lohnte!
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich leergeweint hatte, und paradoxerweise fühlte ich mich danach irgendwie leichter, so als hätte jede einzelne Träne ein messbares Gewicht besessen. Anschließend drehte ich mich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte an die Zimmerdecke. Ich ließ jede Begegnung mit Niklas vor meinem geistigen Auge Revue passieren, gerade so, als wäre ich versessen darauf, Salz in meine offenen Wunden zu streuen.
Was war ich doch für ein Waschlappen! Was hatte ich denn erwartet? Dass Niklas mir schmachtend zu Füßen sank, nur weil ich ihm bei der Auseinandersetzung gegen die drei Raufbolde beigestanden hatte? Und genau genommen war ich das ja gar nicht gewesen, sondern Nils!
Egal, wie man die Sache betrachtete: es war Blödsinn, sich was vorzumachen – Niklas wollte nichts mit mir zu tun haben, also sollte ich das besser akzeptieren. Irgendwann würde ich schon drüber wegkommen und mich dann hoffentlich beim nächsten Mal wieder in ein Mädchen verlieben, wie es sich gehörte!
Was mir dann noch blieb, war die Ungewissheit wegen Nils. Wo mochte er nur stecken? Das entsprach doch so gar nicht seiner Art, sang- und klanglos zu verschwinden, oder?
Aber wenn er nicht hier bei mir und auch nicht bei Niklas war, wo konnte er denn noch sein? Ich zermarterte mir das Hirn, kam aber auf keinen grünen Zweig und schlief schließlich ein.
Im Traum fand ich mich allein in einer düsteren Nebellandschaft. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, weil ich nicht mal den Boden erkennen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was vor mir lag, oder neben mir, denn ich sah nichts, außer den weichen, weißen Schwaden, die sich mir kalt aufs Gesicht legten, einen feuchten Film auf meiner Kleidung hinterließen und sich in Form winziger Tröpfchen an meinen Wimpern und Augenbrauen niederschlugen, sodass ich sie dauernd mit den Händen wegwischen musste, um wenigstens das bisschen Sicht, das mir geblieben war nicht zu verlieren.
Ich hatte schreckliche Angst, dass sich vor mir plötzlich ein Abgrund öffnen und ich hineinstürzen könnte, weil ich ihn nicht bemerkte. Mein eigener Atem klang hektisch und laut, und mein Rücken war schweißfeucht. Die erhobenen Hände vor mir ausgestreckt tastete ich mich im Schneckentempo vorwärts und wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war.
Plötzlich hörte ich eine leise Stimme. Jemand rief meinen Namen. Ob die Stimme aber nur deshalb so leise war, weil sie vom Nebel gedämpft wurde, oder ob der Rufer weit entfernt war, vermochte ich nicht zu sagen.
Ich blieb stehen, drehte mich im Kreis und horchte angestrengt, von wo die Stimme zu mir drang.
Sie kam mir bekannt vor, ich überlegte, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen – oder besser von den Ohren? - das war doch Nils, der da rief!
„Arno!“ Das kam von links, und ich wandte mich in die entsprechende Richtung.
„Arno!“ Diesmal schien es von rechts zu kommen, und ich machte kehrt. Ein drittes Mal erklang mein Name und schien von irgendwo hinter mir gerufen zu werden. Verwirrt blieb ich stehen.
„Nils? Wo bist Du, Mann?“ rief ich, aber es blieb still.
Ängstlich, aber entschlossen tappte ich in die Richtung, von wo ich ihn das letzte Mal hatte rufen hören, doch wie um mich am Fortkommen zu hindern, zogen sich die Nebelschwaden um mich zusammen, begannen mich zu umwirbeln und schon bald wusste ich nicht mehr, ob ich noch auf dem richtigen Weg war. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, Panik machte sich breit, ich schwankte wild nach allen Seiten, und schließlich fuhr ich mit einem Aufschrei in die Höhe.
Ich saß auf meinem Bett, vor dem Fenster war es dunkel geworden, und aus dem Erdgeschoss drang ein schrilles Klingeln an mein Ohr. Das Telefon!
Schlaftrunken rappelte ich mich auf, stolperte die Stufen hinunter und nahm den Hörer ab.
„Ja?“ Im nächsten Moment war ich so wach, wie man nur irgend sein konnte, denn es war Niklas!
„Arno? Bist Du das? Hier ist Niklas.“ Er klang nicht gerade so, als freue er sich, mit mir zu reden, und ich fragte mich schon, wieso in Gottes Namen er dann überhaupt anrief, aber dieses Rätsel wurde mit seinen nächsten Sätzen gelöst: „Meine Eltern wollen sich bei Euch für die Hilfe gestern bedanken. Sie möchten Euch für übermorgen Abend zum Essen einladen, wenn Ihr noch nichts anderes vorhabt.“
Er schwieg einen Moment, und auch ich wusste nichts Geistreiches beizusteuern. In meinem Kopf ging alles durcheinander, und schließlich sagte ich: „Das ist wirklich nicht nötig. Meine Mutter hätte das für jeden Anderen auch getan, also müsst Ihr Euch keine Umstände machen, wirklich nicht!“
Ich hörte, wie er am anderen Ende tief Atem holte, und dann erwiderte er: „Schon klar! Aber meine Eltern bestehen drauf! Ich könnte auch gut darauf verzichten, aber sie haben mir die Hölle heiß gemacht, weil Du heute so schnell wieder weg warst. Sie glauben, ich hätte Dich rausgeekelt. Jetzt meinen Sie, dieses Essen wäre eine gute Gelegenheit, unsere Missverständnisse auszuräumen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie möchten, dass Ihr übermorgen Abend gegen 19 Uhr kommt, natürlich nur, wenn Ihr Zeit habt?“ fügte er hoffnungsvoll hinzu, und ich machte mir keinerlei Illusionen über die Art der Hoffnung, die dahintersteckte. Er hoffte selbstverständlich, dass ich sagen würde, wir hätten keine Zeit, also beschloss ich, ihm den Gefallen zu tun. Ich wollte ihm meine Gegenwart nun wirklich nicht aufzwingen.
„Ähm, das tut mir leid. Sag´ Deinen Eltern doch bitte, dass es übermorgen nicht geht. Wir haben schon was anderes vor, sorry!“
Ich konnte seine Erleichterung förmlich durchs Telefon hören, und es versetzte mir einen neuerlichen Stich.
