6. Teil
Ein bisschen fühlte es sich an, wie eine Galgenfrist, als die Tage vergingen und allmählich wieder das Wochenende näherrückte. Ich fühlte mich in dieser Zeit ein wenig wie in einer Achterbahn, denn mit meinen Gefühlen ging es geradezu rasant auf und ab. Mal überwog die Vorfreude, Niklas erneut zu treffen, dann wieder fiel ich in ein tiefes Loch beim Gedanken daran, dass er auf Nils` Geständnis so ablehnend reagiert hatte. Zwischendurch haderte ich noch mit Gott, der Welt und mir selbst.
Das war doch schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit, dass ich plötzlich schwul geworden sein sollte!!!
Ich kramte in meinem Gedächtnis und suchte nach Beweisen für das Gegenteil, nur leider fiel mir dadurch erst so richtig auf, dass ich noch herzlich wenig Erfahrung mit der Liebe im Allgemeinen und Mädchen im Besonderen hatte. Gewiss, da gab es die eine oder andere kurze Episode, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war – und das fiel mir ausgesprochen schwer! - dann musste ich mir eingestehen, dass sich da nie sonderlich viel abgespielt hatte, außer ein bisschen Küssen oder ein, zwei Dates. Es war immer rasch wieder Schluss gewesen, und ich hatte mich immer mit dem Gedanken getröstet, dass da eben die Richtige noch nicht dabei gewesen war.
Allerdings konnte ich mich auch nicht entsinnen, dass ich jemals etwas für einen anderen Jungen empfunden hatte, was über bloße Sympathie hinausging.
Ich hatte trotzdem nie viele Freunde gehabt - eigentlich war Nils sogar der Einzige, der sich von meiner kopfgesteuerten Art nie hatte abschrecken lassen und dessen Anwesenheit sich wie ein roter Faden durch meine gesamte Kindheit und Jugend zog. Alle Anderen waren eigentlich immer mehr gute Bekannte, als richtige Freunde, doch das hatte mich nie gestört. Ich hatte kein Problem damit, auch mal allein zu sein, und dennoch gab es jetzt diesen einen Menschen, mit dem ich auf einmal mehr als alles andere zusammen sein wollte – Niklas! Diese Empfindungen irritierten und schockierten mich, und ich bekam nicht besonders viel Schlaf in dieser Woche.
In der Schule wurden noch ein paar letzte Klausuren geschrieben, denn am Mittwoch der folgenden Woche fingen die Weihnachtsferien an, und natürlich musste jeder verschnarchte Lehrer, der die Monate vorher höchstens mal einen beiläufigen Blick auf den Kalender geworfen hatte, jetzt Panik schieben, denn Weihnachten samt Ferien kam ja wieder so verdammt unerwartet! Genau wie jedes Jahr ....
Als ich mich am Freitag nach der neunten Stunde auf den Heimweg machte, war mir ziemlich mulmig zumute.
Einerseits weil nun unübersehbar das Wochenende und damit auch der Sonntag und das Turnier in Bendorf vor der Tür standen, andererseits aber auch, weil ich mir sicher war, dass meine sämtlichen Klausuren dieser Woche bestimmt alles mögliche waren, nur keine Glanzstücke.
Ich war seit Tagen nervös und gereizt, selbst Nils hielt Abstand und meistens sogar die Klappe, was schon was heißen wollte, denn normalerweise besaß er das Einfühlungsvermögen einer mittelgroßen Nacktschnecke.
Zu allem Überfluss hatte ich seit ein paar Tagen auch noch fast jede Nacht Träume von Niklas, deren Inhalt ich lieber schnellstmöglich vergessen wollte. Allein bei der Erinnerung daran brannte mir die Schamesröte im Gesicht. Anfangs fragte ich mich ja, ob Nils da womöglich seine Finger im Spiel hatte, er hatte schließlich bei unserer ersten Begegnung nach seinem Tod auch meinen Traum manipuliert, und selbst Niklas hatte von Träumen erzählt, in denen Nils vorkam, als dieser sich die zwei Wochen auf dem Reiterhof eingenistet hatte.
Doch ich sagte nichts, denn ich war mir nicht sicher, dass es sich tatsächlich so verhielt, und wenn ich ihm dann auf diese Weise mitgeteilt hätte, dass ich von Niklas träumte, wäre das nur wieder Wasser auf seinen Mühlen gewesen und darauf konnte ich verzichten.
