Freunde sind etwas Besonderes.
Sie sind uns nah, sie teilen Gutes und Schlechtes mit uns und geben uns Halt, wo wir keinen finden.
Sie vermögen uns unsere besten Momente zu schenken … aber auch unsere schlimmsten!
Das galt jedenfalls definitiv für meinen besten Kumpel Nils. Wir kannten uns seit dem Kindergarten, und eigentlich verstand niemand, was uns so zueinander hin zog.
Ich war der brave Junge, der immer tat, was man ihm sagte und der Kindergarten-Tante sogar regelmäßig Blümchen pflückte.
Er dagegen war ein Wildfang wie er im Buche stand, dem kein Baum zu hoch und kein Bach zu breit war, der grundsätzlich gegen alles rebellierte und deshalb häufig in Schwierigkeiten geriet.
Daran änderte sich auch nichts, als wir in die Schule kamen, und wenn ich nun selbst erklären sollte, was uns zu Freunden machte, muss ich bis heute die Antwort schuldig bleiben.
Natürlich brachte er mich mit seinem Blödsinn mehr als einmal in die Bredouille, aber meistens war er es, der den größten Ärger bekam – er war eben berühmt-berüchtigt, schon von klein auf.
Im Gegensatz zu mir kam er aus einem sogenannten „zerrütteten Elternhaus“.
Sein Vater war Alkoholiker gewesen und hatte Nils, genau wie dessen Mutter häufig grün und blau geschlagen.
Ungefähr zu der Zeit, als wir Jungs in den Kindergarten kamen, war er jedoch seiner Alkoholsucht endgültig erlegen und seine Familie endlich frei.
Nun war seine Mutter alleinerziehend, und daran änderte sich auch in den folgenden Jahren nichts mehr. Sie arbeitete hart in mehreren Putzstellen, um sich und ihren Sohn durch zu bringen und war selten zuhause.
Daher blieb Nils oft sich selbst überlassen nach dem Unterricht, denn so etwas wie eine Betreuung gab es an unserer Schule nicht.
Meine Eltern merkten das irgendwann, und deshalb forderte meine Mutter mich auf, ihn doch öfters mit zu uns nach Hause zu bringen. Das tat ich dann auch, obwohl ich anfangs ein bisschen besorgt war, denn er war ja oft genug ziemlich unberechenbar.
Aber ich machte mir umsonst Sorgen. Nils war von der ersten Minute an charmant und zuvorkommend wie niemals sonst, sobald er die Schwelle unseres Hauses übertrat.
Es wurde dann praktisch zur festen Einrichtung, dass er die Nachmittage bei uns verbrachte, selbst als sich unsere schulischen Wege nach der Grundschule trennten. Er ging zur Realschule und ich – natürlich – aufs Gymnasium.
Es war fast so, als hätte ich einen Bruder.
Einen Bruder, der mir allerdings auch manchmal ziemlich auf die Nerven ging, sodass es durchaus Momente gab, wo ich ihn zum Teufel wünschte.
So auch an jenem verhängnisvollen Tag während unseres zehnten Schuljahres, wo er sich auf den Heimweg machte, nachdem wir uns wegen irgendeiner völlig unwichtigen Kleinigkeit in die Haare geraten waren. Grußlos ließ ich ihn gehen, zwei Stunden später klingelte das Telefon, und kurz darauf kam meine Mutter kreideweiß ins Zimmer, den Hörer noch in der Hand.
Sie berichtete mir stockend, dass Nils auf dem Nachhauseweg einen Unfall gehabt hatte. Es war November und früh dunkel. Nils kleidete sich meistens schwarz, und so hatte ein Autofahrer ihn zu spät gesehen, als er zehn Meter vom nächsten Zebrastreifen entfernt über die Straße flankte. Er hatte ihn voll erwischt, und Nils war noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.
Ich bekam schlagartig keine Luft und hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen.
Nils sollte tot sein? Ich sollte ihn nie mehr sehen und nie mehr die Gelegenheit haben, unseren Streit auszubügeln? Das war doch schlichtweg unmöglich, oder?
Aber ein Blick ins blasse Gesicht meiner Mutter bestätigte mir, dass es stimmte, dass es kein böser Traum war, und von dem Moment an war die Welt nicht mehr die Gleiche.
