Juli 2014
Der Mann kletterte unter der sengenden Glut der Sonne den Hügel hinauf, wie er es jeden Tag mehrmals tat. Er hatte ein Gewehr dabei, und ein sandfarbener, zottelhaariger Hund folgte ihm. Oben auf der grasbewachsenen, aber baumlosen Hügelkuppe angekommen, ließ er einen aufmerksamen Blick in die Runde schweifen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er in alle Richtungen, auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Doch wie jeden Tag seit mittlerweile über einem Jahr rührte sich nichts, egal wohin er sah. Die ausgedörrte Landschaft lag unverändert wie immer unter der Hitzeglocke des Sommers, und außer den nimmermüden Grillen und den wenigen Fliegen, die um den schweißfeuchten Nacken des Mannes herumschwirrten, war rein gar nichts zu sehen oder zu hören, was er nicht schon ungezählte Male gesehen oder gehört hätte.
Man hatte einen weiten Blick von dort oben, und doch wurde das Auge rasch müde. Die Landschaft war eintönig, sanft auf- und absteigende Hügel, überwuchert von langem, raschelndem Gras, das nur im Frühling für einige kurze Wochen grün war und dann für den Rest des Jahres den Hängen eine gelbliche Farbe gab.
Eine staubige Piste schlängelte sich durch das Blickfeld des Ausschau haltenden Mannes, aber schon als das Fernsehen vor etlichen Monaten aufgehört hatte zu senden, war seit Wochen niemand mehr darüber gegangen oder gefahren.
Die nächste kleine Stadt lag nur wenige Meilen entfernt von seinem einsamen Farmhaus. Er war dort gewesen, nachdem sein Fernseher nur noch ein graues Rauschen von sich gegeben hatte und unversehens in einer Geisterstadt gelandet.
Da hatte er gewusst, dass der rote Tod auch hier Einzug gehalten hatte, auch ohne dass er dem Geruch und dem durchdringenden Summen folgte, die in der Luft lagen und Auskunft gaben über die gefräßige Tätigkeit von Insekten und anderen Aasfressern.
All die Menschen, die er gekannt hatte, waren fort. Tot oder fort, und er war allein.
Er erinnerte sich als wäre es gestern gewesen, wie es sich angefühlt hatte, als ihm dämmerte, was passiert war und was das für ihn bedeutete. Seit Wochen waren die Nachrichten voll gewesen von den Meldungen über diese neue Seuche, die die Menschen dahinraffte, wie die Fliegen und gegen die nichts zu helfen schien.
Anfangs wurden noch beruhigende Parolen gesendet und wichtig dreinblickende Experten vor laufenden Kameras interviewt, wo sie ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die Situation zwar durchaus ernst, aber beherrschbar sei. Als die Wochen vergingen, konnte man jedoch, wenn man genau hinsah und auch auf das achtete, was nicht ausgesprochen wurde, bemerken, dass sich unter all den Experten und Fachleuten allmählich Panik breitmachte.
Man sah Bilder von Massengräbern und schließlich sogar, wie Unmengen an Leichen überall auf der Welt verbrannt oder mit Bulldozern ins Meer geschoben wurden, weil man nicht mehr wusste, wohin damit.
Die Versorgungslage in den Städten wurde eng, die gesamte Infrastruktur der industrialisierten Länder brach schließlich komplett zusammen, und die Menschenwürde war eines der ersten Opfer der immer wieder ausbrechenden Massenhysterien.
Plünderungen und Greueltaten waren offenbar an der Tagesordnung, und doch hatten er und die Menschen der kleinen Stadt, wo er geboren war, das seltsam unwirkliche Gefühl, die ganze Sache beträfe sie nicht wirklich. Sie lebten wie in einer Oase, unter einer Glasglocke oder auf einer einsamen Insel, und obwohl natürlich mehr als einer der Stadtbewohner Angehörige in anderen Landesteilen hatte und deshalb miterlebte, wie alles in sich zusammenstürzte, was man Zivilisation nannte, schien sich das Leben hier nicht zu verändern.
Das Lager des kleinen Drugstores war gut gefüllt, und die meisten Bewohner waren auf die eine oder andere Art Selbstversorger. Landwirtschaft war eine der Haupteinnahmequellen hier, und so kam es, dass sie, während an vielen anderen Orten der Welt Mangel herrschte, genug zu essen hatten.
Der nächste Highway war meilenweit entfernt, und keine Seele verirrte sich auf die staubige Piste, die in dieses abgeschiedene Refugium führte.
Sie hatten alle gewusst, was geschah, aber darüber gesprochen hatten sie nicht, zumindest nicht öffentlich, denn es hätte bedeutet, sich einzugestehen, dass die Welt, die sie kannten und die jeden Tag in Form von bunten Bildern über ihre Mattscheiben flimmerte, im Begriff war unterzugehen.
Als er dann auf der stillen Main Street der kleinen Stadt gestanden und mit klopfendem Herzen dem Konzert der Grillen gelauscht hatte, welches anders als gewöhnlich von keinem anderen Geräusch gestört wurde und auf bizarre Art einem Requiem zu gleichen schien, wurden seine Blicke plötzlich vom Schaufenster des kleinen Diner angezogen, in dem er selbst schon unzählige Male gegessen hatte.
Seit er ein kleiner Junge draußen auf der Farm seiner Eltern gewesen war, war dieser Diner für ihn der Inbegriff der Köstlichkeit. Es spielte keine Rolle, ob die Möbel billig und abgewetzt waren, aus den 50er Jahren stammten und mittlerweile nicht nur so altmodisch waren, dass sie langsam schon wieder modern wurden, sondern auch von einer so dicken Fettschicht überzogen waren, dass jeder Lebensmittelkontrolleur vom bloßen Hinsehen bereits einen Herzinfarkt bekommen hätte. Dougie, der Besitzer und Koch des Diners mit dem einfallsreichen Namen „Dougs Diner“, machte die herrlichsten Burger, die köstlichsten Hot-Dogs, und sirupgetränkte Pfannkuchen, für die man hätte morden können und alle wussten das.
Die Jukebox war seit Urzeiten hinüber und verstaubte in der Ecke, und die einzige Bedienung, Moira, eine mürrische Blondine, die ihre besten Jahre eindeutig schon eine Weile hinter sich hatte, knallte jedem Gast seine Bestellung vor die Nase, als hege sie einen persönlichen Groll gegen ihn.
Trotzdem kamen die Gäste.
So gut wie jeder aus der Stadt ging zumindest einmal am Tag zu Doug, und nun sah es so aus, als wären einige seiner Gäste auch dort gestorben.
Wie hypnotisiert war er näher herangetreten, der makabren Faszination des Grauens erlegen und hatte durch die Scheibe nach drinnen gestarrt, unfähig den Blick abzuwenden.
Zwei Männer und eine Frau saßen an einem der schmierigen Resopaltische und ihrem Aussehen nach zu urteilen, waren sie schon seit einer Weile tot, sodass er nicht hätte sagen können, wer sie waren. Fliegen umschwirrten die aufgedunsenen Körper, und wo einst Augen, Nasen und Münder gewesen waren, befand sich eine wimmelnde Masse an Maden, die den Toten eine seltsame Aura der Lebendigkeit verliehen.
Er hatte hastig einen Schritt nach hinten gemacht, sich dann umgedreht und war ziellos zwischen die Häuser gerannt, kopflos für einen adrenalingetränkten Moment. Erst als er auf etwas Weichem ausrutschte und hinfiel, hielt er inne. Er sah sich um und sein Entsetzen erhielt neue Nahrung, denn es war die Hand eines Toten gewesen, die er im Gebüsch nicht gesehen hatte, und ein Schwarm schillernder Fliegen stob wütend über die Störung in die Höhe, umkreiste ihn und ließ sich dann wieder auf ihrem Mahl nieder.
Doch sie waren nicht die einzigen Nutznießer hier. Ein kehliges Knurren ließ ihn herumfahren, und er sah sich zwei Hunden gegenüber, beide nicht größer als ein Dackel, aber mit wütend gefletschten Zähnen und die Lefzen noch verfärbt von ihrer letzten, grausigen Mahlzeit. Zum Glück folgten sie ihm nicht, als er mühsam auf die Beine kam und weiterstolperte.
Kurz darauf hatte er sein Auto erreicht und war, noch immer am ganzen Körper schlotternd vor Grauen, zurück nach Hause gefahren.
Dort hatte er dann eine sehr lange Zeit in seinem Wagen gesessen und war unfähig gewesen, auszusteigen.
Der rote Tod war angekommen! Das war alles, was er denken konnte, und als sich der Klammergriff der Angst langsam löste, kam ihm plötzlich die Erkenntnis, dass er sich vermutlich soeben infiziert hatte.
Er kramte in seinem Gedächtnis nach den Informationen, die er aus dem Fernsehen hatte.
Wie tötete diese Krankheit?
Die ersten Symptome, erinnerte er sich, waren Fieber, Schluckbeschwerden und ein allgemeines Krankheitsgefühl. Das hielt ein paar Tage an, und dann begann man zu bluten. Es war, als würde man undicht. Er hatte Bilder gesehen, von Kranken in bluttriefenden Krankenhausbetten, denen die roten Rinnsale aus sämtlichen Körperöffnungen sickerten. Dieses zweite und gleichzeitig letzte Stadium dauerte nur selten länger als zwei, drei Tage. Die Blutungen nahmen langsam zu, und die Opfer starben schlicht und einfach an Blutverlust.
Das war bekannt, doch einer Heilmethode oder auch nur einem Behandlungsansatz war man keinen Zentimeter näher gekommen, seit die ersten Fälle gemeldet worden waren. Zwar hatte man den Erreger identifiziert, doch das war der einzige zweifelhafte Erfolg geblieben.
Es handelte sich offenbar um einen mutierten Grippeerreger, der sich jedoch jedem Versuch, ihn zu bekämpfen, oder einen Impfstoff zu entwickeln widersetzte und sich sprunghaft unter den Menschen überall auf der Welt verteilte – der Globalisierung und dem Ferntourismus sei Dank!
Außerdem starben die Menschen schlicht und einfach zu schnell. Die Weltbevölkerung war innerhalb eines knappen Jahres um ein Drittel dezimiert worden und die Opferzahlen wuchsen noch immer, wenn auch inzwischen langsamer.
Nach seiner Rückkehr aus der Stadt hatte er das Radio angemacht und nach einem Sender gesucht. Er musste einige Zeit an dem kleinen Knopf drehen, dann fand er einen Sender, der noch Musik spielte und ließ ihn laufen, bis Nachrichten kamen. Was er da zu hören bekam trug allerdings auch nicht zu seiner Beruhigung bei und so schaltete er wieder ab und beließ es dann dabei.
So hatte er ein paar Tage in einer Art Schockstarre verbracht und auf die ersten Anzeichen der Seuche gewartet.
Tatsächlich spürte er etwa eine Woche danach ein leichtes Kratzen im Hals, und als er sich die Nase schneuzte, war der Schleim in seinem Taschentuch grünlich.
Innerlich war er darauf gefasst, dass es nun bald mit ihm zu Ende ging. Er fuhr also noch einmal in die Stadt und suchte den Drugstore auf, den Blick stur geradeaus gewandt, damit er die schweigsamen, blinden Zuschauer, die ihm womöglich mit ihren leeren, wimmelnden Augenhöhlen folgten, nicht ansehen musste.
