2. Teil
Am frühen Nachmittag machte ich mich in Nils` Begleitung auf den Weg zu seiner Schule. Sie lag am entgegengesetzten Ende der Stadt, und es dauerte eine Weile, bis die hohe Sandsteinmauer, die das Gelände umgab vor uns auftauchte. Nils begleitete mich und plapperte dabei die ganze Zeit, vermutlich um seine Nervosität zu überspielen.
Allerdings brachte er mich damit an den Rand eines Wutausbruchs, denn ich konnte seine Schwärmerei schon sehr bald nicht mehr ertragen. Doch so oft ich ihn auch bat, das Thema zu wechseln, kam er doch auf irgendwelchen, verschlungenen Pfaden wieder zurück zu seinem Dreh- und Angelpunkt – Niklas!
Am liebsten hätte ich ihm eine reingehauen, doch das ging nicht – der Weg führte durch belebte Straßen, und was würden die Leute denken, wenn sie sahen, wie ich da scheinbar sinnlos in die Luft drosch?
Zähneknirschend stieß ich also meine Fäuste in die Taschen und bemühte mich, sein Geschwätz auszublenden.
Als wir vor der Schule anlangten, war der Unterricht noch nicht zu Ende, der Pausenhof lag leer und verlassen da, und Nils und ich suchten uns ein ruhiges Eckchen, wo wir auf den Gong zum Schulschluss warten konnten.
„Sag´ mal, Nils,“ fing ich an, bevor er Gelegenheit hatte, wieder in seinen Niklas-Monolog zu verfallen, „heißt das Alles jetzt eigentlich, dass Du schwul bist, oder was?“
Er sah mich an und antwortete mit einer Gegenfrage: „Und - wäre das ein Problem für Dich?“
Ich öffnete schon den Mund, um zu antworten, doch plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mir darüber noch gar keine Gedenken gemacht hatte.
Bedeutete es etwas für mich, wenn Nils auf Jungs stand? Selbst jetzt noch, nach seinem Tod?
Vermutlich schaute ich ziemlich blöd aus der Wäsche, denn Nils setzte sein übliches, breites Grinsen auf und schlug mir auf die Schulter. „Lass´ gut sein, Kumpel! Weißt Du, um ehrlich zu sein, kann ich Dir die Frage selber nicht beantworten. Ich meine, ich hab´ für so viele Tussis geglüht, und jetzt ist es plötzlich ein Kerl, pfft … ! Keine Ahnung, ob das heißt, dass ich schwul bin, oder nicht. Mein Bauch sagt Nein!
, mein Kopf sagt Ja!
, ich weiß es nicht! Das Einzige, was ich sicher weiß ist, dass ich diese Gefühle für Niklas habe. Und ehrlich gesagt, ist es mir auch völlig egal, ich meine, ich bin eh tot, oder?“
„Wenn Du so vieles gar nicht weißt, wieso bist Du Dir dann so sicher, dass es das ist, was Dich hier hält?“ wollte ich wissen, und Nils wurde mit einem Mal todernst. „Das spüre ich einfach, Arno. Das ist eine unerledigte Sache, MEINE unerledigte Sache, und die hängt mir wie ein Mühlstein um den Hals!“
Ich schnaubte leise und seufzte dann. „Mensch, Nils! Du bist noch eines Tages mein Untergang!“
Das brachte ihn zum Lachen, und ich konnte nicht anders, als mit ihm zu lachen, wenn auch ein wenig leiser und verhaltener als er.
Mitten in unser Gelächter hinein, schallte der Gong über den Hof, und kurz darauf quollen die ersten Schüler aus den breiten Eingangstüren der Gebäude. Nils war aufgestanden und schaute aufmerksam Richtung Haupteingang. Plötzlich wurde er ganz aufgeregt und stieß mich an.
„Da! Das ist er!“ Er deutete mit dem Finger, und ich sah hinüber in die Richtung, in die er wies. Eine Gruppe von mehreren schnatternden Mädchen verließ gerade das Hauptgebäude und versperrte mir die Sicht, doch dann waren sie endlich draußen, und dahinter trat ein Junge ins Freie.