Außerdem wollte ich ihm auch nicht die Genugtuung gönnen, mich aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben, gesetzt den Fall, dass er doch damit zu tun hatte.
Aber natürlich kostete es mich Nervenkraft - und vor allem Schlaf!
Am Sonntagmorgen hatte ich beim Aufstehen Augenringe wie ein Bassett und fühlte mich wie gerädert, als ich schon um sechs Uhr früh nach unten in die Küche schlurfte. Normalerweise mussten meine Eltern mich am Wochenende buchstäblich mit dem Brecheisen aus dem Bett stemmen, aber diesmal flüchtete ich regelrecht aus den weichen Kissen, nachdem ich wieder einmal aus einem mehr als irritierenden Traum hochgefahren war. Nils hatte in meinem Sessel gehockt und mir nur einen freundlich-verwunderten Blick geschenkt. Er hatte zu seinen Lebzeiten oft genug hier übernachtet, um sich über mein neu entwickeltes Frühaufstehertum zu wundern, doch ich brummte nur etwas Unverständliches, streifte mir meinen Bademantel über und tappte leise die Treppe hinab.
Es war noch dunkel draußen, und bevor ich in der Küche das Licht einschaltete, warf ich einen Blick in den Vorgarten. Es hatte tatsächlich ein wenig geschneit während der Nacht, deshalb lag ein leichter bläulicher Schimmer über allem, und trotz meiner Verfassung freute ich mich über das zuckrige Weiß. Die dünne Puderschicht nahm der winterlich-tristen Welt die Schärfe und ließ endlich so etwas wie Weihnachtsstimmung aufkommen.
Immerhin dauerte es nur noch knapp zehn Tage bis Heiligabend!
Meine Eltern hatten sich am Vorabend bereits darüber unterhalten, wie wir in diesem Jahr den Silvesterabend verbringen wollten und bei dieser Gelegenheit auch ihr Bedauern geäußert, dass Nils´ Mutter noch vor Weihnachten die Stadt verlassen wollte. Sie hatte sich entschlossen, zu ihrer Schwester zu ziehen, die ebenfalls allein lebte, und meine Eltern verliehen nun ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sie dort zur Ruhe kommen würde. Sie war noch keine alte Frau, aber das Leben hatte ihr übel mitgespielt, und ich stimmte ihnen von Herzen zu.
Was ich ihnen allerdings nicht erzählte war, dass ich von dem bevorstehenden Umzug bereits seit einigen Tagen wusste, denn natürlich besuchte Nils seine Mutter gelegentlich – vor allem dann, wenn ich in der Schule war – und hatte bei diesen Besuchen von ihren Umzugsplänen erfahren. Besonders traurig war er nicht darüber, denn für ihn war es ein Leichtes, sie auch in noch so großer Entfernung aufzusuchen, wenn ihm danach war. Er brauchte nur daran zu denken, und schon war er dort.
Seiner Mutter dagegen fiel es trotz aller schlechten Erinnerungen nicht so leicht, einfach alle Zelte hier abzubrechen, denn wenn sie in Zukunft das Grab ihres Sohnes oder ihres Mannes besuchen wollte, bedeutete es jedesmal eine längere Anreise. Zudem lebte sie seit ihrer Jugend hier, und die Vorstellung in einer anderen Stadt ganz von vorn anzufangen war wohl etwas beängstigend, auch wenn sie dort noch ihre Schwester hatte. Dennoch war sie entschlossen, diesen Weg zu gehen, das hatte sie offenbar bei einem längeren Telefongespräch mit meiner Mutter so gesagt, und nun hofften wir alle das Beste für sie.
Während ich diesen Gedanken nachhing, deckte ich geistesabwesend den Frühstückstisch und setzte Kaffee auf. Schließlich entschloss ich mich sogar, zum Bäcker zu gehen und Brötchen zu holen, denn auf die Weise kam der kleine Junge in mir sogar noch in den Genuss, den ersten Schnee des Jahres aus nächster Nähe zu erleben, bevor die Schritte der Menschen und die Reifen der Autos, Busse und Lkws, nicht zu vergessen natürlich die Besen, Schneeschieber und Streusalzfanatiker ihm den Garaus machten, ihn in ein unansehnliches, braunes Gematsche verwandelten und er als graubraune Dreckbrühe in den Gullys der Stadt verschwand.
