Wo fängt die Liebe an? Und wo endet sie?
Als ihre Liebe endete, saßen sie im Wagen, auf dem Weg zu seinem Appartement, und im Radio spielten sie Whitney Houston mit „I will always love you“.
Während die Stimme der Sängerin das Wageninnere füllte, drehte sie das Gesicht zur Seite, damit er nicht sehen sollte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, die sie hastig wegblinzelte. Plötzlich wusste sie glasklar: Es war vorbei. So, als wäre sie schlagartig nüchtern geworden, oder als hätte jemand mit einem Ruck den Vorhang beiseitegerissen, der die Sicht auf eine Trümmerlandschaft gnädig verdeckte.
Dabei hatte es so wundervoll begonnen, vor fast genau zwei Jahren.
Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt – sie war Krankenschwester, er Medizinstudent. Als sie sich das erste Mal begegneten, während ihres Nachtdienstes, hatte er augenblicklich eine Charmeoffensive gestartet, die nicht ohne Wirkung auf sie geblieben war, obwohl er eigentlich nicht unbedingt ihrem Typ entsprach. Und noch bevor sie sich die Frage stellte, ob er etwa mit ihr flirtete, erwiderte sie seine Avancen bereits. Als er sie dann nach Beendigung des Nachtdienstes ins Kino einlud, sagte sie ohne zu zögern Ja.
Sie wusste selbst nicht genau, was sie sich davon versprach, als sie mit klopfendem Herzen und wirbelndem Kopf zu der Verabredung fuhr, aber so wie er hatte sich noch nie jemand um sie bemüht. Das schmeichelte ihr und nahm sie bereits für ihn ein. Und als er später im dunklen Kinosaal ihr Gesicht zu sich herumdrehte und sie küsste, schien ihr das Herz fast aus der Brust springen zu wollen. Überhaupt taten sie an diesem Abend nicht mehr viel anderes, als sich immer wieder zu küssen und zu umarmen, so als wollten sie sich vergewissern, dass es kein Märchen war, sondern Wirklichkeit.
Alles nahm danach seinen Lauf, sie lernte schließlich seine Familie kennen, er die ihre, irgendwann zog er sogar zu ihr, in ihr Elternhaus, wo er freundlich willkommen geheißen wurde.
Seine Eltern und Großeltern behandelten sie als zukünftige Schwiegertochter, stellten sie auch so bei sämtlichen Freunden und Verwandten vor, und auch er redete immer wieder von einer Zukunft, wo sie beide verheiratet waren, schmiedete Pläne und träumte von gemeinsamen Kindern.
Doch dann änderte sich das Klima, schleichend und fast unbemerkt. Er schwärmte plötzlich von anderen Frauen, wie schön oder klug oder beides sie doch waren, scheinbar ohne sich etwas dabei zu denken, und ohne dass er merkte, wie sehr sie das verletzte. Aber sie schwieg und hoffte.
Dann nahte ein weiterer Jahreswechsel. Sie hatte ihren Dienstplan auf seinen abgestimmt, doch in letzter Minute überraschte er sie damit, dass er alles umgestellt hatte und nach Hause zu seinen Eltern fahren würde.
Silvester würde sie allein verbringen müssen.
Sie war verstimmt und er genervt.
Nur kurze Zeit später eröffnete er ihr, dass er sich ein Zimmer in einem Studentenwohnheim genommen habe, vorgeblich um ungestörter lernen zu können, da sein Abschlussexamen näherrückte. Da fragte sie ihn das erste Mal, ob er die Beziehung beenden wolle, doch er wehrte heftig ab.
Sie glaubte ihm, denn sie wollte es glauben, wollte nicht, dass ihr gemeinsames Märchen zu Ende ging.
So kam es, dass sie von da an nach der Arbeit regelmäßig zu ihm ins Wohnheim fuhr. Aber die Wärme und Vertrautheit, die zwischen ihnen geherrscht hatte, war verschwunden. Es war, als hielten sie eine Fassade aufrecht, ohne sich zu fragen wieso überhaupt. Fast schon so, als hätten sie Heirat, Kinder und ein ganzes Eheleben übersprungen und wären bereits in dem Stadium angekommen, wo die Kinder das elterliche Nest verlassen haben und die Eltern plötzlich nichts mehr miteinander anzufangen wissen.
Und nun saßen sie schweigend in seinem Wagen, und es war, als hätte das Lied einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt. „I will always love you!“ dachte sie und schluckte den bitteren Geschmack herunter, der sich in ihrer Kehle gesammelt hatte. Ganz egal, wie lange sie jetzt noch zusammen bleiben würden, ein paar Stunden, Tage oder Wochen – es war vorüber, ein für allemal.
Sie waren kein Ganzes mehr, sondern wieder jeder für sich. Wie dicht sie auch zusammenrücken würden, daran war nichts mehr zu ändern.
Es dauerte noch zwei Wochen bis zum endgültigen Bruch. So lange brauchte sie, um ihren Mut zusammen zu nehmen und ihm die Pistole auf die Brust zu setzen. Obwohl er anfangs abwehrte, war ihm die Erleichterung anzumerken, als er endlich zugab, sich von ihr trennen zu wollen.
Spät abends kam sie von dieser letzten Aussprache nach Hause, knochentief erschöpft und mit bleischwerem Herzen.
Am meisten hatte sie mitgenommen, dass er selbst nach ausgesprochener Trennung offenbar nichts dabei gefunden hatte, sie küssen zu wollen - und womöglich noch mehr. Sein leises, verächtliches Lachen, als sie ihn abgewehrt hatte, klang ihr noch im Ohr.
Plötzlich lag die Zukunft vor ihr, wie eine lange, düstere Straße, über die ein kalter Wind pfeift. Alle Gewissheit hatte sich in nichts aufgelöst, und sie sah nicht mehr, wohin das Leben sie führen wollte. Sie fühlte sich wertlos und zu einem Dasein als Mauerblümchen verdammt.
Es dauerte lange, bis sie sich leergeweint und damit auch all ihren Kummer aus sich herausgewaschen hatte.
Doch dann ging es langsam wieder aufwärts. Anfangs musste sie ihren Mundwinkeln Gewalt antun, damit sie sich hoben, doch jedesmal ging es ein bisschen leichter.
Sein Bild begann zu verblassen, und auch als sie erfuhr, dass er hinter ihrem Rücken mit ihren Kolleginnen – und nicht nur mit diesen - geflirtet hatte, tat es nicht mehr wirklich weh. Sie wollte nicht mehr wissen, was sich da im Einzelnen abgespielt hatte.
Es war eine bittere Erfahrung gewesen, doch eine Erfahrung, die sie formte, stärker machte und unabhängiger, so wie der Brennofen den Ton festigt und die Glasur zum glänzen bringt.
Sie erkannte, dass auch sie selbst Schuld gewesen war, an diesem Bruch und der Art, wie er sich vollzogen hatte.
Sie hatte immer nur geschwiegen, ihm alles überlassen und sich oft genug an ihn geklammert. Er war die Sonne gewesen, um die sie gekreist hatte.
Jahre später, sie war längst verheiratet und hatte Kinder, fuhr sie wieder einmal die gleiche Strecke wie damals mit dem Wagen entlang, und im Radio erklang plötzlich das Lied von damals - „I will always love you!“ von Whitney Houston. Lange Zeit hatte sie immer, wenn dieses Lied gespielt wurde, den Sender gewechselt. Doch jetzt lächelte sie und drehte es lauter.
Wann hört die Liebe auf?
dachte sie. Vielleicht dann, wenn wir
endlich loslassen können.
Texte: Cover:
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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012
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