Drei Tage später war die Beerdigung, ich stand wie betäubt auf dem zugigen Friedhof und sah zu, wie der schlichte helle Fichtensarg in ein düsteres Erdloch hinabgelassen wurde, in dem knöchelhoch das Wasser stand, weil es die ganze Nacht geregnet hatte. Ich konnte noch immer nicht weinen und hatte die ganze Zeit das Gefühl, ich müsste meinen Freund aus diesem verdammten Sarg rausholen, weil alles ein furchtbarer Irrtum war.
Meine Eltern waren auch mitgekommen, und als die schreckliche Zeremonie endlich vorüber war, begleiteten sie Nils´ Mutter zum Wagen, während ich allein am Grab stehenblieb. Die Grube war noch offen, und ich sah hinunter auf die Erdschollen und die Blumen, die die Trauergäste Nils nachgeworfen hatten.
Erst in diesem Augenblick machte etwas „Klick!“ in meinem Kopf, und ich begriff, dass es tatsächlich vorbei war. Nils war fort und würde nie wieder zurückkommen. Er würde nie wieder lachend auf mich zurennen, um mir den neuesten Witz zu erzählen, und er würde nie wieder etwas anstellen, das uns beide in Schwierigkeiten brachte.
Er war für immer und unwiderruflich gegangen, und vor allem – es war meine Schuld!
Hätte ich mich nicht mit ihm gestritten und ihn nach Hause geschickt, wäre er mit Sicherheit noch am Leben!
Plötzlich spürte ich die Tränen aufsteigen, und im nächsten Moment heulte ich los, wie noch nie in meinem Leben. Ich bereute unseren Zank, und hätte alles dafür gegeben, ihn rückgängig zu machen.
„Nils!“ schluchzte ich. „Es tut mir leid, Mann! Es tut mir echt leid, hörst du? Ich würde alles für dich tun, wenn ich wüsste, dass du mir verzeihst! Alles!“
In diesem Zustand fand mich meine Mutter, und sie entschied, dass es besser war, wenn ich direkt mit meinen Eltern nach Hause fuhr, anstatt zum Beerdigungskaffee zu gehen. Mir war das egal, ich hatte meinen besten Freund verloren und fühlte mich unendlich allein und verlassen.
Eine halbe Stunde später lag ich im Jogginganzug auf meinem Bett, die schwarzen Klamotten hingen auf einem Bügel am Schrank, und ich starrte an die Zimmerdecke. Die Tränen waren versiegt, ich fühlte mich leergeweint, und wie ein Mantra kreiste ständig nur der eine Satz durch mein Hirn: Es ist allein Deine
Schuld
!
Irgendwann döste ich trotzdem ein, und im Traum begegnete mir Nils.
Er sah aus wie immer, von dem Unfall war ihm nichts anzusehen, ich rannte zu ihm hin und lachte erleichtert. Der Unfall war also nur ein böser Traum gewesen, Nils lebte, und es ging ihm gut!
Er lachte mit mir und fiel mir um den Hals, wie er es schon so oft getan hatte. Wir schwatzten über alles mögliche, und mein Herz war leicht, bis er plötzlich ernst wurde und wissen wollte: „Würdest Du wirklich alles für mich tun, Arno?“
Ich schaute ihn an und runzelte die Stirn. „Wie meinst Du das?“ fragte ich mit einer bösen Vorahnung.
„Würdest Du?“ beharrte er statt einer Antwort. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und mein anfangs so heller Traum begann sich rasant zu verdunkeln. Ich wich vor Nils zurück, denn ich wusste, dass gleich etwas kommen würde, was mir nicht gefiel. „Lass´ mich in Ruhe!“ rief ich. „Geh´ weg!“
Sein Gesicht wurde traurig, und plötzlich veränderte er sich. Seine Haut nahm eine wächserne Farbe an, unter seinen Augen blühten purpurne Blutergüsse, und von seiner linken Schläfe rann ein dunkler Blutfaden, bis zu seinem Kinn, wo er sich sammelte und dann auf sein schwarzes, zerrissenes Sweatshirt tropfte.
Ich wollte weglaufen, doch meine Füße lösten sich nicht vom Boden, ich stand nur keuchend vor Entsetzen da und starrte meinen besten Freund an, wie eine Gestalt aus einem Alptraum.