Das war also der berühmte Niklas?
Auf den ersten Blick war nichts Besonderes an ihm. Er war ungefähr so groß wie ich und hatte dunkle, kurz geschnittene Haare. Bekleidet war er mit Jeans, Sweatshirt und Anorak, und auf der rechten Schulter hing seine Schultasche. Er schien es eilig zu haben und ging mit leicht gesenktem Kopf rasch über den Hof. Irgendetwas an seiner Haltung drückte großes Unbehagen aus, oder war es Angst?
Die Frage wurde gleich darauf beantwortet, denn da stürmten drei Typen aus der Tür und hinter ihm her, die genausogut ein Schild mit der Aufschrift „Wir
suchen Streit!“
hätten hochhalten können.
„Oh, nein! Die schon wieder!“ stöhnte Nils und ballte die Fäuste.
„Wer sind die?“ fragte ich. „Arschlöcher!“ knurrte er als einzige Antwort und beobachtete, wie die Drei Niklas einholten und umzingelten.
„Arno, Du musst was tun!“ bat Nils und sah mich bittend an. „Du musst ihm helfen! Bitte!“
„Wer? Ich? Machst Du Witze? Guck´ Dir die Drei doch mal an! Glaubst Du, ich will mich zusammenschlagen lassen?“ wehrte ich ab. „Du bist doch derjenige von uns, der Kickboxen gemacht hat!“
„Verdammt, das weiß ich auch!“ brüllte er wütend, und ich erschrak beim Anblick seines verzerrten Gesichts.
„Aber das hilft mir jetzt auch nicht! Ich bin tot, falls Du das vergessen hast! Wie soll ich da was machen?“
Vor Wut zitternd schaute er dort hinüber, wo die drei Schläger Niklas die Schultasche von der Schulter zerrten und ihn dann wie einen Punchingball zwischen sich hin und her zu stoßen begannen. Fieses Gelächter schallte bis zu uns, und schließlich landete die erste Faust in Niklas` Gesicht.
Nils stieß einen Schrei aus und rannte an den Ort des Geschehens, konnte dort aber nichts ausrichten – seine Schläge und Tritte waren substanzlos wie ein Windhauch. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Er sah in meine Richtung, und sein Gesichtsausdruck gefiel mir gar nicht. Den kannte ich nämlich von einer ganzen Reihe an Gelegenheiten, wo er Ideen ausbrütete, die uns beide in Schwierigkeiten gebracht hatten.
Aus dem Stand heraus kam er zu mir geflitzt, und im Rennen rief er: „Tut mir leid, Arno, aber es geht nicht anders!“
Ich wollte noch fragen, was er meinte, doch da war er schon bei mir, und weil er seinen Lauf nicht abbremste, prallte er volles Rohr mit mir zusammen, doch ganz anders als ich erwartet hatte.
Kurz bevor er mich erreichte, schloss er die Augen und dann – sprang er in mich hinein!
Es war ein seltsames, übelkeiterregendes Gefühl, so als würde mein Selbst plötzlich beiseite geschoben, und gleich darauf war ich plötzlich nur noch Beobachter dessen, was geschah. Ohne dass ich die Kontrolle darüber gehabt hätte, rannte mein Körper los und warf sich mitten zwischen die Kontrahenten.
„Lasst ihn gefälligst zufrieden!“ hörte ich meine Stimme schreien und fand mich mit ausgebreiteten Armen vor Niklas, während die drei Typen sich von ihrer Überraschung erholten.
„Was willst Du denn?“ fragte schließlich derjenige, dessen Denkprozesse mein plötzliches Auftauchen am schnellsten verarbeitet hatten. „Lasst Ihn in Ruhe!“ knurrte ich statt einer Antwort. „Legt Euch gefälligst mit Euresgleichen an!“
Scheiße! Das konnte doch nur böse enden!
„Meinst Du damit zufällig Dich?“ höhnte der Rowdy, und ich spannte meine Muskeln an.