Ohne großes weiteres Geplänkel verabschiedeten wir uns, und ich legte auf. Anschließend stand ich noch eine Weile da, die Finger auf dem Telefonhörer und starrte ins Leere.
Das war vermutlich gerade das letzte Mal gewesen, dass ich mit Niklas gesprochen hatte...

Kapitel Acht - Schluss




Am nächsten Tag war der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien, und Nils war noch immer nicht zurück. Nach dem Aufstehen fragte ich mich einen Augenblick lang allen Ernstes, ob ich mir vielleicht alles, was in den letzten Wochen geschehen war, einfach nur eingebildet hatte?
Der Unterricht endete am frühen Mittag, und als ich nach Hause kam, empfing mich meine Mutter mit einer merkwürdigen Miene. Ich kam nicht dazu, mich großartig zu fragen, warum sie so ein Gesicht machte, denn sie überfiel mich, kaum dass ich bei der Haustür drinnen war.
„Warum hast Du Niklas gesagt, wir hätten morgen Abend was vor?“
Ich war gerade dabei, mir die Schuhe auszuziehen und hielt mitten in der Bewegung inne. „Was?“
Etwas Besseres – oder Dümmeres? - fiel mir gerade nicht ein. „Woher weißt Du...?“ setzte ich an, verstummte dann aber. Das Blut war mir in den Kopf gestiegen, und die Hitze meines Gesichts ließ mich ahnen, dass ich gerade verdammt rot geworden war.
„Seine Mutter hat vorhin angerufen und es mir gesagt. Eigentlich wollte sie mit mir einen Alternativtermin für ein Abendessen ausmachen, weil wir ja morgen keine Zeit haben? Ich habe mich dann rausgeredet, von wegen, Du hättest da was verwechselt, und ich hoffe, sie hat es mir abgekauft. Das sind so nette Leute und ich dachte eigentlich, Du verstehst Dich gut mit Niklas? Du weißt doch ganz genau, dass wir nichts vorhaben! Wir haben doch neulich noch davon geredet, dass wir dieses Jahr alle zu Beginn Deiner Schulferien frei haben, weil Papa und ich Resturlaub nehmen müssen! Also wieso sagst Du dann sowas zu Niklas? Und das, nachdem Du Dich am Sonntag geradezu darum gerissen hast, ins Krankenhaus zu fahren und Dich zu vergewissern, dass es ihm gut geht?!“ Sie machte einen Schritt auf mich zu und legte mir die Hand auf den Arm.
„Arno, was ist los mit Dir? Du bist schon die ganze letzte Zeit so merkwürdig. Manchmal stehst Du regelrecht neben Dir! Ist es noch wegen Nils?“
Mit hängendem Kopf stand ich vor ihr, und plötzlich musste ich mit den Tränen kämpfen. Am liebsten hätte ich mich in ihren Arm geworfen und mir alles von der Seele geredet, aber im letzten Augenblick riss ich mich zusammen.
Wozu meiner Mutter so kurz vor Weihnachten einen Schock versetzen?
Es würde sowieso nie etwas daraus werden, und ich hoffte ja immer noch, dass es sich um eine Art vorübergehende Verirrung meinerseits gehandelt hatte, die bald wieder vorbei war.
Ich nickte also, sah ihr allerdings nicht in die Augen dabei und ließ mich von ihr umarmen.
„Ach, Junge!“ sagte sie und wuschelte mir durch die Haare, wie sie es früher immer gemacht hatte, wenn ich Trost suchte. „Das klingt jetzt vielleicht herzlos, aber glaub´ mir – es stimmt, wenn man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Nils war Dein bester Freund, deshalb darfst Du auch ruhig um ihn trauern! Du weißt, ich habe das neulich schon mal zu Dir gesagt: Friss nicht alles in Dich hinein! Es ist keine Schande um einen Freund zu weinen! Im Gegenteil! Deine Tränen sind wichtig, um das was passiert ist zu verarbeiten!
Und erst wenn Du es verarbeitet hast, kannst Du damit abschließen! Es wird Zeit, dass Du die Vergangenheit hinter Dir lässt! Das heißt ja nicht, dass Du Nils vergessen sollst – und das wirst Du auch nicht – aber wenn er hier wäre und Dich sehen könnte, würde er jetzt vermutlich das Gleiche sagen!“
Hätte ich mich nicht gerade so beschissen gefühlt, hätte ich vermutlich laut gelacht!
Bis vor zwei Tagen war Nils in meinem Leben noch höchst präsent gewesen, und ich bezweifelte, dass er solche Gedanken gehabt hatte …!
Trotzdem war ich meiner Mutter dankbar für ihren Trost und ihren Rat, der mir bewies, dass sie durchaus merkte, wie es mir ging. Das war ein gutes Gefühl, und so brachte ich tatsächlich ein schwaches Lächeln zustande, als ich ein weiteres Mal nickte und meinen Arm ebenfalls um ihre Schultern legte.
Sie drückte mich noch einmal an sich, dann schob sie mich ein Stück weg und sagte: „Was nun morgen Abend angeht – wir fahren selbstverständlich nach Bendorf, und Du kommst mit! Wir werden Werners auf keinen Fall vor den Kopf stoßen und hey? - Wenn Du Dich ein bisschen bemühst, könnte Dir der Abend sogar Spaß machen, glaubst Du nicht? Niklas und Du seid doch gleich alt! Ich bin sicher, Ihr werdet Euch gut unterhalten!“
Diesen Tonfall kannte ich, er bedeutete schlichtweg, dass sie eine unumstößliche Entscheidung getroffen hatte. Ich ergab mich also in mein Schicksal und nickte. „Ist ja schon gut!“ brummte ich, und sie lächelte.
„Hm. Wenn Du allerdings morgen Abend so ein Gesicht machst, ist es vielleicht doch besser, wir lassen Dich hier? Nicht, dass Du uns noch blamierst!“
Das war allerdings nicht ernst gemeint, soviel war mir klar, und ich verstand es auch mehr als Mahnung, mich nicht so miesepetrig zu präsentieren. Was blieb mir also übrig? Ich würde eben - wie Niklas es ausgedrückt hatte - gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, irgendwie würde ich das schon hinkriegen. Es war ja nur ein Abend!


