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4. Teil




Die nächsten Tage fühlten sich seltsam unwirklich an. Nils blieb verschwunden, und obwohl ich mir das ja eigentlich genau so gewünscht hatte, war ich merkwürdig rastlos. Nach dem Wochenende ging ich wieder zur Schule, vermied aber darüber hinaus jeglichen Kontakt zu meinen Klassenkameraden und Bekannten, eilte stattdessen jedesmal nach Unterrichtsschluss so schnell wie möglich nach Hause und in mein Zimmer, in der uneingestandenen Hoffnung, Nils möge dort sein.
Aber mich erwartete immer nur ein leerer Raum, und mein schlechtes Gewissen wuchs von Tag zu Tag.
Manchmal fühlte ich mich beobachtet, doch wenn ich mich umsah war niemand zu sehen, der mir mehr als die übliche Aufmerksamkeit schenkte.
All diese Dinge forderten ihren Tribut, sowohl körperlich als auch seelisch. Ich schlief schlecht und verlor den Appetit, sodass meine Eltern sich bald besorgte Blicke zuwarfen. Noch sagten sie nichts, aber mir war klar, dass das nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Und dann, rund zwei Wochen nachdem ich Nils das letzte Mal gesehen hatte, stand plötzlich Niklas vor meiner Schule, als ich nach der letzten Stunde herauskam.
Es war wieder ein Freitag, erneut später Nachmittag, und obwohl laut Kalender zwei Tage später bereits die erste Kerze auf dem Adventkranz angezündet werden würde, hatte die Natur da andere Ansichten und präsentierte sich grau, düster und nass, also wenig adventlich.
Einzig die Lichter in den Fenstern und Vorgärten und die aufdringliche Festbeleuchtung in den Kaufhäusern ließen so etwas wie zaghafte Weihnachtsstimmung aufkommen.
Niklas hatte sich in eine dick gefütterte Jacke gemummelt und einen Strickschal um Hals und untere Gesichtshälfte geschlungen, sodass ich ihn beinahe nicht erkannt hätte.
Doch er kam direkt auf mich zu, und ich blieb überrascht stehen, denn ich hatte nicht erwartet, ihn jemals wieder zu sehen. „Niklas?“ fragte ich idiotischerweise, und er schob sich den Schal vom Gesicht. Ich prallte zurück, denn seine Miene war gelinde gesagt – angepisst.
„Was ist los?“ wollte ich wissen, und er fasste mich scharf ins Auge. „Können wir irgendwo ungestört reden?“
„Klar.“ nickte ich verwirrt. „Ich wohne gleich da drüben. Sollen wir zu mir nach Hause gehen?“
Statt einer Antwort packte er mich am Arm und schleppte mich mit sich in die angegebene Richtung. Bis zu mir war es nicht weit, tatsächlich genoss ich den Vorzug, dass meine Schule praktisch um die Ecke lag, sodass ich morgends immer ein paar Minuten Schlaf mehr herausschinden konnte, bevor ich mich nach einem ausgiebigen Frühstück auf den Weg machte.
Und auch nach Schulschluss, besonders wenn der erst spätnachmittags war, hatte es durchaus Vorteile, in wenigen Minuten zuhause zu sein und nicht wie manche anderen Schüler erst noch mühselig eine halbe oder gar ganze Stunde mit dem Bus oder Zug unterwegs zu sein.
Kaum fünf Minuten später waren wir in meinem Zimmer, und ich bat ihn, sich zu setzen, während ich meine Schultasche abstellte und die Jacke auszog. Bevor er das tat, spähte er misstrauisch in alle Richtungen und fragte dann: „Sind wir allein?“
Ich bejahte. „Meine Eltern sind noch beide in der Arbeit. Wir sind also völlig ungestört.“ Niklas verdrehte die Augen.
„Das meine ich nicht!“ blaffte er. „Ich will von Dir wissen, ob Nils hier ist oder nicht?“
Überrascht schwieg ich einen Augenblick. „Nils?“ gab ich dann reichlich dämlich zurück. „Wieso? Den habe ich seit wir bei Dir waren nicht mehr gesehen.“
Grimmig nickte er. „Und jetzt siehst Du ihn auch nicht?“ Ich schüttelte den Kopf, sah mich aber verstohlen noch einmal nach allen Seiten um.
