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5. Teil




Nachdem Niklas` Vater mich wie beim letzten Mal am Bahnhof abgesetzt hatte und ich mich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, ging mir das, was er mir erzählt hatte, permanent im Kopf herum. Dazwischen mischten sich Bilder von Niklas´ Gesicht und die Erinnerung an den erzwungenen Kuss, und obwohl ich ja eigentlich nichts dafür konnte, was passiert war, fühlte ich mich zunehmend mies.
Nicht, dass ich auch nur irgendetwas anders hätte machen können, wenn ich das alles vorher gewusst hätte, aber trotzdem! Ich konnte nur mutmaßen, was Niklas jetzt von mir hielt.
Daheim angekommen sagte ich kurz meinen Eltern Hallo

und verschwand dann schnurstracks in meinem Zimmer, wo ich heftig zusammenzuckte, als ich Nils in meinem Sessel sitzend vorfand. Ihn hatte ich über meiner Grübelei völlig vergessen!
„Was denn?“ fragte er verwundert. „Ich bin´s doch nur!“ Ich nickte zerstreut und streifte meine Jacke aus, hängte sie an die Türgarderobenleiste und ließ mich seufzend auf mein Bett fallen. Nils – erstaunlich feinfühlig! - merkte, in welcher Stimmung ich war und setzte sich neben mich.
„Ist noch irgendwas passiert, nachdem ich weg war?“ wollte er wissen. Ich ließ mich hintenüber fallen und starrte an die Decke, während ich antwortete.
„Nein, passiert ist nichts, aber ich hab´ da unterwegs was erfahren, das ist echt heavy!“
Auch Nils ließ sich zurücksinken und gab mir wortlos zu verstehen, dass ich weiterreden sollte. Das tat ich dann auch und erzählte ihm alles, was ich von Niklas` Vater gehört hatte. Als ich bei der Stelle anlangte, wo seine Klassenkameraden ihn als Schwuchtel

gehänselt hatten, stemmte er sich auf die Ellbogen hoch und drehte sich zu mir.
„Shit!“ war das Einzige, was er sagte, aber mehr war auch nicht nötig.
Als ich meinen Bericht beendet hatte, setzte Nils sich auf und stützte den Kopf in die Hände.
„Oh, shit!“ wiederholte er. „Das erklärt natürlich, wieso er mit der Mistgabel auf Dich los ist!“ fügte er dann noch hinzu. Ich nickte und musterte ihn. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund ärgerte mich seine zerknirschte Haltung und reizte mich erst recht, ihm Einen rein zu würgen.
„Es wäre ja auch weiß Gott nicht nötig gewesen, ihn heute dermaßen zu überfallen! Aber Feingefühl hattest Du ja noch nie!“ sagte ich vorwurfsvoll und beobachtete befriedigt, wie er sich unter meinem Vorwurf krümmte.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sank noch mehr in sich zusammen.
„Scheiße, ja, das weiß ich selber! Musst Du mir das so reindrücken? Ich hab´ doch nicht gewusst ...“
Ich fiel ihm heftig ins Wort. „Natürlich nicht! Du weißt doch eigentlich überhaupt nichts über ihn, ist es nicht so? Aber anstatt ihn erst mal kennen zu lernen, knutschst Du ihn gleich ab! Und benutzt dazu auch noch mal eben ungefragt meinen Körper! Denkst Du eigentlich auch mal daran, wie es anderen geht, anstatt immer nur an Dich selbst?“
Mist! Ich steigerte mich gerade erneut in eine völlig unangebrachte Rage! Wenn ich nicht aufpasste, würde es mir hinterher wieder leid tun! Mühsam kämpfte ich meine wütenden Impulse nieder und bemühte mich, an etwas anderes zu denken.
„Wieso bist Du eigentlich überhaupt noch hier?“ fragte ich dann und hörte selbst, dass mein Tonfall noch immer feindselig war. Er sah kurz in meine Richtung. „Hm? Warum ich noch hier bin?“ Er schnaubte leise und bitter. „Das wüsste ich selbst gern! Ich war so sicher, dass ich verschwinde, sobald Niklas Bescheid weiß.“ Er zog die Beine aufs Bett hoch und die Knie ans Kinn. Dann schlang er die Arme um seine Beine und legte den Kopf auf die Knie. „Glaub´ mir, ich würde lieber heute als morgen gehen, wenn ich es nur könnte!“ murmelte er.
„Und wie kommt es eigentlich, dass Niklas Dich plötzlich sehen kann?“ fiel mir dann noch ein. Er hob die Schultern. „Das weiß ich nicht so richtig, aber zumindest habe ich eine Theorie. Ich denke, er hat nach der Sache mit dem Kuss angefangen, an mich zu glauben. An mich als Geist, meine ich. Und vielleicht liegt es daran?“
Ich überlegte. „Also, mit anderen Worten – es ist eine Glaubenssache, ob man Geister sehen kann oder nicht? Aber ich habe vorher auch nicht an Gespenster geglaubt.“
Er grinste. „Du hast geglaubt, Du würdest nicht an sie glauben! Aber tief drin hast Du doch dran geglaubt, oder?“
Das hing mir zu hoch, und ich machte eine ärgerliche Kopfbewegung. „Tolle Theorie! Weißt Du, was ich davon halte? Das ist alles Bullshit!“ fauchte ich, und das Grinsen in seinem Gesicht erlosch.