„Naja, ich weiß nicht, ob ich es schaffe, einem Blödmann wie Dir was über Fairness beizubringen, aber hey – ich werde mein Bestes tun!“
Innerlich heulte ich auf. Das war doch wieder mal typisch Nils! Seine große Klappe hatte ihm ja schon so manchen Ärger eingebrockt, aber musste das ausgerechnet dann sein, wenn er sich ungefragt meinen Körper ausborgte?
Einen Moment lang starrten die Drei mich noch an – offenbar war die Verarbeitungsgeschwindigkeit ihrer mentalen Prozessoren doch nicht so hoch – und dann stürzten sie sich wie auf ein geheimes Signal alle gemeinsam auf mich. Ich versetzte Niklas noch einen Stoß, dass er aus dem Ring der Gladiatoren herauskatapultiert wurde, und da krachte auch schon der erste Körper gegen mich.
Ich erwartete halb, dass er mich sofort von den Füßen reißen würde, doch das geschah nicht. Mit leicht gespreizten Beinen stand ich da und parierte Schläge und Tritte so gut ich konnte – und das war erstaunlich gut! -, während pures Adrenalin durch meine Adern rauschte. Natürlich steckte ich auch den einen oder anderen Treffer ein, aber seltsamerweise spürte ich sie überhaupt nicht.
Keine Sorge!
beruhigte ich mich selbstironisch, das
kommt schon noch!...Gesetzt den Fall, dass Du das hier wirklich überlebst!
Im nächsten Moment schickte ein gut plazierter Schlag von mir den ersten Gegner zu Boden, und kurz danach taumelte der Zweite beiseite und hielt sich die blutende Nase. Daraufhin hielt der Dritte verunsichert inne und sah von seinen Kumpanen zu mir und wieder zurück.
Um ihm die Entscheidung leichter zu machen, machte ich einen Sprung auf ihn zu und rief: „Buh!“, worauf er die Fäuste sinken ließ und zusammen mit den übrigen Mitgliedern des „Trio Infernale“
davonrannte.
Ich konnte nicht anders – ich musste lachen, wobei mir allerdings die rechte Seite höllisch schmerzte, da, wo mich die Faust eines der Schläger erwischt hatte.
Und dann standen plötzlich nur noch Niklas und ich dort, denn angesichts der Auseinandersetzung hatten die übrigen Schüler rasch das Weite gesucht. Er stand mit großen Augen etwas abseits und musterte mich sichtlich verwirrt.
Ich spürte deutlich, wie Nils von seinen Gefühlen überwältigt zu werden drohte und versuchte verzweifelt, ihn auf mich aufmerksam zu machen, bevor er etwas Blödes anstellte. Schon machte er mit meinem Körper ein paar zögernde Schritte auf Niklas zu, und ich bot meine gesamte Willenskraft auf, um ihn zu stoppen.
„Du Idiot! Bleib´ stehen und halt´ bloß die Klappe!“ schrie ich innerlich aus vollem Halse, doch ich hätte genausogut einer Kuh ins Horn kneifen können, der Effekt war gleich Null.
Verdammt! Irgendwie musste ich ihn rauswerfen, sonst würde ich mich hier gleich absolut zum Affen machen. Nils machte keine halben Sachen! Wenn ich ihn jetzt gewähren ließe, musste ich damit rechnen, dass er dem verdutzten Niklas im nächsten Moment seine Liebe erklärte – und das in einem nagelneuen Arno-Kostüm!
Ich strengte meine mentalen Muskeln an und konzentrierte mich so sehr darauf, ihm Widerstand zu leisten, dass sich mein Gesicht verzog und mir der Schweiß auf die Stirn trat, aber ich hatte Erfolg!
Es fühlte sich an, als würde ich einen kompletten Klettenbusch aus einer Wolljacke ziehen, doch schließlich sah ich Nils wieder an meiner Seite, etwas taumelnd zwar und einigermaßen empört, aber auf jeden Fall getrennt von mir.