Als ich einen Tag später im Wagen meiner Eltern saß und wir uns Bendorf näherten, war ich mir da allerdings nicht mehr so sicher. Ich hatte mächtig Herzklopfen und ein heftiges Ziehen in der Magengegend, wenn ich daran dachte, dass ich gleich Niklas wiederbegegnen würde.
Verdammt! Ich hätte Kopfschmerzen vorschützen sollen, oder Maul-und-Klauen-Seuche, irgendwas halt, was mich auf jeden Fall daran hinderte das zu tun, was ich gerade tat – nämlich sehenden Auges in eine Katastrophe zu rennen!
Denn eine Katastrophe musste es werden, ganz sicher! Aber nun war ich auf dem Weg und es gab nichts mehr, was ich tun konnte, außer die Zähne zusammen zu beißen und darauf zu hoffen, dass der Abend schnell vorüber war.
Auf dem Reiterhof herrschte nur noch wenig Betrieb, als wir ausstiegen, fuhren gerade zwei Autos vom Hof, und aus den Ställen drangen nur wenige, gedämpfte Geräusche. Gerade als mein Vater den mitgebrachten Blumenstrauß und die Flasche Wein vom Rücksitz nahm, kam Herr Werner aus dem Stalltor. Er sah uns, kam auf uns zu und streckte als Erstes meiner Mutter lächelnd die Hand entgegen, danach begrüßte er meinen Vater und mich.
„Das ist aber schön, dass es doch noch geklappt hat! Bitte, kommen sie doch mit ins Haus! Ich gehe mich nur rasch duschen, und dann können wir sicher essen! Meine bessere Hälfte hat mich aus der Küche gescheucht, aber es riecht schon seit Stunden so gut, ich bin sicher, sie hat sich wieder selbst übertroffen! Sie genießt es immer, wenn sie mal Gelegenheit hat, sich am Herd auszutoben, denn sie kocht und backt leidenschaftlich gern. Nur hat sie leider selten Zeit dafür. Der Hof und ihre Arbeit, verstehen Sie?“
Unterdessen waren wir bei der Haustür angelangt, und Herr Werner zückte einen Schlüsselbund, schloss auf und geleitete uns nach drinnen.
Dort fand das Begrüßungsritual seine Fortsetzung, Niklas` Mutter tauchte aus der Küche auf, von wo es wirklich verdammt gut duftete, die Blumen und der Wein wurden überreicht und man tauschte Nettigkeiten aus. Währenddessen hielt ich verstohlen nach Niklas Ausschau, aber er ließ sich nicht blicken.
Schließlich wurden wir ins Wohnzimmer komplimentiert und gebeten, in der Sitzecke Platz zu nehmen. Gleich darauf verschwand Herr Werner noch einmal, nachdem er unsere Wünsche bezüglich Getränken erfragt hatte, und wir blieben allein zurück.
Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, hinüber zu dem festliche gedeckten Esstisch und dem Weihnachtsbaum, der bereits geschmückt in einer Ecke des Raumes stand. Er war mit silbernen und weißen Kugeln, sowie Lametta und Silbersternen behangen, sodass er aus einiger Entfernung aussah, als wäre er mit Schnee überstäubt.
Bei uns zuhause wurde der Baum immer erst am Heiligen Abend geschmückt, und meine Eltern hatten eine deutliche Vorliebe für die Farben rot und gold. Trotzdem gefiel mir der Wernersche Baum, er wirkte schlicht und doch überaus feierlich und passte einfach perfekt in dieses rustikale Heim.
Ich war so vertieft in die Betrachtung des Baumes gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie Herr Werner mit den Getränken zurückgekehrt war. Erst als meine Mutter neben mir sich höflich bedankte, hob ich den Blick und starrte unvermutet direkt in Niklas` blaue Augen.
Er hielt mir mein Mineralwasser entgegen und wartete stumm, dass ich ihm das Glas abnahm, was ich auch umgehend tat. In seiner Miene konnte ich nicht lesen und beeilte mich, rasch woanders hin zu sehen.
Anschließend verließ er das Wohnzimmer wieder und ließ mich mit meinem Gedankenkarussell zurück.
Ich sah ihn erst wieder, als das Essen aufgetragen wurde, denn da legten er und sein Vater mit Hand an und schleppten Schüsseln mit Kartoffeln, Gemüse und Salat herein.
Bemüht, ihn nicht anzustarren tat ich es meinen Eltern gleich, stand auf und suchte mir einen Platz am Tisch, der hoffentlich möglichst weit von seinem entfernt lag. Doch da sah ich mich getäuscht, denn sein Vater neben mir sah plötzlich zu Niklas, stand noch einmal auf und meinte lächelnd zu seinem Sohn: „Weißt Du was? Setz´ Du Dich heute mal auf meinen Platz, hm? Dann sitzt Ihr Jungs doch wenigstens nebeneinander und könnt Euch unterhalten, wenn Euch das Geschwätz der Erwachsenen auf den Wecker geht!“
Er meinte es zweifellos gut, das ließ schon allein sein aufmunternder Blick ahnen, den er mir zuwarf, aber ich schwitzte während der gesamten Mahlzeit Blut und Wasser. Niklas schwieg eisern, und ich mochte ihn auch nicht ansprechen.
Meine Mutter hatte keine solchen Hemmungen – wieso auch? - und fragte ihn bald über alles mögliche aus, angefangen über sein körperliches Befinden nach dem Sturz, über die Schule, Hobbies und sogar über seine Pläne für die Zukunft. Er antwortete stets höflich und lächelte sogar gelegentlich, was mein inneres Gleichgewicht noch mehr ins Wanken brachte. So dicht bei ihm zu sein, seine Hand nur Zentimeter von meiner entfernt auf dem Tisch, das diente nicht gerade dazu, mich zu entspannen.
Aber ich machte natürlich überhaupt nichts.
Niklas war sowieso schon wütend genug auf mich, und abgesehen davon, war es bestimmt keine gute Idee, zwei Tage vor Weihnachten im Hause Werner für einen Eklat zu sorgen!
Heimlich warf ich immer wieder kurze Blicke auf die Standuhr, die in der Ecke vor sich hin tickte und seufzte jedesmal innerlich, wenn sich der Zeiger wieder nur um Minuten weiterbewegt hatte, anstatt um die von mir gefühlten Stunden.