„Mann, ich kann doch wirklich nichts dafür!“ sagte er leise. „Glaubst Du vielleicht, mir macht das hier Spaß?“
Nein, das glaubte ich natürlich nicht, aber zugeben mochte ich es in diesem Moment noch weniger.
„Und?“ fragte er nach einer Weile unbehaglichen Schweigens. „Was und?“ gab ich missmutig zurück.
„Na, ich meine, was machen wir jetzt? Wir können doch nicht einfach alles so lassen, wie es ist!“ Nils schaute mich ratsuchend an, und mir schwoll augenblicklich wieder der Kamm.
„Ach – und wieso nicht? Ist Dir schon mal der Gedanke gekommen, dass es das Beste sein könnte, Niklas einfach in Ruhe zu lassen?“
„Das kann doch nicht Dein Ernst sein, Arno!“ Ungläubig zog er die Augenbrauen himmelwärts.
„Und warum nicht?“ Ich setzte mich ebenfalls auf und stützte die Ellbogen auf den Knien ab.
„Na, weil … weil … ach, ich weiß auch nicht, aber es fühlt sich einfach falsch an!“ Nils wedelte mit den Armen.
„Falsch?“ Ich schnaubte verächtlich. „Soll ich Dir mal sagen, was hier falsch läuft?“
Bingo! Es war soweit – ich verlor die Beherrschung!
„Falsch ist zum Beispiel, dass ich mich permanent auf Deine strunzdämlichen Ideen einlasse, und falsch ist, dass ich einem wildfremden Jungen nachsteige, weil Du ihm angeblich Deine Liebe gestehen musst, damit ich Dich endlich los werde, was dann aber seltsamerweise doch nicht funktioniert! Und weißt Du, was noch falsch ist? Dass Du ohne zu fragen über andere Menschen herfällst und ihnen Deine Gefühle aufzwingst, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was sie vielleicht davon halten könnten!!“
Ich war so wütend geworden, dass ich mich buchstäblich mit Gewalt daran hindern musste, laut zu werden, denn das hätte unweigerlich meine Eltern auf den Plan gerufen. Da ich aber irgendwo hin musste, mit meiner Wut, war ich aufgesprungen und stand nun mit geballten Fäusten und schweratmend vor Nils, der mich völlig entgeistert anstarrte.
Verdammt! Was war eigentlich heute mit mir los?
Ich hatte ja schon vor zwei Wochen selbst bemerkt, dass die Auseinandersetzungen mit Nils eine andere Qualität hatten, als zu seinen Lebzeiten, aber eine solche heißkalte Rage, das war mir denn doch neu! Irgendwie reizte mich schon sein bloßer Anblick! Und wenn ich mir nun vorstellte, dass er Niklas tatsächlich weiter behelligen wollte, kochte mir die Galle über!
„Lass´ Niklas in Ruhe!“ herrschte ich ihn abschließend an, und plötzlich erstarrte er zur Salzsäule.
Lange Sekunden fixierte er mich mit einem merkwürdigen Blick, doch dann beugte er sich leicht vor.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast sagen, Du bist eifersüchtig!“ kam es halblaut von ihm, und schlagartig schoss mir das Blut ins Gesicht.
Wie konnte er so etwas behaupten? Ich und eifersüchtig? Wegen Niklas? Was für ein Blödsinn! …... Oder?
Ich wollte nicht darüber nachdenken, denn obwohl ich das niemals zugegeben hätte, fürchtete ich mich vor den Erkenntnissen, die da womöglich auf mich warteten. In meinem Hinterkopf lauerten ein paar fiese Schimpfworte, deren hässliche Bedeutung mir selbstverständlich bekannt war, seit ich die Grundschule absolviert hatte, allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich einmal fürchten würde, sie selbst an den Kopf geworfen zu bekommen.
So schnell wie sie aufgestiegen war, schwand die Röte aus meinen Wangen, und ich merkte, wie ich blass wurde.
„Red´ nicht solchen Quatsch!“ protestierte ich, aber ich merkte selbst, dass es irgendwie viel zu schwach und unglaubwürdig klang. Während er mich weiterhin nicht aus den Augen ließ, stieß Nils den Atem in einem zischenden Laut aus und stand ebenfalls auf. „Von wegen Quatsch!“ sagte er, und er klang kalt und abweisend.