Fünf Minuten später war ich angezogen und schlüpfte möglichst leise aus dem Haus. Inzwischen war es fast sieben Uhr, und allmählich wich die Dunkelheit. Da Sonntag war, herrschte noch kaum Verkehr, und ich sog den Anblick des beschneiten Wohnviertels in mich auf. Obwohl ich nur wenig Schlaf gehabt hatte, fühlte ich mich dadurch erfrischt und ließ meinen Atem als weiße Wolke vor mir aufsteigen.
Je näher ich dem Bäcker kam, desto zahlreicher wurden die Fußspuren im frischen Schnee, und hier und da war der Gehweg bereits komplett geräumt. Im Laden lag ein großer, klitschnasser Putzlappen direkt hinter der Eingangstür, und vom Schnee, den die Kunden hineingetragen hatten,war der Boden glänzend nass und rutschig. Ich kaufte Brötchen und Croissants und machte mich dann wieder auf den Heimweg, sodass ich bereits um zwanzig Minuten nach sieben Uhr voll angezogen mit einer dampfenden Tasse Kaffee und einem frischen Croissant in der Hand am Frühstückstisch saß, als mein Vater die Treppe herunterkam und mich erstaunt musterte.
Er warf noch einen ungläubigen Blick auf die Wanduhr und meinte dann: „Was ist denn mit Dir los? Bist Du aus dem Bett gefallen?“ Nachdem er den gedeckten Frühstückstisch ausgiebig gemustert hatte, fuhr er fort: „Frühstück hast Du auch gemacht!? Ist was passiert? Hast Du irgendwas angestellt oder so?“ Er grinste dabei und setzte sich mir gegenüber.
„Muss denn irgendwas Schlechtes passiert sein, nur weil ich mal Frühstück gemacht habe?“ gab ich ein bisschen gekränkt zurück. Er zuckte die Achseln und grinste noch breiter. „Ich meine ja nur. Immerhin kann ich mich nicht erinnern, dass Du freiwillig am Wochenende aufstehst, und Frühstück hast Du das letzte Mal wann gemacht?“
Er zog die Brauen zusammen und tat, als würde er scharf nachdenken. „Ich schätze, das muss so in der Grundschulzeit gewesen sein, an Muttertag?“
Nun wurde ich doch ein bisschen verlegen, überspielte es aber betont lässig. „Na, dann solltest Du Dich lieber freuen, dass ich es jetzt getan habe, oder?“
Da lächelte er wieder und meinte: „Tu ich ja auch. Immerhin hast Du mir erspart, bei der Kälte zum Bäcker zu laufen.“ Er drehte den Kopf zum Fenster und sah hinaus. „Geschneit hat es auch. Da muss ich gleich noch den Gehweg fegen, bevor jemand ausrutscht und wir Ärger kriegen. Gut, dass es nicht so viel Schnee ist, sonst wäre unser Ausflug nach Bendorf womöglich noch ins Wasser gefallen.“
Schlagartig schmeckte mir mein Croissant nicht mehr. Ich legte ihn auf den Teller und nahm einen Schluck Kaffee, aber auch der hatte plötzlich große Ähnlichkeit mit einem flüssigen Brechmittel.
„Was ist denn?“ fragte mein Vater, der wohl gemerkt hatte, wie ich plötzlich die Farbe wechselte.
„Nichts.“ erklärte ich und zwang mir ein Lächeln ab. „Ich hab´ bloß nicht gut geschlafen.“ schob ich hinterher.
Der Rest der Mahlzeit verlief zumeist schweigend, was mich aber nicht störte. Eigentlich bemerkte ich es kaum, denn ich war mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, und die kreisten ausschließlich um den bevorstehenden Nachmittag und das Wiedersehen mit Niklas.
Bei unserem zufälligen Zusammentreffen vor rund einer Woche hatte er eigentlich nicht wirklich sauer gewirkt.
Naja, er wusste schließlich genauso gut wie ich, dass es in Wirklichkeit Nils gewesen war, als ich ihn geküsst hatte. Aber trotzdem musste es ein seltsames Gefühl sein, mir wieder gegenüber zu stehen.
Ob er sich wohl jetzt im Moment ebenso unbehaglich fühlte wie ich, wenn er an den Nachmittag dachte?
Als ich mich vom Tisch erhob, war meine Mutter noch nicht aufgestanden, was nicht ungewöhnlich war. Sie blieb am Wochenende gern länger liegen. Überhaupt ging es bei uns am Samstag und Sonntag eher gemütlich zu.
Wir widmeten uns mit Genuss den Dingen, für die wir unter der Woche keine Zeit hatten, und dabei wurden Spaß und Erholung ganz groß geschrieben. Natürlich ging ich abends auch aus, und das Gleiche galt für meine Eltern.