Das Essen war wirklich hervorragend, zumindest vermutete ich das, denn ich war viel zu nervös, um viel zu schmecken. Vermutlich hätte man mir gequirlten Froschlaich vorsetzen können, und ich hätte es nicht mal gemerkt. Den gab es allerdings nicht, dafür aber einen köstlichen Krustenbraten, dazu Kartoffeln, Gemüse in einer rahmigen Soße mit leichter Weinnote und einen roten Blattsalat mit fruchtiger Vinaigrette.
Meine Eltern und die von Niklas schienen sich wunderbar zu unterhalten, bald wurde die zweite Flasche Wein geöffnet, und als meine Mutter mit einem Seitenblick auf meinen Vater meinte, das sei aber mehr als genug, schließlich müssten wir noch mit dem Auto nach Hause fahren, winkte Herr Werner großzügig mit der Hand ab und lud uns alle Drei kurzerhand zum Übernachten ein.
„Das heißt, wenn Sie nichts Dringendes vorhaben, morgen früh?“
Meine Eltern sahen sich überrascht an, und mein Vater meinte zögernd: „Ach, das ist wirklich nicht nötig! Wir wollen Ihnen doch keine Umstände machen!“
„Aber woher!“ mischte sich nun Frau Werner ein. „Das sind doch keine Umstände! Ein Gästezimmer steht immer bereit, falls mal mit einem Pferd was ist und der Eigentümer über Nacht bleiben möchte, und Arno kann doch in Niklas´ Zimmer schlafen! Niklas hat eine aufblasbare Zusatzmatratze und auch einen Schlafsack, das ist also kein Problem! Ich leihe Ihnen Nachtwäsche, und Arno kann von Niklas einen Pyjama anziehen. Genug neue Zahnbürsten sind auch im Haus, also – was meinen Sie?“
„Also, ich weiß nicht …?“ Noch schien meine Mutter nicht ganz überzeugt, doch da spielte Herr Werner seinen letzten Trumpf aus: „Sie haben doch letztens erzählt, dass sie als Mädchen so gern geritten wären! Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen, sozusagen als Danke Schön für Ihre Hilfe für Niklas, gratis Reitstunden gebe? Sie könnten es gleich morgen früh mal ausprobieren, und wenn sie glauben, dem gewachsen zu sein, steigen Sie in meinen Anfängerkurs ein? Wie wär´s?“
Die Augen meiner Mutter begannen zu glänzen, und ich sah, wie sie mit sich kämpfte. Sie wechselte einen Blick mit meinem Vater und der nickte nur. Ich saß währenddessen da wie erstarrt, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass es Niklas nicht besser zu gehen schien. Die Begeisterung war uns beiden vermutlich ins Gesicht geschrieben, aber leider merkte das niemand, und falls doch, dann störte sich jedenfalls keiner daran.
Ich sollte hier bei Werners übernachten? Noch dazu in einem Zimmer mit Niklas?
Allein schon bei der Vorstellung wurde mir ganz blümerant. Aber die Erwachsenen hatten schon entschieden, und es war abgemacht. Noch einmal wurde Wein nachgeschenkt, die Gespräche plätscherten dahin und spülten über mich hinweg, bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt. Ich musste sofort hier raus, sonst würde ich verrückt.
Von Niklas neben mir strahlte eine solche Eiseskälte aus, dass ich glaubte, sie körperlich spüren zu können, und ich stand hastig auf, ließ mir von Frau Werner den Weg zur Toilette erklären und verließ fluchtartig den Raum.
Natürlich hatte ich nicht vor, zur Toilette zu gehen, sondern nur einen Vorwand gesucht, um unauffällig verschwinden zu können.
Gleich darauf hatte ich mir in der Diele meine Daunenjacke geschnappt und schlüpfte leise aus der Haustür ins Freie.
Es war eine frostklare Nacht. Am Himmel standen Milliarden Sterne und schimmerten, der Mond war nur eine schmale Sichel, weit im Westen, und mein Atem stand als dichte, weiße Wolke vor meinem Mund, als ich einen abgrundtiefen Seufzer ausstieß.
Ich steckte die Hände in die Taschen und ging die Treppe hinunter auf den Hof. Mittlerweile stand nur noch unser Auto und das der Werners da, der Scheinwerfer über dem Stalltor war erloschen, und auch in den Ställen war alles dunkel und still. Mit hängendem Kopf trat ich ans Hoftor und lehnte mich mit dem Rücken an einen der Pfosten.
Den Kopf in den Nacken legend sah ich nach oben und suchte mit den Augen das Wintersternbild, den Orion, und gerade als ich ihn gefunden hatte, zischte eine Sternschnuppe für Sekundenbruchteile über den Himmel, bevor sie wieder erlosch.
Ich schloss die Augen und wünschte mir … ja, was? Was sollte ich mir wünschen? Dass Niklas nicht mehr so kalt zu mir war? Das wir Freunde werden konnten, oder sogar...?
Oder vielleicht einfach, dass Nils wieder da wäre?
Nicht als Geist, sondern als atmender, lachender, fühlender Mensch?
Ich wusste es nicht, aber beim Gedanken an Nils stiegen mir plötzlich die Tränen in die Augen.
Verdammt noch eins! Seit Neuestem hatte ich aber mehr als nah am Wasser gebaut?!
Vielleicht hatte meine Mutter doch recht, und ich musste jetzt endlich anfangen, den Verlust meines besten Freundes zu verarbeiten? Dadurch, dass er die ganze Zeit für andere unsichtbar in meiner Nähe gewesen war, hatte ich gar nicht so recht trauern können, und nun, wo er plötzlich verschwunden war, begann ich erst zu realisieren, was sein Tod bedeutete.
Ein Scharren erklang, und ich fuhr herum. Jemand kam aus Richtung des Hauses zum Tor herüber, und ich wischte mir rasch übers Gesicht. Das fehlte noch, dass meine Mutter mich jetzt hier heulend vorfand!
Ich hatte angenommen, dass sie es sein würde, denn für gewöhnlich hatte sie sehr feine Antennen dafür, wenn etwas nicht stimmte, doch als ich mich jetzt von dem Pfosten abstieß und mich umdrehte, war es Niklas` Umriss, der sich aus der Dunkelheit schälte.
Ich blieb überrascht stehen und wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, doch er kam mir zuvor.
