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Teil 3




Während der Fahrt konnten Nils und ich nicht miteinander reden, da noch andere Passagiere mitfuhren. Dabei hätte ich wirklich gern ein paar Dinge mit meinem Kumpel besprochen.
Zum Beispiel die Tatsache, dass das hier die mit Abstand blödeste Idee war, die er je gehabt hatte und dass mir das mit jedem Kilometer, den der Bus über die Landstraße Richtung Bendorf dröhnte klarer wurde. Ich war echt ein solcher Trottel, dass ich mich darauf eingelassen hatte!
Unruhig rutschte ich in meinem Sitz hin und her, sodass Nils mich erstaunt von der Seite ansah und sich schließlich grinsend erkundigte, ob ich neuerdings Hämorrhoiden hätte, wohl wissend, dass ich ihm die passende Antwort auf diese Frage schuldig bleiben musste.
Ich maß ihn mit einem vernichtenden Blick und schwieg angesichts der Tatsache, dass im Nebensitz eine neugierige Alte hockte, die mich die ganze Fahrt über missbilligend betrachtete und dabei ihre Handtasche fest an sich presste. Gerade so, als wollte ich mich im nächsten Augenblick mitten im Bus auf sie stürzen und ihr das hässliche Teil entreißen.
Ich versuchte mit einem gewinnenden Lächeln ihre Sympathie zu wecken, aber die einzige Reaktion darauf war, dass sie die Finger noch fester um das abgewetzte Leder krallte und misstrauisch die Stirn runzelte.
Ich gab es also auf, einen Preis für das charmanteste Lächeln gewinnen zu wollen und sah stattdessen aus dem Fenster. Es war inzwischen Spätnachmittag geworden und allmählich verabschiedete sich die fahle Novembersonne. Davon abgesehen gab es dort draußen allerdings nicht wirklich etwas Interessantes zu sehen. Der Bus brummte an längst abgeernteten und gepflügten Feldern vorbei, deren grobe, dunkle Schollen vom Regen der letzten Nacht glänzten, und an Wiesen, auf denen das Gras lang und fahlstrohig gewachsen war. Zwischen den Bäumen und in den Senken des Geländes hingen bereits die ersten Nebelschwaden und bereiteten sich auf ihren nächtlichen Auftritt vor, und hier und da klebten noch vereinzelte Spinnennetze, deren verschlissene Fäden vom Gewicht der in ihnen hängenden Wassertropfen nach unten gezogen wurden.
Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und ließ mich von der Wärme und dem dröhnenden Geräusch des Busmotors einlullen, bis mir die Augen zufielen und ich selbstvergessen vor mich hin döste.
Mein Dämmerzustand war kein richtiger Schlaf, und unterschwellig war ich mir meiner Umgebung die ganze Zeit bewusst, dennoch war ich nicht in der Lage, die Augen offen zu halten.
Als der Bus endlich in Bendorf hielt, war es trotzdem gut, dass Nils neben mir saß und mich anstupste, sonst wäre ich vermutlich weiter mitgefahren. So aber schreckte ich hoch und stolperte rasch hinter meinem Kumpel her aus dem Bus. Außer uns verließ niemand das Gefährt, und so blieben wir allein und in eine Dieselwolke gehüllt an der Haltestelle zurück.
Ich ließ meine Blicke die Straße auf und ab schweifen, sah jedoch niemanden. Die Haltestelle schien ziemlich zentral mitten im Ort an der Hauptstraße zu liegen, und trotzdem wirkte das Dorf hier wie ausgestorben.
Naja, was konnte man an einem späten Freitagnachmittag im November auch erwarten, in einem Kaff, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten und es vermutlich eine Sensation darstellte, wenn Bauer Jupp sich einen neuen Traktor zulegte?
Nicht, dass unsere Stadt eine pulsierende Metropole gewesen wäre, aber zumindest war da zu jeder Tages- und Nachtzeit irgendwo was los!
Nils studierte den Fahrplan und meinte dann zu mir: „Also, wenn ich das richtig sehe, fährt der letzte Bus zurück in zwei Stunden. Die Zeit sollten wir gut nutzen, meinst Du nicht auch?“ Er sah mich auffordernd an, und ich grinste freudlos.