Was hatte das jetzt zu bedeuten?
„Du hast mich gefragt, ob ich an Geister glaube. Damals habe ich Nein gesagt und es auch so gemeint. Ich habe Dir die story wegen Nils ehrlich gesagt nicht so richtig geglaubt, aber jetzt ...“ Er machte eine Pause, sah zur Seite und schüttelte den Kopf.
„Jetzt?“ hakte ich vorsichtig nach, denn ich ahnte etwas.
„Jetzt?“ Sein Gesicht flog zu mir herum. „Jetzt habe ich ein Gespenst am Hals! Kannst Du Dir vorstellen, was ich durchmache? Ich kann ihn nicht sehen oder hören, aber ich weiß, dass er da ist! Nachts werde ich wach, weil ich das Gefühl habe, dass mich jemand beobachtet und Sachen von mir verschwinden, die ich später an den unmöglichsten Plätzen wiederfinde! Manchmal streicht mir irgendwas Eiskaltes über den Nacken, und ich erschrecke mich zu Tode! Aber das Schlimmste sind die Träume! Ich träume von Nils, und jedesmal steht er da und sagt irgendwas, was ich nicht hören kann! Und das alles, seit dem Tag, wo Du bei uns auf dem Hof warst! Und nun sag´ mir, dass ich mir das alles bloß einbilde!“ forderte er kampflustig, und ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
Was erzählte er da? Konnte das wahr sein? Trieb Nils sich jetzt draußen in Bendorf als Gespenst auf dem Reiterhof herum, getrieben von dem Wunsch, Niklas nahe zu sein?
Als ich schwieg, stand Niklas auf und ging in meinem Zimmer hin und her. Schließlich blieb er vor mir stehen und sah auf mich herunter.
„Schaff´ mir diesen gefälligst Typen vom Hals!“ forderte er finster, und ich erwiderte seinen Blick, ratlos und völlig überfordert. „Und wie stellst Du Dir das vor? Wir sind doch hier nicht bei den Ghostbusters

!“ gab ich zurück.
Er zuckte die Achseln und stand dann mit hängenden Schultern vor mir.
„Aber was soll ich denn machen, Arno?“ fragte er leise, und da plötzlich, in genau diesem Moment, als er so vor mir stand und ganz offensichtlich nicht weiterwusste, glaubte ich mit einem Mal zu verstehen, was Nils in ihm gesehen hatte. Doch schon im nächsten Augenblick tadelte ich mich selbst wegen meiner abwegigen Vorstellungen und konzentriert mich wieder auf das Problem.
Mir kam ein Gedanke. Wenn Nils tatsächlich dort draußen auf dem Reiterhof war, dann bedeutete das, dass er noch immer hier festsaß, oder? Und wenn nach wie vor ich der Einzige war, der ihn sehen und mit ihm reden konnte, dann sollte ich vielleicht genau das tun – mit ihm sprechen und herausfinden, wie ich ihm helfen konnte.
...Nun ja, vielleicht sollte ich mich nebenbei auch bei ihm entschuldigen?
Mal immer gesetzt den Fall, Niklas bildete sich das alles nicht nur ein. Aber auch das würde ich nur herausfinden, wenn ich hinfuhr und nachschaute!
Ich sagte Niklas, was mir durch den Kopf ging, und er war einverstanden, dass ich mit ihm zum Reiterhof hinausfuhr. So machten wir uns gemeinsam auf den Weg und erwischten gerade noch den letzten Bus.
Eingedenk der Sorgen, die sich meine Eltern um mich machten, hatte ich ihnen diesmal eine ausführlichere Notiz hinterlassen, der zufolge ich mich bei einem Freund aufhielt und womöglich erst spät zurück kommen würde.
Satte 45 Minuten später waren wir in Bendorf und flitzten durch den mittlerweile strömenden Regen zum Hof.
Während der Fahrt hatte Niklas sich als angenehmer Begleiter erwiesen, und wir hatten einige gemeinsame Interessen entdeckt. Er hatte mir erzählt, dass er den Reiterhof einmal übernehmen wollte, und ich hatte aus ein paar Nebensätzen geschlossen, dass er ein verdammt guter Reiter sein musste, denn er hatte bereits einige Turniere gewonnen. Ursprünglich war es sein Traum gewesen, Veterinärmedizin zu studieren, aber als seine Noten nicht ausgereicht hatten, um aufs Gymnasium zu gehen, war es damit vorbei.