Nun, dazu entwickelte der Traum sich ja auch wirklich!
Ich hatte Nils nach dem Unfall nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber ich zweifelte keine Sekunde daran, dass das da vor mir der verunglückte, tote Nils war. Aus irgendeinem Grund war er aus dem Grab zurück gekommen und suchte mich heim, wie ein Zombie aus einem Horrorfilm.
„Hab´ keine Angst, Arno! Ich bin´s doch! Nils!“ versuchte er mich zu beruhigen und machte ein paar Schritte auf mich zu. Ich jedoch – weit davon entfernt mich zu beruhigen – wich vor ihm zurück und streckte abwehrend die Hände aus. „Nein!“ krächzte ich, „Verschwinde!“
Er blieb stehen und ließ die Schultern hängen. „Aber Du hast es mir versprochen!“ sagte er leise. „Oder hast Du das vergessen?“
„Was soll ich versprochen haben?“
Ich war vollkommen durcheinander, blieb aber stehen, denn er wirkte nicht im Mindesten wie ein hirnfressender Zombie, so unglücklich wie er aussah.
„Du hast doch gesagt, Du würdest alles für mich tun! Heute Nachmittag, an meinem Grab!“
Widerstrebend nickte ich. „Ja, das hab´ ich gesagt. Und?“
Er sah hoch, und neue Hoffnung leuchtete in seinen Augen. „Es gäbe da schon was, was Du für mich tun könntest.“
„Und was?“ hörte ich mich fragen.
Er zögerte. „Ich kann hier irgendwie nicht weg. Scheinbar hänge ich fest.“
Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst Du das?“
Er hob die Schultern. „Naja, eigentlich dürfte ich längst nicht mehr hier sein. Ich bin tot, und darum gehöre ich nicht mehr in diese Welt. Trotzdem bin ich noch da, also hält mich etwas hier fest.“ Er zögerte kurz und sagte dann leise: „Ich glaube, ich weiß auch, was das ist. Und deshalb brauche ich Deine Hilfe.“
„Wieso gerade meine?“ fragte ich abweisend. Er schaute hoch und erwiderte: „So wie es aussieht, bist Du der Einzige, der mich sieht und hört. Außerdem hast Du es mir doch versprochen, oder nicht?“
„Was meinst Du damit, ich kann Dich als Einziger sehen und hören? Das hier ist doch bloß ein Traum, oder etwa nicht?“
Er lächelte und legte den Kopf schief. „Ja und Nein. Wie man´s nimmt. Ich wollte Dich nicht zu sehr erschrecken und habe mir Deinen Traum zunutze gemacht. Aber Du kannst jetzt ruhig aufwachen. Ich bin trotzdem noch da!“ ...
...Heftig atmend fuhr ich in die Höhe und wusste im ersten Moment gar nicht, wo ich mich befand. Ich war noch ganz gefangen in meinem Traum und brauchte eine Weile, bis mein Zimmer aufhörte, sich um mich zu drehen.
Mit beiden Händen rieb ich mir das Gesicht und sah mich dann um.
Was hatte ich denn da für einen Blödsinn zusammen geträumt?
„Na – wach?“ erklang eine Stimme aus Richtung meines Sessels, und bei ihrem Klang blieb mir fast das Herz stehen. Das konnte einfach nicht sein, das war unmöglich!
Nils? Wirklich und wahrhaftig?
Ich schaute hin und erstarrte. Da saß tatsächlich Nils in meinem Sessel, scheinbar heil und gesund, nur ein wenig blasser als sonst.
Ruckartig fuhr ich vom Bett hoch und stolperte einen Schritt zur Seite, wobei ich nicht darauf achtete, wohin ich trat, prompt auf einen meiner Schuhe stieg, die dort standen und mit hilflos rudernden Armen zu Boden ging.
Dabei knallten meine Kiefer heftig aufeinander, und einen Augenblick lang sah ich Sternchen.
„Hey, hey, sachte, Kumpel!“ beschwichtigte Nils mich von seinem Platz aus. „Sehe ich so furchtbar aus?“
Er blickte an sich hinunter und grinste dann sein typisches Nils-Grinsen. „Das ja wohl nicht! Schätze, ich war die bestaussehendste Leiche, die die seit langem unter die Erde gebracht haben!“
Mir wurde übel, und ich fuhr ihn an: „Lass´ gefälligst diesen Scheiß! Mit sowas macht man keine Witze, Du Blödmann!“
„Was? Wieso denn nicht? Schließlich rede ich von mir selbst, Mann!“
Grummelnd erhob ich mich und versuchte dabei, nicht in Panik zu verfallen.