„Ja, klar! Lass´ uns sehen, wo er wohnt, und wenn wir ihn nicht antreffen, verschwinden wir wieder! Ach ja – eins noch!“ hielt ich ihn zurück, als er sich schon zum Gehen wandte. „Hmm?“ Fragend schaute er mich an.
„Lass´ Dir ja nicht einfallen, nochmal sowas zu machen, wie heute Mittag, klar? Und schon gleich gar nicht, ohne mich vorher zu fragen, verstanden?“
Er nickte. „Versprochen! Nur in Notfällen!“ erwiderte er leichthin, doch damit war ich nicht zufrieden.
„Oh, nein, nein!“ widersprach ich. „Was Du unter einem Notfall verstehst, kann ich mir gut vorstellen, und ich glaube, dass unsere Vorstellungen da ziemlich weit auseinander laufen! Du machst es überhaupt nicht! Ist das klar?“
„Ja, ja, krieg´ Dich wieder ein!“ gab er genervt zurück, aber irgendwie schien mir das auch nicht die richtige Antwort zu sein.
Doch da plötzlich aus einem der Häuser ein alter Mann auf den Bürgersteig trat und neugierig in unsere Richtung blickte, verkniff ich mir, was mir auf der Zunge lag. Er musste ja nicht gleich denken, dass ich ein Irrer auf Heimaturlaub war, nur weil ich lautstark scheinbare Selbstgespräche führte...
In der hereinbrechenden Dämmerung trabten wir die Dorfstraße entlang, vorbei an einigen Bauernhöfen, von denen ein paar wenige offenbar noch bewirtschaftet wurden und zwischen denen eingestreut sich spätherbstlich triste Gärten voller kahler Bäume und struppiger Stauden mit schmucklosen Häuserfronten abwechselten, bei denen die Haustüren direkt auf den schmalen Bürgersteig führten.
Verkehr herrschte wenig, und es lag eine für mich ungewohnte Stille über dem ganzen Ort, die nur gelegentlich unterbrochen wurde, wenn ein Auto vorbeifuhr, oder irgendwo ein Hund bellte.
Als wir den pflichtbewussten Dorfreporter weit genug hinter uns gelassen hatten, fragte ich: „Wie heißt denn nun die Straße, wo Niklas wohnt?“
„Am Bahndamm.“ gab mein Freund zurück und ließ den Blick dabei weiter aufmerksam hin und her schweifen, so als rechne er damit, dass sein Schwarm gleich hinter der nächsten Ecke auftauchen würde. Ich tat es ihm gleich und schaute mich ebenfalls um.
Von der Hauptstraße, auf der wir uns befanden, zweigten in dieser Richtung nur wenige Nebenstraßen ab, doch keine davon hieß „Am Bahndamm“.
Ich richtete mich also schon innerlich darauf ein, den Weg wieder zurücklaufen und die Suche in der anderen Richtung fortsetzen zu müssen, als Nils plötzlich stehenblieb und mit dem Finger auf eine schmale Einmündung auf der anderen Seite deutete.
„Da! Da ist es! Am Bahndamm! Los komm´!“ Und schon schoss er über die Fahrbahn und verschwand in der wenig einladenden Gasse. Seufzend folgte ich ihm und fand mich gleich darauf zwischen den Rückfronten einiger Gehöfte. Düster war es dort und nicht gerade anheimelnd. Eine einzelne altmodische Peitschenlaterne erhellte die Szenerie, und in ihrem Schein sah ich, dass der Asphaltbelag in einigen Metern Entfernung von festgefahrenem, grasgesäumtem Lehm abgelöst wurde, in dem sich zwei Fahrspuren abzeichneten. Dieser Weg war allerdings auch nicht sehr lang und endete nach vielleicht zehn Metern vor dem breiten Tor eines großen Anwesens, welches gleichzeitig die Gasse begrenzte und sie zur Sackgasse machte. Da es das einzige Gebäude war, dessen Front zur Gasse wies, musste dies Niklas` Zuhause sein.