Gemeinsame Ausflüge wie der für den heutigen Tag Geplante waren dagegen eher eine Seltenheit.
Natürlich hätte ich auch einfach absagen und meine Eltern allein fahren lassen können, aber mir stand noch immer der Blick vor Augen, den Niklas` Vater mir zugeworfen hatte. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann wollte ich Niklas auch selbst gern wiedersehen, trotz Magendrücken, feuchter Hände und wackliger Knie … oder vielleicht gerade deswegen? Junge, ich war ja wohl echt hoffnungslos!
Langsam stieg ich die Treppe wieder hinauf und ließ mich in meinem Zimmer aufs Bett sinken. Nils, der auf der Fensterbank saß, als ich hereinkam, schaute zu mir herüber und meinte: „Was ist? Du siehst aus, als wäre Dir schlecht? Hast Du was?“
Brummelnd drehte ich ihm den Rücken zu, erreichte allerdings nur, dass er von seinem Sitzplatz herunterrutschte und zu mir kam. Die Matratze schwankte leicht, als er sich setzte, und dann beugte er sich über mich, um mir ins Gesicht sehen zu können.
„Na, sag´s schon dem Onkel!“ witzelte er und patschte mir auf den Kopf. Ich wehrte ihn ärgerlich ab und setzte mich wieder hoch. „Hör´ schon auf!“ verlangte ich unwirsch und wischte seine Hand beiseite. „Mir ist gerade echt nicht nach Witzen zumute!“
Einen Augenblick lang saß er still neben mir, und dann sagte er mit so sanftem Tonfall, dass ich verwundert den Kopf hob: „Du bist aufgeregt und durcheinander, weil Du Niklas heute Nachmittag wiedersiehst und nicht weißt, ob Du Dich freuen oder fürchten sollst, weil Du keine Ahnung hast, wie Du Dich verhalten sollst und was er tun oder sagen wird. Ist es nicht so?“
Zuerst starrte ich ihn wortlos an, dann nickte ich. Und dann brach alles aus mir heraus:
„Ich bin völlig durch den Wind, Nils! Ich meine, ich hab´ mich doch nie für Jungs interessiert, NIE! Und jetzt plötzlich kriege ich das große Flattern, wenn ich nur an Niklas denke! Was stimmt denn nicht mit mir? Ich kann doch nicht von heute auf morgen schwul geworden sein?“
Nils erwiderte meinen Blick ernst und meinte dann: „Also, ich würde nicht gerade sagen, dass ich ein Experte bin, was das Thema angeht. Ich kann nur von mir selbst ausgehen, und würde sagen, dass es Dir gerade genauso geht wie mir, als ich gemerkt habe, dass Niklas für mich viel mehr geworden ist, als nur ein Klassenkamerad. Ich bin damals total erschrocken und ihm deshalb aus dem Weg gegangen, wo ich nur konnte. Stattdessen hab´ ich ihn heimlich beobachtet – fast schon wie ein Stalker!“ An dieser Stelle lachte er leise und ein bisschen wehmütig. „Gleichzeitig musste ich mich höllisch in acht nehmen, damit niemand anderer was merkt. Schließlich sollte mich ja keiner für schwul halten! In der Zeit war ich auch völlig durch den Wind! Sag´ bloß nicht, Du hättest das nicht bemerkt?“
Ich zuckte die Achseln. „Wann war das denn? Du warst öfter etwas daneben.“
Er grinste und versetzte mir einen Rippenstoß. „Das war vor einem Vierteljahr! Kurz vor Deinem Geburtstag. Weißt Du denn echt nicht mehr, dass ich beinah Deine Party vergessen hätte? Du warst doch voll sauer deswegen!“
Ja, daran erinnerte ich mich. Damals war ich wirklich mehr als genervt gewesen, weil Nils einen Tag vor meiner geplanten Party, von der ich bereits seit Tagen redete Null Plan gehabt hatte, und ich es schließlich merkte, weil er mich völlig verständnislos anstarrte, als ich ihm erzählte, wie sehr ich auf das Kommen eines bestimmten Mädchens hoffte. Aber ich hatte angenommen, es wäre seiner üblichen Gedankenlosigkeit zuzuschreiben gewesen. Den wahren Grund hätte ich im Traum nicht erraten.