Sah ich tatsächlich einen Geist in meinem Zimmer?
Unsinn! Ich war nur überreizt und wahrscheinlich schlief ich sowieso noch und träumte das alles.
Genau, das musste es sein!
„Wach´ auf, Arno! Wach´ einfach auf!“ beschwor ich mich selbst leise, doch es nützte nichts. Der Anblick blieb der Gleiche, und Nils sah mich an wie ein begriffsstutziges Kind.
„Mensch, Alter,“ stöhnte er und verdrehte die Augen, „schnallst Du es immer noch nicht? Du bist wach, und ich bin tot. T – O – T! Du warst heute Nachmittag auf meiner Beerdigung und hast mir versprochen, Du würdest alles für mich tun! Und wag´ es ja nicht, jetzt zu sagen, Du hättest es nicht so gemeint! Sonst wäre ich nämlich gar nicht hier, kapiert? Ich brauche Dich, Arno!“
Mit jedem Wort das er sagte, steigerte sich mein Entsetzen, und ich schob mich unauffällig Richtung Tür. Als ich sie endlich erreicht hatte, riss ich sie auf und stürmte in den Flur. Aufs Geratewohl öffnete ich eine weitere Tür und fand mich im Badezimmer wieder. Mit fliegenden Fingern schloss ich hinter mir ab und ging dann rückwärts, bis ich mit dem Rücken ans Waschbecken stieß. Daraufhin drehte ich mich um und das kalte Wasser auf, um mir das Gesicht damit zu waschen.
Hatte ich etwa so was wie einen Nervenzusammenbruch?
Geister gab es nicht, basta!
Wenn ich glaubte, einen zu sehen, dann stimmte was nicht mit mir!
„Was machst Du denn hier?“
Ich fuhr hoch und stieß mit dem Kopf so hart unter die Kante des Spiegelschränkchens, welches genau über dem Waschbecken hing, dass ich zum zweiten Mal an diesem Abend Sternchen sah.
Als mein Blick sich wieder geklärt hatte, sah ich Nils, der lässig am Türrahmen gelehnt hatte und nun mit besorgtem Gesicht zu mir kam. Abwehrend streckte ich eine Hand aus, während ich mit der anderen über meinen Hinterkopf fuhr, wo ich eine Beule ertastete und etwas Warmes und Klebriges fühlte.
„Bleib´ … wo Du bist!“ schrie ich und nahm meine Finger in Augenschein. Sie glänzten nass und rot, und mir war klar, dass ich mir nicht nur einfach eine Beule geholt hatte.
„Verdammt!“ rief ich nicht weniger laut als vorher, und in meinem Kopf ging alles durcheinander.
„Lass´ mich in Ruhe! Geh´ weg! Du bist nur eine Halluzination, weiter nichts! Also verschwinde endlich!“ schrie ich außer mir vor Angst und Entsetzen.
Nur einen Moment später wurde an der Türklinke gerüttelt, und ich hörte die Stimme meiner Mutter, sehr besorgt und eindringlich: „Arno? Bist Du da drin? Was ist denn los? Warum schreist Du so? Lass´ mich bitte rein! Arno? Hörst Du mich?“ Jetzt klopfte sie mit der flachen Hand gegen das Türblatt, und ich erschrak.
Was sollte ich tun? Würde sie Nils auch sehen, wenn ich sie hereinließ? Oder nicht?
Und was war mir eigentlich lieber? Dass sie ihn sah und damit den Beweis antrat, dass sich ein Geist hier herumtrieb, oder dass sie ihn nicht sah und damit nur die Erklärung blieb, dass ich Halluzinationen hatte?
Wobei … Moment, hatte Nils nicht gesagt, außer mir könnte ihn niemand sehen oder hören?