„Hier bist Du also!“ meinte er, klang zwar ernst, aber nicht mehr so kalt wie zwei Tage zuvor. „Meine Mutter meint, ich sollte mit Dir zusammen schon mal Dein Nachtlager einrichten. Als ich Dich im Haus nicht gefunden habe, ist mir aufgefallen, dass Deine Jacke fehlt, also dachte ich mir, Du bist vielleicht hier draußen irgendwo.“
fügte er als Erklärung an und schob ebenfalls seine Hände in die Taschen seines Anoraks.
Ich nickte und murmelte meine Zustimmung. Als er sich wortlos umwandte, um zurück ins Haus zu gehen, schob ich ein „Tut mir leid!“ nach, und er drehte sich überrascht um.
„Was tut Dir leid?“ Ich konnte sein Gesicht im Finstern nicht richtig erkennen, und darum wusste ich nicht, ob er sauer war, denn an seiner Stimme war es nicht auszumachen, also hob ich die Schultern und meinte leise: „Alles, glaub´ ich.“
Darauf blieb es eine Weile still. Irgendwo bellte ein Hund, und aus dem Stall drang ein gedämpftes Poltern.
Schließlich ergriff er wieder das Wort: „Lass´ uns ein Stück spazieren gehen, okay?“
Ohne eine Antwort abzuwarten trat er auf die Straße und marschierte los. Nach ein paar Metern blieb er stehen und sah zurück. „Was ist? Kommst Du?“
Mit gemischten Gefühlen folgte ich ihm, und er wartete, bis ich gleichauf mit ihm war. Beklommen wartete ich ab, ob und was er sagen würde, war gefasst auf Vorwürfe, doch stattdessen schwieg er einfach nur.
Der Boden unter unseren Füßen war hart gefroren, und weil wir auf dem Feldweg unterwegs waren, der nach ungefähr hundert Metern aus dem Dorf heraus führte, war das einzige Geräusch das Knirschen der gefrorenen Grashalme unter unseren Sohlen.
Als die letzten Häuser längst hinter uns in der Dunkelheit zurückgeblieben waren, fragte Niklas plötzlich: „Ist Nils eigentlich wieder aufgetaucht?“
Nun war es an mir, überrascht zu sein. „Nein. Keine Ahnung, wo er steckt. Aber manchmal fange ich an, mich zu fragen, ob ich mir das nicht nur eingebildet habe, das mit Nils als Geist, meine ich. Vielleicht bin ich – keine Ahnung – geisteskrank, oder sowas?“
Das sollte ein Scherz sein, doch er gab völlig ernst zurück: „Wenn Du geisteskrank bist, dann bin ich es wohl auch? Immerhin habe ich Nils auch gesehen und mit ihm gesprochen, und mir wäre neu, dass Geisteskrankheit ansteckend ist!“
Wieder schwiegen wir lange Minuten.
„Kann ich Dich was fragen?“ kam es auf einmal leise aus der Dunkelheit, und ich sah erstaunt zur Seite.
„Ja, klar. Was denn?“ erwiderte ich, erfreut über seine plötzliche Zugänglichkeit.
„Naja, Du weißt doch noch, an dem Tag, als ich Dich wegen Nils hergeholt habe?“
„Hmhm.“ Ich nickte.
„Da hat Nils doch Deinen Körper benutzt, um mich ...“ er brach ab, und mir schoss die Verlegenheitsröte ins Gesicht.
„Ja, ich weiß.“ nuschelte ich.
Neuerliches Schweigen folgte, aber ich spürte, dass Niklas mit seiner nächsten Frage kämpfte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was jetzt kam. Endlich gab er sich einen Ruck und blieb stehen.
„Wie war das eigentlich für Dich? Dieser Kuss, meine ich?“
Täuschte ich mich, oder war sein Gesicht im schwachen Sternenlicht dunkler als vorher?
Ich kratzte mich am Kopf. Was sollte ich jetzt darauf antworten?
„Warum willst Du das wissen?“ konterte ich stattdessen mit einer Gegenfrage.
Ich sah, dass er mit gesenktem Blick die Achseln hob.
„Ich wüsste es eben gern.“
Ich atmete tief ein und aus und sah zurück Richtung Bendorf, als könnten mir die hell erleuchteten Fenster der Häuser sagen, was ich antworten sollte. Wieso fragte er mich das jetzt überhaupt? Was spielte es für ihn für eine Rolle, was ich bei diesem Kuss empfunden hatte?
„Naja, ...“ begann ich zögernd, „zuerst war ich wohl viel zu überrascht um irgendwas zu fühlen. Dann, … ich weiß nicht...“ Ich mochte mich nicht festlegen, nicht jetzt, hier und in Niklas´ Gegenwart.
„Als ich in der sechsten Klasse war,“ sagte Niklas plötzlich, „da haben sich so ein paar Blödmänner einen Spaß draus gemacht, mich als Schwuchtel zu hänseln.“ Er stockte, und ich merkte, dass es ihm schwerfiel, darüber zu reden. Daher schwieg ich und hütete mich, ihm zu verraten, dass ich die Geschichte, die jetzt vermutlich kam schon kannte.
„Eines Tages haben sie mich in der Schultoilette nackt ausgezogen und gefilmt. Es hat einen ziemlichen Skandal gegeben, und ich bin danach auf eine andere Schule gekommen. Ich erzähle Dir das, damit Du meine Reaktion an diesem Tag mit Nils verstehst! Außer mit meinen Eltern habe ich noch mit niemandem darüber geredet – abgesehen von Anna und jetzt Dir.“
Anna! Da war sie wieder.
Einen trügerischen Moment lang hatte ich sein Vertrauen genossen, und das Herz war mir aufgegangen, angesichts seines Vertrauens, doch prompt landete ich wieder sehr unsanft in der Realität.
„Ihr steht Euch wohl sehr nah? Du und Anna?“ hörte ich mich fragen, in einem lahmen Versuch, etwas mehr über das Verhältnis der Beiden zueinander heraus zu finden.
„Naja,“ er zuckte die Achseln, „wir kennen uns eben schon sehr lange. Sie reitet genauso gern wie ich und hat ein Pferd bei uns stehen. Wir sind uns wohl sehr ähnlich, jedenfalls kann ich mit ihr über alles reden, viel besser als mit sonst wem.“
Jedes Wort war ein Dolchstoß in mein waidwundes Herz, und schließlich konnte ich mich nicht mehr beherrschen.