Seit ein paar Jahren florierte jedoch der Pensionsbetrieb für Pferde, und so hoffte die ganze Familie, dass dies bald das einzige finanzielle Standbein sein könnte. Vorläufig hatte Niklas´ Mutter aber noch einen Nebenjob in einer Anwaltskanzlei, und sein Vater kümmerte sich weitgehend allein um den Hof und die Tiere. Sein Sohn half ihm, wann immer er Zeit erübrigen konnte.
Ansonsten war Niklas ein begeisterter Leser (genau wie ich!), liebte Science fiction in fast jeder Form (genau wie ich!) und spielte halbe Nächte lang am Computer (ratet mal wer noch?).
Wir hatten Tips zu diversen Spielen ausgetauscht und über die Vorzüge verschiedener Science-fiction-Autoren gefachsimpelt, sodass die Zeit bis wir ankamen und aussteigen mussten, wie im Flug verging. Es war einfach schön, Niklas zuzuhören, wenn er von seinen Zukunftsplänen erzählte, und ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft.
Der Regen außerhalb des Busses holte uns dann wieder unangenehm kalt in die Wirklichkeit zurück, und mir fiel ein, warum wir eigentlich hier waren.
Nils!
Als wir den Hof erreichten waren wir trotz unserer Eile pitschnass und ziemlich außer Atem. Wir beeilten uns, ins Trockene zu kommen und die nassen Jacken auszuziehen. Wegen unserer Kapuzen waren unsere Köpfe weitgehend trocken geblieben, aber die Hosenbeine klebten unangenehm feucht an den Beinen. Niklas sah an uns beiden hinunter und bedeutete mir dann, ihm die Treppe hinauf zu folgen.
„Meine Jeans dürften Dir nicht passen, aber eine Jogginghose tut es vielleicht?“ meinte er über die Schulter zu mir, und oben angekommen öffnete er einen Wandschrank und kramte darin herum. Gleich darauf drückte er mir eine schwach nach Weichspüler duftende Sweathose in die Hand und schob mich in ein Zimmer, welches ich auf den ersten Blick als seines identifizierte.
Auch hier fanden sich die freiliegenden Balken wie auch sonst in allen Teilen des Hauses, die ich bis jetzt gesehen hatte, und dazwischen die rauh verputzten Wände, an denen Poster hingen - Filmposter, Science-fiction-Motive und natürlich auch Pferde.
In einem Wandregal standen ein paar Pokale und daneben hingen gerahmte Urkunden. Vor dem Fenster stand ein unordentlicher Schreibtisch, darauf ein Computerbildschirm und der zugehörige Rechner darunter, das Bett war ungemacht. Ein Fernseher stand auf dem Boden gegenüber vom Bett, hier und da lagen getragene Socken und andere Kleidungsstücke herum, mit anderen Worten, es war ein typisches Jungenzimmer.
Was mich allerdings am meisten davon überzeugte, dass es sich um Niklas` Zimmer handelte, war die Person, die wie ein Häufchen Elend in der Ecke kauerte – Nils!
Ich hielt mitten in der Bewegung inne und starrte ihn sprachlos an.
Es stimmte also tatsächlich – er war hier und war es vermutlich die ganze Zeit gewesen. Stumm erwiderte er meinen Blick, doch ich las keinen Vorwurf in seinen Augen, nur eine mutlose Resignation, die mich erschreckte.
„Was ist?“ Niklas war aufmerksam geworden. Ich sah kurz zu ihm und wies dann mit der Hand in die Zimmerecke. „Nils.“ sagte ich nur und nickte. „Du hattest recht. Er ist hier.“
Niklas war gerade dabei gewesen, sich auf dem Bett sitzend, die nasse Jeans vom Leib zu pellen und machte nun einen Satz in die Höhe, dass er fast hingefallen wäre.
Nils schaute zu ihm auf, und in seinem Blick lag eine so schmerzliche Sehnsucht, dass es schon beim Hinsehen wehtat, doch er rührte sich nicht vom Fleck.