Wenn er schon sterben musste und vorher noch nicht einmal mehr einen von Dougies köstlichen Burgern essen durfte, dann wollte er wenigstens mit seinen spärlichen Kochkünsten die bestmögliche Henkersmahlzeit zubereiten.
Rasch hatte er sich zusammengesucht, was er brauchte und war dann wieder nach Hause zurückgekehrt. Da er nicht gewusst hatte, wie lange er noch in solch verhältnismäßig guter Verfassung sein würde, hatte er sich sofort in die Küche begeben und gekocht. Ein riesiges Steak, Bohnen und glasierte Kartoffeln bereitete er zu und ließ es sich schniefend schmecken. Er weinte nicht, fühlte sich nur seltsam unwirklich und leer, während er das Essen in sich hineinschaufelte und mit einem Glas Rotwein nachspülte. Ein zweites Steak war in der Futterschüssel seines Hundes Spot gelandet und auch er kaute und knabberte geräuschvoll.
Nach dem Essen leerte er die Weinflasche und legte sich dann beduselt und ergeben zum Schlafen, darauf gefasst, am nächsten Morgen in Blut schwimmend aufzuwachen.
Doch als er die Augen aufschlug, stellte er zu seiner nicht geringen Verwunderung fest, dass er zwar einen schweren Kopf vom Wein hatte, seine Halsschmerzen und der Schnupfen waren jedoch vollkommen verschwunden.
Vier Wochen später musste er sich eingestehen, dass er ganz offensichtlich nicht starb, ja noch nicht einmal erkrankt war und schließlich erwachte sein Lebenswille wieder. Die dumpfe Resignation wich praktischen Überlegungen und er fuhr noch mehrere Male in die Stadt. Dort nahm er sich den Pickup, der immer vor dem Drugstore stand und für Lieferfahrten benutzt wurde, packte ihn mit all den Dingen voll, die er zum Überleben brauchen konnte und transportierte alles zu seinem Haus.
Als das erledigt war, machte er sich daran, die Häuser systematisch zu durchkämmen. Er schleppte die Toten zusammen und verbrannte sie, anschließend nahm er auch aus den Häusern alles an sich, was sich als nützlich erweisen konnte, jedoch ohne persönliche Dinge anzutasten.
So arbeitete er fast drei Wochen lang hart und glaubte dann, bestens fürs Überleben gerüstet zu sein. Er verfügte nun nicht nur über Lebensmittel, mehrere Dieselgeneratoren, falls der Strom ausfiel – was dann auch einige Monate später tatsächlich eintrat – Medikamente und Verbandmaterialien, Brennstoff für die Generatoren, Holz für den Ofen und Benzin für seinen Wagen, sondern auch über mehrere Waffen und jede Menge Munition. Etliche der Stadtbewohner waren offenbar überzeugte Anhänger des Rechts auf bewaffnete Selbstverteidigung gewesen …
Allerdings musste er sehr bald einige der Stadthunde damit erschießen. Sich selbst überlassen und ohne richtiges Futter hatten sie ihre verstorbenen Besitzer angefressen und waren in Bezug auf Menschenfleisch auf den Geschmack gekommen.
Danach jedoch reihten sich die Tage bald ereignislos aneinander. Er hatte seine Äcker nur noch für den Eigenbedarf bestellt und sich angewöhnt mehrmals am Tag auf einen der Hügel zu steigen, um nach anderen Menschen, Schicksalsgenossen, Ausschau zu halten.
Doch nie war jemand zu sehen gewesen, so auch heute.
Er schob sich den breitkrempigen Hut ins Genick und stützte den Kolben des Gewehrs auf den trockenen Boden.
Ein letztes Mal sah er in die Runde und wollte sich schon abwenden, als er plötzlich stutzte.
War da im Westen, wo die Sonne schon tief über dem Horizont hing, nicht eine Bewegung gewesen?
Er sah noch einmal hin und wünschte sich, er hätte das Fernglas mitgenommen. Doch das hing in seinem Haus an der Wand, denn nachdem er über lange Wochen nie etwas entdeckt hatte, war das Hinaufsteigen auf den Hügel und das Ausschau halten immer mehr zu einem Ritual geworden, über dessen Sinn er sich längst nachzudenken verboten hatte. Aber er nahm das Fernglas nicht mehr mit hinauf, weil er längst nicht mehr damit rechnete, dass tatsächlich jemand kam.
So musste er die Augen anstrengen, um gegen den Schein des rötlichen Sonnenballs am Horizont etwas zu erkennen, und es dauerte einen Moment, bis er sicher war, dass er sich nicht getäuscht hatte. Da war tatsächlich jemand!
Eine schmale Gestalt taumelte und stolperte über die staubige, nicht asphaltierte Straße und schien Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten. So groß war die Entfernung zu dem Fremden nicht, doch in dieser Beleuchtung konnte er nicht einmal sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
Plötzlich, während er noch schaute, drang ein Geräusch zu ihm, wie das gereizte Summen einer wütenden Hornisse. Es schien vertraut, doch seine mittlerweile an die Stille gewöhnten Ohren brauchten eine Weile, bis sie es als das Motorengeräusch von mehreren geländetauglichen Fahrzeugen identifizieren konnten.
Im nächsten Moment schossen sie auch schon über die Kuppe des Hügels, die der unbekannte Ankömmling gerade passiert hatte. Zwei Quads waren es, und auf jedem saßen zwei Männer, mit hellen Atemschutzmasken vor den Gesichtern.
Der Fußgänger hielt einen Moment inne und sah sich um, bevor er in wilder Flucht davon zu stürmen begann, wobei er jedoch den Eindruck erweckte, als würde er jeden Augenblick den finalen Sturz seines Lebens hinlegen.
Vor den motorisierten Männern wegzulaufen war sowieso unmöglich, und der Beobachter fragte sich, welche Rechnung die Männer wohl mit ihm offen hatten.
Gleich darauf erstarrte er innerlich, denn einer der Beifahrer hatte sich aufgerichtet und schwang ein Lasso über dem Kopf, wie ein grotesker Cowboy, während der Zweite etwas zur Seite reckte, was wie ein elektrischer Viehsporn aussah.
Inzwischen war auch der Flüchtling weit genug den Hügel hinunter gelaufen, dass er ihn genauer sehen konnte und er traute seinen Augen kaum, als er erkannte, dass es nicht viel mehr als ein Junge war. Ausgemergelt und hoch aufgeschossen, in zerlumpten Kleidern und völlig verdreckt, aber unverkennbar ein Junge, von kaum mehr als vielleicht 18 Jahren oder weniger.
Wie kamen die Männer dazu, dieses halbe Kind zu hetzen wie ein Stück Wild?
Er zögerte noch einen Moment, dann hob er das Gewehr und nahm das erste Quad ins Visier.
Sein Vater hatte ihn vor langer Zeit schießen gelehrt, doch wegen eines Jagdunfalls in der Familie seiner Mutter hatte diese danach keine Waffen mehr im Haus geduldet. Als er im letzten Jahr erstmals wieder eine Waffe in der Hand gehalten hatte, hatte er jedoch gemerkt, dass es mit dem Schießen ähnlich war, wie mit dem Schwimmen oder dem Fahrradfahren – man verlernte es nicht.
Er hatte mit einigen der in der Stadt mitgenommenen Pistolen und Gewehre geübt, bis er das Gefühl gehabt hatte, dass die Finger wieder geschmeidig genug und mit den Augen im Einklang waren.
Bald darauf hatte er die Hunde töten müssen, doch seither war es nicht wieder nötig gewesen, eine der Waffen zu benutzen. Und nun stand er hier, die Beine leicht ausgestellt, den Kolben der Winchester an seiner Wange und den Finger am Abzug, um auf Menschen zu schießen. Nun ja, vielleicht nicht direkt auf Menschen, immerhin nahm er nur das Fahrzeug ins Visier, aber trotzdem bestand die Möglichkeit, dass die Männer, die darauf saßen sich zumindest verletzten. Seine Hände waren feucht und er zögerte. Er hatte doch gar keine Ahnung, was hier vor sich ging! Vielleicht hatten die Männer gute Gründe für ihr Tun? Vielleicht war der Junge gefährlich?
Die Quads waren inzwischen auf wenige Meter an den Läufer herangerückt, und ihm wurde klar, dass er nicht noch mehr Zeit mit Grübeleien vertun durfte. Wenn er schießen wollte, musste er es jetzt tun, sonst hatten die Männer den Jungen erwischt!
Kurz entschlossen senkte er den Lauf und gab einen Warnschuss ab, dessen lauter Knall von den Hügeln zurückgeworfen wurde und die Männer aufmerksam machte. Sein Hund, der bis jetzt geduckt neben ihm gelegen hatte, sprang winselnd auf und rannte davon. Toller Wachhund! dachte er.
Auch der Flüchtende hatte den Schuss gehört und war stehengeblieben, wirkte unschlüssig, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, seine Flucht fortzusetzen und der Furcht vor einem weiteren Angreifer.
Das Röhren der Motoren erstarb, und einer der Männer blickte zum Standort des Schützen auf.
„Warum schießt Du auf uns? Was soll das?“ rief er hinauf und legte den Kopf schief.
Der Mann mit dem Gewehr betätigte den Repetierhebel auf der Unterseite des Gewehrs und erwiderte: „Warum hetzt Ihr diesen Jungen wie ein Stück Vieh? Was hat er Euch getan, dass Ihr ihn mit Lasso und Viehsporn jagt? Er wirkt auf mich nicht, als wäre er eine Bestie. Im Gegenteil – er sieht ziemlich fertig aus.“
Die Vier sahen sich an, und der Erste ergriff wieder das Wort: „Das geht Dich nichts an! Tu Dir selbst einen Gefallen und geh´ dahin zurück, wo Du hergekommen bist! Wir bringen den Jungen in die grüne Zone, mehr brauchst Du nicht zu wissen!“
Er klang außerordentlich selbstsicher, und das ließ den Mann auf dem Hügel vermuten, dass sie noch andere Waffen dabeihatten, als einen Viehsporn. Wie zur Bestätigung holten die beiden hinten Sitzenden nun ebenfalls Gewehre heraus und legten sie scheinbar lässig über ihre Schultern.
Der Junge sah mit einem flehenden Blick zu dem Mann auf dem Hügel auf. Jetzt, wo er kaum 100m entfernt am Fuß desselben stand, war deutlich zu erkennen, in welch erbärmlicher Verfassung er war, und er schwankte vor Erschöpfung wie ein Schilfrohr im Wind.
Der Sprecher unter seinen Verfolgern drehte am Gashebel seines Gefährts und machte Anstalten, erneut auf den Jungen los zu fahren, er beschleunigte und keine zehn Sekunden später war er gleichauf. Der hinter ihm Sitzende, zückte den Viehsporn und versetzte seinem Opfer einen elektrischen Schlag, der ihn von den Füßen riss.
Zuckend und schreiend wand der Junge sich am Boden, und der Mann auf dem Hügel verspürte Übelkeit angesichts solcher Brutalität. Er hob sein Gewehr und zielte auf den Arm des Beifahrers, mit dem dieser den Viehsporn hielt. Der Fahrer hatte inzwischen gewendet, fuhr erneut auf den Jungen los und sein Hintermann bückte sich bereits seitlich von dem Gefährt, um dem Liegenden einen weiteren Schlag zu versetzen.