„Hey! Was machst Du denn?“ beschwerte er sich, und ich erwiderte: „Tu´ das ja nicht noch mal! Sonst kannst Du Dir meine Hilfe an den Hut stecken, kapiert?“
„E..E...Entschuldigung!“ stammelte Niklas, der Nils natürlich nicht sehen konnte und deshalb keinen Schimmer hatte, mit wem ich da redete. Er glaubte offenbar, ich meinte ihn, und es war seinem Gesicht anzusehen, dass seine Verwirrung sekündlich wuchs.
Es hätte nichts gebracht, hätte ich versucht, ihm etwas zu erklären, also versuchte ich es mit einem Themawechsel.
„Was wollten die denn von Dir?“ fragte ich, und er presste seine Schultasche, die er inzwischen vom Boden aufgehoben hatte fester an sich.
„Nichts Besonderes. Nur ein bisschen Spaß.“ sagte er leise und sah zu Boden. Trotzdem bemerkte ich, dass ihm die Röte ins Gesicht schoss. Scheinbar hatte Nils die Wahrheit gesagt, als er davon gesprochen hatte, dass Niklas öfter als Zielscheibe herhalten musste.
„Vielen Dank für Deine Hilfe!“ sagte er jetzt und schickte sich an, den Heimweg anzutreten.
Nils, der immer noch grummelnd neben mir stand, machte sofort eine auffordernde Geste in meine Richtung, doch ich beschloss, ihn zu ignorieren und schloss zu Niklas auf.
„Vielleicht sollte ich Dich ein Stück begleiten, falls diese Typen noch irgendwo auf Dich warten?“ sagte ich bemüht locker und schob die Hände in die Taschen. Meine Seite schmerzte noch immer, und auch meine Fäuste pochten von der ungewohnten Betätigung, doch ich ließ mir nichts anmerken.
Niklas warf mir einen misstrauischen Seitenblick zu, ging aber wortlos neben mir weiter. Nils lief auf meiner anderen Seite mit, doch ich hütete mich, ihn anzusehen, oder das Wort an ihn zu richten, obwohl seine Unzufriedenheit von ihm abstrahlte, wie Hitze von einer eingeschalteten Herdplatte.
Verstohlen musterte ich Niklas während wir so dahin liefen. Ich hatte nie einen von Nils` Klassenkameraden kennengelernt. Auch bei seiner Beerdigung war keiner von ihnen gewesen, denn seine Mutter hatte ausdrücklich darum gebeten, in aller Stille von ihrem Sohn Abschied nehmen zu können.
Auch aus der Nähe betrachtet schien absolut nichts Besonderes an ihm zu sein, doch mit meinen Überlegungen kam ich nicht weit, denn ein Rippenstoß von Nils holte mich in die Realität zurück – natürlich ein Stoß in die Seite, die ohnehin schmerzte. Wütend sah er mich an und machte eine weitere ungeduldige Geste. „Worauf wartest Du?“ fragte er.
„Aua!“ beschwerte ich mich, und Niklas sah besorgt zu mir hinüber. „Haben die Kerle Dich verletzt?“ wollte er wissen, doch ich - ganz tapferer Ritter - winkte ab. „Ach wo, das ist nichts. Wird vermutlich ein fetter, blauer Fleck, sonst nichts.“
„Warum hast Du das überhaupt gemacht?“ fragte er weiter. „Du kennst mich doch gar nicht. Da wäre es doch um Vieles leichter gewesen, es so zu machen, wie alle Anderen. So tun als ob man nichts sieht und sich aus allem raushalten.“ Seine Stimme klang bitter, als er das sagte, und diesmal war es an mir, ihn besorgt zu mustern.