„Ich sehe es Dir doch an! Du stehst auf ihn, auch wenn Du es vielleicht selbst noch nicht richtig gerafft hast! Mann!“ Er stemmte die Hände in die Seiten. „Und ich dachte, Du wärst mein Freund und ich könnte mich auf Dich verlassen! Deshalb bist Du auch heute so angepisst und willst, dass ich Niklas in Ruhe lasse, stimmt`s?“
Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und stieß mit einem Zeigefinger in meine Richtung. „Aber das sage ich Dir - ich bin vielleicht tot, aber nicht blöd! Und ich werde nicht zulassen, dass Du mir Niklas ausspannst!“
„Das wird auch nicht nötig sein!“ gab ich heftig zurück. „Denn erstens bist Du tatsächlich tot, Kumpel, zweitens habe ich noch nichts davon bemerkt, dass ihr zusammen seid und drittens ist mir das eh wurscht, weil ich nämlich NICHT auf Jungs abfahre, kapiert?“
Wie Kampfhähne standen wir voreinander, so dicht, dass wir einander hätten küssen können, hätten wir es gewollt. Stattdessen zuckte es plötzlich um Nils` Mundwinkel, und er senkte den Kopf. Das Absurde an der Situation kam nun auch mir zu Bewusstsein, und ich spürte, wie meine Lippen sich ebenfalls ganz von allein kräuselten. Ein erstes, unterdrücktes Glucksen kam von Nils, und im nächsten Moment brachen wir in völlig hysterisches Gelächter aus. Wir lachten, bis uns die Tränen aus den Augen liefen und die Bäuche wehtaten, aber jedesmal wenn wir dachten, wir hätten uns beruhigt, sahen wir uns an und sofort brandete der blödsinnige Lachflash wieder auf. Irgendwann fielen wir aufs Bett und japsten nach Atem, sodass das Gekicher regelrecht erstickte, und endlich meinte Nils: „So, so, das ist Dir also wurscht

?“ Er gackerte erneut, und ich stieß ihn in die Rippen. „Dafür bist Du was? Tot aber nicht blöd

?“ Wir grinsten beide über dieses geniale Satzkonstrukt, und mit einem Mal setzte sich Nils hoch.
„Arno – das ist es!“ Er sah aus, als wäre ihm soeben eine nobelpreiswürdige Erleuchtung gekommen, und ich schaute ihn verdutzt an. „Was ist was?“ fragte ich irritiert und schuf damit ebenfalls einen Anwärter auf den dämlichsten Satz aller Zeiten.
Er störte sich aber nicht daran, sondern fasste aufgeregt nach meinem Arm. „Darum bin ich noch hier! Und deshalb kannst Du mich sehen und hören! Mann, jetzt kapiere ich es endlich!“ Er schlug sich vor die Stirn und sah mich beifallheischend an.
„Tut mir leid.“ erwiderte ich. „Wenn Du nicht noch ein paar erhellende Einzelheiten für mich hast, habe ich keinen Schimmer, was Du meinst!“
Nun packte er mich an den Schultern und rüttelte mich. „Na, das ist doch ganz logisch! Meine Aufgabe! Das was mich hier festhält! Jetzt hab´ ich´s endlich kapiert! Ich dachte, ich müsste Niklas meine Liebe gestehen, aber das war völliger Blödsinn! Ich muss dafür sorgen, dass Ihr beiden zusammen kommt! Das ist es!!!“
Noch immer rüttelte er an mir, und ich begann zu fürchten, er würde mir das Hirn bei den Ohren hinausschütteln, doch was er da sagte, ließ mich beinahe wünschen, er würde es tun. Ich machte mich los und rückte ein Stück von ihm weg. „Was? Bist Du jetzt völlig bescheuert?“ Entgeistert starrte ich ihn an. „Du willst mich und Niklas verkuppeln?“ Das konnte er doch unmöglich ernst meinen, oder?
Ein Blick in sein leuchtendes Gesicht bewies mir das Gegenteil, und mir war klar, dass ich ihn so schnell wie möglich ausbremsen musste, sonst lief er über kurz oder lang auf Autopilot und brockte mir eine Suppe ein, die ich im Leben nicht auslöffeln konnte, geschweige denn, dass ich das überhaupt wollte!
„Untersteh´ Dich, auch nur ansatzweise irgend sowas Dämliches zu machen!“ blaffte ich ihn an, doch er lächelte nur und klopfte mir begütigend auf die Schulter.
„Ist schon okay, Du brauchst nicht verlegen zu werden! Ich weiß,“ fuhr er fort, „ich war zuerst echt sauer, aber wenn man es genau nimmt, bin ich nun mal wirklich tot.“ Er kratzte sich am Kopf. „Und von daher kann es doch nichts Besseres geben, als dass mein bester Kumpel mit dem Jungen zusammenkommt, den ich liebe, oder?“
Ich war allen Ernstes versucht, ihm mit den Fingerknöcheln an die Stirn zu klopfen, einfach nur um zu hören, wie hohl es klang! Denn hohl musste es sein, angesichts solch elementarer Ignoranz!