Doch noch bevor sie ihn erreichten, peitschte ein Schuss, und er schrie auf. Der Viehsporn flog ihm aus der blutenden Hand und das Quad hielt an.
„Scheiße! Er hat mir zwei Finger abgeschossen! Dieser Wichser!“ heulte der Getroffene, und der Fahrer schickte einen finsteren Blick auf die Hügelkuppe hinauf.
„Das wirst Du büßen!“ schrie er und gab Gas. Auch das zweite Quad nahm nun Kurs auf den Mann mit dem Gewehr, und der hob erneut seine Waffe. Der Fahrer des ersten Quads zog eine Pistole aus dem Hosenbund, legte auf ihn an, und mit einer raschen, kaum spürbaren Krümmung seines Zeigefingers pustete der oben Stehende ihn aus seinem Sitz, wobei er seinen Hintermann praktischerweise gleich mitnahm.
Da pfiff schon eine Kugel haarscharf an seinem Kopf vorbei, und er betätigte ein weiteres Mal den Repetierer, schwenkte den Lauf herum und zielte. Noch bevor der Schütze auf dem Quad einen erneuten Schuss abgeben konnte, wurde auch er von einer Kugel aus der Winchester niedergestreckt. Der Fahrer sah sich um, sah seine Spießgesellen am Boden liegen und riss ruckartig das Steuer herum, um sein Heil in der Flucht zu suchen.
Der ganze Schusswechsel hatte keine fünf Minuten gedauert, und der Junge hatte sich nicht von der Stelle bewegt.
Noch immer lag er dort, wo ihn der Stromschlag niedergestreckt hatte, und als der Mann von der Hügelkuppe aus näher kam, rührte er sich nicht. Aber wenigstens hob und senkte sich sein Brustkorb, und der Mann mit dem Gewehr atmete auf. Die Hose des Jungen war im Schritt dunkel gefärbt, denn er hatte sich als Folge der elektrischen Entladung, die ihn erwischt hatte, nass gemacht.
Die Männer, die die Gewehrkugeln abbekommen hatten, rührten sich ebenfalls nicht mehr. Er hatte gut gezielt und beide Quadfahrer mitten in die Brust getroffen. Einzig der Beifahrer, der das Pech gehabt hatte, von seinem Vordermann mitgerissen zu werden, ging nicht auf sein Konto. Er hatte sich schlichtweg das Genick gebrochen.
Das führerlose Quad lag mit noch immer brummendem Motor auf der Seite, und er ging hinüber und stellte es ab.
Stille sank herab und war fast körperlich greifbar.
Und erst jetzt traf ihn die Wucht dessen, was gerade passiert war. Als es darum ging, sich und den Jungen zu verteidigen, hatte er nicht lange überlegt, sondern nur gehandelt. Doch nun wurde ihm bewusst, dass er gerade zwei Menschen getötet hatte, bei engerer Betrachtungsweise sogar drei.
Ihn überfiel ein heftiges Zittern, und er musste sich ins Gras gleiten lassen, denn ihm wurde schwindlig. Sein Leben war bisher so geradlinig verlaufen, dass man es getrost eintönig oder gar langweilig nennen konnte.
Er war hier im Nirgendwo geboren und aufgewachsen, und anders als die meisten seiner Schulkameraden auf der High School in der 15 Meilen entfernten Stadt, hatte es ihn nie gestört. Er hatte nie das Verlangen gehabt, die elterliche Farm und das tägliche Einerlei hinter sich zu lassen, denn tief in seinem Innern hatte er eine Art Kompass, der ihm sagte: Genau hier gehörst Du hin!
Er war hier verwurzelt, und daran änderte sich auch nichts, als seine Eltern vor einigen Jahren starben und er die Farm allein bewirtschaften musste. Nie stellte er in Frage, was das Leben ihm bot und nie fragte er sich, ob er hier glücklich war. Er war hier, weil es so sein musste, basta.
Und nun war er zum Mörder geworden. Es spielte keine Rolle, welche Gründe er dafür gehabt hatte, es waren seine Hände gewesen, die das Gewehr abgefeuert hatten!
Er rieb sich über das schweißfeuchte Gesicht und stand dann mühsam auf. Mit wenigen Schritten war er bei dem Jungen, der noch immer im Gras lag, jedoch unruhig zu werden begann, was darauf hoffen ließ, dass er in absehbarer Zeit zu sich kommen würde.
Aus der Nähe betrachtet wirkte er noch mitleiderweckender, als vorher. Jung und überaus verletzlich wirkte sein Gesicht, auch mit geschlossenen Augen und die schmalen Brauenbögen waren von der gleichen weißblonden Farbe wie die beinah militärisch kurzen Haare. In jeder Pore und jeder Falte saß eine dicke Schmutzschicht und erschwerte eine genauere Altersschätzung, doch als er gleich darauf die Augen aufschlug und das Männergesicht dicht über sich gebeugt fand, stieß er einen Schrei aus und riss einen Arm nach oben, während er gleichzeitig mit den Füßen strampelte und weg zu robben versuchte.
Der Mann mit dem Gewehr richtete sich rasch auf und hob beschwichtigend die Hände.
„Ist ja gut! Ich tu Dir nichts! Siehst Du? Ich lege sogar das Gewehr weg! Du brauchst keine Angst vor mir zu haben!“
So redete er in möglichst ruhigem Tonfall weiter auf den Jungen ein, der sich auch tatsächlich soweit beruhigte, dass er nicht mehr schrie, ihn aber weiterhin misstrauisch beobachtete, bereit beim geringsten Anlass aufzuspringen und zu fliehen.
Mit langsamen Bewegungen brachte er Abstand zwischen sich und den Jungen und versuchte ihm mit seiner gesamten Körpersprache zu vermitteln, dass von ihm keine Gefahr ausging.
„Siehst Du? Es ist alles gut!“ Er deutete mit beiden Händen auf seine eigene Brust. „Ich bin Sisko! Sisko! Das hier ist mein Land und da hinten,“ er wies hinter sich, „da steht mein Haus. Wenn Du willst, kannst Du mitkommen und was essen, Dich ausruhen und waschen!“
Noch immer musterte der Junge den Mann skeptisch, doch schließlich nickte er und erhob sich unbeholfen. Der Mann beobachtete ihn, bereit ihm unter die Arme zu greifen, falls nötig, doch irgendwann stand er und sah ihn auffordernd an. Also drehte er sich um, hob sein Gewehr auf und machte sich auf den Rückweg, den Hügel hinunter. Später würde er noch einmal zurückkommen, das Quad bergen und die Toten wegschaffen, doch jetzt musste er sich zuerst um seinen seltsamen Gast kümmern.
Er warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter und stellte fest, dass der Junge ihm mit einer gewissen Distanz folgte. Am Farmhaus angekommen öffnete er die Tür und machte eine einladende Geste. Zögernd trat der Junge näher und schlüpfte dann, mit größtmöglichem Abstand, an Sisko vorbei hinein.
Sisko wartete einen Moment, bevor er ihm folgte und stellte zuerst das Gewehr in einen Wandschrank.
Dann drehte er sich zu dem Jungen um und stemmte die Hände in die Hüften. „Willst Du erst essen oder Dich erst waschen?“ fragte er, doch sein Gast schwieg und sah ihn nur stumm an. Ob er nicht sprechen konnte?
Aber zumindest verstand er ihn doch, oder?
„Kannst Du verstehen, was ich sage?“ fragte er zweifelnd, und der Gefragte nickte bedächtig.
„Also, … kannst Du vielleicht nicht sprechen?“ hakte er nach, doch der Junge sah zur Seite und hob die Schultern in einer merkwürdig ausweichenden Geste. Was hieß das nun wieder? Konnte er nicht sprechen oder wollte er nicht, oder was?
Sisko beschloss, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen und kratzte sich am Kopf. „Erst essen?“ fragte er dann, und der Junge nickte eifrig. Also holte er Maisbrot, Käse und Speck aus dem kühlen Keller unter dem Farmhaus und setzte es ihm vor. Einen Augenblick lang starrte der Junge nur darauf, doch dann begann er zu essen und zu kauen, wie Sisko noch nie jemanden hatte essen und kauen sehen. Er musste tatsächlich halb verhungert sein.
Fasziniert von diesem Anblick setzte er sich dazu und beobachtete, wie die Nahrungsmittel rasch weniger wurden und schließlich zur Gänze verschwunden waren.
Das wäre ein erbaulicher Anblick gewesen, wenn der Esser nicht so erbärmlich gestunken hätte. Je länger der Junge sich in dem Farmhaus aufhielt, umso deutlicher stieg Sisko die Mischung aus Urin, Schweiß und seit langem ungewaschenem Körper in die Nase, sodass er schließlich aufstehen und etwas Distanz zwischen seine Nase und die Quelle des Duftes bringen musste. Er beschäftigte sich also lieber damit, den Ofen anzuheizen und in einem riesigen Kessel Wasser heiß zu machen, um die alte Badewanne damit zu füllen, die draußen im Garten in einem Verschlag stand.
Sein Elternhaus war nie wirklich modern gewesen, und seine Eltern hatten sich auch zeitlebens nie an den Komfort zeitgemäßer Sanitäranlagen gewöhnen können. Sisko war mit einem Plumpsklo im Hof aufgewachsen und wenn er im Sommer heiß duschen wollte, musste er einen ganzen Tag lang warten, bis die Sonne das Wasser in einem Bottich aufgeheizt hatte, den sein Vater in einem Baum hinter dem Haus befestigt hatte. Im Winter freilich wusch sich die ganze Familie in dem winzigen Raum, der hochtrabend „Badezimmer“ genannt wurde, jedoch bis auf einen Rasierspiegel und eine Waschschüssel aus Keramik auf einem Stuhl nichts aufwies, was diesen Namen rechtfertigte. Ein Gang zum stillen Örtchen allerdings war im Winter ein besonderes Abenteuer, denn während der eisige Wind die Schneeflocken durch sämtliche Ritzen drückte, musste man aufpassen, dass einem nicht der Hintern an der Brille festfror.
Fließendes Wasser gab es zwar im Haus, allerdings nur in der Küche, und dieses Wasser stammte aus dem hauseigenen Brunnen, aus dem es per Windkraft in einen Hochbehälter auf dem Hof gepumpt wurde. Das Quietschen des alten Windrads hatte Sisko zeitlebens in den Schlaf begleitet.
Strom gab es mittlerweile seit Monaten nicht mehr, und er hatte sich geschworen, die Generatoren nur für absolute Notlagen zu nutzen. Die Waschmaschine – eine der wenigen Neuerungen, mit denen seine Mutter sich angefreundet hatte – stand seither still und er wusch seine Wäsche mit der Hand und dem Waschbrett, welches noch immer in der Scheune herumgelegen hatte, der Kühlschrank und die Gefriertruhe waren ausgemustert worden und der Kriechkeller unter dem Haus wieder zu neuen Ehren gekommen.