„Na, siehst Du, jetzt fällt es Dir ein, oder?“ grinste Nils, als sich wohl die Erinnerung auf meinem Gesicht abzeichnete. Im nächsten Moment stutzte ich. „Vor einem Vierteljahr? Mann, so lange geht das schon? Wieso hab´ ich davon nie was gemerkt?“
Diesmal hob er die Schultern. „Naja, ich wollte ja gar nicht, dass es jemand merkt! Und dann ausgerechnet Du! Ich glaube, ich wäre vor Verlegenheit tot umgefallen, wenn Du das mitgekriegt hättest!“
„Na, inzwischen scheint sich das ja geändert zu haben, oder?“ gab ich sarkastisch zurück, und er nickte ernst.
„Stimmt. Aber ich hab´ ja auch was Wichtiges dazugelernt seitdem.“
„Und was? Wie man seinen besten Freund in Schwierigkeiten bringt?“ fragte ich zurück, doch er schien die Spitze gar nicht zu bemerken, sondern schüttelte nur den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen. „Nein, Arno. Aber dass man nicht imer nur grübeln, sondern einfach mal hin und wieder seinem Gefühl nachgeben sollte. Es könnte nämlich ganz plötzlich zu spät dafür sein! So wie bei mir. Und heute tut es mir leid, dass ich so lange gezögert habe. Klar hätte ich mir einen Korb holen können, oder vielleicht hätten die Anderen mich auch als Schwuchtel gehänselt, wer weiß? Aber zumindest würde ich dann nicht diese ganzen Was wäre wenn
– Gedanken mit mir rumtragen! Denn weißt Du, es ist zwar Scheiße, hier festzuhängen, von so gut wie niemandem wahrgenommen zu werden und sich nicht mitteilen zu können, aber das Schlimmste ist der Gedanke was hätte sein können, wenn ich nur ein klitzekleines bisschen mehr Mut gehabt und zu meinen Gefühlen gestanden hätte! Ich hatte die Chance auf etwas ganz Besonderes, verstehst Du? Und ich hab´ sie einfach ungenutzt verstreichen lassen und mir einzureden versucht, es wäre nichts, nur weil ich Angst hatte. Es gibt nicht sehr viel, was ich wirklich bereue, aber das gehört auf jeden Fall dazu!“
Das verschlug mir die Sprache, ich starrte ihn wortlos an und schluckte schwer. So hatte ich das noch nicht betrachtet, und auf einmal erschienen mir meine Gefühle in einem etwas anderen Licht.
Homosexualität war ein Thema, über das ich nicht wirklich viel wusste. Es hatte ja auch nie die Notwendigkeit bestanden, dass ich mich damit befasste, im Gegenteil - wenn man zuviel Interesse dafür zeigte, lief man höchstens Gefahr, selbst für schwul gehalten zu werden! Und ich kannte keinen einzigen Jungen meines Alters, der das riskiert hätte, mich selbst eingeschlossen!
Wer hatte denn nicht schon bei dem Wort „schwul“ die typische Klischee-Witzblatt-Tunte vor Augen? Die beim Sprechen mit den Händen wedelt, die Hüften schwenkt, in näselndem Tonfall und mit klimpernden Wimpern über die neueste Mode redet und jeden mit „Liebchen“ oder „Süßer“ tituliert? Denn genau so stellt sich doch die eine Hälfte der Bevölkerung die Schwulenszene vor, oder? Für die andere Hälfte gehören vielleicht kurzgeschorene Haare, Sonnenbrillen und Lederkleidung dazu...?
Ich schüttelte diese unwillkommenen Bilder ab und konzentrierte mich wieder auf die Realität. Nils saß noch immer neben mir und betrachtete mich aufmerksam. Vermutlich spiegelte mein Gesicht, was in mir vorging, denn er lächelte plötzlich.
„Weißt Du, eigentlich beneide ich Dich!“ sagte er dann, und ich riss die Augen auf.
„Mich?“ Ich schnaubte. „Recht schönen Dank auch! Aber ehrlich gesagt fühle ich mich momentan nicht besonders beneidenswert!“
Das brachte ihn erneut zum Grinsen, und er fuhr fort: „Das glaube ich Dir glatt, aber zumindest hast Du jemanden wie mich, der versteht, wie es Dir geht und mit dem Du reden kannst.“
Und da wurde mir mit einem Mal bewusst, dass er recht hatte. Bisher war mir seine Anwesenheit nur als ein Ärgernis erschienen, mit dem ich mich abfinden und irgendwie arrangieren musste, bis ich einen Weg gefunden hatte, ihn los zu werden. Doch jetzt plötzlich war die alte, ursprüngliche Vertrautheit wieder da.