Neugierig blickte ich über das geschlossene Tor hinweg in einen riesigen, gepflasterten Hof, in dessen Zentrum ein gewaltiger, dampfender Misthaufen lag. Die Gebäude waren in einem nach vorn offenen Geviert darum herum gruppiert, und es schien sich neben dem Wohnhaus, um eine Scheune und mehrere Ställe zu handeln.
Obwohl einige Autos im Hof parkten, war niemand zu sehen, und ich wandte mich an Nils. „Wusstest Du, dass seine Familie einen Bauernhof hat?“
Doch er schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein. Ich hab´ Dir doch gesagt, dass ich nichts über sein Privatleben weiß. Ich bin ja selbst überrascht!“
Plötzlich erklang gedämpftes Wiehern, und im gleichen Moment fiel mir ein Schild am Tor ins Auge, welches verkündete, dass Standplätze für Pferde aller Größen zu vermieten seien und darunter eine Telefonnummer.
Aha! Also handelte es sich hier um Landwirtschaft nur im allerweitesten Sinne!
Ich stieß Nils an und deutete auf das Schild. „Das ist ein Reiterhof!“ Er schaute hin, und im selben Moment klang Hufschlag hinter uns auf. Wir drehten synchron die Köpfe und erblickten Niklas, wie er hoch zu Ross die Gasse entlang getrabt kam.
Als er sich uns näherte, zügelte er das Pferd und musterte mich erstaunt.
„Arno? Was machst Du hier?“ Er machte keine Anstalten abzusteigen, und unter seinem kühlen Blick fiel mir so schnell auch keine vernünftige Antwort ein.
Mist! Das war doch genau die Situation, die ich hatte vermeiden wollen!
Nils stand neben mir und sah feixend zwischen uns hin und her.
Typisch! Er hatte ja leicht grinsen – ihn konnte Niklas nicht sehen, nur mich, und mir war nur zu klar, dass dieses Zusammentreffen mehr als merkwürdig wirken musste.
„Ich …. ähm, also …. das ist so....“ stotterte ich.
Und dann fasste ich den Entschluss, alles auf eine Karte zu setzen. Schlimmer konnte es ja wohl kaum noch werden!?
Ich atmete tief durch und sagte: „Ich würde gern mit Dir reden. Unter vier Augen sozusagen. Wegen Nils.“
Er betrachtete mich noch eine Weile unschlüssig, dann stieg er aus dem Sattel und fasste den Zügel des Pferdes, um das Tor zu öffnen und es auf den Hof zu führen.
„Okay, dann komm´ mit. Ich muss Pegasus noch absatteln und füttern.“
Ohne sich nach mir umzudrehen, betrat er den Hof, schritt zielstrebig auf eines der Wirtschaftsgebäude zu, und nach einem Moment des Zögerns folgte ich ihm.
Nils, der ausnahmsweise einmal nicht seinen Senf dazu gegeben hatte, schlug mir lachend auf die Schulter und meinte: „Na also! Geht doch! Hätte ich Dir gar nicht zugetraut, Alter!“
Ich warf ihm einen Blick zu, der ihn garantiert gekillt hätte, wäre er nicht längst tot gewesen, und er wich immer noch lachend zurück und hob die Hände.
„Schon gut, schon gut! Nun geh´ endlich!“ Er deutete auf das Tor, in dem Niklas mitsamt dem Pferd verschwunden war, und ich ging leise vor mich hin grummelnd darauf zu.
Als Niklas näher an die Gebäude herangekommen war, waren drei helle Scheinwerfer aufgeflammt und beleuchteten jetzt den Hof, blendeten mich, und so sah ich kaum, wo ich hintrat. Prompt versenkte ich meinen rechten Fuß in einem Haufen Pferdeäpfel, die noch so frisch waren, dass sie im Flutlicht dampften – vermutlich hatte Pegasus sie fallen lassen, und vermutlich extra für mich Stadtpflanze!
Fluchend streifte ich die gröbste Schweinerei ab und hielt vergeblich nach einem Grasbüschel oder etwas Ähnlichem Ausschau, worin ich die Sohlen reinigen konnte.
Nils wäre beinahe zum zweiten Mal an diesem Abend gestorben, sofern das möglich gewesen wäre, denn er lachte sich sprichwörtlich halbtot über mich.