Er konnte keine leicht verderblichen Lebensmittel mehr längere Zeit einlagern und lebte daher überwiegend von frisch angebautem Gemüse, Kartoffeln, eingelegten Bohnen und Rüben. Darüber hinaus baute er Mais an, dessen Körner ein wohlschmeckendes Mehl ergaben und dessen Kolben sich ebenfalls gut aufbewahren ließen. Fleisch gab es nur, wenn er ein Stück Wild erlegen konnte. Zwar hatten die meisten Farmen der Umgebung auch einige Nutztiere gehalten, doch als der rote Tod gekommen war und ihre Besitzer gestorben waren, hatte sich niemand mehr um sie gekümmert und sie waren eingegangen, bevor Sisko dort gewesen war. Er hätte sich ohnehin nicht um sämtliche Tiere der Gegend kümmern können und war froh, dass seine eigenen beiden Kühe sich bester Gesundheit erfreuten und täglich frische Milch zu seinem Speisezettel beisteuerten.
Darüber hinaus besaß er lediglich ein paar Hühner, die ihm auch jetzt noch täglich frische Eier lieferten. Der Speck, den er dem Jungen vorgesetzt hatte, war der letzte Rest gewesen, den er aus dem Lager des Drugstores geholt hatte und der sich, wenn auch inzwischen etwas trocken, im Keller frisch gehalten hatte.
Es wäre zwar jetzt im Spätsommer auch warm genug gewesen, um dem Jungen die Dusche im Garten anzubieten, aber angesichts solcher Dreckschichten schien Sisko das nicht ausreichend. Daher schleppte er Eimer um Eimer heißes Wasser nach draußen, bis die alte Zinkwanne, gut zur Hälfte gefüllt war. Dann suchte er Handtücher, Waschlappen und Seife zusammen und legte nach einem Moment des Zögerns noch eine Bürste dazu.
Das alles legte er neben die Wanne auf einen alten Schemel und ging dann zurück ins Haus, wo sein Gast die Mahlzeit inzwischen beendet hatte.
„Die Badewanne ist draußen.“ sagte er und wies mit dem Daumen über seine Schulter. „Ich hab´ Dir Wasser eingefüllt und alles hingelegt, Du kannst also loslegen. Ich suche in der Zwischenzeit mal, ob es irgendwo noch alte Sachen von mir gibt. Was ich jetzt trage, dürfte Dir um einiges zu groß sein. Ich weiß nicht, ob man die Sachen die Du da anhast nochmal waschen kann, aber ich denke eher nicht. Wenn ich was finde, lege ich es vor die Tür, und anschließend bin ich nochmal für eine Weile weg. Ich muss mich noch um die Kerle von eben und um das Quad kümmern, okay?“
Der Junge nickte, und Sisko verließ das Haus. Es war schwül, und sofort stand ihm der Schweiß auf der Stirn.
In der samtigen Dunkelheit sirrten die Grillen, doch kein Lüftchen regte sich. Prüfend sah er zum Himmel auf, über den aber nur wenige Wolken zogen und die Sterne wie in einer Laterna Magica in unregelmäßigen Abständen verschluckten und wieder freigaben. Wenigstens sah es nicht nach einem Gewitter aus. Jetzt im Juli zogen immer wieder sehr heftige Unwetter über das Grasland, und auch Tornados hatten durchaus Saison. Das kleine Farmhaus war im Laufe seiner Geschichte schon mehr als einmal um Haaresbreite einem solchen Twister entgangen, der seine Schneise dafür in die angrenzenden Maisfelder gepflügt hatte.
Während er eine große Seilrolle aus der Scheune holte, erinnerte sich Sisko, wie er als Junge im Sturmkeller gesessen und auf das Brausen eines näherkommenden Wirbelsturms gelauscht hatte, das sich anhörte, als brauste ein gewaltiger Güterzug mit Höchstgeschwindigkeit über das Land. Wenn der Twister näher kam, begann alles um ihn herum zu beben, und die Tür des Sturmkellers ratterte in den Angeln. Seine Mutter krampfte dann jedesmal die Hände zusammen, und sein Vater biss die Zähne aufeinander. Was er dachte, stand ihm praktisch auf der Stirn geschrieben: Noch nie waren sie von einem Tornado direkt getroffen worden, und das obwohl die Farm seit mehr als hundert Jahren hier stand, und es gab praktisch keinen Nachbarn, der nicht im Laufe der Jahre mehr oder weniger große Sturmschäden hatte hinnehmen müssen. Irgendwann musste diese Glückssträhne doch einmal reißen!
Doch seine Eltern hatten es nicht mehr erlebt, dass sie abriss, und auch Sisko war in den zurückliegenden Jahren verschont worden. Tornados hatte es zwar jedes Jahr gegeben, mal weiter weg, mal buchstäblich in der Nachbarschaft, doch das kleine Farmhaus stand noch immer unbehelligt inmitten der ehemaligen Maisfelder in dem Landstrich, der bekannt war als Tornado Alley.
Unter diesen Gedanken hatte er den Hügel erklommen, wo die getöteten Verfolger des Jungen und das gestrandete Quad zurückgeblieben waren. Im schwachen Licht der Sterne hätten sie ebensogut fest schlafen können, doch er wusste es besser.
Mit seinem Kleinlaster hätte er nicht dort hinauffahren können, dazu war der Weg zu uneben und zu steil. Die Hügel hatten die Felder schon immer wie eine Art natürlicher Schutzwall umgeben, doch wer hinauf wollte, musste entweder zu Fuß gehen oder einen geländetauglichen Wagen besitzen – oder eben ein Quad, wie das, welches jetzt vor Sisko lag.
Er stellte es auf die Räder und betätigte den Anlasser. Tatsächlich, es sprang sofort an, schien also nicht beschädigt zu sein. Sisko stieg auf und fuhr es auf den Pfad, der über die Hügelkuppe verlief, dann stellte er den Motor wieder ab und nahm die Seilrolle von der Schulter. Mühsam schleppte er die toten Männer zu dem Fahrzeug und wuchtete sie als grausiges Bündel auf den Sitz, wo er sie mithilfe des Seils festzurrte.
Die Gefährte, die die Toten benutzt hatten, waren um einiges robuster, als gewöhnliche Quads, breiter und schwerer und mit einem Überrollbügel ausgestattet. Der Sitz war langgestreckt, und am hinteren Ende mit einer Art niedrigem Gestänge umrahmt, damit der Beifahrer auch bei riskanten und plötzlichen Fahrmanövern nicht herausgeschleudert wurde und trotzdem die Hände weitgehend frei hatte - zum Beispiel, um eine Waffe zu führen?
Die tarnfarbene Lackierung ließ Sisko kurz überlegen, ob er es womöglich mit Angehörigen der Armee zu tun gehabt hatte, doch er verwarf den Gedanken rasch wieder. Selbst wenn es noch immer irgendwo eine funktionierende Truppe gab, warum sollten dann vier einzelne Soldaten – noch dazu in Zivil! - hier draußen eine halbwüchsige, fast verhungerte halbe Portion jagen? Und hätten sie sich dann nicht auch als Mitglieder der Armee zu erkennen gegeben, schon um ihn, den zufälligen Augenzeugen, durch ihre Autorität einzuschüchtern und gefügig zu machen? Viel wahrscheinlicher schien es da, dass die Fahrzeuge irgendwo aus den Beständen des Militärs gestohlen worden waren. In Zeiten wie diesen, wo sich alles in Auflösung befand, war vieles möglich.
Als er alles gut befestigt hatte, stieg Sisko irgendwie auch noch hinauf, ließ das Quad wieder an und lenkte es langsam und vorsichtig über den düsteren Pfad hinunter. Doch er fuhr nicht zur Farm zurück, sondern schlug den Weg Richtung Stadt ein. Dort gab es einen kleinen Fluss, der an einigen Biegungen mehrere Meter tief war, und dorthin wollte er.
Er brauchte sich nicht umzusehen, er wusste, dass niemand in der Nähe war, als er das bepackte Gefährt vom Ufer aus, an einer besonders tiefen Stelle ins Wasser rollen ließ.
Einzig der Gedanke an den geflüchteten, vierten Mann ließ ihn so handeln. Irgendwo tief in seinem Innern flüsterte eine Stimme ihm zu, dass die Sache noch nicht ausgestanden war, dass es noch einmal ein unerfreuliches Wiedersehen geben würde, des Jungen wegen. Immerhin waren die Vier bereit gewesen, Sisko ohne mit der Wimper zu zucken zu töten.
Der Anführer hatte von einer „grünen Zone“ gesprochen, wo sie den Jungen hinbringen wollten. Sisko hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Seit Zeitung und Fernseher als Informationsquelle weggefallen waren, er kein Radio mehr hörte und die Stadt ausgestorben war, hätten draußen in der Welt Außerirdische vom Planeten Beeboz gelandet sein können, und er hätte nichts davon mitbekommen.
Er hatte auch einmal eine Weile mit dem Gedanken gespielt, dem Grasland den Rücken zu kehren und sich selbst ein Bild von der Lage zu machen, doch dann hatte er sich gesagt, dass er es wohl kaum besser treffen würde, als hier zuhause. Hier kannte er jeden Baum und jeden Stein, er hatte alles, was er zum Leben brauchte, und ein geselliger Mensch war er noch nie gewesen. Er hatte seinen Hund Spot, und wenn es weitere Überlebende gab, die eines Tages den roten Tod besiegten, dann würde irgendwann schon jemand kommen, das Leben fand schon seinen Weg. Und falls nicht – auch gut. Er war sich selbst genug.
Das war auch der Grund gewesen, warum Fiona, die einzige Frau, die genügend Gefallen an ihm gefunden hatte, um hierher auf die Farm zu ziehen und ernsthaft zu erwägen, ihr Leben mit ihm zu verbringen, ihn letztendlich doch wieder verlassen hatte. „Du bist Dir selbst genug, Sisko.“ hatte sie gesagt. „Du brauchst mich doch gar nicht.
Alles was Du brauchst, hast Du hier, und ich gehöre leider nicht dazu.“
Damit hatte sie ihren Koffer genommen, mit dem sie sechs Monate zuvor angekommen war und war aus der Tür marschiert. Hätte er sie aufhalten sollen?
Tatsache war, er hatte es nicht getan, und sie war aus seinem Leben genauso verschwunden, wie aus der Stadt, ohne eine Spur zu hinterlassen, und er hatte gedacht, dass sie vielleicht recht hatte. Vielleicht brauchte er wirklich niemanden und fühlte sich deshalb so wohl, wenn er mit sich allein war, auf seiner Maisfarm.
Und nun hatte er sich einen mehr als rätselhaften Gast eingehandelt, ohne lange zu überlegen. Er hätte ebensogut einfach zuschauen können, wie sie den Jungen einfingen und wegschleppten, sich raushalten können, wie es eigentlich seiner Art entsprach, aber er hatte es nicht getan.
Er hatte Partei ergriffen und möglicherweise würde er dafür noch einen hohen Preis bezahlen.
Als er zur Farm zurück kam, sah er schon von weitem, dass in dem kleinen Verschlag an der Rückseite des Hauses ein schwacher Lichtschein flackerte. Also saß der Junge wohl noch immer beim Schein der Campinglaterne, die dort brannte, in der Wanne. Naja, vermutlich hatte er die Schmutzschichten zuerst einweichen müssen, bevor sie sich entfernen ließen, dachte Sisko.