Ich ging langsam zu ihm und ließ mich vor ihm auf ein Knie sinken. Wieder schaute er mich an, schwieg aber weiterhin und bewegte keinen Muskel. Beinahe schien es, als wüsste er nicht, wer ich war.
„Nils?“ fragte ich besorgt. So passiv, regelrecht teilnahmslos hatte ich ihn noch nie erlebt. Er antwortete nicht, sah mich nur aus großen Augen an, oder vielmehr - durch mich hindurch.
„Was ist denn los?“ wollte ich wissen. „Wieso bist Du überhaupt noch hier? Hast Du nicht gesagt, wenn Niklas Bescheid weiß, kannst Du gehen?“ Noch immer kam keine Antwort, und ich fasste behutsam nach seiner Hand, die daraufhin schlaff und kühl in meiner lag.
„Was ist?“ meldete sich Niklas. „Was sagt er?“
Unwillig über die Störung sah ich mit gerunzelten Brauen zu ihm hinüber und erwiderte: „Nichts. Das ist es ja gerade. Er sagt keinen Piep, und das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.“
Dann wandte ich mich wieder meinem Freund zu, doch dessen Augen klebten bereits wieder an Niklas.
„Nils! Hey, Nils! Was ist denn bloß los mit Dir? Hey, Mann! Rede mit mir!“
Aber es war zwecklos, meine Worte perlten an ihm ab, wie Wasser an einer Glasscheibe, und das Einzige, was er wahrzunehmen schien, war Niklas, der sich mit halb herabgestreifter Jeans nervös im Hintergrund hielt.
Plötzlich kam mir eine Idee. Ich winkte Niklas herbei, welcher aber nur sehr zögernd näher kam.
„Nun komm´ schon! Keiner tut Dir was!“ Davon schien er nicht so ganz überzeugt, kam aber trotzdem zu mir.
Ich fasste nach seiner Hand und zog ihn auf die Knie herunter. Verdutzt und überrascht schaute er mich an, und ich erklärte ihm, was mir durch den Kopf ging: „Er spricht nicht mit mir. Es hat fast den Anschein, als hört er mich überhaupt nicht. Er schaut die ganze Zeit nur Dich an. Vielleicht erfahren wir was, wenn Du mit ihm redest.“
„Was – ich?“ Niklas machte Anstalten aufzuspringen, aber ich hielt ihn fest. „Beruhig´ Dich, Mann! Willst Du dass er verschwindet oder nicht?“ Das half, und er ließ sich wieder neben mir nieder.
Vermutlich boten wir einen reichlich lächerlichen Anblick, wie wir da vor der scheinbar leeren Zimmerecke knieten, Niklas noch dazu mit heruntergelassenen Hosen, aber das war mir in dem Moment egal. Ich hatte plötzlich schreckliche Angst um Nils, und deshalb machte ich eine ungeduldige Geste zu Niklas, als der sichtlich unschlüssig zwischen mir und der Zimmerecke hin und her schaute, ohne etwas zu sagen.
„A...also gut.“ stotterte er schließlich. „Nils....“ wieder ein nervöser Seitenblick zu mir, „... also, ich sehe Dich nicht und ich … ich kann Dich auch nicht hören, aber Arno ….“ Seitenblick, „Arno hier meint, ich sollte mit Dir reden und ….“ Seitenblick, „naja, … was ich meine, ….“ Er brach ab und sah mich hilflos an. „Ich kann das nicht, Arno. Ich komme mir total bescheuert vor, hier zu sitzen und mit der leeren Luft zu reden!“
Ich seufzte, dann streckte ich die Hand aus und legte sie auf Nils´ Schulter. „Das ist keine leere Luft, Niklas! Da sitzt Nils, und er braucht unsere Hilfe! Da – meine Hand liegt jetzt auf seiner Schulter und hier,“ ich ließ die Finger an Nils` Arm hinunterwandern, „hier ist seine Hand. Bitte glaub´ mir, er ist wirklich hier bei uns im Zimmer. Und er sieht furchtbar aus! So … verloren.“ Mein Blick saugte sich an Nils` Zügen fest. Beinahe unbewusst redete ich weiter. „Du hättest ihn mal hören sollen, als er von Dir erzählt hat. Er hat regelrecht geschwärmt! Ich kenne ihn seit dem Kindergarten, und habe ihn schon einige Male erlebt, wenn er verliebt war, aber so wie bei Dir, war er noch nie! Was glaubst Du denn, warum er jetzt hier ist? Ich bin absolut sicher, er will Dir nichts Böses, er möchte nur in der Nähe des Menschen sein, den er liebt! Er kommt nicht hier weg, und ich - sein bester Freund - habe ihn davongejagt. Ich schätze, er weiß einfach nicht wohin. Stell´ Dir vor, Du könntest mit niemandem reden, keiner würde Dich sehen, und der Einzige, der das kann, schickt Dich zum Teufel. Was würdest Du dann machen?“
Zu meinem Erstaunen bemerkte ich eine einzelne Träne, die mir über die Wange rollte. Mein schlechtes Gewissen brannte wie Feuer, und ich senkte den Kopf. „Also bitte, Niklas, hilf uns. Hilf IHM! Rede mit ihm!“
Einen Augenblick lang geschah gar nichts, doch dann hörte ich, wie Niklas tief aufseufzte und zum Sprechen ansetzte ... und im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse.