Wir waren wieder Freunde, beste Kumpels, die über alles reden konnten, und fast erschien es mir unglaublich, dass es das erste Mal seit seinem unerwarteten Auftauchen war, dass wir so offen miteinander redeten! Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich sah seinem Gesicht an, dass er ähnlich empfand. Ich räusperte mich und legte dann den Arm um ihn. „Scheiße, komm´ her, Mann!“
Er erwiderte meine Umarmung, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als wäre eine schwere Last von mir genommen worden.
Vermutlich würde er mich noch bevor der Tag zu Ende ging, erneut zur Weißglut treiben – besonders da wir später hinaus nach Bendorf fahren wollten! - aber jetzt gerade war ich einfach nur froh, dass er bei mir war.
Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen zwischen uns – ein gutes Schweigen diesmal. Dann jedoch räusperte ich mich und stellte die eine Frage, die mir seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte.
„Aber sag´ mal – was ist denn eigentlich mit Dir? Ich meine, macht Dir das gar nichts aus? Du bist doch in Niklas verliebt, hast Du gesagt. Bist Du gar nicht sauer auf mich?“ - „ Mal abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass er diese Gefühle jemals erwidern wird!“ schob ich rasch nach.
Nils stützte den Kopf auf die Hand und sah mich nachdenklich an.
„Sauer? Hmmm. Naja, am Anfang war ich schon angepisst und hab´ mich irgendwie verarscht gefühlt. Aber zum Einen hast Du ja gehört, was Niklas gesagt hat – er erwidert meine Gefühle nicht, und zum Anderen würde es ja auch nichts ändern, wenn ich es an Dir auslasse. Für Deine Gefühle kannst Du ja genausowenig was wie ich. Naja, und außerdem glaube ich doch auch fest daran, dass ich endlich von hier wegkomme, wenn ich Dir helfe.“ Er lächelte, als er das sagte, aber es war so ziemlich das traurigste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte, und auf einmal spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, so als wäre mir gerade erst richtig klargeworden, was es bedeutete, dass Nils tot war. Er saß zwar noch hier vor mir, ich konnte ihn anfassen und mit ihm reden, aber irgendwann würde das vorbei sein, und dann würde er mir furchtbar fehlen. Dadurch, dass er so kurz nach seinem Tod als Geist wieder bei mir aufgetaucht war, hatte ich mich mit dieser Tatsache noch gar nicht auseinandergesetzt.
Einen Moment lang zögerte ich noch, aber schließlich umarmte ich ihn ein weiteres Mal, denn bei aller Verlegenheit kam mir wieder in den Sinn, was er gerade eben über verpasste Chancen und dergleichen gesagt hatte.
Ich fühlte mich merkwürdig zerrissen – einerseits wollte ich ihn nicht verlieren, aber andererseits war mir klar, dass er nicht bleiben konnte. Er gehörte hier nicht mehr hin, und auf Dauer würde er unglücklich sein, in seiner Halbexistenz.
Und nicht zuletzt würde er mich vermutlich über kurz oder lang in den Irrsinn treiben, wenn er blieb!
„Glaubst Du eigentlich an Wiedergeburt oder so´n Zeugs?“ fragte er da plötzlich und riss mich damit aus meinen trüben Gedanken. Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Darüber hab´ ich noch nie nachgedacht. Du?“
Er wedelte mit der Hand. „Nö. Eigentlich nicht. Aber wäre doch cool, oder? Stell´ Dir mal vor, man würde wieder geboren und könnte sich dran erinnern, wer man vorher war! Das wäre doch krass, oder nicht?“
Ich überlegte. „Hat da nicht mal irgend so´n Typ Experimente mit Hypnose gemacht und Leute von ihren früheren Leben erzählen lassen?“
„Echt jetzt?“ Nils riss die Augen auf und ich nickte. Dann grinste er breit und stieß mich in die Seite. „Also, wenn ich tatsächlich wiederkomme, dann melde ich mich bei Dir, ja? Nur damit Du Bescheid weißt!“ Er lachte, und auch ich grinste mit. „Wenn also eines Tages ein frecher, kleiner Stöpsel bei mir vor der Tür steht und mich blöde angrient, dann weiß ich, dass Du es bist, oder wie?“ stichelte ich.
„Klar. Und wenn ich erst erwachsen bin, dann spanne ich Dir altem Knacker Niklas wieder aus, stell´ Dich drauf ein!“ Er ließ sich lachend hintenüber aufs Bett fallen, und obwohl das Gespräch eine doch recht seltsame Wendung genommen hatte, fühlten wir uns beide in diesem Moment einfach sauwohl miteinander.