Schmunzelnd über diese Vorstellung trat er ins Haus und machte sich dort daran, eine Schlafgelegenheit für seinen Gast herzurichten. Er selbst schlief seit dem Tod seiner Eltern in deren ehemaligem Schlafzimmer, doch sein eigenes Jungenzimmer stand seither unbenutzt. Er schnappte sich eine weitere Campinglaterne, stieg die Treppe hinauf und ging zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder in diesen schmalen Raum, der nach links von dem kurzen Flur abzweigte. Außer diesem Raum und seinem Schlafzimmer lag hier oben noch das sogenannte Badezimmer, und eine kleine Abstellkammer, in dem ein riesiger alter Schrank den meisten Platz einnahm, und in welchem abgelegte Kleidung, zusätzliche Decken, Handtücher und alle übrigen Arten von Wäsche aufbewahrt wurden, die es im Haus gab.
Als Sisko in seinem alten Zimmer stand und sich umsah, fühlte es sich an, als hätte er eine Art Zeitreise in seine eigene Vergangenheit gemacht. Zwar lag schon lange kein Spielzeug mehr herum, immerhin hatte er noch als erwachsener Mann hier gewohnt, aber es war unverkennbar, dass hier einmal ein Junge zuhause gewesen war.
An der Wand hingen noch ein paar alte Poster von Bands der 90er Jahre, an den Rändern ausgefranst und wellig vom häufigen Wechsel der Luftfeuchte, zwischen Sommern voll glühender Hitze und Wintern mit knackiger Kälte, von der Decke baumelte ein einsamer, ausgebleichter Drachen, den er in der Mittelschule gebaut hatte, und vor dem Fenster stand noch der zerkratzte Schreibtisch, an dem er immer seine Hausaufgaben gemacht hatte, mit Blick auf den Hof und die Hügel, und natürlich auf die alte Weide, die schon dort gestanden hatte, als er laufen lernte und in der er später ein Baumhaus besessen hatte.
Sanft ließ er die Finger über das schäbige Möbelstück gleiten. Wenn er die Augen schloss, erinnerte er sich, wie er oft voller Ungeduld in seine Schulhefte gekritzelt hatte, weil er es kaum erwarten konnte, den ganzen Schulkrempel in die Ecke zu pfeffern und nach draußen zu seinem Vater zu laufen, der irgendwo auf der Farm immer irgendetwas zu tun hatte. Die Arbeit auf den Feldern machte ihm Freude, und mit zwölf Jahren pflegte sein Vater ihn bereits wie einen ebenbürtigen Erwachsenen zu behandeln und machte keinen Hehl aus seinem Stolz auf den pflichteifrigen Sohn.
Mit einiger Anstrengung riss sich Sisko aus den Erinnerungen los und inspizierte das Bett. Decke und Kissen waren vorhanden und soweit ganz in Ordnung, sie mussten lediglich frisch bezogen werden. Also öffnete er das Fenster weit, um etwas frischere Luft hereinzulassen und ging dann nach nebenan, wo er eine saubere Garnitur Bettwäsche aus dem Schrank nahm.
Während er das Bett bezog, nahm er aus den Augenwinkeln einen ersten Blitz war, der für den Bruchteil einer Sekunde die Welt vor dem Fenster in ein bläuliches Licht tauchte. Nur Sekunden später grollte der erste Donner.
Sisko war zufrieden – ein kräftiger Regenguss würde die Spuren der tödlichen Auseinandersetzung vom Abend noch gründlicher beseitigen.
Er war gerade fertig, als er unten die Haustür schlagen hörte, offenbar hatte sein Gast die Körperpflege beendet und war zurück im Haus.
Keine Minute später verließ auch er nach einem letzten Rundblick, und nachdem er das Fenster angesichts des drohenden Gewitters wieder geschlossen hatte, das Zimmer und stieg wieder ins Erdgeschoss hinunter.
Der Junge saß auf dem gleichen Stuhl wie bei seiner Mahlzeit und schaute ihm entgegen. Die Veränderung war auf den ersten Blick erkennbar – seine Haut leuchtete hellrot, so kräftig hatte er sich geschrubbt.
Allerdings war auch ein kräftiger Sonnenbrand im Gesicht erkennbar, und Sisko kniff die Augen zusammen, als er sich bückte und die Verbrennung begutachtete. Der Junge zuckte zurück, als er ihm so nahe kam, doch er hob beschwichtigend die Hand.
„Keine Angst, ich will Dir nichts tun. Aber Du hast da einen ganz schönen Sonnenbrand. Tut das nicht weh?“ fragte er und richtete sich wieder auf. Der Junge nickte und hob gleichzeitig die Schultern.
„Dachte ich mir. Warte, ich glaube, ich habe da noch eine Salbe.“ Er wandte sich ab und öffnete eine Tür des alten Küchenschrankes, kramte darin herum und förderte eine bereits etwas mitgenommen aussehende Tube zutage.
„Hier. Ist sogar noch haltbar, glaube ich.“
Der Junge starrte darauf und dann wieder in Siskos Gesicht, bis der schließlich eine auffordernde Geste mit der Tube machte. Da nahm er sie, schraubte den Deckel ab und drückte sich etwas von dem glasklaren Gel auf die Finger einer Hand. Im nächsten Moment verteilte er es auf Stirn, Nase und Wangen und gab einen zufriedenen Seufzer von sich. Sisko betrachtete ihn dabei und korrigierte seine erste Altersschätzung ein wenig nach oben. Obwohl er jung und verletzlich wirkte, mit seinem schmalen, feingeschnittenen Gesicht und den schlanken Gliedern, war er definitiv kein Junge mehr, sondern befand sich vermutlich in dem fragilen Zeitabschnitt, wenn aus einem Teenager ein junger Erwachsener wird. Vieles erinnerte noch an das Kind, das er gewesen war, doch der Mann, der er sein würde, war bereits mehr als deutlich zu sehen.
Der auf diese Weise Gemusterte bemerkte seinen Blick und hielt inne, legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen hoch, sodass Sisko unwillkürlich grinsen musste. Sein Gast war ganz offensichtlich daran gewöhnt, sich ohne Worte zu verständigen, also konnte er wohl tatsächlich nicht sprechen.
„Nichts, nichts. Ich habe nur gerade überlegt, wie alt Du bist. Anfangs dachte ich, Du könntest nicht älter sein, als siebzehn, höchstens achtzehn, aber gerade eben war ich mir da nicht mehr so sicher.“
Mit merkwürdigem Ernst legte der junge Mann die Salbe hin und hob alle zehn Finger, reckte sie zweimal in Siskos Richtung und zeigte ihm dann noch einen einzelnen Finger.
„21?“ fragte der Ältere nach und sein Gegenüber nickte. Sisko schürzte die Lippen. „Wow. Ich hätte Dich jünger geschätzt, aber naja, man kann sich irren, oder?“ Der Angesprochene hob lächelnd die Schultern, und sein Gastgeber beschloss, die gute Stimmung auszunutzen. „Kannst Du schreiben?“
Verdutzt nickte der Jüngere erneut. „Gut. Dann kannst Du mir aufschreiben, wie Du heißt. Es wäre ein bisschen seltsam, Dich immer nur „Hey, Du!“ zu rufen und außerdem weiß ich gern, mit wem ich es zu tun habe.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf, holte aus einer Schublade ein altes Heft, auf dessen Seiten er früher immer seine Einkaufslisten geschrieben hatte und einen stummeligen Bleistift.
„Hier.“ Er legte beides auf den Tisch. „Der Vorname genügt. Ich will keine Lebensgeschichte von Dir, nur einen Namen.“ fügte er hinzu, als er sah, wie der Jüngere unglücklich auf das Heft starrte. Nach einem misstrauischen Seitenblick griff er jedoch zögernd nach dem Stift und schrieb vier Buchstaben auf die leere erste Seite. Als er den Bleistift wieder weglegte, blickte Sisko auf das Blatt und nickte. „Zack. Guter Name. Also dann, Zack – freut mich, Dich kennen zu lernen.“ Er streckte ihm die Hand hin und nach einem weiteren Moment des Zögerns ergriff sie dieser und erwiderte das Händeschütteln.
Im gleichen Moment krachte draußen ein weiterer Donnerschlag, und es fing an zu rauschen, als der Himmel seine Schleusen öffnete. Die beiden Männer drehten synchron die Köpfe Richtung Tür, und Sisko verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
„Gut, dass Du hier drin bist, was? Das wird eine ungemütliche Nacht da draußen. Aber wenigstens wird man so morgen früh nicht mehr die geringste Spur von dem erkennen können, was da auf dem Hügel passiert ist.“
Er nickte Zack aufmunternd zu, doch dessen Blick blieb zweifelnd. Sisko ahnte, was ihn beschäftigte.
„Du machst Dir Gedanken wegen dem Typen, der abgehauen ist, oder?“
Bedrückt nickte der junge Mann, und Sisko tat es ihm gleich.
„Wir werden aufpassen müssen, das heißt … vielleicht willst Du ja auch so schnell wie möglich weg von hier?“ Fragend schaute er seinem Gast ins Gesicht, doch der blieb natürlich stumm, sah ihn nur abwartend an.
„Also, wegen mir kannst Du bleiben, solange Du willst.“ Täuschte er sich, oder leuchteten Zacks Augen erfreut auf? „Allerdings...“ schränkte er ein, „wirst Du mir bei der Arbeit helfen müssen. Das nehme ich dann als Kostgeld, wenn man so will. Wenn Dir das nichts ausmacht, kannst Du gern noch bleiben.“ Er sah auffordernd ins Gesicht des Jüngeren, und der nickte eifrig, sah sich suchend um und steuerte dann den Tisch an, wo noch immer das alte Schulheft lag. Eilig kritzelte er etwas auf die Seite, wo bereits sein Name stand und reichte sie dann Sisko hinüber.
„Ich bleibe gern, wenn ich darf.“ stand da in einer steilen Handschrift, die zumindest nicht so wirkte, als hätte der Schreiber keine Übung im Umgang mit dem Schreibstift. Sisko sah von dem Blatt zu dem jungen Mann auf und wünschte, er wüsste mehr über ihn. Aber die Welt war nun mal aus den Fugen geraten, mehr als jemals zuvor, und wenn er auch ein wortkarger Mann war, der immer gern allein hier draußen gelebt hatte, war er jetzt doch froh, dass er wieder menschliche Gesellschaft hatte, selbst wenn es sich um einen ihm völlig fremden jungen Mann handelte, der offenbar in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte.
Mit seinem Hund konnte er immer nur einseitige Unterhaltungen führen und bekam nie eine wirkliche Antwort. Nun, die würde er von Zack zwar auch nicht bekommen, aber der verstand sich offensichtlich auf vielfältige Weise mitzuteilen.
Natürlich war ihm bewusst, dass er ein Risiko einging, wenn er den jungen Mann aufnahm. Die Kerle auf den Quads waren keine Amateure gewesen und außerdem zu allem entschlossen. Der, der entkommen war, würde mit großer Wahrscheinlichkeit zurückkommen, und vermutlich nicht allein. Aber daran ließ sich nichts mehr ändern, egal ob Zack hierblieb oder nicht. Der Hügel wo sich das alles abgespielt hatte, lag nur einen Steinwurf entfernt. Sie würden eben wachsam sein müssen und versuchen, irgendwie mit der Situation klar zu kommen, wenn der schlimmste Fall eintrat.