„Hör´ gefälligst auf zu lachen, Du Arschloch!“ zischte ich halblaut. „Das ist doch alles nur Deine Schuld!“
„Was kann ich dafür, wenn Du zu blöd bist, um zu gucken, wo Du hintrittst!“ gab er, sich den Bauch haltend zurück, und ich wollte ihm schon eine scharfe Antwort zukommen lassen, als Niklas seinen Kopf zur Stalltür herausstreckte.
„Ich dachte, Du wolltest was mit mir besprechen? Oder hast Du Angst vor Pferden?“
Hmpf! Das fehlte noch, dass der Typ mich für ein ängstliches Weichei hielt!
„Nein.“ gab ich zurück. „Ich bin da nur gerade ...“ Sein Blick folgte meinem und er grinste. „Ich seh´ schon! Na, dann komm´ hier rein, hier gibt’s Stroh. Damit kannst Du Dir die Schuhe abwischen.“ Er verschwand wieder im Inneren des Stalles, und ich schlüpfte ebenfalls hinein.
Drinnen war es düsterer als draußen im Hof, und meine Schuhe mit einem Büschel Stroh abreibend, blickte ich eine Stallgasse entlang, die zu beiden Seiten von einer Reihe von Boxen gesäumt war. Etwas mehr als die Hälfte davon schien belegt zu sein. Ich hörte leises Schnauben, Kaugeräusche und gelegentlich ein dumpfes Poltern, wenn eines der Pferde sich bewegte, während ich Niklas folgte, der bereits mehr als die Hälfte des Weges bis zur letzten Box zurückgelegt hatte.
Hier stand das Pferd, auf dem er eben angekommen war und dem er bereits Sattel und Zaum abgenommen hatte.
Er betrat die Box, klopfte dem Tier den Hals und griff nach einem verschlissenen Frotteetuch, mit dem er es dann trocken zu reiben begann. Nils hängte sich lässig über die Boxenwand, sah Niklas mit verträumtem Gesichtsausdruck zu, und mich irritierte seine selige Miene so sehr, dass ich kein Wort herausbrachte.
Schließlich drehte sich Niklas zu mir um und meinte: „Also, was ist jetzt? Ich bin hier gleich fertig, und dann gehe ich rein. Ich muss noch Hausaufgaben machen. Wenn Du also was mit mir bereden willst, tu´ es jetzt!“
Sein Tonfall war kühl, aber ich versuchte, mich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Ich musste es endlich zu Ende bringen!
„Naja, also, … die Sache ist die …. Nils hat....“
Verdammt! Es war schwerer, als ich gedacht hatte!
War es denn überhaupt richtig, so einfach mit der Tür ins Haus zu fallen?
Ich raufte mir die Haare und beschloss, es von einer anderen Seite aus anzugehen.
„Glaubst Du eigentlich an Geister?“
Niklas ließ die Hand mit dem Tuch sinken und starrte mich an. „Was?“
„Na, Geister, Gespenster, ruhelose Seelen, all sowas? Glaubst Du, dass es das gibt?“
Niklas´ Gesicht war eine undurchdringliche Maske, und es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
„Nein, tu´ ich nicht. Aus dem Alter, wo ich an Gespenstergeschichten geglaubt habe, bin ich raus.“
Bildete ich mir das ein, oder war es soeben um einige Grad kühler geworden?
Ich sah zu Nils hinüber, aber der schwieg und erwiderte meinen Blick mit unverhohlener Neugier.
Klar, für ihn war das hier bestimmt interessant, aber ich schwitzte gerade Blut und Wasser!
„Ja, siehst Du? Genau das habe ich auch immer gedacht. Zumindest bis gestern!“ haspelte ich nervös. „Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht total verrückt, aber … „ Ich stockte, denn Niklas hatte die Brauen zusammengezogen und musterte mich skeptisch.
Egal, jetzt war ich soweit gekommen, jetzt gab es nur noch eine Richtung: Vorwärts!
„Nils ist ein Geist. Er hängt mir seit gestern am Rockzipfel, weil er will, dass ich was für ihn erledige.“
Puh, nun war es heraus, und ich wartete gespannt auf seine Reaktion.
„Und was?“ fragte Niklas mit undurchdringlicher Miene.
„Hä?“ machte ich wenig intelligent, denn ich hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet.