Ich spürte eine sanfte, kühle Berührung an meiner Wange, hob den Kopf und sah in Nils´ Augen. Diesmal sah er mich direkt an, lächelnd und wie jemand, der nach langem Grübeln endlich die Lösung für ein schwieriges Problem gefunden hat. Verschwunden war der tote, teilnahmslose Blick, und er hauchte leise: „Tut mir leid, Arno!“ Ich wollte gerade noch fragen, was ihm leid tat, da schlüpfte er wie schon einmal in mich hinein, drängte mein Ich beiseite und wandte sich Niklas zu. Überrumpelt wehrte dieser sich nicht, als er mit meinen Händen gepackt und rücklings auf den Boden gedrängt wurde. Er riss nur ungläubig die Augen auf und wollte protestieren, doch da war ich schon über ihm, und meine Lippen ergriffen Besitz von seinen, meine Zunge schob sich zwischen seine geöffneten Lippen, und einen kostbaren Moment lang war er schlicht zu verblüfft, um sich ernsthaft zu wehren.
Mir ging es ähnlich. In gewisser Weise stand ich mit offenem Mund daneben und sah mir selbst völlig fassungslos dabei zu, wie ich Niklas küsste, seine Erstarrung ausnutzte und seinen Mund mit meiner Zunge erforschte. Obwohl es streng genommen nicht ich war, der da agierte, schoss mir die Röte ins Gesicht und trotzdem war ich nicht fähig, Nils Einhalt zu gebieten.
Doch was das Schlimmste war – es fing an mir zu gefallen!
Niklas´ Lippen waren weich und süß und sein Körper warm an meinem. Unter meinen Fingerspitzen pochte der Puls an seinen Handgelenken, und nur allmählich erwachte die Gegenwehr in ihm.
Doch dann drängte er mich heftig von sich weg, und Nils ließ es sich widerstandslos gefallen.
Hastig krabbelte Niklas rückwärts und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
„Was soll denn das? Spinnst Du?“ fuhr er mich an, und Nils saß regungslos vor ihm, sah ihn nur an und meinte dann: „Tut mir leid, Niklas! Aber das war meine einzige Chance, verstehst Du? Mach´ Arno bitte keine Vorwürfe, er kann nichts dafür. Ich hatte ihm versprochen, seinen Körper nicht wieder ungefragt zu benutzen, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten! Ich war die ganze Zeit in Deiner Nähe, hab versucht, zu Dir durch zu dringen, aber Du hast mich einfach nicht wahrgenommen! Und als dann vorhin plötzlich Arno hier auftauchte, da kam mir die Idee, wie ich wenigstens ein einziges Mal in den Genuss eines Kusses kommen könnte! Ich weiß, das war nicht okay, aber was hätte ich sonst machen sollen? Ich liebe Dich, und ich möchte bei Dir bleiben, aber andererseits gehöre ich hier nicht mehr hin und sollte endlich weitergehen! Ich dachte, wenn Du Bescheid weißt, bin ich frei, aber inzwischen weißt Du Bescheid, und ich bin immer noch hier! Also hatte ich plötzlich den Einfall, dass ein Kuss das Problem vielleicht lösen kann, so ähnlich wie im Märchen, verstehst Du? Wenn es funktioniert hätte, hätte ich außerdem noch zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, aber es hat eben leider doch nicht funktioniert!“
Wieder rollten Tränen über meine Wangen, und ich konnte Nils´ Verzweiflung in mir spüren, die ihn umgab wie eine finstere Wolke. Er ließ den Kopf hängen, und im nächsten Moment hatte er sich wieder aus mir zurückgezogen, hockte neben mir auf den Knien und vergrub das Gesicht weinend in den Händen.