Sisko überlegte, dann wandte er sich an Zack. „Hör mal, diese Kerle, die Dich verfolgt haben – weißt Du, ob die ein Lager oder sowas in der Nähe haben?“
Sofort erlosch das Lächeln des jungen Mannes, und sein Blick wurde misstrauisch. Langsam schüttelte er den Kopf und Sisko erklärte: „Ich frage, weil wenn ein Lager in der Nähe ist, wo vielleicht noch mehr von denen sind, dann kommen sie vielleicht bald noch einmal zurück. Wenn der Typ, der abgehauen ist allerdings weiter fahren muss, dann können wir auf jeden Fall heute Nacht noch ungestört schlafen. Ab morgen sollten wir uns trotzdem mit Schlafen abwechseln und Wache halten, damit sie uns nicht überraschen. Es sei denn ..,“ er musterte Zack aufmerksam, „... Du kannst mir guten Gewissens versichern, dass Du keine Ahnung hast, was die von Dir wollten und alles nur ein Irrtum war.“
Geknickt senkte Zack den Kopf. Mit einer resigniert wirkenden Geste griff er erneut nach Stift und Heft und setzte sich an den Tisch. Diesmal dauerte es länger, bis er wieder aufstand und Sisko das Heft hinstreckte.
„Nein, das kann ich nicht.“ stand da. „Sie sind hinter mir her, und sie kommen bestimmt zurück. Ein Lager ist aber soweit ich weiß nicht in der Nähe. Wenn Du möchtest, dass ich gehe, dann gehe ich. Ich möchte niemanden in Gefahr bringen.“
Sisko sah hoch. „Und Du willst mir nicht sagen, warum sie Dich jagen?“ fragte er unverblümt, und Zacks blaue Augen verdüsterten sich, als er den Kopf schüttelte. Dann senkte er den Blick, und Sisko atmete tief durch.
„Hast Du was verbrochen?“ wollte er wissen, und Zack sah auf. „Ich meine, sowas richtig Schlimmes? Jemanden umgebracht oder so?“ Vehement schüttelte der junge Mann den Kopf, und Sisko nickte zufrieden.
„Dann sehe ich nicht, warum Du nicht bleiben solltest.“ Er wies auf die Treppe und ergänzte: „Wenn Du müde bist, oben habe ich ein Bett für Dich gerichtet. Hinter der ersten Tür auf der linken Seite. Geh´ ruhig rauf und leg´ Dich hin. Ich räume hier noch auf und lege mich dann auch schlafen, okay?“
Im selben Moment kam ein kratzendes Geräusch von der Haustür, und Zack zuckte erschrocken zusammen. Er zitterte so heftig, dass Sisko ihm eine Hand beruhigend auf die Schulter legte.
„Keine Angst!“ sagte er sanft. „Das ist nur Spot, mein Hund! Er ist vorhin bei den Schüssen weggelaufen, und jetzt hat ihn das Gewitter vermutlich wieder nach Hause getrieben.“
Er machte einen Schritt auf die Tür zu und öffnete. Winselnd und triefnass schoss ein schmutzig-sandfarbenes Fellknäuel herein und verkroch sich unter dem Sofa. Sisko sah noch einmal nach draußen, bevor er grinsend die Tür schloss und sich zu Zack umdrehte, der etwas konsterniert hinter dem nassen Hund herstarrte.
„Siehst Du?“ sagte er. „Wie ich gesagt habe – Spot! Der mit Abstand feigste Wachhund der Welt!“
Damit wandte er sich ab und griff nach dem wenigen Geschirr, das noch auf dem Tisch herumstand und von Zacks Mahlzeit übrig geblieben war. Er erwartete, die Schritte des jungen Mannes zu hören, wie er die Treppe hinaufstieg, doch stattdessen bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung vor dem Sofa und drehte den Kopf. Zack war vor dem Möbelstück auf die Knie gegangen und spähte darunter, klopfte mit einer Hand vor sich auf den Boden und schnalzte mit der Zunge.
Sisko grinste. „Vergiss es. Solange das Gewitter tobt, kommt er da nicht …!“ doch der Satz blieb unvollendet, denn plötzlich krabbelte der Hund ins Freie und schnüffelte schwanzwedelnd an Zack. Der setzte sich auf und streichelte das nasse Fell, begann sogar zu lachen, als das Tier ihn ableckte.
Sisko stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte den Kopf. Dann sah er sich um und griff schließlich nach dem Handtuch, mit dem er sich eigentlich immer die Hände abtrocknete und brachte es Zack.
„Hier. Sonst bist Du gleich genauso nass wie er.“
Der Angesprochene sah hoch, nahm dann das Handtuch und fing an, den Hund trocken zu rubbeln. Aus dem mechanischen Vorgang wurde eine fröhliche Balgerei und bald kullerten Hund und Mensch über den Boden, während sie spielerisch um das Handtuch konkurrierten. Zack lachte lauthals und Spot gebärdete sich so übermütig, als wäre er wieder ein Jungtier, das gerade die Welt entdeckt, dabei hatte er bereits über zehn Jahre auf dem Buckel.
Sisko sah dem Treiben eine Weile zu und musste ebenfalls lachen. Als Zack schließlich – etwas zerzaust – vom Boden aufstand meinte er: „Sieht so aus, als hättest Du schon einen Fan?“ Breit grinsend klopfte Zack dem Hund daraufhin den Rücken, und als er sich dann endlich zur Treppe wandte, folgte ihm das Tier als wäre es selbstverständlich. Normalerweise durfte Spot nicht ins obere Stockwerk, sondern schlief auf dem Sofa oder draußen in seiner Hütte, aber Sisko schwieg und sah den beiden einfach nur hinterher.
Was für ein Tag! dachte er. Aber es war doch irgendwie schön, nicht mehr so völlig allein zu sein.
Als er später in seinem Bett lag, konnte er lange Zeit nicht einschlafen. Er lag da, lauschte auf das Rauschen des Regens, der auch nach Abzug des Gewitters weiterfiel und ließ die Geschehnisse der letzten Stunden Revue passieren. Es sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich, einen Wildfremden einfach so mir nichts dir nichts, im eigenen Zuhause aufzunehmen, also warum machte er dann für Zack eine Ausnahme? Er konnte es nicht erklären, aber wenn er tief in sich hineinhorchte, schien es richtig zu sein. Und selbst Spot, sonst die Widerborstigkeit in Person gegenüber Fremden, hatte ihn ja offenbar auf den ersten Blick ins Herz geschlossen und schlief jetzt am Fußende von Zacks Nachtlager.
Sisko hatte noch einmal in sein altes Zimmer gesehen, als er nach oben gekommen war. Zack schien friedlich zu schlafen, und auch Spot hatte nur kurz den Kopf gehoben, als die Tür aufgegangen war.
Was würden nun die nächsten Tage bringen?
Sisko rechnete mit dem Schlimmsten. Aber was sollten sie gegen eine Truppe bis an die Zähne bewaffneter und zu allem entschlossener Söldner ausrichten, er und Zack?
Sicher, er hatte ein halbes Dutzend Gewehre und ein paar Pistolen im Haus, dazu genug Munition, um sich eine ganze Weile verteidigen zu können, aber würde das ausreichen, um sich einen ganzen Trupp vom Hals zu halten?
Und vor allem: Wollte er sich überhaupt wegen Zack mit diesen Kerlen anlegen?
Er hatte keine Ahnung, worum es ging, weil Zack sich weigerte, ihm etwas darüber zu erzählen. Gut, das war verständlich, immerhin kannte er ihn, Sisko, genausowenig wie umgekehrt, aber dennoch – was gingen ihn die Schwierigkeiten seines Gastes an? Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn für die Nacht aufzunehmen, ihm aber gleich klar zu machen, dass er am nächsten Morgen wieder verschwinden musste?
Doch das fühlte sich einfach nur falsch an, auch wenn er nicht genau sagen konnte wieso.
Natürlich ließ man niemanden im Stich, der Hilfe brauchte, das wusste jedes Schulkind, aber da war noch irgendetwas anderes.
Er konnte Zack nicht seinem Schicksal überlassen, und ein Teil von ihm wollte es auch nicht.
Mit diesen Gedanken schlief er schließlich ein und träumte von seinen Eltern. Sie machten sich Sorgen um ihn und rieten ihm, den Jungen wegzuschicken. Doch er weigerte sich empört und stritt deswegen im Traum mit seinen toten Eltern, bis er in der Morgendämmerung schweißnass hochfuhr.
Da er ohnehin nicht mehr einschlafen würde, beschloss er aufzustehen und Frühstück zu machen. Nachdem er sich angezogen hatte, verließ er das Haus und holte die Eier aus dem Hühnerstall, verquirlte sie mit Maismehl und Zucker und buk Pfannkuchen daraus. Als der Duft langsam durchs Haus zog, klappte oben eine Tür und gleich darauf kamen zuerst Spot und dann Zack die Treppe hinunter. Als Erster bekam Spot sein Frühstück, und danach trug Sisko die Pfannkuchen und die Sirupflasche zum Tisch, wo Zack sich auf sein Geheiß bereits niedergelassen hatte.
Wie am vergangenen Abend legte Zack einen gesegneten Appetit an den Tag und verputzte alles, was er vorgelegt bekam. Anschließend lehnte er sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück und strich sich wohlig über den flachen Bauch, dem niemand angesehen hätte, dass sein Besitzer soeben sieben dicke Pfannkuchen mit Sirup verdrückt hatte.
Sisko hatte nach dem Dritten aufgehört und sich mit der Rolle des Zuschauers begnügt. Jetzt schmunzelte er und meinte: „Ich frage mal nicht, ob es Dir geschmeckt hat. Die Frage ist wohl überflüssig.“
Zack errötete leicht und zuckte verlegen die Schultern, doch sein Gastgeber winkte ab. „Schon in Ordnung. Freut mich, wenn´s dir geschmeckt hat. So wie Du aussiehst, hast Du wohl schon länger nichts Richtiges mehr zu essen gekriegt, oder?“
Zack nickte und Sisko fuhr fort: „Na also. Dann iss Dich ruhig immer satt. Vorläufig gibt’s hier genug zu essen. Gemüse baue ich selber an, Fleisch gibt’s allerdings nur selten. Drüben in Dodger, im Drugstore gab´s Dosenfleisch, davon steht der komplette Lagerbestand unten in meinem Keller, aber damit gehe ich sparsam um.
Ansonsten lege ich Schlingen für Kaninchen aus. Leider gibt’s aber hier nicht so viele, dass ich oft Erfolg habe. Außerdem kann man unten am Fluss noch fischen, aber auch die Fische sind nicht so reichlich vorhanden. Der Hauptbestandteil meines Speisezettels ist darum mein Gemüse. Hauptsächlich Bohnen, Rüben, Mais, Kartoffeln, Kohl und Gurken. Die wachsen alle auf dem Feld hinter dem Haus und das muss versorgt werden. Unkraut jäten, den Boden lockern und natürlich gießen. Das ist die Hauptarbeit, bei der Du mir ab sofort helfen wirst, solange Du hier bist, in Ordnung?“
Zack hatte aufmerksam zugehört und nickte jetzt eifrig. Dann machte er eine fragende Geste rund um sich herum, und Sisko verstand. „Ja, natürlich. Die Hausarbeit ist auch noch da, aber das ist nicht so viel, wie Du Dir denken kannst.“ Er musterte den Jungen abschätzend. „Was mich allerdings am meisten interessiert – kannst Du mit einer Waffe umgehen?“
Zacks Gesicht wurde ernst. Er nickte und Sisko sah ihn zweifelnd an.