„Seid Ihr zusammen?“ platzte ich heraus, und Niklas drehte in einer verwunderten Geste sein Gesicht in meine Richtung.
„Zusammen? Du meinst, ob wir …?“ Einen Moment stutzte er, dann schüttelte er vehement den Kopf.
„Ich und Anna? Nee, das ginge gar nicht! Ich glaube, das käme mir vor, als würde ich was mit meiner Schwester anfangen! Also, nein, wirklich nicht!“
Seine Entrüstung wirkte echt, und ich fühlte, wie mich Erleichterung durchströmte. Das machte mich mutig, und nun stellte ich meinerseits eine Frage: „Warum wolltest Du partout nicht, dass ich herkomme?“
Er antwortete nicht gleich, und als er es tat, war seine Stimme fast unhörbar.
„Weil …., weil ich ...“ wieder zögerte er, „Weil ich diesen verdammten Kuss nicht aus meinem Kopf kriege.“ stieß er schließlich hervor.
Er war stehen geblieben und hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Ich war sprachlos.
Was war das? Er bekam den Kuss nicht aus dem Kopf? Bedeutete das etwa...?
Jetzt hör´ auf Dir was zusammen zu spinnen!

rief ich mich selbst zur Ordnung. Bei seiner Vorgeschichte war es nur normal, dass ihn die ganze Sache mehr als durcheinander brachte und es ihm schwer fiel, sie zu vergessen!
„Tut mir leid.“ murmelte ich, und er hob langsam den Kopf.
„Was tut Dir leid?“ wollte er wissen.
„Dass ich alles so kompliziert für Dich gemacht habe, schätze ich. Ich wollte Nils helfen, aber ich hatte ja keine Ahnung, wohin das führt! Hätte ich geahnt, dass ich ...“ Ups!
Hastig brach ich meinen Satz ab. Beinahe wäre mir etwas herausgerutscht, was besser niemals laut ausgesprochen wurde! Aber Niklas schien nichts gemerkt zu haben.
„Naja, das war ja nicht Deine Absicht, oder?" gab er zurück. "Ich meine, ich glaube nicht, dass Du mit dem Vorsatz hier raus gefahren bist, Nils Deinen Körper zu überlassen, damit er mich küsst!“
Seine Stimme klang seltsam, als er das sagte. Ich schaute zu ihm hinüber, doch das bisschen Helligkeit, das von den Sternen kam, reichte nicht aus, als dass ich sein Gesicht hätte deutlich erkennen können.
„Hey, alles okay?“
Er nickte, doch im nächsten Moment schniefte er und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
„Scheiße!“ fluchte er unterdrückt, und ich erschrak.
Hatte ihn die ganze Geschichte so sehr mitgenommen? Ich fühlte mich schuldig, und gleichzeitig konnte ich mich kaum bremsen, Niklas in meine Arme zu ziehen um ihn zu trösten. Einzig der Gedanke, dass er das wohl kaum als tröstend empfinden und vermutlich dementsprechend reagieren würde, hielt mich davon ab.
„Was ist los? Kann ich was tun?“ fragte ich bedrückt.
Doch er schüttelte erneut den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung.
„Nein. Ist schon gut! Geht gleich wieder!“
Er rang um Fassung und meinte dann mit einem missglückten Lachen: „Jetzt wirke ich echt wie ´ne Schwuchtel, was? So wie ich hier rumheule!“
Ich antwortete lange nicht, und als er es merkte und mich fragend ansah, ging es endgültig mit mir durch.
„Weißt Du, Nils hat neulich zu mir gesagt, dass er auch immer Angst hatte, jemand könnte ihn für ´ne Schwuchtel halten. Er hat seine Gefühle für Dich verheimlicht und erst nach seinem Tod begriffen, dass es nun zu spät war.“ Ich machte eine Pause und sah Niklas ernst ins umschattete Gesicht, bevor ich weiterredete.
„Ich kann ihn verstehen. Dass er Angst gehabt hat, meine ich. Ich hab´ auch Angst, eine Scheißangst sogar! Seit Nils mich in diese ganze Sache reingezogen hat, hab´ ich mich verändert. So sehr verändert, dass ich manchmal morgens in den Spiegel sehe und nicht mehr sicher weiß, ob ich das bin! Aber ich will definitiv nicht eines Tages aufwachen und feststellen, dass ich aus Feigheit etwas verloren habe, was wunderschön hätte sein können!“
Ich lief zusammen mit meinem Mundwerk auf Autopilot, und plötzlich war es mir scheißegal, ob ich mich hier um Kopf und Kragen redete, oder nicht! Es musste endlich raus aus mir!
„Du sagst, Du kriegst den Kuss nicht mehr aus Deinem Kopf! Es tut mir leid, wenn Dich das so verstört hat! Es tut mir auch wahnsinnig leid, was diese bescheuerten Typen in Deiner alten Schule mit Dir gemacht haben! Aber ich kann diesen Kuss auch nicht vergessen! Ich würde es gern, das kannst Du mir glauben, denn ich sehe ja, wie sehr Dich das belastet, aber gleichzeitig möchte ich es auch nicht, denn dieser Kuss war das Schönste, was ich je erlebt habe! Du wolltest wissen, wie ich es empfunden habe – jetzt weißt Du es. Und jetzt kannst Du mich meinetwegen anschreien, schlagen oder zum Teufel jagen. Ich habe es Dir jedenfalls gesagt und das macht mich glücklich, egal was jetzt passiert!“
Ein wenig atemlos verstummte ich und drehte ihm den Rücken zu. Ich fühlte mich ein bisschen, als wäre ich ein Ballon, dem gerade die Luft ausgegangen war und wollte nicht sehen, wie er auf mein Geständnis reagierte.
Vermutlich würde er ohnehin gleich kehrtmachen und abhauen. Der Gedanke tat schon weh, aber gleichzeitig war ich froh, ihm gesagt zu haben, wie es um mich stand.
Ich horchte auf seine Schritte, die sich bestimmt gleich von mir entfernen würden, doch alles blieb still.
So still, dass ich mich umdrehte, in der Erwartung, Niklas hätte sich in Luft aufgelöst.
Aber er stand noch an der gleichen Stelle wie vorher, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf.
„Du fandest den Kuss schön?“ wisperte er leise, und ich bejahte.