„Sag´ mal, hörst Du überhaupt, was ich sage?“ versuchte ich es noch einmal. „Ich steh´ nicht auf Kerle! Kapier´ das endlich!“
„Ja, ja, schon gut!“ erwiderte er, doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass er mir gar nicht zuhörte. Ich fasste ihn daher bei den Schultern und drehte ihn so, dass er mich ansehen musste, dann brachte ich mein Gesicht dicht vor seines und sagte so eindringlich wie möglich: „Jetzt pass´ mal auf! Das ist nur wieder eine von Deinen Schnapsideen, und wenn Dir wirklich was an Niklas und mir liegt, dann vergisst Du das ganz schnell wieder, verstanden?“
Er wirkte enttäuscht, nickte aber gehorsam. „Naja, wenn Du meinst!?“
„Ja, das meine ich!“ beharrte ich nachdrücklich, und er gab tatsächlich klein bei.
Ich war erleichtert, und nachdem das geklärt war, machte ich mich auf den Weg in die Dusche, obwohl eine leise Stimme in meinem Kopf darauf beharrte, dass die Sache noch nicht ausgestanden war.
Hatte Nils nicht etwas zu schnell eingelenkt? Oder war ich einfach zu misstrauisch? Aber ich mochte nicht länger über dieses Thema nachgrübeln, sondern wünschte mir nur, es so schnell wie möglich zu vergessen.
Entschlossen schob ich alle Gedanken an Niklas und unseren Kuss beiseite, und nach der heißen Dusche ging ich hinunter zu meinen Eltern, um mir mit ihnen zusammen einen Film anzusehen. Sie freuten sich darüber, und ich versuchte auch wirklich, der Handlung aufmerksam zu folgen, aber soweit es mich betraf, hätte der komplette Film in Kisuaheli gesprochen sein können. Die Sequenzen rauschten an mir vorbei, ohne dass ich einen durchgehenden Handlungsstrang hätte identifizieren können. Dafür kreisten meine Gedanken fortwährend um Niklas und das, was Nils gesagt hatte. Stimmte es etwa wirklich? War ich in Niklas verknallt? Ich kannte ihn doch so gut wie gar nicht! ... Aber stellte das denn ein Hindernis dar, wenn man sich verliebte?
Der Super-Gau kam dann, als auf dem Bildschirm der Held und die weibliche Hauptrolle eine heiße Liebesszene hatten. War auch sonst nicht viel von der Handlung zu mir durchgedrungen, so nahm ich jetzt jede Einzelheit umso deutlicher wahr. Die Geräusche ihrer Küsse und die lasziven Bewegungen ihrer Körper, die sich sacht aneinander rieben. Plötzlich waren es nicht mehr die zwei Schauspieler, die sich da vor meinen Augen räkelten, sondern ich sah Niklas vor mir, Niklas und mich selbst, eng umschlungen und selbstvergessen küssend.
Uaaah!!! Mir wurde übel, und ich stand so hastig auf, dass der Couchtisch ins Wackeln geriet. Erstaunt sahen meine Eltern zu mir auf. „Ist was, Arno?“ fragte meine Mutter besorgt, und ich schüttelte schnell den Kopf.
„Nein, gar nichts. Ich bin nur müde.“ Ich zwang meinen Mundwinkeln ein Lächeln ab und ergänzte: „Der Spaziergang hat mich wohl ziemlich geschlaucht, schätze ich. Ich gehe lieber ins Bett, bevor mir die Augen noch hier unten zufallen.“ Sie nickte und lächelte verständnisvoll, während ich das Wohnzimmer verließ und nach oben ging.
Dort angekommen lehnte ich mich einen Moment von innen an das Türblatt und schloss die Augen.
Das alles war doch der reinste Alptraum!
„Hast Du was?“ Nils lag auf dem Bett und schmökerte in einem meiner Taschenbücher.
„Wie kommst Du denn darauf?“ antwortete ich ironisch und bleckte die Zähne in der Parodie eines Lächelns. „Ist doch alles in bester Ordnung, oder nicht?“
Er stand auf und kam zu mir, legte stirnrunzelnd die Hand auf meine Stirn und meinte dann: „Also, Fieber hast Du nicht, wie´s scheint. Aber Dein Gesicht ist ganz rot. Bist Du sicher, dass alles in Ordnung ist?“
Das war doch zum aus der Haut fahren! „Mensch, Nils! Schon mal was von Ironie gehört? Nichts ist in Ordnung, gar nichts!“ Frustriert wandte ich mich ab und fing an, mich auszuziehen. Wütend schleuderte ich meine Kleider durchs Zimmer, und Nils sah mir schweigend dabei zu. „Willst Du drüber reden?“ fragte er schließlich, doch ich schlüpfte nur in meinen Pyjama und warf mich ins Bett.