„Im Ernst?“ fragte er nach, worauf sein Gast eine Hand ausstreckte und eine auffordernde Geste machte.
„Du willst es mir zeigen?“ Sisko zögerte. War es klug, einem Fremden, den er erst seit dem Vorabend kannte, einfach so eine Waffe in die Hand zu drücken? Zack bemerkte sein Zögern und hob die Augenbrauen.
Also schön. Sisko stand auf, öffnete den Wandschrank und holte eine Pistole und die Winchester nebst Munition heraus. Die Pistole lud er mit zwei Kugeln und reichte sie Zack. Der nahm sie entgegen und winkte Sisko, mit ihm nach draußen zu kommen. Im Hof wies er mit einer Hand rundum und sah Sisko auffordernd an. Er wollte wohl, dass Sisko ein Ziel bestimmen sollte. Nach einem langen Blick über die Farm deutete der Ältere auf die Scheune.
„Siehst Du das Hufeisen über dem Tor. Das hat mein Großvater da aufgehängt. Lass mich sehen, wie Du es runterholst!“ verlangte er und Zack nickte. Er visierte kurz sein Ziel an und drückte ab. Beim ersten Schuss wackelte das Hufeisen und er zielte erneut. Beim zweiten Mal flog das Hufeisen im hohen Bogen durch die Luft und landete dann im Staub.
Sisko nickte anerkennend. „Nicht schlecht. Kannst Du das auch mit einem Gewehr?“ Er nahm ihm die Pistole ab und reichte ihm das Gewehr. Noch während er die Augen über den Hof schweifen ließ, auf der Suche nach einem Ziel, dröhnte der Schuss und das Hufeisen stieg aus dem Staub empor und wurde einige Meter weggeschleudert.
Sisko sah den Jungen an, der stolz grinste und ihm das Gewehr zurückgab.
„In Ordnung. Scheint, als könnte ich ein bisschen ruhiger schlafen, wenn Du Wache stehst, wie? Ich schlage vor, ich übernehme in Zukunft die erste Wache und wecke Dich für die Zweite. Was meinst Du?“
Zacks Grinsen erlosch, und er nickte ernst.
„Okay,“ meinte Sisko, „nachdem das nun geregelt wäre, kommen wir jetzt zum langweiligen Teil – Garten- und Hausarbeit!“
Den Rest des Vormittags verbrachten sie damit, die Pflanzen zu wässern, Wäsche zu waschen und das Haus in Ordnung zu bringen. Sisko gingen dabei vielerlei Dinge durch den Kopf, die ihn veranlassten, den Nachmittag dafür zu nutzen, den Pickup durchzusehen, seinen Tank zu füllen und die Ladefläche mit Proviant, Benzinkanistern und diversen anderen Dingen, inklusive Waffen und Munition voll zu packen.
Irgendwann kam Zack zu ihm in die Scheune und sah erstaunt auf die Kisten und Bündel. Fragend wies er darauf und Sisko erklärte: „Wenn alle Stricke reißen, müssen wir vielleicht abhauen, und da wäre es doch keine schlechte Idee, einen funktionstüchtigen, fahrbaren Untersatz mitsamt ein paar nützlichen Vorräten parat zu haben, oder?“
Zack nickte, wirkte jedoch unglücklich. Sisko legte ihm die Hand auf die Schulter. „Hör zu – das war meine Entscheidung! Mir war klar, auf was ich mich einlasse, wenn ich mich mit diesen Typen anlege, okay?“
Das stimmte zwar nicht so ganz, war aber auch nicht völlig verkehrt und Zack nickte, noch nicht ganz überzeugt.
Anschließend gingen sie zurück zum Haus und ruhten sich eine Weile auf der Veranda aus. Als der Himmel sich allmählich rötlich färbte, stemmte sich Sisko jedoch in die Höhe und verschwand im Haus. Kurze Zeit später kam er wieder zum Vorschein, seine Winchester wieder in der Hand, den Hut auf dem Kopf und das Fernglas um den Hals.
Er reichte Zack die Pistole, mit welcher er sein Können demonstriert hatte und als der ihn daraufhin fragend ansah, sagte er: „Ich gehe jetzt auf den Hügel und sehe mich um. Du bleibst hier und passt auf. Wenn ich nicht innerhalb einer halben Stunde zurück bin, gehst Du in den Kriechkeller. Der Eingang ist da drüben, neben der Veranda. Verhalte Dich ruhig und mach´ nicht auf Dich aufmerksam. Und wenn es nötig sein sollte – schieß´!“
Zack nickte und Sisko kletterte den Hügel hinauf zu seinem Beobachterposten.
Diesmal sah er sich gründlich mit dem Fernglas nach allen Seiten um, doch er entdeckte keine Anzeichen von Leben, soweit das Auge reichte. Dafür sah er etwas Anderes: eine graugrüne Wolkenwand, die sich allmählich von Westen heranschob. Sie reichte turmhoch in den Himmel und Blitze zuckten darin.
Seufzend schob Sisko seinen Hut in den schweißfeuchten Nacken. Das sah nicht gut aus. Das war kein simples Gewitter, sondern ein waschechtes Unwetter, das da herannahte. Das bedeutete, dass es verdammt schwierig sein würde, in der Umgebung irgendetwas zu bemerken, wenn es erst über sie hereinbrach. Er schätzte, dass es noch ungefähr ein bis zwei Stunden dauerte, bis die Unwetterfront die Farm erreichte und hoffte nur, dass sie nicht zu allem Überfluss einen Wirbelsturm hervorbrachte. Das konnten sie momentan gar nicht gebrauchen.
Andererseits würde es Zacks potentielle Verfolger aber vielleicht auch noch eine Weile aufhalten?
Sisko überlegte. Möglicherweise war es ohnehin besser, wenn sie hier verschwanden?
Doch alles in ihm wehrte sich dagegen, seine Farm zu verlassen. Hier war er aufgewachsen, hier fühlte er sich sicher, und außerdem hatte er hier alles, was er zum Überleben brauchte. Wo sollte er auch hin? In die grüne Zone? Teufel – er wusste ja nicht mal, was das war!
Nein, beschloss er, er würde nicht weglaufen! Allerdings nahm er sich vor, sobald er zuhause war, das Radio wieder einmal anzuschalten.
Er wandte sich ab und stiefelte den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Währenddessen grübelte er darüber nach, wieso er sich überhaupt auf diese Geschichte eingelassen hatte. Zack war ein völlig Fremder für ihn, er hatte keine Ahnung, woher er kam, oder warum die Kerle ihn verfolgt hatten. Er konnte ein unschuldiges Opfer sein, oder ein Psychopath!
Doch wenn er sich Zacks Gesicht ins Gedächtnis rief, konnte er nicht glauben, dass er etwas verbrochen hatte. Trotzdem – es entsprach nicht im Geringsten seiner Art, Fremden gegenüber so vertrauensselig zu sein. Zack weckte eine Art Beschützerinstinkt in ihm, gegen den er machtlos war. Offenbar hatten ihm die Monate der völligen Isolation doch mehr zugesetzt, als er gedacht hatte.
Als Sisko die Farm erreichte, war von Zack nichts zu sehen. Er stellte das Gewehr beiseite und stemmte die Hände in die Hüften. Wo mochte der Junge stecken? Auch Spot schien verschwunden zu sein.
„Zack?!“ Er rief halblaut den Namen seines Gastes, und einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Zack kam von der Veranda aus herein und Sisko betrachtete ihn verwundert.
„Wo warst Du?“ fragte er, und der Junge lächelte verschmitzt. Er deutete mit der Hand nach draußen, in die Richtung der alten Weide. Dann vollführte er mit den Armen Bewegungen, als würde er klettern und Sisko verstand.
„Ah! Du bist auf den Baum geklettert?“ Zack nickte und Sisko nickte. „Keine schlechte Idee!“
Dann wurde er ernst. „Hör zu – da zieht ein übler Sturm auf. Vielleicht sogar ein Twister, keine Ahnung. Auf jeden Fall werden wir nicht schlafen gehen, sondern hier unten bleiben und aufpassen. Der Kriechkeller ist sturmsicher, aber im Notfall ist es vielleicht besser abzuhauen. Ich hoffe zwar nicht, dass es soweit kommt, aber wir müssen vorbereitet sein. Sollte ein Tornado aufziehen, tust Du, was ich Dir sage, okay?“ Zack musterte sein Gesicht, als wollte er sich vergewissern, dass er die Wahrheit sagte, schließlich nickte er und schob die Hände in die Taschen.
„Hast Du schon mal einen Twister erlebt?“ wollte Sisko daher wissen, und der Junge schüttelte sofort den Kopf.
„Dann wollen wir hoffen, dass das so bleibt. Andererseits verschafft uns das Unwetter vielleicht noch eine Pause, bevor wir es mit Deinen Verfolgern zu tun bekommen. So wie die Wolken aussehen, sucht sich jeder Mensch mit einem Funken Verstand einen sicheren Platz für die nächsten Stunden.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und kramte in einer Ecke, wo sein Radio seit langem unbenutzt herumstand. Probeweise schaltete er es ein, bekam aber nur statisches Rauschen herein. Er drehte am Knopf für die Senderwahl und nach einigem Herumprobieren stieß er tatsächlich auf Musik. Es war eindeutig Country und Sisko verzog das Gesicht. Wenn es eine Musikrichtung gab, die er absolut nicht ausstehen konnte, dann war es Country! Aber er beließ es dabei, denn ihm ging es ja nur um Informationen und hoffte, dass bald Nachrichten, Sondermeldungen oder etwas in der Art über den Äther hereinkam. Zacks Auftauchen hatte eine Menge Fragen aufgeworfen, und er hoffte, so zumindest ein paar Antworten zu bekommen.
Trotzdem stellte er die Musik so leise wie möglich, bevor er sich mit Hilfe des Jungen daranmachte, sich für die Nacht einzurichten.
Bald darauf saßen sie beide in der schwülwarmen Luft schweigend auf der Veranda, Spot, der auch wieder aufgetaucht war zu ihren Füßen und horchten auf das spätabendliche Konzert der Grillen.
Inzwischen war es völlig dunkel geworden, und Sisko sah immer wieder nach Westen, wo wie er wusste, die drohende Gewitterfront näherkam. Das Radio dudelte leise aus der offenstehenden Tür, doch bislang war die Musik noch von keiner einzigen Nachrichtensendung unterbrochen worden. Allmählich argwöhnte Sisko, dass der verdammte Sender nur noch eine Endlosschleife an Musik spielte. In seiner Vorstellung saß ein toter Moderator in seinem Studio irgendwo in der Pampa in einem Moderatorenstuhl, den Kopfhörer noch auf dem blutverkrusteten Schädel, und die Musik aus der Konserve spielte ohne sein Zutun solange, bis des Equipment den Geist aufgab.