„WAS sollst Du für ihn erledigen?“
Ich kratzte mich am Kopf und sah zu Nils hinüber. Der hatte sich gespannt aufgerichtet und hing nun förmlich an Niklas´ Zügen.
Gott verflucht! Wie sagte man sowas?
Ich machte die Augen zu und stieß es entschlossen hervor: „Er hat sich in Dich verliebt und konnte es Dir nicht mehr sagen. Deshalb kann er irgendwie nicht hier weg und hat mich um Hilfe gebeten. So,“ schloss ich tief atmend, „nun weißt Du`s!“
Beklommen öffnete ich die Augen wieder und sah ihn an. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber als ich ihm ins Gesicht schaute, erschrak ich. Wut spiegelte sich darin und noch etwas anderes, was schwerer einzuordnen war.
Resignation? Enttäuschung? Ich wusste es nicht zu benennen, aber ich kam auch gar nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, denn er schoss mit geballten Fäusten auf mich zu, dass ich instinktiv ein paar Schritte zurückwich.
„Findest Du das lustig, ja? Fein! Dann hattest Du ja jetzt Deinen Spaß und kannst abhauen!“ sagte er kalt und musterte mich aus schmalen, wütenden Augenschlitzen.
„Was? Aber …?“ Weiter kam ich nicht, denn er griff nach einer Mistgabel, die draußen an der Box lehnte und schwenkte sie in einer bedrohlichen Geste vor mir auf und ab.
„Hau ab!!!“ donnerte er durch die Stallgasse, und unterstrich seine Worte mit einer angedeuteten Stichbewegung in meine Richtung.
Plötzlich erschienen weitere Leute auf der Bildfläche. Teils tauchten sie aus den anderen Boxen auf, teils von sonst wo, aber allen gemeinsam war der überraschte und besorgte Gesichtsausdruck.
Ich stand noch einen Moment wie gelähmt da, dann drehte ich mich um und lief eilig Richtung Tor, gefolgt von Nils. Der schien ebenfalls aus dem Konzept gebracht und sagte zunächst einmal gar nichts.
Der Weg nach draußen schien endlos, und ich konnte die Leute nicht ansehen, an denen ich vorüber kam. Aber endlich, nach quälenden Sekunden, die mir wie Stunden vorkamen, langte ich am Tor an, drückte es auf und huschte ins Freie.
Hinter mir erhoben sich Stimmen, aber ich blieb nicht stehen, um zu hören was sie sagten, sondern eilte weiter, über den Hof und zurück auf die schmale Gasse. Auch dort hielt ich nicht an, sondern beschleunigte noch weiter, verfiel schließlich ins Rennen und stoppte trotz Nils Rufen erst, als ich wieder an der Bushaltestelle ankam.
Schnaufend wischte ich mir den Schweiß aus dem Gesicht und lehnte mich an das Haltestellenschild, sah Nils nicht an und drehte mich demonstrativ weg, als er meinen Blick suchte.
Hatte Niklas mich da eben tatsächlich mit einer Heugabel bedroht?
Ich konnte es nicht fassen!
„Tut mir leid, Arno.“ hörte ich Nils kleinlaut nuscheln, reagierte aber nicht darauf. „Ich hab´ mir das wohl zu einfach vorgestellt und dabei nur an mich selbst gedacht. Bitte sei nicht sauer!“ bat er, und ich schaute ihm ins Gesicht.
War ich sauer auf ihn?
Ich sollte es wohl sein, schließlich hatte er mir das eingebrockt.
Aber komischerweise fühlte ich keinerlei Ärger in mir, sondern – Bestürzung?
Was hatte Niklas zu so einer heftigen Reaktion bewogen?
Klar, ich hatte damit gerechnet, dass er mir nicht glaubte. Hatte erwartet, dass er lachen oder mich wegschicken würde, aber in seinen Augen hatte eine so kalte Wut gestanden, wie ich es noch nie vorher bei jemandem gesehen hatte. Ich hatte einen Moment lang wirklich geglaubt, er würde zustechen!