„Reden?“ Ich lachte geringschätzig auf. „Nein, ich will ganz sicher nicht reden! Ich will eigentlich nur schlafen, morgen früh wach werden und feststellen, dass alles bloß ein blöder Traum gewesen ist! Ich schätze allerdings, die Chancen dafür, dass das wirklich passiert stehen denkbar schlecht!“
Damit mummelte ich mich in meine Decke und drehte ihm entschlossen den Rücken zu. Das Einzige, was ich von ihm an diesem Abend noch sah, war seine Hand, mit der er nach dem Buch angelte, in dem er gelesen hatte, als ich eintrat. Hastig kniff ich die Augen zu und tat, als würde ich schon nichts mehr sehen, oder hören, doch in Wirklichkeit dauerte es noch ziemlich lange, bis ich einschlief.
Und wie eine Endlosschleife sah ich auf der Innenseite meiner Augenlider immer nur Niklas...


In der nächsten Zeit bemühte ich mich nach Kräften, nicht an Niklas zu denken. Das war schwerer als gedacht, denn mein geisterhafter Untermieter tat genau das Gegenteil. Immer wieder fing er von seinem Lieblingsthema an und war praktisch nur mit brachialer Gewalt davon abzubringen. Anfangs begleitete er mich sogar zur Schule, doch nachdem er mich einmal dermaßen vollquatschte, dass ich drauf und dran war, ihm eine zu scheuern, verbat ich mir seine weitere Gesellschaft dort vehement, und er merkte wohl selbst, dass es unserer Beziehung nicht gerade zuträglich war, wenn er sich ständig in meiner Nähe aufhielt. So hatte ich wenigstens während der Schulstunden meine Ruhe vor ihm.
So vergingen die Tage, fügten sich zu Wochen, aus November wurde Dezember, und nicht nur Weihnachten rückte langsam näher, sondern auch die Ferien. Der Gedanken, dass ich mich dann wohl oder übel den ganzen Tag lang mit Nils unter demselben Dach herumtreiben musste, verursachte mir Bauchschmerzen, denn es war klar, dass er das für DIE Gelegenheit halten würde, mich zu „bekehren

“!
Traditionell war es in unserer Familie üblich, den Weihnachtsbaum am zweiten Adventswochenende zu kaufen, und zwar mit der gesamten Familie. So auch dieses Jahr. Allerdings war ich dieses Mal nichts weniger als in Weihnachtsstimmung!
Ich hatte Nils unter Gewaltandrohung dazu verdonnert, zuhause zu bleiben, denn ich wollte nicht riskieren, seinem Geschwätz ausgeliefert zu sein, ohne mich verdrücken zu können.
Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte ich also bald darauf über das Freigelände der Gärtnerei am Stadtrand, schaute an den langen Reihen Douglasien, Fichten und Nordmanntannen entlang, ohne sie wirklich wahrzunehmen und hörte mit einem Ohr zu, wie meine Eltern sich gegenseitig auf die Vorzüge der verschiedenen Baumarten hinwiesen. Auch das war so ein alljährliches Ritual – sie begutachteten die ausgestellten Bäume des Langen und des Breiten, und am Ende würden sie doch wieder eine Nordmanntanne von ungefähr 1,80 m Höhe kaufen.
Kalt war es geworden, seit etwa einer Woche herrschte strenger Frost, und die Zweige der potentiellen Weihnachtsbäume waren mit Rauhreif überzogen, der im strahlenden Sonnenschein glitzerte. Das Gras des schmalen Weges zwischen den Gewächshäusern, auf dem ich mich befand, knirschte unter meinen Schuhsohlen, und überall liefen Leute herum, die nach dem passenden Baum suchten, einzelne Exemplare aus den Reihen herausholten, sie von allen Seiten begutachteten und dann entweder zurückstellten oder sie am Stamm fassten und zu der großen Metallröhre schleiften, die am anderen Ende des Geländes aufgestellt war und mit deren Hilfe man die Bäume in ein dichtes Kunststoffnetz verpacken konnte.
Nach einer Weile hatten meine Eltern sich – welche Überraschung! - auf eine ca. 1,80m hohe Nordmanntanne geeinigt, und nachdem ich geistesabwesend mein Okay dazu gegeben hatte, schleiften sie sie ebenfalls zur Netzröhre. Ich trottete langsam hinterher und sah von weitem, dass da noch zwei Kunden vor uns standen.
Ein Mann und ein Junge, mit einer Edeltann zwischen sich, die um einiges höher war, als unser Baum.
Als ich näher kam, begann es in meinen Eingeweiden zu kribbeln, denn die beiden Gestalten, von denen ich bis jetzt nur die Rückseite sehen konnte, kamen mir ungeheuer bekannt vor. Jetzt drehte sich der Mann etwas zur Seite und mir blieb fast das Herz stehen – es war Niklas` Vater! Und demnach war es nur logisch, dass der Junge neben ihm Niklas selbst war!
Da wandte sein Vater das Gesicht in unsere Richtung, und sein Blick fiel auf mich. Ein breites, erfreutes Lächeln erhellte seine Züge, und er hob grüßend die Hand. „Na sowas, Arno! Das ist ja ein Zufall!“
Ich suchte vergeblich nach einem Mauseloch, in dem ich verschwinden konnte, doch meine Eltern waren bereits aufmerksam geworden und wandten sich erstaunt zu mir um.