„Wäre Dir das lieber gewesen?“ konterte ich, und er sah mich mit einem undefinierbaren Ausdruck an. Schließlich zuckte er die Schultern und meinte: „Ist ja Deine Gesundheit. Wenn Du sie an einen Loser wie mich verschwenden willst, bitte. Freunde wirst Du Dir damit hier jedenfalls nicht machen!“ Er schoss einen weiteren Blick auf mich ab und runzelte die Stirn. „Da fällt mir ein – bist Du eigentlich auch an meiner Schule? Ich hab´ Dich noch nie gesehen. Oder bist Du vielleicht neu?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin am Büchner-Gymnasium. Aber mein bester Freund war an Deiner Schule. Nils. Nils Börner.“ Er blieb stehen. „Nils? Der, der am Montag überfahren worden ist?“ fragte er überrascht. „Der war in meiner Klasse!“
„Ja, wirklich?“ heuchelte ich und schämte mich bis auf die Knochen dafür. „Die Welt ist klein, was?“
„Wie heißt Du überhaupt?“ wollte er dann wissen, und ich beeilte mich mit der Antwort. „Ah, sorry – ich bin Arno. Und Du?“ schob ich rasch hinterher, denn ich konnte ja schlecht zugeben, dass ich seinen Namen längst kannte … genau wie sein Lieblingsessen, sein Faible für Science-Fiction, seine Marotten und was mir Nils nicht noch so alles in die Ohren geblasen hatte seit ich mich bereit erklärt hatte, ihm zu helfen.
„Niklas Werner.“ lautete die knappe Antwort.
Danach schwiegen wir wieder, und ich zermarterte mir das Hirn, was ich noch sagen könnte, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Nils war Dein bester Freund?“ hörte ich da Niklas fragen. „Hmm. Wir kannten uns seit dem Kindergarten.“
Mehr fiel mir dazu nicht ein. Es war ja auch eine komische Situation – immerhin lief besagter bester Freund, für Niklas unsichtbar, kaum einen Meter neben mir, hörte jedes Wort und hielt dabei mit seiner Meinung nicht hinter den Berg.
„Jetzt mach´ aber mal!“ motzte er gerade. „Seit wann bist Du so maulfaul? Oder stehen die Mädels, für die Du Dich interessierst auf die große Schweiger-Nummer?“
Das war nicht eben hilfreich, und ich warf ihm einen bösen Seitenblick zu, was ihn allerdings nicht im Mindesten beeindruckte. „Mann – da vorne ist schon seine Haltestelle! Wenn er da ankommt, ist er gleich weg!“ schob Nils noch drängelnd hinterher. Doch es half alles nichts, außer ein paar unverbindlichen Brocken brachte ich nichts mehr heraus, fühlte mich zu sehr unter Druck gesetzt, von der Situation als solches und von Nils` Erwartungen an mich. So konnte ich nur hilflos zusehen, wie Niklas nach einem kurzen Nicken in meine Richtung in den bereits wartenden Bus einstieg und gleich darauf mit selbigem aus meiner Reichweite verschwand.
„Na, vielen Dank! Das hast Du ja toll hingekriegt! Da serviere ich ihn Dir quasi auf dem Silbertablett, und was machst Du? Kriegst die Zähne nicht auseinander! Prima! Echt toll!“
Nils´ war total sauer – zu Unrecht wie ich fand, und dementsprechend schwoll auch mir der Kamm.
„Was hast Du denn erwartet?“ giftete ich zurück. „Hast Du gedacht, ich überfalle den armen Kerl hier und jetzt mit Deinen Liebesschwüren, oder was? Du spinnst doch wohl! Versetz´ Dich doch zur Abwechslung mal in die Lage von jemand anderem, ja? Zum Beispiel in die von Niklas! Was würdest Du denn sagen, wenn ein völlig Fremder Dir plötzlich die Liebeserklärung eines Toten überbringt? Oder was ist mit mir? Denkst Du vielleicht, mir macht das hier Spaß? Ich tu´ das schließlich nur, weil Du mich praktisch dazu gezwungen hast, schon vergessen?“
Während meiner Tirade stand er schweigend vor mir und starrte mich entgeistert an. So kannte er mich nicht. Zwar hatten wir uns schon hier und da mal gestritten, aber meistens war er derjenige, der laut geworden war. Ich hatte meistens geschwiegen und seine Temperamentsausbrüche einfach über mich ergehen lassen. Hätte man mich gefragt, hätte ich vermutlich gesagt, dass mir solche Szenen einfach nicht lagen und wie eine Verschwendung von Zeit und Nervenkraft erschienen. Es kam höchstens vor, dass ich ihn dann – so wie an seinem Todestag – bat nach Hause zu gehen, oder ihn einfach stehen ließ. Am nächsten Tag war für gewöhnlich alles wieder vergessen, und wir knüpften da an, wo wir vor dem Streit aufgehört hatten.