Und wie passte das zu dem Jungen, den die drei Rowdies in der Schule zwischen sich hin und her geschubst hatten? Da hatte er sich nicht mal gewehrt! Und das lag ja wohl bestimmt nicht nur an der Tatsache, dass er auf dem Pausenhof keine Mistgabel zur Verfügung hatte, oder?
„Arno?“ Nils sah mich bittend an, und ich machte ein wegwerfende Geste. „Geschenkt.“ sagte ich. „Du konntest ja auch nicht ahnen, dass er gleich mit der Mistgabel auf mich losgeht!“
Nils zog überrascht die Brauen hoch – er hatte wohl erwartet, dass ich ihm Vorwürfe machen würde. Genau genommen fragte ich mich selbst, wieso ich das nicht tat?
Um mich abzulenken, warf ich einen Blick auf den Fahrplan. „Wann hast Du gesagt, fährt der nächste Bus?“
„Hmm? - In … warte mal … etwas über einer Stunde.“
Ich fuhr mit dem Finger über die Zeiten, die im Plan angegeben waren und verharrte dann plötzlich auf der letzten Spalte. Blinzelnd sah ich noch einmal hin – das konnte doch nicht sein!
Aber die Zahlen und Symbole veränderten sich nicht, und ich drehte mich wie in Zeitlupe zu Nils um.
„Was ist? Stimmt was nicht?“ Er schaute mich besorgt an.
„Ob was nicht stimmt? Geht’s noch?“ explodierte ich. „Hast Du Dir überhaupt die Mühe gemacht, den Plan richtig zu lesen, Du Vollidiot?“
Plötzlich war mir egal, ob mich jemand sah oder hörte. Das war einfach zuviel!
„Heute ist Freitag! Und da unten neben der Uhrzeit steht ein kleines W! Das bedeutet – und für Volldeppen wie Dich steht auch das da! - dieser Bus fährt nur von Montag bis Donnerstag und NICHT am Freitag, Samstag und Sonntag!“
Bedröppelt sah er mich an, erwiderte aber nichts. Das stachelte mich nur noch mehr auf. Es war, als bräche sich das Adrenalin, welches mein Körper eben im Pferdestall ausgeschüttet hatte, nun ungehindert Bahn. Ich ritt auf einer roten Welle, und nichts, gar nichts konnte mich jetzt noch bremsen.
„Wieso bitte kannst Du nicht ein einziges Mal, nur ein einziges, beschissenes Mal was richtig machen? Warum muss ich immer Deine Scheiße ausbaden? Kapierst Du überhaupt, was das jetzt heißt? Wir hängen in diesem Scheißkaff fest, und ich hab´ keine Ahnung, wie ich hier wegkommen soll! Meinen Eltern habe ich geschrieben, dass ich einen längeren Spaziergang mache! Soll ich denen jetzt weismachen, dass ich bis nach Bendorf gelaufen bin? 15 Kilometer? Was glaubst Du, wie begeistert die sind, wenn ich sie jetzt anrufen und darum betteln muss, dass sie mich abholen?" Ich holte tief Luft und drehte mich einmal um meine eigene Achse, bevor ich zum verbalen Todesstoß ausholte. "Du hast schon nichts als Probleme gemacht, als Du noch gelebt hast! Kannst Du nicht wenigstens jetzt, nach Deinem Tod damit aufhören?“
Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand er vor mir und ließ meinen Ausbruch über sich ergehen. Als mir schließlich die Luft ausging, hob er den Blick und sagte leise: „Du hast ja recht. Tut mir echt leid.“
Sein unerwartetes Bekenntnis reizte mich seltsamerweise noch mehr, und ich fuhr auf: „Dein >Tut mir leid

wirklich

abging

“? Also hieß das, er glaubte mir doch nicht? Aber seine Reaktion vorhin an der Haltestelle sprach doch eine andere Sprache, oder?
Ich hörte Wasser rauschen, und mir wurde bewusst, dass ich mich noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte.
Rasch fasste ich also nach der Klinke der Tür, die er mir gewiesen hatte und drückte sie auf.
Der Raum dahinter entpuppte sich als Wohnzimmer und wirkte anheimelnd gemütlich. Auch hier war die Decke niedrig, und die Balken lagen frei. Die Wände dazwischen waren grob verputzt und weiß gestrichen. Die Möbel passten dazu, waren aus dunklem Holz gefertigt und geschmackvoll zusammengestellt. Auf dem Boden lag ein heller, grob gewebter Teppich, und vor den Fenstern hingen weiße Scheibengardinen.