„Ihr kennt Euch?“ fragte meine Mutter, und es blieb mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Ja. Das ist Herr Werner. Niklas hier war ein Klassenkamerad von Nils. Daher kennen wir uns.“
Das war nah genug an der Wahrheit fand ich, und zu meiner Erleichterung sagte auch Niklas nichts, was diese Aussagen ins falsche Licht gerückt hätte.
Er sagte genau genommen überhaupt nichts, sondern musterte mich nur mit finsterem Blick. Doch meine Eltern bemerkten es nicht, denn sein Vater reichte beiden gerade freundlich die Hände und begrüßte sie.
„Sie sind Arnos Eltern, nehme ich mal an! Freut mich sehr! Ich habe mich schon gefragt, ob Arno krank ist. Er war schon eine Weile nicht mehr draußen bei uns auf dem Hof.“ Dabei warf er mir einen Blick zu, den ich sehr wohl verstand – er dachte wohl an die Dinge, die er mir auf der letzten Heimfahrt erzählt hatte.
„Auf dem Hof?“ echote mein Vater, und ich wand mich verlegen. Über meine Ausflüge nach Bendorf hatte ich bisher natürlich noch kein Sterbenswörtchen verloren.
„Ich war ziemlich im Stress in letzter Zeit, Schule und so.“ sagte ich lahm an Niklas` Vater gerichtet und schielte dabei zu Niklas hinüber, der sich weiterhin schweigend im Hintergrund hielt. Er war ein bisschen blass fand ich, und er schaute demonstrativ in eine andere Richtung. Den Erwachsenen schien das jedoch nicht aufzufallen, sie vertieften sich in den üblichen Smalltalk, machten sich miteinander bekannt und überließen ihren Nachwuchs sich selbst.
Schließlich hielt ich das Schweigen nicht mehr aus. „Wie geht’s Dir?“ fragte ich und bekam ein Schulterzucken zur Antwort. „Okay soweit.“ fügte Niklas dann noch an. „Und dir?“
Jetzt war ich an der Reihe mit Schulterzucken. „Ja, schon.“
Erneutes Schweigen.
„Was macht Nils? Ist er immer noch da?“ wollte Niklas dann wissen, und ich grinste schief.
„Ja, ist er. Leider.“ Das entlockte auch ihm ein leises Grinsen, und plötzlich waren sie da – Schmetterlinge in meinem Bauch, ganze Heerscharen davon!
Sie flatterten herum wie verrückt und machten keinerlei Anstalten, sich in absehbarer Zeit zu beruhigen.
Shit! Was war denn jetzt los?
Die Sonne ließ Niklas` dunkles Haar glänzen und seine blauen Augen aufleuchten, während mir die Beine wacklig wurden. Ich fühlte, wie ich rot wurde und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er nichts von meiner Verfassung merkte, und in diesem Augenblick sprach sein Vater mich an: „Wie wäre es, Arno, ich habe Deine Eltern gerade gefragt, ob Ihr nicht nächsten Sonntag zu uns rauskommen wollt. Da findet unser jährliches Weihnachtsturnier statt, und es gibt auch Stände mit Glühwein und Würstchen. Da herrscht immer viel Betrieb, Niklas reitet auch beim Turnier mit, und ich dachte, Du würdest vielleicht gern kommen und zusehen?“
Ich räusperte mich zunächst etwas umständlich, denn ich traute meiner Stimme nicht und wollte außerdem wenigstens noch ein paar kostbare Sekunden lang darüber nachdenken.
Sollte ich das machen? Das würde doch bedeuten, mir einzugestehen, dass Niklas bereits viel mehr war, als nur ein Klassenkamerad von Nils, oder? Vielleicht sollte ich besser unter irgendeinem Vorwand ablehnen?
Ich zögerte, doch schließlich wurde mir die Entscheidung von meinen Eltern abgenommen. Meine Mutter wandte sich mit breitem Lächeln an Herrn Werner und sagte: „Aber natürlich kommen wir! Ich habe als Mädchen Pferde geliebt! Leider konnten meine Eltern sich nie einen Reitkurs für mich leisten, und später kam dann die Familie und der Beruf. Also, keine Bange! Ich werde meine Männer auf jeden Fall nach Bendorf schleppen!“
Mein Vater lachte und legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich sehe schon, ich habe gar keine andere Wahl!“ sagte er, und Herr Werner stimmte in das Lachen mit ein.
„Also, abgemacht! Dann sehen wir uns nächsten Sonntag. Das Turnier fängt um 15 Uhr an, und wenn es später dunkel wird, gibt es noch ein großes Lagerfeuer. Vielleicht bekommen wir ja bis dahin noch Schnee, so wie im letzten Jahr! Dann ist die Atmosphäre besonders schön!“
Mit diesen Worten verabschiedete er sich, packte den Baum und schleppte ihn mit Niklas` Hilfe Richtung Parkplatz. Niklas sagte nichts mehr und sah auch nicht mehr in meine Richtung, während er davonging.