Aber plötzlich war es anders – ich machte mir und meinen Gefühlen Luft, und Nils staunte Bauklötze.
„Hey, hey,“ sagte er „ist ja gut! Reg´ Dich ab, okay? War nicht so gemeint!“
Mir war jedoch reichlich unbehaglich zumute, was an den Blicken der wenigen Leute lag, die noch an der Haltestelle standen und auf einen der nächsten Busse warteten. Für sie musste es so aussehen, als wäre ich komplett schwachsinnig, immerhin brüllte ich jemanden an, der für sie unsichtbar war.
Ich wurde puterrot, zog den Kopf ein und wandte mich um. Mit langen Schritten bemühte ich mich möglichst schnell eine möglichst große Entfernung zwischen mich und die Bushaltestelle zu bringen.
Natürlich rannte Nils mir sofort hinterher. „Jetzt warte doch mal! Wo willst Du denn so schnell hin?“ fragte er, aber ich antwortete erst, nachdem ich um die nächste Ecke gebogen war und mich dort zunächst versichert hatte, dass keine Passanten in der Nähe waren. „Was glaubst Du denn wohl, wo ich hin will? Nach Hause! Bevor noch die Leute mit der Zwangsjacke und der Beruhigungsspritze kommen und mich in eine nette, weiche Gummizelle sperren!“
„Hä? Was ist los?“ Nils verstand sichtlich gar nichts, und ich sah mich zu einer weiteren, gereizten Erklärung genötigt. „Mann, kapierst Du das nicht? Keiner sieht Dich außer mir! Und eben an der Haltestelle habe ich Dich laut und deutlich angebrüllt! Was glaubst Du, was die Leute um uns rum gedacht haben? Die müssen doch glauben, ich hätte sie nicht mehr alle!“
Er winkte ab. „Ach so, das meinst Du! Mach´ Dir doch nicht über solche Kleinigkeiten so einen Kopf, Alter! Hier in der Stadt gibt es sicher eine Menge Bekloppte, da fällst Du doch gar nicht mehr auf!“
Er lachte, aber mir war überhaupt nicht komisch zumute, ganz im Gegenteil. Meine Laune befand sich auf dem Tiefpunkt! Er tat das so locker ab, ohne sich mal in meine Lage zu versetzen! Echt typisch Nils!
Aber mir reichte es jetzt. Nervlich befand ich mich ohnehin in einer Ausnahmesituation – zuerst Nils´ Tod und Begräbnis, dann tauchte er als Geist auf, eröffnete mir, dass er sich in einen Jungen verliebt hatte, und keine 24 Stunden später war ich a) in eine Prügelei verwickelt, deren Folgen ich vermutlich noch tagelang spüren würde und b) wurde ich von ihm zur Minna gemacht, weil ich seinem heißgeliebten Niklas nicht schon bei der ersten Begegnung reinen Wein eingeschenkt hatte! Das war doch wohl unglaublich!
Mühsam beherrscht drehte ich mich zu Nils um und betrachtete sein unbekümmertes Gesicht.
„Weißt Du was, Nils?“ fragte ich betont ruhig. „Du bist immer mein bester Freund gewesen, das stimmt. Aber Du bist auch so ziemlich das größte Arschloch, das ich kenne!“
Sein Grinsen erlosch, und er starrte mich überrascht an. „Was...?“ setzte er an, doch ich ließ ihn nicht ausreden.
„Tu´ mir einen Gefallen und verpiss´ Dich, ja? Hau´ ab, geh´ ins Nirwana, oder in die Hölle, oder was weiß ich wohin, aber verschwinde! Ich hab´ für heute echt genug von Dir!“
Damit drehte ich mich um und stapfte entschlossen den Weg zurück, den wir vor kurzem gekommen waren. Erst an der nächsten Ecke sah ich mich verstohlen um, doch von Nils war nichts mehr zu sehen, und ein wenig erleichtert ging ich nach Hause.