Einen Augenblick lang saß ich noch wie vom Donner gerührt auf dem Boden, bevor ich zu ihm hinüberrückte, die Arme um ihn schlang und ihn an mich drückte. Sanft wiegte ich ihn, wie ich es vor kurzem schon einmal getan hatte und hörte dabei plötzlich, wie Niklas nach Luft schnappte.
Ich schaute zu ihm hinüber und sah, dass sein Gesicht plötzlich jegliche Farbe verloren hatte und seine Augen groß waren wie Untertassen. Er richtete sich wie in Zeitlupe auf und deutete mit einem zitternden Finger in unsere Richtung.
„Was ist?“ fragte ich beunruhigt, und er stotterte: „Da … da …. da …. das ist doch …. ist das ….?“
Hä? Konnte er Nils etwa plötzlich sehen?
Der hatte ebenfalls den Kopf gehoben und starrte in Niklas´ Richtung.
„Was siehst Du?“ fragte ich, und er schluckte. „Ich glaub´, ich spinne!“ flüsterte er. „Ich hab´ Halluzinationen, oder?“
Nils rückte von mir ab und näherte sich Niklas, der daraufhin noch einmal den Rückwärtsgang einlegte.
„Halt! Bleib´ bloß weg von mir!“ rief er und streckte die Hand vor sich aus, nicht ahnend, dass er gerade eine ziemlich überzeugende Kopie von mir lieferte, als ich Nils das erste Mal als Geist sah.
Doch im Gegensatz zu damals hielt Nils sofort inne und näherte sich nicht weiter. Stattdessen blieb er wo er war und sagte: „Bitte, hab´ keine Angst! Ich tu´ Dir wirklich nichts!“ Danach stockte er einen Herzschlag lang und wollte dann wissen: „Ist das wahr? Siehst Du mich jetzt? Und kannst Du mich auch hören?“
Niklas antwortete nicht, nickte aber und Nils war völlig aus dem Häuschen. „Das ist ja megakrass, Mann!“
Ich fühlte mich bemüßigt, seinen Überschwang etwas zu bremsen: „Nun mach´ mal halblang! Vorläufig hast Du ihn erst mal zu Tode erschreckt! Also brems´ Dich ein bisschen, ja?“
Mir schwirrte der Kopf. Wieso konnte Niklas ihn plötzlich sehen und hören? Aber vor allem – wieso war Nils immer noch hier? Niklas wusste Bescheid, Nils hatte ihn sogar geküsst! Also, was machte er immer noch hier?
Ich erinnerte mich an das Gefühl von Niklas` Lippen auf meinen, und mir lief es heiß und kalt über den Rücken.
Ich hatte – wenn auch nicht ganz freiwillig – einen anderen Jungen geküsst! Und als Ergebnis war ich nicht in der Lage, meine Gedanken und Gefühle zu sortieren und einzuordnen.
Vorhin noch hatte ich Nils unbedingt helfen wollen, und jetzt fühlte ich nichts als Ungeduld angesichts der Tatsache, dass er noch immer nicht verschwunden war. Wenn ich dagegen Niklas anschaute, dann kribbelte es in meinem Bauch, und ich erinnerte mich mit einem wohligen Schauder daran, wie er sich anfühlte.
Doch schon im nächsten Augenblick erschrak ich vor mir selbst – was dachte ich denn da? War ich bescheuert?
Niklas hatte inzwischen so halbwegs die Fassung wiedererlangt und bemerkte plötzlich, dass seine Jeans noch immer auf Halbmast um seine Beine schlackerte.