Am frühen Nachmittag machten wir uns tatsächlich auf den Weg nach Bendorf. Es hatte zwar wieder angefangen zu schneien, aber nur leicht. Große, pudrige Schneeflocken segelten träge vom Himmel und verwandelten die Landschaft in ein atemberaubendes Wintermärchen … nicht dass ich viel davon gesehen hätte!
Ich war vollauf mit mir selbst beschäftigt, und mit dem, was Nils mir alles erzählt hatte.
Natürlich war er nicht bei uns im Wagen, ich schätzte, dass er sich bereits auf dem Reiterhof herumtrieb und mich dort erwartete.
Als wir Bendorf erreichten, staunte ich allerdings nicht schlecht. Die Straße, die beim letzten Mal so ausgestorben gewirkt hatte, war dicht befahren, und alle hatten scheinbar das gleiche Ziel wie wir. An der gesamten Hauptstrasse entlang waren zu beiden Seiten die verschiedensten Autos geparkt, etliche mit Pferdeanhängern, viele aber auch ohne, und wir entdeckten ein handgemaltes Schild mit einem Pfeil und einem großen P, welches uns den Weg zu einer Wiese am Ortsrand wies, wo bereits gut die Hälfte der Fläche ebenfalls zugestellt war. Und noch immer kamen weitere Wagen angefahren. Offenbar hatte Niklas` Vater nicht übertrieben, als er davon gesprochen hatte, dass auf ihrem Weihnachtsturnier viel Betrieb herrschte, im Gegenteil.
Ich wies meinen Eltern nach dem Aussteigen den Weg zu der schmalen Gasse, und kurz darauf befanden wir uns auf einem regelrechten Jahrmarkt. Es wimmelte nur so von Menschen jeden Alters, die auf dem Hof herumstanden und -liefen, Glühweinbecher jonglierten, miteinander redeten und lachten. Wir bahnten uns einen Weg bis zu dem schmalen Durchgang zwischen Reithalle und Stall und erreichten so den eigentlichen Turnierplatz, ein großes, abgezäuntes Geviert, welches mit Sägemehl ausgestreut und mit verschiedenen Hindernissen bestellt war. Ein kleines Stück entfernt, war eine weitere Fläche abgesteckt, wo gerade einige Pferde hin und her geführt wurden. Auch dort standen ein paar Hindernisse, allerdings nur drei Stück.
Ich hatte keine Ahnung vom Springreiten und sah nur mäßig interessiert hin, als eine Reiterin in schwarzer Jacke und mit Helm auf einem Apfelschimmel in den Parcours hineinritt. Stattdessen schaute ich mich unauffällig um, in der Hoffnung Niklas oder wenigstens Nils irgendwo zu entdecken.
Die meisten Menschen gruppierten sich mittlerweile am Zaun des Sprungparcours und schauten zu, wie die Reiterin ihr Tier in für mich unbegreiflichem Schlängelkurs über die verschiedenen Hindernisse lenkte. Bedauerndes Gemurmel kam auf, als der Schimmel plötzlich vor einem zweiteiligen Hindernis die Vorderbeine in den Boden stemmte und sich weigerte, seiner Reiterin zu gehorchen. Sie zog die Zügel an, lenkte das Tier in einem Bogen noch einmal heran und diesmal klappte es. Wider Willen war ich von dieser Szene abgelenkt und schrak daher heftig zusammen, als mir plötzlich jemand kräftig auf die Schulter schlug.
Natürlich war es Nils, wer auch sonst, und natürlich war ihm klar, dass ich meinem Ärger hier keine Luft machen konnte, weil so viele Menschen um uns herum waren. Nach einem raschen Blick in die Runde, der mich überzeugte, dass niemand, nicht einmal meine Eltern etwas gemerkt hatten, zischte ich wütend: „Spinnst Du? Ich hab´ mich total erschrocken!“
Er grinste nur breit und verschränkte die Arme. „Klar. Das war ja auch der Zweck der Übung!“
Grummelnd wandte ich mich ab, und er sagte: „Und? Hast Du Niklas schon irgendwo entdeckt?“ Ich schüttelte den Kopf, und weil gerade Applaus aufbrandete, nachdem die Reiterin das letzte Hindernis überwunden hatte, fügte ich halblaut hinzu: „Und Du?“
Er verneinte ebenfalls und meinte dann: „Lass´ uns doch einfach mal näher rangehen. Er reitet doch mit, hast Du gesagt. Dann wird er früher oder später schon auftauchen. Außerdem schätze ich, dass er vorher sowieso keine Zeit für uns hat.“
Das klang sinnvoll, wie ich ungern zugeben musste und so bahnte ich mir einen Weg zwischen den Zuschauern hindurch, die sich in den letzten Minuten doch ziemlich vermehrt hatten und fand mich schließlich ganz vorn am Zaun wieder, wo ich den gesamten Parcours überblicken konnte. Nils hatte es nicht so schwer wie ich, die Leute rückten ganz von allein zur Seite und ließen ihm eine Lücke frei, gerade so, als würden sie seine Anwesenheit spüren.