Bis ich dort ankam, war von dieser Erleichterung allerdings nicht mehr allzu viel übrig. Hatte ich nicht eigentlich viel zu heftig reagiert? Sicher, Nils war egoistisch und gedankenlos, aber das war ja nichts Neues, und was noch viel wichtiger war – er war mein Freund, und auf meine Hilfe angewiesen! Auf Hilfe, die nur ich ihm zukommen lassen konnte. Und so ganz nebenbei war es doch schließlich auch in meinem eigenen Interesse, wenn er diese Hilfe so schnell wie möglich bekam, denn nur dann konnte er diese Welt verlassen, und ich hatte meine Ruhe!
Im Klartext: ich bereute meine harten Worte und hatte ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, dass er womöglich irgendwo durch die Gegend irrte, für jedermann unsichtbar und unfähig sich jemandem mitzuteilen.
Diese Sorge hätte ich mir jedoch sparen können, denn kaum öffnete ich meine Zimmertür, prallte ich auch schon wieder retour: auf meinem Bett hatte es sich niemand anderer als der ach so unglückliche Nils gemütlich gemacht!
Er hatte wieder meinen MP3-Player okkupiert, lag auf dem Rücken und streckte die Beine an der Wand hinauf. Die Hände und Füße wippten dabei im Takt der Musik, und er sah definitiv alles andere als unglücklich aus.
Ich starrte noch mit offenem Mund, unschlüssig, ob ich erleichtert oder wütend sein sollte, da bemerkte er mich und setzte sich hoch, pulte die Ohrstöpsel aus den Ohren und grinste mich an.
„Na, hast Du Dich wieder beruhigt?“ wollte er fröhlich wissen, doch ich brummelte mir nur etwas Unverständliches in den Bart, während ich meine Jacke in den Schrank hängte.
Dann ließ ich mich in den Sessel fallen und angelte nach der angebrochenene Flasche Cola die daneben stand. Das Getränk schmeckte allerdings schon etwas abgestanden und war dazu zimmerwarm, trug also auch nicht gerade dazu bei, meine Laune zu verbessern. Währenddessen beobachtete er mich, bäuchlings auf dem Bett liegend, und das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt.
„Und? Wie geht’s jetzt weiter?“ fragte er dann, und ich zuckte die Achseln. „Was weiß ich?“
Er zog einen Flunsch und meinte: „Also, eine große Hilfe bist Du mir ja nicht gerade!“
„Ach? Das tut mir aber leid!“ gab ich mit falschem Bedauern zurück. Aber ich tat ihm den Gefallen und strengte meine grauen Zellen an, in der Hoffnung einen Geistesblitz zu produzieren.
„Weißt Du eigentlich, wo er wohnt?“ wollte ich von ihm wissen, und er hob die Schultern. „Naja, so ganz genau nicht. Ich kenne seine Adresse, die steht auf der Klassenliste, aber ich bin noch nie dort gewesen, wenn Du das meinst. Wieso?“
„Naja, wenn er hier in der Stadt wohnt, könnten wir vielleicht nochmal hinfahren, meinst Du nicht?“
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Niklas wohnt außerhalb, in Bendorf. Das sind gute 15 Kilometer. Sorry.“
„Und weißt Du, ob er irgendwas hier in der Stadt macht, Verein oder so? Irgendwas, was ihn am Wochenende in die Stadt treibt? Geht er vielleicht aus oder besucht jemanden?“
Betreten schüttelte Nils noch einmal den Kopf. „Nein, keine Ahnung. Weißt Du, früher hab´ ich nicht so auf ihn geachtet. Er war eben … Du weißt schon! Der typische Nerd halt. Und als ich gemerkt habe, dass sich bei mir was ändert, bin ich ihm zuerst aus dem Weg gegangen. Ich dachte doch, mit mir stimmt was nicht! Ich konnte diese Gefühle nicht akzeptieren und hab´ gedacht, das sie wieder verschwinden, wenn ich so wenig wie möglich mit ihm zu tun habe. Erst viel zu spät hab´ ich kapiert, wie dumm das war. Darum weiß ich eigentlich viel zu wenig über ihn. Klar, ich kenne seine Eigenheiten, sein Lieblingsessen und so was alles, aber das sind alles Dinge, die ich mitgekriegt habe, weil ich ihn heimlich beobachtet habe. Was er außerhalb der Schule so macht, davon hab´ ich keine Ahnung!“
Als er das sagte, sah er so unglücklich aus, dass ich ihm seinen Egoismus beinah auf der Stelle verzieh, aber ich dachte über das Gehörte auch noch weiter nach.