Hastig streifte er sie vollends aus und stand dann auf, um sich aus seinem Schrank eine trockene Hose zu holen. Seine Bewegungen waren energisch, doch sein rotes Gesicht strafte ihn Lügen. Als er fertig angezogen war, setzte er sich aufs Bett und fixierte Nils mit strengem Blick.
„So.“ sagte er fest. „Nun nochmal in aller Ruhe und im Klartext! Also Du“ er wies auf Nils, „Du sagst, Du bist in mich … verliebt.“ Das kurze Zögern war kaum zu bemerken, doch mir fiel es auf. Nils nickte.
„Und Du hast eben Arno – benutzt, um mich zu küssen?“ Wieder ein Nicken. „Also, warst Du auch die ganze letzte Zeit hier bei mir, hast mich nachts beobachtet und meine Sachen versteckt?“ Erneut ein, diesmal deutlich schuldbewussteres Nicken.
Niklas atmete tief ein und sah zur Seite. Dann drehte er das Gesicht wieder zu uns und sagte kühl: „Okay. Ich verstehe. Aber so leid es mir tut, Nils, ich erwidere Deine Gefühle nicht. Sorry, Leute, aber das ist mir alles zuviel auf einmal! Ich kann nichts für Nils tun, also geht bitte! Du auch, Arno!“ Er verschränkte die Arme, und es war mehr als deutlich, dass er meinte, was er sagte.
Das war hart, und ich sah Nils an, wie sehr es ihn traf. Er machte Anstalten, etwas zu erwidern, doch ich hielt ihn am Arm zurück, und als er sich mir zuwandte sagte ich: „Du hast es gehört! Er hat seinen Standpunkt klar gemacht, oder? Du hast kein Recht, ihn weiter zu belästigen. Also komm´, lass uns gehen!“
Niklas blieb mit abgewandtem Gesicht auf seinem Bett sitzen, während wir zur Tür gingen und sah uns nicht mehr an, bis wir draußen waren. Nils trottete mit hängenden Schultern hinter mir her, und auch ich fühlte mich seltsam.
Irgendwie leer und hohl, so als hätten mir die Geschehnisse alle Kraft abverlangt.
Dann standen wir unten vor der Haustür, und plötzlich fiel mir ein, dass ich – mal wieder! – keine Ahnung hatte, wie ich nach Hause kommen sollte.
Ursprünglich hatte Niklas gemeint, dass sein Vater mich fahren könnte, genau wie letztes Mal, aber daran hatte er wohl jetzt nicht mehr gedacht. Und ich mochte nun auch nicht mehr umkehren und ihn danach fragen. Also kratzte ich mich ziemlich ratlos am Kopf, und Nils sah mich fragend an.
„Was ist?“ wollte er wissen.
„Was soll schon sein? Ich stehe mal wieder da und weiß nicht, wie ich heimkommen soll! Das wird allmählich zur Gewohnheit, glaub´ ich! Eine reichlich beschissene Gewohnheit übrigens, wenn Du mich fragst!“
Ich wühlte in meiner Tasche, auf der Suche nach meinem Handy, denn was blieb mir anderes übrig, als meine Eltern anzurufen?
Ich hatte es eben gefunden, als plötzlich die Haustür aufging und Niklas` Vater heraustrat.
Als er mich sah, hellte seine Miene sich auf, und er reichte mir lächelnd die Hand. „Arno! Schön, Dich mal wieder zu sehen! Niklas hat mir gerade gesagt, dass Du gern wieder mit in die Stadt fahren würdest?“
Verdutzt erwiderte ich den Handschlag und nickte etwas benommen. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie Nils verschwand und hoffte, er würde bei mir zuhause auftauchen und Niklas in Ruhe lassen. Doch dann musste ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Mann vor mir zuwenden, denn er hatte etwas gefragt.
„Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“ Er schaute mir aufmerksam ins Gesicht und wiederholte: „Ich habe gefragt, ob Ihr Jungs Euch gestritten habt. Niklas war irgendwie komisch.“
„Nein, nein!“ beeilte ich mich zu versichern, während ein weiteres Mal die Erinnerung an den Kuss durch mein Hirn geisterte und mir die Röte ins Gesicht trieb. Er war offenbar zufrieden mit der Antwort und drang nicht weiter in mich. Ich folgte ihm zu seinem Wagen und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Zunächst herrschte Schweigen, doch als wir die Häuser und Lichter von Bendorf hinter uns gelassen hatten, wandte Niklas` Vater sich erneut an mich. Seine Miene war ernst.