Ein offener Kamin an der Stirnwand des Raumes vervollständigte das Bild, und ich war angenehm überrascht, dass dieses Ensemble altmodischer Gemütlichkeit keinen Brechreiz bei mir auslöste, sondern ganz im Gegenteil den Wunsch weckte, mich hier länger aufzuhalten und die entspannte Atmosphäre zu genießen.
Mit der Entspannung war es jedoch gleich darauf erst einmal vorbei, denn da kam Niklas durch die Tür, zwei Gläser in der Hand, die er auf dem niedrigen Couchtisch abstellte und bedeutete mir mir einem Wink, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
Etwas unsicher tat ich es, und kaum berührte mein Hintern die Sitzfläche, begann er auch schon mit seinem Verhör.
„Also, Du sagst, Du hast da draußen an der Haltestelle mit Nils gesprochen?“ Er schüttelte den Kopf und presste die Handflächen aneinander, das Gesicht eine Maske der Skepsis.
Was hatte ich zu verlieren? Ich nickte, und er sah schnaubend zur Seite.
„Entschuldige, aber das klingt wie der größte Haufen Mist, den ich jemals gehört habe! Ich glaube nicht an Geister!“ wiederholte er und klang ärgerlich, gleichzeitig jedoch nicht ganz so ungläubig, wie er sein wollte, oder irrte ich mich?
„Kann ich Dir nachfühlen! Wenn ich an Deiner Stelle wäre, ginge es mir genauso. Aber ich kann es nicht ändern! Nils ist ein Geist, und er nervt mich damit, dass ich ihm helfen soll.“
„Kannst Du das beweisen?“ wollte er wissen, und in seinen Augen glomm etwas auf, was ich zunächst nicht benennen konnte. Ich schüttelte den Kopf und hob gleichzeitig die Schultern.
„Wie denn? Ich bin doch kein Medium oder sowas. Und außerdem hat Nils gesagt, dass nur ich ihn sehen und hören kann. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass er abgehauen ist nach unserem Streit. Wer weiß, vielleicht ist er auch schon komplett weg? Immerhin habe ich ja getan, was er wollte und Dir gesagt...“
Hier stockte ich, denn es wollte mir kein zweites Mal über die Lippen. Aber Niklas verstand auch so, und diesmal wurden wir beide rot. Er wischte meinen Einwand mit einer Handbewegung beiseite und sah mir wieder ins Gesicht.
„Es fällt mir immer noch schwer, Dir zu glauben.“ sagte er mit mürrischer Miene, und ich griff nach meinem Glas, um meinen Händen etwas zu tun zu geben.
„Was hat Nils Dir über mich erzählt?“ feuerte Niklas die nächste Frage ab, und beinahe hätte ich mich verschluckt.
„Naja,“ druckste ich herum, „so ziemlich alles, was er über Dich weiß, schätze ich mal.“ versuchte ich mich elegant aus der Affäre zu ziehen. Ich konnte ihm doch nicht ernsthaft erzählen, dass Nils ihn in der letzten Zeit während der Schule praktisch auf Schritt und Tritt beobachtet hatte?!
Jungs meines Alters sollten auch nicht im Wohnzimmer eines anderen Jungen sitzen und solche Fragen beantworten müssen, fand ich! Aber mir blieb es trotzdem nicht erspart – ich spürte Niklas´ bohrenden Blick auf mir und wusste, dass ich nicht darum herum kam. Er hatte ein Recht auf die Antworten – ihn hatte es schließlich genauso unwillkommen getroffen wie mich!
Innerlich seufzend ergab ich mich also in mein Schicksal und beantwortete seine Fragen eine nach der anderen, bis er das Verhör endlich für beendet erklärte. Bis dahin hatte ich ihm alles haarklein berichten müssen, von der Freundschaft zwischen Nils und mir, dem Unfall, seiner Beerdigung, seinem erneuten Erscheinen in meinem Zuhause sogar von meiner unfreiwilligen Gastgeberrolle während der Auseinandersetzung am Mittag in der Schule, und natürlich nicht zu vergessen Nils´ Begeisterung für alles, was Niklas tat, sagte, anfasste und selbst aß!