Mir schmerzte der Schädel, von dem heftigen Stoß genau wie vom Nachdenken, und da wurde auch schon mit der Faust an die Tür gehämmert. Arno? Bitte, mach´ jetzt endlich auf!!“
Das klang inzwischen schon mehr als beunruhigt, und Nils schob sich zur Seite, als ich einen zögernden Schritt Richtung Tür machte. Ich öffnete, und meine Mutter kam herein. Ihr Gesicht war blass und voller Sorge, und als sie das Blut an meinem Hinterkopf sah, sog sie erschrocken die Luft ein.
„Was hast Du denn gemacht, um Himmels willen?“ wollte sie wissen, während sie mich auf den Badewannenrand dirigierte und aus dem Schränkchen Verbandmaterial holte. Mit geschickten Bewegungen reinigte sie die Wunde und inspizierte die Sache aus der Nähe.
„Ich hab´ mir das Gesicht gewaschen und bin mit dem Kopf unter die Kante geknallt! Sonst nichts!“ erklärte ich und schielte aus dem Augenwinkel zu Nils hinüber, der gelassen an der Duschkabine lehnte. Meine Mutter hatte durch nichts erkennen lassen, dass sie ihn sah, und das konnte nur bedeuten, dass sie ihn WIRKLICH nicht sehen konnte.
War er also wahrhaftig ein Geist? Ein Geist, den nur ich sehen konnte?
Ich schloss die Augen und senkte den Kopf. „So ein Quatsch!“ murmelte ich, und meine Mutter horchte auf.
„Was hast Du gesagt?“ Rasch hob ich den Blick und sagte: „Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht.“
Sie musterte mich eindringlich und setzte sich dann neben mich.
„Hör´ zu, Arno, Du hast einen schweren Verlust erlitten. Nils wird uns allen fehlen, das weißt Du, aber Du warst sein bester Kumpel und manchmal habe ich in ihm mehr Deinen Bruder gesehen, als Deinen Freund. Es wird nicht leicht werden, das zu verarbeiten, und vergessen wirst Du ihn hoffentlich nie, aber mit der Zeit wird es leichter werden an ihn zu denken. Es ist nur wichtig, dass Du Deine Gefühle nicht immer nur unterdrückst. Du hast ein Recht darauf, zu trauern, zu weinen und auch wütend zu sein. Friss´ es also nicht immer nur in Dich hinein, hörst Du? Wir – Dein Vater und ich – sind für Dich da und hören Dir zu, wenn Du es möchtest! Also lass´ uns Dir helfen, ja?“
Sie drückte mich an sich, und ich dachte nur: „Wenn Du wüsstest! Der Typ, von dem Du hier redest, steht keinen Meter von Dir entfernt und hört jedes Wort!“
Nachdem sie mir mit einem Einmalrasierer ein paar Haare wegrasiert hatte, klebte sie noch einen Verband auf die Wunde und meinte abschließend: „Da hast Du Glück gehabt. Es ist nur eine kleine Wunde. Wer weiß, womöglich hätten wir sonst noch in die Klinik fahren und es nähen lassen müssen!“
Dann umarmte sie mich fest und strich mir über den Rücken.
„Willst Du nicht noch nach unten zu uns kommen?“fragte sie, doch ich verneinte so höflich wie möglich. „Nein, Mama. Ich denke, ich gehe gleich duschen und lege mich dann ins Bett. Der Tag war doch ziemlich heftig, und ich bin echt fertig. Außerdem hab´ ich ja die letzten Nächte auch nicht wirlich viel geschlafen.“
Sie nickte widerstrebend und wandte sich zur Tür. „In Ordnung, Arno. Und denk´ bitte dran, was ich Dir gesagt habe, ja?“
„Okay.“ erwiderte ich und folgte ihr in den Flur. Sie ging nach rechts, zur nach unten führenden Treppe, und ich betrat mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und ließ mich in meinen Sessel fallen. So saß ich mit Blick zur Tür und wartete auf Nils. Wie erwartet, erschien er auch nur einen Moment später, materialisierte sich direkt vor meinen Augen und hockte sich wortlos auf mein Bett.
„Und? Glaubst Du mir jetzt?“ wollte er wissen, doch ich starrte ihn nur stumm an. Die Antwort, die er hören wollte, war ich nicht bereit zu geben.
„Arno?“ Er zog die Augenbrauen hoch und beugte sich vor.