Unwillig schüttelte er den Kopf. Es war definitiv nicht gut, derart morbiden Vorstellungen nachzuhängen!
Sie mochten etwa eine gute Stunde so gesessen haben, als sie das erste Donnergrollen hörten und bald darauf erhob sich eine erste schwache Brise, wirbelte den Staub über den nächtlichen Hof und ließ die Blätter der Weide rascheln.
Zack hob den Kopf und sah gen Himmel, warf dann einen Blick zu Sisko hinüber und stand auf. Er trat an die Kante der Veranda und lehnte sich an eine der Säulen, welche das Dach stützten. Im selben Moment zuckte ein Blitz über den Himmel, und der Junge fuhr zusammen.
Mit unsicheren Schritten kam er rückwärts, und Sisko wollte schon grinsen über diese Reaktion, doch da fuhr ein weiterer Blitz nieder, und in seinem Schein nahm er eine Bewegung am Rande des Hofes wahr. Er sprang auf, kniff die Augen zusammen und sah genauer hin.
Tatsächlich – es war keine Täuschung gewesen: Dort war jemand! Und nicht nur Einer. Fünf geduckte Gestalten huschten durch die Finsternis, und wenn er nicht zufällig hingesehen hätte, als das Himmelsfeuer für den Bruchteil einer Sekunde den Hof erleuchtete, hätte er nicht das Geringste bemerkt.
Aber Zack war ebenfalls aufmerksam geworden. Als Sisko neben ihn trat, krallte er die Finger seiner Linken in dessen Ärmel und wies dorthin, wo Sisko die huschenden Gestalten gesehen hatte.
Rasch legte er den Finger vor die Lippen und zog sich mit dem Jungen in den noch dunkleren Schatten des Hauses zurück. Ob die ungebetenen Besucher sie gesehen hatten, vermochte er nicht zu sagen, allerdings hatten sie ohne Licht dagesessen, waren also vielleicht unbemerkt geblieben.
Das Rauschen des Windes in der Weide wurde lauter, und auch das Grollen des Donners nahm an Intensität zu.
„Hast Du die Pistole noch?“ flüsterte Sisko und der Junge nickte. Als er Sisko anblickte, flackerte ein erneuter Blitz, und in dessen Widerschein war Zacks Gesicht blass und die Augen groß und voller Furcht.
Er drückte ihm rasch den Arm und schob ihn durch die Tür ins Haus.
„Keine Angst, das machen wir schon!“ sagte er leise, obwohl er sich dessen gar nicht sicher war. Aber er wollte den Jungen nicht noch mehr verängstigen.
Drinnen angekommen verriegelte er als Erstes die Vorder- und die Hintertür, löschte das Licht und holte dann Munition für seine Winchester aus dem Wandschrank. Er lud das Gewehr und reichte auch Zack eine Schachtel mit Patronen.
„Geh´ da drüben neben das Fenster. Da kann Dich keiner sehen, der von draußen reinschaut.“
Der Junge beeilte sich, dieser Aufforderung Folge zu leisten, und Sisko selbst bezog neben dem zweiten Fenster Stellung. Vorsichtig spähte er nach draußen in den finsteren Hof, wo sich nichts rührte.
Dafür setzte ein leises Rauschen ein, das rasch immer lauter wurde und dem Dröhnen des Donners eine weiche Untermalung bot. Schließlich prasselte eine wahre Sintflut vom Himmel. Waren die Kerle wirklich da draußen? Selbst bei diesem Sauwetter? Bange Minuten verstrichen, in denen nichts geschah und über dem Klangvorhang des Unwetters auch nichts zu hören war.
Wenn Blitze zuckten, war der Hof vor dem Fenster taghell erleuchtet, man sah riesige Pfützen, aufgewühlt von den Sturzbächen, die vom Himmel fielen, dahinter die Stallungen und die Scheune, aus deren kaputtem Fallrohr eine Fontäne schoss. Stärker werdender Wind trieb den Regen in dichten Schleiern vor sich her, und es schien unglaublich, dass jemand diesen Elementen trotzte, um sich anzuschleichen.
Doch plötzlich vernahm Sisko ein leises Quietschen, und als er den Kopf in die Richtung des Geräusches wandte, sah er, dass jemand am Knauf der Hintertür drehte. Probeweise wurde vorsichtig daran geruckelt und Sisko hörte, wie Zack die Luft zischend einsog.
Da die Hintertür verschlossen war, wurde der Knauf wieder in Ruhe gelassen, und als er die Ohren spitzte, konnte Sisko nun, da er wusste, wo die Eindringlinge waren - zumindest Einer davon – trotz Sturm und Regen leise, schleichende Schritte auf den Holzdielen der Veranda hören, die sich behutsam der Vorderseite des Hauses näherten.
Im nächsten Moment jedoch ertönte vereinzeltes, metallisches Klacken und Klicken, verstärkte sich und ersetzte dann das Rauschen des Regens. Es hagelte und den Geräuschen nach nicht zu knapp.
Von draußen klang ein unterdrückter Fluch, und gleich darauf wurde auch an der Vordertür gerüttelt. Leise zwar, aber durchaus nachdrücklich.
Als auch diese Tür sich nicht öffnen ließ, schien eine Debatte in geflüsterter Form loszubrechen, doch dann zuckte auch Sisko zusammen, genau wie Zack kurz vorher, als plötzlich eine Stimme rief: „Also gut, Jungs! Wir wissen, dass Ihr da drin seid. Macht die Tür auf und keinem passiert was! Wir wollen nur den Jungen!“
Sisko war verdutzt. Die Stimme klang befehlsgewohnt und autoritär, aber es konnte kein Zweifel bestehen, dass der Sprecher eine Frau war!
Er sah zu Zack hinüber, dessen Umriss er in der Dunkelheit gerade so ausmachen konnte.
„Wer ist das?“ fragte er halblaut, für den Moment vergessend, dass Zack nicht sprechen und darum auch nicht antworten konnte.
„Wenn Ihr vernünftig seid, kommen alle mit heiler Haut davon. Falls nicht, kann ich für nichts garantieren!“
Sisko überlegte fieberhaft. Was konnten sie tun? Sie mussten irgendwie hier weg, aber wie?
Er beschloss alles auf eine Karte zu setzen.
„In Ordnung!“ rief er laut. „Ich mache auf. Wer immer Sie sind, Lady, ich möchte mit Ihnen über die ganze Sache reden! Also will ich, dass Sie allein und unbewaffnet reinkommen!“
Ein schnaubendes Geräusch erklang. „Ja, klar!“ ertönte die gleiche Stimme wie vorher. „Und ich bin die Zahnfee! Glaubst Du, Ihr wärt in der Position Forderungen zu stellen? Hier draußen stehen fünf Männer, bis an die Zähne bewaffnet und stinksauer! Du hast drei meiner Leute getötet. Da wirst Du sicher verstehen, dass die Übrigen reichlich angepisst sind? Also entweder machst Du auf und gibst uns den Jungen, dann überlebst Du die ganze Sache vielleicht, oder wir holen ihn uns mit Gewalt!“
Erneut sah Sisko zu Zacks Silhouette hinüber. Er hatte gehofft, die Anführerin in seine Gewalt bringen zu können, aber es sah nicht so aus, als würde das funktionieren. Was nun?
Doch seine Überlegungen wurden unterbrochen, als es vor der Tür unruhig wurde.
„Hört Ihr das?“ fragte eine Männerstimme und Sisko horchte auf. Zuerst vernahm er nichts außer dem Tosen des Sturmes und dem Scheppern der Hagelkörner, doch dann erstarrte er. Ein weiteres Geräusch war dazu gekommen, eines das er kannte und fürchtete, ein Geräusch, wie von einem überdimensionalen Staubsauger, und er wusste sofort, was es damit auf sich hatte: Ein Tornado hatte sich gebildet und raste über die Felder!
„Shit!“ fluchte er und fasste blitzartig nach Zacks Hand.
„Wir müssen sofort hier raus!“ rief er und draußen vor der Tür hörte man ebenfalls hastige Schritte davonstieben. Er stürmte aus dem Haus, Zack hinter sich herziehend und sah aus dem Augenwinkel, dass sich eine Person am Eingang zum Kriechkeller zu schaffen machte. Dann drehte er den Kopf und wäre beinahe zur Salzsäule erstarrt.
Blitze erhellten nahezu nonstop die Szenerie, und über dem Hügel drehte sich die gewaltige Masse eines gigantischen Twisters. Das obere Ende verschwand in den tiefhängenden Wolken, während der Fuß des Tornados sich wie ein tastender Rüssel über den Boden bewegte. Äste und andere Pflanzenteile flogen überall durch die Luft und Sisko spürte, wie der Junge hinter ihm nach seinem Arm tastete.
Das riss ihn aus seiner Starre, er rannte Richtung Scheune, ohne Zack loszulassen und stieß den Jungen dort durchs Tor zu dem beladenen Pickup. Hastig schwang er sich hinters Steuer, Zack kletterte auf der Beifahrerseite hinein und im letzten Moment sprang sogar Spot noch in den Wagen.
Der Zündschlüssel steckte hinter der Sonnenblende und keine halbe Minute später schoss das vollbeladene Gefährt rückwärts durch das offene Tor, hinaus in Regen und Hagel. Er schaltete die Scheibenwischer auf die höchste Stufe und betete, dass die eisigen Geschosse die Windschutzscheibe nicht in ein undurchsichtiges Netz aus Sprüngen verwandelten.
Sie hatten Glück, der Hagel war nicht eben klein zu nennen, es knallte auch gewaltig, wenn die Körner auf den Wagen trafen, doch die Scheibe hielt. Weiterhin rückwärts fahrend verließen sie in halsbrecherischem Tempo den Hof, und draußen wendete Sisko in einem gewagten Manöver, welches Schlamm und Regenwasser aufspritzen ließ. Von Zacks Verfolgern war nichts zu sehen, und Sisko gab Gas, ohne lange zu überlegen.
Hinter ihnen heulte der Wirbelsturm wie ein lebendiges Wesen und als sie auf dem nächsten Hügel ankamen, blieben sie einen Moment stehen und blickten zurück.
Der Tornado hatte den Hügel überwunden und bewegte sich nun in direkter Linie auf die ehemalige Maisfarm zu. Als Erstes erreichte er den Hochbehälter, der ohne Widerstand in die Höhe gerissen wurde. Dann wandte er sich ein wenig zur Seite, knickte die Weide und walzte anschließend Scheune und Stall nieder. Bretter, Blechschienen vom Dach und Mauerbrocken wurden durch die Luft geschleudert wie Geschosse, und Sisko sah mit an, wie seine Heimat dem Erdboden gleich gemacht wurde. Er dachte an seine Kühe und die Hühner und fühlte sich schuldig, weil er sie im Stich gelassen hatte.
Als der düstere Schlauch sich auf das Wohnhaus zubewegte, wandte er den Blick ab und legte den Gang ein.
Diese endgültige Zerstörung wollte er nicht sehen. Außerdem wurde es höchste Zeit von hier zu verschwinden.
Er trat aufs Gas, und sie rollten den Hügel hinunter, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Fortsetzung folgt bald an dieser Stelle
Texte: 477442_original_R_K_by_Falk Blümel_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2012
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