Mir dagegen war reichlich mulmig zumute. Ich fühlte mich ein wenig überfahren und hatte außerdem immer noch mit den widerspenstigen Flattermännern in meinem Bauch zu kämpfen.
Scheiße, Mann – hatte ich mich etwa wirklich in Niklas verknallt?
Das konnte doch nicht sein, oder?
Aber zum Nachdenken kam ich nicht, denn kaum waren die Beiden verschwunden, nahmen mich meine Eltern ins Kreuzverhör, und ich musste gewaltig aufpassen, dass ich ihnen nicht versehentlich Informationen lieferte, die mich geradewegs in die Klapsmühle hätten befördern können. Ich erzählte ihnen also lediglich, dass ich zweimal in Bendorf auf dem Werner´schen Reiterhof gewesen war und dass ich Niklas flüchtig kannte, weil er in Nils` Klasse gewesen war. Dass ich nur dort gewesen war, weil ich mit ihm über Nils hatte sprechen wollen, weil er ihn gut gekannt hatte und dass es eben einfacher für mich gewesen war, mit einem Gleichaltrigen über meine Gefühle nach Nils` Tod zu sprechen.
Dafür hatten sie wie erwartet Verständnis, ermahnten mich bloß, das nächste Mal Bescheid zu sagen, wenn ich bis nach Bendorf hinausfuhr, und innerlich bat ich Gott um Verzeihung für meine Lügen.
Meine Eltern fragten nicht einmal, warum ich ihnen meine Besuche dort verschwiegen hatte, vermutlich dachten sie, es wäre mir unangenehm gewesen, mit einem von ihnen über meine Trauer zu reden.
Oh, Mann! Ich fühlte mich schon wieder wie eins der ringelschwänzigen, rosa Borstentiere!
Zuhause angekommen wäre ich gern so schnell wie möglich in meinem Zimmer verschwunden, um allein und in Ruhe über alles nachzudenken – besonders natürlich über die Schmetterlingsinvasion in meinen Eingeweiden! –, aber dort wäre ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Nils getroffen, und der war so ziemlich die letzte Person, der ich jetzt gegenübertreten wollte.
Ich drückte mich also so lang wie möglich im Erdgeschoss herum, doch mir blieb nichts erspart, denn irgendwann tauchte Nils ebenfalls dort auf. Ich saß gerade allein im Wohnzimmer und rieb mir geistesabwesend mit den Fingern die Stirn, im Bemühen mir einzureden, dass ich mir meine Gefühlsaufwallung bei Niklas` Anblick nur eingebildet hatte, da sprach er mich mit einem Mal von der Seite an, und ich fuhr zusammen.
„Hey, hey, was ist denn? Warum erschrickst Du so?“ fragte er, und ich wusste im ersten Moment nicht, was ich sagen sollte. Grinsend ließ er sich neben mich aufs Sofa plumpsen und musterte mich gut gelaunt.
„Hast Du ein schlechtes Gewissen? Was ausgefressen?“ Seine gute Laune ging mir auf den Keks und ohne groß nachzudenken platzte ich heraus: „Ich hab´ nichts ausgefressen! Ich bin nur gerade eben Niklas begegnet!“
Im nächsten Augenblick hätte ich mich ohrfeigen können! Ich war doch sowas von dämlich! Musste ich Nils eine solche Steilvorlage liefern?
Aber es war zu spät, ich konnte seinem Gesicht ansehen, dass die kleinen Zahnrädchen in seinem Kopf auf Hochtouren liefen und wappnete mich innerlich gegen das, was unweigerlich folgen musste – und da ging es auch schon los: „Scheint Dich aber ganz schön mitgenommen zu haben, was?“
Er lächelte süffisant und rückte näher an mich heran. „Hast Du´s endlich eingesehen, dass ich recht habe? Streite es bloß nicht ab, auf Deiner Stirn steht es nämlich mehr als deutlich geschrieben – Du stehst auf ihn, habe ich recht?“
Doch ich wehrte ihn ab – heftiger als nötig – und stand auf. „Lass´ mich endlich mit dem Scheiß zufrieden! Nur weil Du plötzlich schwul bist, heißt das nicht, dass ich das auch werde, klar? Ich hab´ Dir gesagt, dass ich es für besser halte, wenn wir Niklas in Ruhe lassen, und das meinte ich auch so! Wir sind rein zufällig beim Gärtner in ihn und seinen Vater reingelaufen, sonst nichts! Aber meine Eltern sind leider so verflucht nett, dass sie sofort einen auf gute Bekannte gemacht haben, und jetzt haben sie beschlossen, dass wir nächstes Wochenende raus nach Bendorf fahren, zum Weihnachts-Reitturnier! Heilige Scheiße!“ fluchte ich und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.
Nils setzte ein selbstzufriedenes Lächeln auf, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.