„Lass´ mich in Ruhe! Ich höre Dich nicht, und ich sehe auch nichts! Du bist nichts weiter als pure Einbildung. Hervorgerufen durch Schlafmangel und Schuldgfühle! Alles was ich brauche ist Schlaf – und zwar ungestörter, tiefer, langer Schlaf! Und morgen werde ich mich irgendwie ablenken! Computerspielen oder ins Kino vielleicht! Genau! Spätestens morgen Abend bist Du verschwunden! Garantiert!“
„Was?“ Er setzte sich kerzengerade hin und starrte mich entsetzt an. „Arno! Was redest Du denn da? Bitte, Du musst mir glauben! Ich brauche Deine Hilfe!“
Doch ich ignorierte ihn und streifte mir den Pyjama über, steckte dann zur Sicherheit noch meine Ohrenstöpsel ein und kroch unter meine Bettdecke. Ganz fest kniff ich die Augen zu, und als ich nach einer Weile probeweise noch einmal ins düstere Zimmer linste, war nichts von ihm zu sehen.
Erleichtert rollte ich mich auf den Rücken und starrte ins Dunkel über mir. Gott sei Dank, also war ich wohl doch nicht verrückt!
Die Bilder des hinter mir liegenden Tages huschten durch meinen Geist, rannen jedoch bald träge ineinander, vermischten sich zu einem unentwirrbaren Gemisch, und ich träumte alles durcheinander. Mal stand ich auf dem Friedhof, an Nils´ Grab, dann wieder stand er neben mir, und schließlich lag ich selbst dort unten und versuchte, mich bemerkbar zu machen. Doch mein Körper war kalt und steif, und niemand hörte meine verzweifelten Schreie. Die Schollen polterten auf den Deckel meines Sarges, und der Geruch nach Blumen und feuchter Erde füllte meine Nase.
Wie konnten sie mich begraben? Ich war doch nicht tot!
Schon wurde mir die Luft knapp, mein Schreien erstarb und wurde zu heiserem Röcheln. Ich fühlte, wie mir die Augen aus den Höhlen traten und fuhr mit einem Aufschrei aus dem Schlaf. Keuchend und japsend, mit dem Dröhnen meines Herzschlages in den Ohren saß ich eine Weile nur so da und versuchte, dem Gefühl der Panik Herr zu werden, dass mich während des Alptraumes in den Klauen gehabt hatte. Meine Hände zitterten unkontrolliert, während ich mir über das schweißnasse Gesicht fuhr und die Stöpsel aus meinen Ohren pulte. Dann erst sah ich mich um. Ein Blick auf den Wecker offenbarte, dass es noch halbwegs Nacht war. Vor dem Fenster herrschte Finsternis und Regen fiel klickend dagegen. Ich schaute mich weiter um, sah nichts und wollte schon erleichtert wieder ins Bett sinken, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Ich fuhr herum und sah Nils, der es sich vor meinem Bücherregal gemütlich gemacht hatte. Er hatte die Ohrstöpsel meines MP3-Players eingesteckt und schmökerte in einem meiner Bücher.
Ein Geist, der Musik hörte und Science-fiction-Romane las?
Aber ich widerstand dem Drang, ihn anzusprechen, rollte mich wieder in die Bettdecke und schlief tatsächlich relativ bald wieder ein.
Als ich das nächste Mal aufwachte, fiel ein trübes Novemberlicht in mein Zimmer. Mein erster Blick galt dem Wecker – es war nach neun Uhr. Zwar war eigentlich ein ganz normaler Schultag, aber ich war schon seit Nils` Tod nicht mehr in der Schule gewesen.
Meine Eltern hatten gemeint, das sei besser, denn sie wollten mir Gelegenheit geben, die erste Trauer zu verarbeiten, bevor ich mich wieder mit Lehrern und Mitschülern befassen musste. Und heute war sowieso Freitag, da hätte es sich ohnehin nicht mehr gelohnt, zur Schule zu gehen. Meine Zensuren waren gut, sodass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, und ich war ihnen dankbar für soviel Rücksichtnahme.
Apropos Nils …. Ich blickte mich um, konnte ihn jedoch nicht entdecken.
War er weg? Hatte der Schlaf einer einzigen Nacht tatsächlich schon ausgereicht, um meine Halluzination zu vertreiben?
Vorsichtig ließ ich den angehaltenen Atem entweichen und kletterte aus dem Bett.