„Und Du?“ wagte ich zu fragen.
Er hob ein weiteres Mal die Schultern. „Weiß nicht.“ erwiderte er.
Niklas wirkte überhaupt nicht so, als würde er gleich weglaufen, und ich schöpfte ein klitzekleines bisschen Hoffnung. Zögernd machte ich einen Schritt auf ihn zu und registrierte mit jagendem Puls, dass er nicht zurückwich. Innerlich zitterte ich wie Espenlaub, und mein Mund war so trocken, dass ich die nächste Frage kaum herausbrachte: „Willst Du es vielleicht nochmal probieren? Nur um Dich zu entscheiden, wie Du es findest?“
Er schaute zu mir hoch, und in seinen Augen brach sich das Licht der Sterne. Er sagte nichts, blieb aber stehen, und ich machte noch einen Schritt nach vorn. Jetzt standen wir so dicht zusammen, dass ich den Kopf etwas senken musste, um ihn anzusehen, denn er war ein wenig kleiner als ich.
Und plötzlich machte er etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte: er schloss die Augen.
Mein Herz schien einen Schlag zu überspringen und jagte dann in gestrecktem Galopp, als gelte es einen Marathon zu gewinnen. Ich schluckte und gleich darauf machte ich auch die Augen zu, beugte mich noch ein bisschen weiter nach vorn und küsste ihn.
Es war vermutlich der unschuldigste Kuss, der jemals irgendwo auf der Welt getauscht wurde. Nur kurz berührten sich unsere geschlossenen Lippen und doch durchzuckte es mich, wie ein Stromschlag. Unsere Gesichter fuhren auseinander, wir öffneten die Augen, und ich konnte ihm ansehen, wie er mit sich kämpfte. Im nächsten Moment wurden wir aber wieder zueinander gezogen, als wäre Magnetismus im Spiel. Unsere Lippen trafen sich wieder und diesmal wollten wir beide mehr.
Keine Ahnung, wer als Erster den Mund öffnete und die Zunge ins Spiel brachte, aber das spielte auch keine Rolle, denn nur Augenblicke später standen wir engumschlungen auf dem nächtlichen, eiskalten Feldweg und küssten uns völlig selbstvergessen. Immer wieder lösten wir uns kurz voneinander, sahen uns beinahe ungläubig an und küssten uns dann erneut.
Endlich, nach einer Zeitspanne, die gleichzeitig eine Ewigkeit und ein Augenblick zu sein schien, trennten wir uns, und ich zog Niklas in meine Arme.
„Und?“ fragte ich leise. „Wie fandest Du es?“
Er schob sich ein Stück von mir weg und sah zur Seite. „Ja, ist ganz okay, glaub´ ich.“
Es war seiner Stimme anzuhören, dass es ihm peinlich war. Wenn ich jetzt etwas Falsches sagte, konnte ich alles kaputtmachen, soviel verstand ich.
„Also, ich fand es mehr als okay.“ sagte ich leise. „Ich fand es schön, wunderschön!“
Er sah mich an, und in seinen Augen glomm Misstrauen. „Meinst Du das ernst?“
Ich nickte, und er entspannte sich ein wenig.
„Ich fand es auch schön.“ gab er zu, und ich konnte nicht verhindern, dass sich ein breites Grinsen auf meine Züge legte. Am liebsten hätte ich ihn erneut in meine Arme gezogen und abgeküsst, aber mir war klar, dass ich ihn nicht bedrängen durfte.
„Hör zu, Arno!“ begann er. „Ich brauch´ Zeit! Ich kann das jetzt nicht so einfach entscheiden, verstehst Du? Ich glaube, ich empfinde sehr viel für Dich, auf jeden Fall ist das mehr als Freundschaft, aber ich kann mich nicht so einfach drauf einlassen. Ich meine, wir kennen uns kaum, und ich hab immer noch nicht so richtig kapiert, was da gerade mit mir passiert. Ich ...“
Er suchte nach Worten, und ich legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
„Ist schon okay, Niklas! Ich versteh´ Dich gut! Wir brauchen nichts zu überstürzen, Du hast alle Zeit der Welt, in Ordnung?“
Ein wenig hilflos sah er mich an und nickte dann erleichtert. Anschließend sah er zum Dorf zurück und meinte: „Ich schätze, wir sollten mal so langsam zurückgehen, bevor unsere Eltern noch einen Suchtrupp losschicken, meinst Du nicht?“
Ich pflichtete ihm bei, und so nahmen wir den Rückweg wieder unter die Füße. Es war immer noch lausig kalt, aber irgendwie spürte ich das überhaupt nicht mehr. Mir war wohlig warm und ich schwelgte in der Erinnerung an das, was eben passiert war. Irgendwann fühlte ich, wie Niklas` Finger meine Hand streiften. Sie waren genauso warm wie meine und als sie sich ineinander verflochten dachte ich, ich müsste platzen vor Glück.
Als wir in die Nähe der Häuser kamen, ließen wir einander los, was für einen Moment ein Gefühl des Verlusts in meiner Brust wachrief. Doch nur kurz, denn bevor wir in den Lichtschein der ersten Straßenlampe eintauchten, blieb Niklas stehen, drängte sich an mich und drückte noch einmal kurz seinen Mund auf meine Lippen.
Gleich darauf wich er mit rotem Kopf wieder zurück und eilte dann weiter Richtung Reiterhof.


Wir schliefen beide nicht sehr viel in dieser Nacht. Niklas lag in seinem Bett und ich auf dem Fußboden davor, auf der aufblasbaren Matratze und in einem warmen Schlafsack. Wir redeten viel, und irgendwann rutschte Niklas bäuchlings an die Bettkante. Er streckte die Hand in meine Richtung, und mit klopfendem Herzen hielt ich sie fest, überzeugt davon, niemals wieder einschlafen zu können.
Irgendwann musste ich aber doch eingeschlafen sein, denn plötzlich fand ich mich wieder in meinem Nebeltraum von vor zwei Tagen.
Nils` Stimme rief meinen Namen, und ich tastete mich unsicher voran, genau wie beim letzten Mal. Wie beim ersten Mal begann der Nebel sich zu verdichten und zu wirbeln, doch gerade als ich erneut am Rande einer Panik stand, lichteten sich die Schwaden auf einmal, und ich erkannte, wo ich mich befand.