„Na, das läuft ja besser, als ich gehofft hatte! Und das ganz ohne mein Zutun!“ feixte er, und eine Welle der Übelkeit raste durch meinen Körper.
„Mann, jetzt hör´ schon auf!“ zischte ich wütend. Viel lieber hätte ich mir lautstark Luft gemacht, aber meine Mutter war nebenan in der Küche und bereitete das Abendessen vor, und mein Vater war bestimmt auch irgendwo in der Nähe.
„Du bringst einfach alles durcheinander!“ fauchte ich. „Wenn Du nicht meinen Körper benutzt hättest, um Niklas zu küssen, dann wäre ich nie im Leben auf solche komischen Vorstellungen gekommen! Wie oft soll ich es noch sagen? Ich steh´ nicht auf Kerle!“ Vor Ärger zitternd stand ich vor ihm, und er sah mit einem nachdenklichen Blick zu mir hoch. Schließlich seufzte er und stand auf.
„Du bist echt ein schwieriger Fall, Arno, weißt Du das? Warum hörst Du nicht endlich auf, Dir was einzureden, was nicht stimmt? Was ist so schlimm daran, wenn Du auf einen Jungen stehst? Wir leben doch nicht mehr im finsteren Mittelalter?“
„Genau genommen bin ich der Einzige von uns beiden, der irgendwo LEBT, denn Du bist tot, Kumpel!“ fuhr ich ihn wütend an. „Du bringst hier nur alles durcheinander, ohne dafür Probleme fürchten zu müssen! ICH bin derjenige der damit klarkommen muss, wenn Du erst weg bist!“
Er grinste frech. „Tja, aber so wie es aussieht, werde ich ja noch eine lange Zeit hier sein, so wie Du Dich gegen das Offensichtliche sperrst!“
„Da ist gar nichts offensichtlich!“ brauste ich auf, und er seufzte in gespieltem Bedauern. „Sieht so aus, als hilft bei Dir nur praktischer Unterricht!“ sagte er, und bevor ich dazu kam, etwas zu erwidern, hatte er mich gepackt und die Arme um mich geschlungen. Er zog mich eng an sich und presste dann seinen Mund auf meine Lippen.
Einen Moment lang war ich wie erstarrt, doch dann begann ich heftig zu strampeln, um ihn abzuschütteln.
Das Gefühl seiner Lippen auf meinen war so gänzlich anders, als bei Niklas, zwar nicht direkt Ekel, aber überhaupt kein Vergleich mit der Süße und Wärme, die ich bei ihm empfunden hatte.
Als ich es endlich geschafft hatte, mich los zu machen, stand ich fassungslos und reichlich aufgelöst mitten in unserem Wohnzimmer und kam mir vor, als wäre ich gerade von irgendeinem fernen Planeten auf die Erde gebeamt worden. Mit einer Hand wischte ich mir über den Mund, und Nils erwiderte meinen Blick wie ein Lehrer, der gerade erfolgreich eine Lektion an den Mann, bzw. Schüler gebracht hat.
Und dem war auch tatsächlich so. Ich brauchte nicht zu fragen, was er damit hatte bezwecken wollen, ich wusste es auch so. Die Botschaft war eindeutig: Auch wenn ich davon überzeugt war, nicht auf Kerle zu stehen, so war der Kuss, den ich – zugegebenermaßen unfreiwillig – mit Niklas getauscht hatte, doch etwas ganz Besonderes gewesen. Etwas Wundervolles und Kostbares, und wenn ich nun endlich ganz und gar ehrlich zu mir selbst war, dann wollte ich es wieder erleben! Ich wollte Niklas küssen und ihn im Arm halten, seine Wärme spüren und ihm nahe sein!
Der Kuss zwischen Nils und mir war dagegen bloß simpler Lippenkontakt, nicht mehr und nicht weniger, stumpf und bedeutungslos.
In meinem Kopf herrschte Aufruhr. War das möglich? Dass ich mich nach Küssen und Zärtlichkeiten mit einem anderen Jungen sehnte? Alles in mir wehrte sich dagegen, aber eigentlich wusste ich längst, dass jede Gegenwehr zwecklos war.
Nils sah mich immer noch mit seinem Lehrerblick an, womöglich wartete er darauf, dass ich etwas sagte. Aber ich brachte kein Wort heraus, schob mich nur langsam rückwärts Richtung Flur, und als ich mit dem Rücken dagegen stieß, warf ich mich herum, stürmte aus dem Raum und floh nach oben in mein Zimmer. Dort lehnte ich mich an meine Tür und rutschte dann kraftlos und wie in Zeitlupe daran herunter, bis ich auf dem Boden saß, schlaff wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hat.
Ich war fassungslos, die Selbsterkenntnis überwältigte mich und wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich nie wieder dort aufgestanden.
Was sollte denn jetzt aus mir werden?

Fortsetzung folgt


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Texte: Cover: 186753_R_by_Mike Nottebrock_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2011

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