„Und? Glaubst Du mir jetzt?“ fragte ich abschließend, und er schenkte mir einen widerwilligen Blick aus zusammengekniffenen Augen.
„Ich weiß nicht, das fällt mir verdammt schwer, Arno. Zugegeben, Du wirkst nicht wie jemand, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, und wenn das doch eine Verarsche sein soll, dann stellst Du Dich nicht gerade sehr geschickt an, aber deshalb werde ich nicht von jetzt auf gleich an Gespenster glauben! Das Alles könnte Nils Dir auch erzählt haben, als er noch lebte. Ich habe zwar keine Ahnung, was Du damit bezwecken könntest, aber trotzdem... Zumal Nils ja jetzt angeblich verschwunden ist! Du musst zugeben, dass das doch seltsam ist und Dir im Moment sicher sehr gelegen kommt, oder?“
„Stimmt, für Dich muss das komisch aussehen.“ räumte ich ein. „Aber was soll ich machen? Nils war schon immer unberechenbar.“
In diesem Augenblick klappte die Eingangstür, und gleich darauf trat Niklas´ Vater ins Zimmer. Er brachte einen Schwall kühle Novemberluft mit und reichte mir lächelnd die Hand.
„Du bist also Arno.“ stellte er fest. „Freut mich, Dich kennen zu lernen! Niklas bringt ja sonst nie jemanden aus der Schule mit, da freut es mich umso mehr, Dich zu sehen. Du möchtest mit mir in die Stadt zurück fahren, hat Niklas gesagt?“
Ich nickte und brachte kein Wort heraus. Sein Vater hielt mich ganz offensichtlich für einen Freund seines Sohnes, und Niklas tat nichts, um das richtig zu stellen. Daher beschränkte ich mich bei meinen Antworten auf möglichst unverbindliche Allgemeinplätze und hoffte, dass wir bald losfuhren. Er tat mir auch tatsächlich den Gefallen nicht allzu tief in mich zu dringen, und kaum zehn Minuten nachdem er ins Wohnzimmer gekommen war, saßen wir in seinem Wagen – einem etwas älteren Mercedes Kombi – und waren unterwegs Richtung Stadt.
Der Mercedes fuhr um einiges zügiger als der Bus am Nachmittag, und so dauerte es kaum eine Viertelstunde, bis wir am Bahnhof hielten und ich aussteigen konnte.
Während der Fahrt hatte Niklas´ Vater über belanglose Dinge gesprochen, doch entspannen konnte ich mich erst wieder, als ich nach ein paar Worten des Dankes die Tür hinter mir zugeschlagen und den roten Rücklichtern noch einen Augenblick nachgeschaut hatte.
Inzwischen war aus dem Nebel ein leises Nieseln geworden, und ich zog den Kopf zwischen die Schultern, als ich den Nachhauseweg einschlug. Unterwegs fragte ich mich, ob Nils tatsächlich für immer verschwunden war. Irgendwie bereitete mir diese Vorstellung Unbehagen. Niklas wusste jetzt Bescheid, also war meine Aufgabe erfüllt und es sollte nichts mehr geben, was ihn hier noch hielt, aber trotzdem hatte ich kein gutes Gefühl bei dem Gedanken an unsere Auseinandersetzung. Sollte das tatsächlich unsere letzte Begegnung gewesen sein?
Das war ja wieder genau wie am Anfang – als ich erfahren hatte, dass Nils den Unfall gehabt hatte, nachdem wir uns ebenfalls im Streit getrennt hatten...
Ach was!

beruhigte ich mich. Wenn ich nach Hause komme, hockt er

garantiert in meinem Zimmer und wartet auf mich! Genau wie heute Mittag!


Doch als ich in das dunkle, leere Haus kam, sah ich, dass ich mich geirrt hatte – niemand war dort.
Meine Eltern waren beide noch nicht von der Arbeit zurück und mein Zimmer war leer.
War Nils also wirklich endgültig weg?

Fortsetzung folgt

Impressum

Texte: Cover: 186753_R_by_Mike Nottebrock_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

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