Es war der Friedhof, auf dem Nils begraben lag, und sein Grabhügel war nicht weit entfernt.
Obwohl noch Sekunden zuvor dichter Nebel geherrscht hatte, stand ich jetzt im strahlenden Sonnenschein, der sich in Myriaden funkelnder Eiskristalle brach, welche der Frost auf jede Oberfläche gezaubert hatte.
Ich sah mich um und da stand er – Nils!
Ich eilte auf ihn zu, und als ich bei ihm angelangt war, legte ich erleichtert die Arme um ihn. Er erwiderte die Geste und grinste dabei, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihn etwas bedrückte.
„Wo bist Du gewesen? Ich hab´ mir solche Sorgen um Dich gemacht! Du kannst Doch nicht einfach so verschwinden, ohne ein Wort!“ sprudelte ich hervor, und er zog sich ein Stückchen zurück.
„Naja,“ er fuhr sich durchs Haar, was irgendwie merkwürdig aussah, dann schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans, „so wie´s aussieht, habe ich meine Aufgabe erfüllt. Nicht unbedingt mit Glanz und Gloria, aber immerhin. Ich werde also jetzt weitergehen, Arno!“
Ich konnte nicht sofort einordnen, was er damit meinte und starrte ihn zunächst reichlich blöde an. Dann jedoch sickerte die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte in mein Bewusstsein, und ich war geschockt.
„Jetzt schon? Das … das … das kann nicht sein! Ich meine, ich bin doch … wir sind doch noch nicht … !“
Ich spürte, wie mir die Tränen kamen. „Geh´ noch nicht, Nils, bitte! Wir sind doch Freunde! Lass´ mich nicht allein!“
Jetzt weinte ich richtig, die Tränen schienen mir förmlich aus den Augen zu schießen, meine Nase lief, und das Schluchzen schüttelte mich, wie der Sturm einen alten Baum schüttelt.
„Es tut mir leid, Arno, aber ich kann es nicht ändern! Meine Zeit ist um, und ehrlich gesagt, bin ich froh, dass mein Geisterdasein jetzt ein Ende hat! Nicht, weil es mir Spaß macht, Dir Schmerz zuzufügen, aber weil ich endlich dahin komme, wo ich jetzt hingehöre, verstehst Du? Ich bin auch nur noch hier, weil ich mich bei Dir bedanken will! Du bist echt ein wahrer Freund! Aber Du musst Dein Leben weiter leben und ich muss gehen!“
Er drückte mich an sich, wie er es zu Lebzeiten nie getan hatte.
„Und außerdem bist Du doch nicht allein, oder?“ fuhr er fort. Ich sah zu ihm hoch, und er grinste spitzbübisch übers ganze Gesicht. Das sah schon mehr nach Nils aus, und ich konnte nicht anders, als sein Grinsen zu erwidern.
„Ja, da hast Du recht.“ schniefte ich, und in diesem Augenblich begann Nils sich von mir zu entfernen, als würde er von irgendwo angesaugt. Ich streckte die Hände nach ihm aus, konnte ihn aber nicht erreichen und das Verlustgefühl überfiel mich erneut mit ganzer Härte, ich weinte und wollte ihm folgen.
„Nils!“ hörte ich mich noch selbst rufen, und dann schreckte ich hoch, wusste nicht, wo ich war und ruderte wild und desorientiert mit den Armen, bis ich merkte, dass mich jemand hielt. Und nicht nur irgendjemand, nein, es war Niklas, der aus dem Bett geklettert war und die Arme um mich gelegt hatte.
Ich spürte Nässe auf meinen Wangen und begriff, dass ich nicht nur im Traum geweint hatte.
Langsam beruhigte ich mich, und dazu trug Niklas` Nähe nicht unerheblich bei.
Als mein Herzschlag wieder auf eine normalere Frequenz gesunken war fragte er: „Was war denn? Du hast plötzlich angefangen zu weinen und nach Nils gerufen! Hast Du schlecht geträumt?“
Ich brauchte noch einen Moment, um die Traumbilder zu sortieren, dann sah ich Niklas ins Gesicht und sagte: „Nils ist weg, und er kommt auch nicht wieder.“ Sein Blick wurde zweifelnd, also erzählte ich ihm, was ich geträumt hatte. Danach atmete er tief auf und schüttelte langsam den Kopf.
„Also, nimm´ mir das nicht übel, aber das ist echt typisch Nils. So ein dramatischer Abgang! Pff!“ sagte er. Dann wurde er nachdenklich und sein Blick ging ins Leere. "Aber gut, wenn er jetzt gehen kann, findest Du nicht?" Ich nickte und er reckte den Hals.
„Wie spät ist es denn eigentlich?“ fragte er, und wir schielten beide auf seinen Wecker. Der zeigte zwei Uhr früh an, und plötzlich wurde mir bewusst, dass wir beide auf meiner Matratze lagen, dicht aneinander geschmiegt.
Ihm schien der gleiche Gedanke gekommen zu sein, denn er wurde mit einem Mal rot und sah weg, machte aber keine Anstalten wieder in sein Bett zurückzukehren. Behutsam streckte ich die Hand aus, legte sie in seinen Nacken und zog ihn zu mir heran. Er widerstrebte nicht, und gleich darauf berührten sich unsere Lippen.
Er öffnete bereitwillig den Mund, und mir wurde schwindlig, als ich seine Zunge spürte.
„Weißt Du,“ flüsterte er in mein Ohr, als wir uns voneinander lösten und stattdessen in eine innige Umarmung fielen, „ich denke, Nils hat recht!“
„Womit?“ Ich hob das Gesicht und sah ihn fragend an.
„Na, damit dass Du nicht allein bist!“ Wieder wurde er rot, und ich drängte mich dichter an ihn.
„Du aber auch nicht!“ wisperte ich zurück, und wir blieben zusammen auf der Matratze liegen. Niklas zerrte seine Bettdecke vom Bett und deckte uns beide damit zu, wobei ich ja auch noch im Schlafsack steckte. So aneinandergekuschelt schliefen wir wieder ein, dem nächsten Morgen entgegen.
Noch wussten wir nicht, was die Zukunft für uns bereithielt, aber was es auch war, irgendwie hatte ich das Gefühl, alles wäre möglich, solange wir zusammen waren...

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Tag der Veröffentlichung: 06.02.2012

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