Entgegen meiner Ankündigung hatte ich am Vorabend nicht mehr geduscht, daher stieg ich als Erstes unter die heiße Brause und zog mich dann an. Während der ganzen Zeit sah ich kein Zipfelchen von Nils und begann schon zu glauben, dass er wirklich nur eine stressbedingte Halluzination gewesen und nun verschwunden war.
Mit neu gewonnenem Appetit löffelte ich kurz darauf mein Müsli in mich hinein und vertiefte mich in die Zeitung, die mein Vater auf dem Tisch liegen gelassen hatte.
Meine Eltern waren beide berufstätig, mein Vater in einer Pharmafirma und meine Mutter als Arzthelferin, von daher war ich allein, aber das war mir nur recht.
Natürlich schmerzte mich der Gedanke an den Tod meines Freundes noch immer, wie hätte es auch anders sein können, aber wenigstens hockte kein eingebildeter Nils mehr in meinem Dunstkreis herum und verlangte Hilfe!
Ich war nicht verrückt, nur etwas mitgenommen!
„Also, ich hab´ ja nie verstanden, wie Du schon zum Frühstück dieses widerlich süße Zeug in Dich reinstopfen kannst!“
Vor Schreck verschluckte ich mich und ließ den Löffel klatschend in die Schüssel fallen, während ich hustend und spuckend dem Erstickungstod zu entrinnen suchte. Die Tränen traten mir in die Augen und durch den Schleier hindurch sah ich eine verschwommene, dunkle Gestalt mir gegenüber am Tisch sitzen.
Nachdem ich mich endlich ausgehustet und mir die Sicht klar gewischt hatte, erkannte ich – wen wohl? - Nils.
Er saß auf dem gleichen Stuhl wie sonst immer, wenn er bei uns gewesen war und zog ein bekümmertes Gesicht.
„Tut mir leid.“ sagte er leise. „Ich schätze, ich mache nichts als Schwierigkeiten, was? Aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll! Ich war gerade bei meiner Mutter und habe versucht, zu ihr durch zu dringen, aber sie sieht und hört mich einfach nicht! Arno, Du bist meine letzte Hoffnung!“
Er sah mich mit großen Augen an, und plötzlich rollten Tränen über seine Wangen. Ich war verblüfft.
Konnten Geister weinen?
„Ich will nicht für immer hier bleiben müssen, wo mich niemand sieht und hört, verstehst Du das nicht? Ich finde es sowieso schon beschissen genug, dass ich so früh gestorben bin, aber glaubst Du, ich hätte Bock auf immer und ewig ein Geist zu bleiben? Ich meine, vielleicht wäre das ja ganz lustig, wenn ich die Leute ein bisschen erschrecken könnte, ich wüsste da schon welche, bei denen ich das gern mal ausprobieren würde, aber es geht ja nicht! Niemand nimmt mich wahr, überhaupt niemand! Wenn Du nicht wärst, würde ich wahrscheinlich verrückt werden und mich fragen, ob es mich wirklich gibt, oder ob ich nur eine Art Hirngespinst bin!“
Jetzt weinte er richtig, und der Anblick seiner Tränen ließ mich nicht kalt. Zu Lebzeiten hatte er nur sehr selten geweint und noch seltener hatte er einen anderen Menschen seine Tränen sehen lassen.
Zögernd stand ich auf und ging um den Tisch herum, bis ich direkt vor ihm stand. Er hatte sich vornüber gebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben. Unschlüssig stand ich da und wagte zunächst nicht, ihn zu berühren. Doch schließlich gab ich mir einen Ruck und streckte die Hand nach ihm aus. Als meine Finger ihn berührten, spürte ich eine Art kühles Prickeln, doch er fühlte sich durchaus fest und solide an, genau wie immer.
Als er meine Berührung spürte, sah er zu mir hoch, und in seinen verweinten Augen stand soviel Kummer, dass ich nicht anders konnte, als meine Arme um ihn zu legen und ihn an mich zu drücken, wie ich es schon öfter getan hatte. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an mich, und ohne zu überlegen strich ich ihm mit der Hand begütigend übers Haar.