Ein paar weitere Reiter absolvierten den Hinderniskurs, doch ich sah hin, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Meine Augen waren ständig in Bewegung und suchten den Bereich außerhalb des Parcours nach der vertrauten Gestalt von Niklas ab, und dann endlich, nach fast einer Dreiviertelstunde, war es soweit. Plötzlich tauchte er auf, führte ein Pferd zu dem abseits gelegenen Geviert, wo er aufsaß, eine Weile hin und her ritt und ein paar Probesprünge absolvierte.
Schließlich näherte er sich dem eigentlichen Parcours und wartete außerhalb davon, dass er an die Reihe kam.
Er trug eine hellbraune Jacke, darunter eine weiße Reithose, schwarze Stiefel und einen schwarzen Helm. Die Hände steckten in ebenfalls hellbraunen Handschuhen, und mir stockte buchstäblich der Atem, so eine gute Figur machte er in den Sachen. Nichts erinnerte an den hilflosen Jungen, der von den Rowdies traktiert wurde, er wirkte beherrscht und selbstsicher.Während er wartete, klopfte er seinem Pferd ein paar Mal beruhigend den Hals, schien aber selbst völlig gelassen.
Nachdem sein Vorreiter den Parcours unter einigem Applaus verlassen hatte, ritt Niklas hinein. Auf Höhe der Preisrichter hielt er kurz an und grüßte, und dann ging es los. In meiner Umgebung klang aufgeregtes Gemurmel auf, bevor es wieder still wurde, offenbar war sein reiterisches Können unter den Anwesenden bekannt.
Schon hatte er das erste Hindernis erreicht und flog mit seinem Tier darüber hin, als wäre es nichts, korrigierte dann die Richtung und nahm das Nächste in Angriff. Ich hielt die Luft an und war vollkommen gebannt.
Das Herz schlug mir bis zum Hals, und meine Hände wurden feucht, als ich ihm zusah. Immer mehr Hindernisse übersprang er mit Leichtigkeit und Eleganz, und niemand war auf das vorbereitet, was dann geschah.
Einige Gäste hatten auch Hunde dabei, und natürlich waren diese Hunde sich nicht alle grün. Hier und da wurde geknurrt und gekläfft, aber im Großen und Ganzen hatten die Menschen ihre Vierbeiner im Griff.
Doch plötzlich riss sich einer der Hunde los und schoss quer über den Parcours – aus welchem Grund auch immer - wie es der Teufel wollte, direkt vor die Hufe von Niklas` Pferd! Dieses scheute und stieg, machte einen Satz zur Seite und im nächsten Augenblich fiel Niklas herunter.
Wie in Zeitlupe sah ich ihn durch die Luft fliegen, und dann krachte er mit dem Kopf gegen die Stangen eines Hindernisses. Der Aufschrei blieb mir in der Kehle stecken, doch die übrigen Zuschauer schrien dafür umso lauter.
Niklas bekam davon nichts mehr mit. Er stürzte vollends zu Boden und hatte nur insofern Glück, dass sein Pferd nicht noch auf ihn trat, als er reglos liegenblieb.
Ich stand wie vom Donner gerührt und hatte das Gefühl, eine eiskalte Hand griffe nach meinem Herzen. Menschen rannten zu dem liegenden Körper. Einige fingen das noch immer scheuende Pferd ein, aber die meisten stürzten zu Niklas.
Ich wäre gern ebenfalls hingerannt, doch in meiner Schockstarre war ich nicht in der Lage dazu. Meine Mutter dagegen war sofort losgerannt und ich sah, wie sie mit bestimmenden Gesten Anweisungen gab.
Fortsetzung folgt
Texte: Cover:
186753_R_by_Mike Nottebrock_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2011
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