„Also, mit anderen Worten, Du hast keine Ahnung, wo er wohnt, wie er lebt und was er neben der Schule so macht. Du weißt nichts über seine Familie, und wenn ich das richtig verstanden habe, hast Du bisher kaum drei Worte mit ihm gewechselt. Trotzdem bist Du Dir sicher, dass Du in ihn verliebt bist und dass Dich dieses Gefühl an die sterbliche Welt fesselt. Richtig soweit?“
Nils sah mich mit großen Augen an und nickte dann.
„Ich weiß selbst, dass das total bekloppt klingt, aber es ist so! Glaub´ mir!“
Ich winkte seufzend ab. „Ja, ja, schon gut, ich glaub´s Dir ja. Aber was ich damit eigentlich sagen will ist, dass Du Dich gedulden musst. Heute ist Freitag, und vor Montag sehe ich keine Möglichkeit an ihn ran zu kommen. Selbst wenn wir mit dem Bus nach Bendorf fahren würden, was sollte ich ihm für meinen Besuch für eine Begründung liefern?“
„Mit dem Bus? Das ist eigentlich gar keine so schlechte Idee, Arno! Und es wäre DIE Gelegenheit für mich mal schwarz zu fahren, ohne befürchten zu müssen, dass man mich erwischt!“ erwiderte Nils und strahlte. „Lass´ uns raus nach Bendorf fahren! Jetzt gleich!“
Mir stand der Mund offen. Redete ich etwa klingonisch?
„Hallo? Erde an Nils! Bitte kommen? Hast Du mir nicht zugehört? Was soll ich ihm denn bitte für eine Erklärung liefern, wenn ich plötzlich bei ihm zuhause auftauche? >Guten Tag, ich bin von den Zeugen Jehovas
und wollte mich mit Dir über das bevorstehende Armageddon unterhalten und – ach ja, bevor ich´s vergesse, mein verstorbener Kumpel hat sich in Dich verliebt und wollte dass Du das erfährst, damit sein Geist endlich seine ewige Ruhe findet?<</font> Im günstigsten Fall hält er mich für einen Spinner, wenn ich Pech habe denkt er, ich wäre ein Stalker oder sowas! Und dann kriege ich richtig Ärger! Nicht Du, ICH!“
Doch Nils stieß mich nur übermütig in die Seite – natürlich prompt wieder in die lädierte – und legte mir dann den Arm um die Schulter. „Ey, jetzt mach´ Dich mal locker, Arno! Du siehst das viel zu verbissen! Wir fahren einfach mal raus nach Bendorf und sehen uns an, wo er wohnt. Wer weiß, vielleicht treffen wir ihn ja zufällig, und es ergibt sich die Möglichkeit zu einem netten, kleinen Plausch? Komm´ schon – gib´ Dir einen Ruck! Mir zuliebe?“
Wieder setzte er seinen Dackelblick auf, und natürlich ließ ich Blödmann mich breitschlagen. Ich hinterließ meinen Eltern eine kurze Notiz und machte mich dann auf den Weg zum zentralen Busbahnhof.
Keine halbe Stunde später saß ich zusammen mit Nils schon im Bus und zockelte Richtung Bendorf.
Texte: Cover: 186753_R_by_Mike Nottebrock_pixelio.de.jpg
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