„Hör´ zu, Arno, Du bist mir sympathisch, darum werde ich Dir jetzt etwas erzählen, was Du bitte für Dich behältst, ja? Niklas schließt normalerweise keine Freundschaften, deshalb war ich sehr erfreut, als Du hier aufgetaucht bist. Und weil ich mir wünsche, dass diese Freundschaft erhalten bleibt, möchte ich Dir erklären, warum Niklas so reserviert ist und warum er sich vielleicht manchmal etwas ... seltsam verhält.“
Ich horchte auf. Was war denn jetzt los? Aber er redete schon weiter: „Früher war er ganz anders. Er lachte viel und hatte keine Probleme damit, auf andere Menschen zuzugehen. Aber dann, als er in der 6. Klasse war, ist was passiert. Seine Mutter und ich waren damals ziemlich mit uns selbst und unserer Arbeit beschäftigt, deswegen haben wir lange nichts gemerkt. Der Reiterhof lief mehr schlecht als recht, wir hatten Schulden, Du kannst Dir vielleicht vorstellen, dass wir wenig Zeit für unseren Sohn hatten. Er wurde immer bedrückter und in sich gekehrter, aber wir dachten lange Zeit, das läge an der Pubertät. Bis wir eines Tages einen Anruf von seinem Klassenlehrer bekamen.“
Er stockte erneut und als ich zu ihm hinübersah, war sein Gesicht plötzlich uralt.
Er machte sich Vorwürfe, warum wusste ich noch nicht, und ich war mir auch gar nicht so sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte. Aber die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn er holte tief Luft und fuhr fort: „Ein paar seiner Klassenkameraden hatten sich einen Spaß daraus gemacht, ihn regelmäßig zu hänseln und als Schwuchtel zu beschimpfen. Es gab keinen konkreten Anlass dafür, er war eben schwächer als sie, und so wurde er zum Opfer.
Wenn es dabei geblieben wäre, hätten wir vermutlich nie was davon erfahren, aber an diesem Tag waren sie zu weit gegangen. Sie hatten Niklas in der Jungentoilette halbnackt ausgezogen und dann gefilmt. Unter Zwang musste er sagen, er sei schwul, und er würde jedem Mitschüler ...“
Er brach ab und mein Gesicht war heiß. Das war eine verdammt üble Sache, was Niklas da durchgemacht hatte, und es erklärte natürlich auch seine Reaktionen im Stall und vorhin in seinem Zimmer. Genau genommen war sein Verhalten vorhin in diesem Licht betrachtet sogar bewundernswert gefasst zu nennen!
„Das... das wusste ich nicht.“ brachte ich mühsam heraus.
„Natürlich nicht.“ erwiderte Niklas` Vater mit einem etwas gezwungenen Lächeln. „Darum habe ich es Dir ja erzählt. Er selbst spricht nicht darüber, mit niemandem und er weigert sich auch, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er hat sein Leben einfach weitergelebt seitdem. Aber er lässt niemanden mehr an sich heran. Den Kontakt zu seinen Freunden hat er damals einfach abgebrochen und Neue hat er sich nicht gesucht. Wir machen uns natürlich Sorgen, aber wenn wir versuchen, mit ihm darüber zu reden, blockt er ab. Und deshalb freut es uns natürlich umso mehr, dass Du aufgetaucht bist, verstehst Du? Und wir möchten gern, dass Du Dich nicht einfach verscheuchen lässt, wenn er …. seltsam reagiert. Nur darum erzähle ich Dir das alles, in der Hoffnung, dass ich damit keinen Fehler mache.“
Er schaute in meine Richtung, und beim Blick in sein Gesicht erkannte ich wie groß die Sorge um seinen Sohn war.
Hätte ich seine Hoffnungen zerstören sollen, indem ich erklärte, wie es wirklich war – dass ich mitnichten Niklas` Freund war und vermutlich nie wieder auftauchen würde?
Ich schwieg und nickte nur.
Gott, was war ich doch für ein Arsch!


Fortsetzung folgt



Impressum

Texte: Cover: 186753_R_by_Mike Nottebrock_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2011

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