Sein Körper war kühl und fühlte sich seltsam fremd an, aber gleichzeitig berührte mich irgendetwas an ihm tief drinnen in meiner Seele, etwas das mich beschwichtigte und mir zuflüsterte: Das ist wirklich Nils, kein
Zweifel! Und er sagt die Wahrheit! Er braucht meine Hilfe, weil er sonst niemanden hat, und es ist meine verdammte Pflicht, ihm zu helfen, schließlich ist er mein bester Freund! Wenn ich ihn nicht weggeschickt hätte, wäre er vermutlich noch am Leben! Also reiß´ Dich jetzt gefälligst mal zusammen und hilf´ ihm!
„Sch!“ machte ich etwas hilflos und wiegte ihn in meinem Arm wie ein kleines Kind. „Ich helfe Dir ja, hörst Du?“
Er löste sich von mir und sah mich mit einer Mischung aus Freude und Unglauben an. „Wirklich? Du hilfst mir? Ganz ehrlich?“ Ich nickte, und er strahlte, dass es kaum auszuhalten war.
„Aber was soll ich denn nun eigentlich für Dich tun?“ wollte ich wissen, als er sich mit den Händen die Tränen wegwischte. „Naja,“ er lachte verlegen, „das ist ein bisschen peinlich, um ehrlich zu sein.“
„Peinlich?“ Ich starrte ihn an und fragte mich, in was für einen Schlamassel ich mich da gerade hineinmanövrierte, wenn es sich um etwas handelte, das Nils peinlich war!
„Es gibt da jemanden, in den ich mich verliebt habe, weißt Du? Und ich hatte keine Gelegenheit mehr, es zu gestehen. Das müsstest Du für mich tun!“
Einigermaßen konsterniert starrte ich ihn an. Das war alles? Wieso war das denn peinlich? Und wieso hielt ihn das hier fest?
Seit Nils 14 Jahre alt war, war er so oft „verliebt“ gewesen, dass ich es aufgegeben hatte, mit zu zählen.
Da musste sein neuester Schwarm ja ein mächtig heißer Feger sein, wenn sie ihn über den Tod hinaus derart beschäftigte?!
„Und wer ist die Glückliche? Kenne ich sie?“ fragte ich, und er kratzte sich am Kopf, schien meinen Blicken auszuweichen.
„Tja, weißt Du … die Sache ist die ...“ Er druckste eine Weile herum, doch dann gab er sich einen Ruck: „Es ist keine Sie, es ist ein Junge, so, nun weißt Du´s.“
„Was?“ Wie vom Donner gerührt fiel ich auf den nächsten Stuhl. „Du machst Witze, oder?“ fragte ich hoffnungsvoll, aber er schüttelte den Kopf. „Nein, mache ich nicht. Ich hab´ nur so verdammt lange gebraucht, bis ich es mir selbst eingestehen konnte. Und jetzt ist es zu spät für mich. Darum bitte ich Dich jetzt, dass Du zu ihm gehst und es ihm sagst.“
Vor meinen Augen schien alles zu verschwimmen. „Ich soll... ?“ ächzte ich. „Bist Du bescheuert? Du erwartest, dass ich den Postillion d´amour
für Dich spiele und das bei einem Typen?“
Mit bittendem Gesichtsausdruck saß er vor mir und sah zu mir auf.
Aaargh! Diesem Welpenblick hatte ich noch nie widerstehen können, und das wusste er auch!
Ich holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vergiss´ es! Das mache ich nicht! Auf keinen Fall!“
Ich bemühte mich um einen entschlossenen Tonfall. Er musterte mich einen Augenblick lang, und ich fürchtete schon, er würde sich aufs Bitten verlegen. Doch er setzte bloß eine resignierte Miene auf und nickte.
„Ja, ich dachte mir schon, dass Du das sagen wirst. Ist schon okay, Arno. Dann muss ich wohl hierbleiben. Aber naja, solange ich in Deiner Nähe bin, wird es schon nicht zu schlimm für mich werden, nicht wahr? Du wirst mich schon trösten, wenn ich mich einsam fühle! Und es wird bestimmt interessant zu sehen, wie Du alt und grau wirst, während ich so bleibe, wie ich jetzt bin!“
Er sah listig zu mir empor, während Schreckensvisionen von einer Zukunft durch mein Hirn zogen, in der Nils zu meinem ständigen, geisterhaften Begleiter geworden war.
Verdammt! Damit hatte er mich!
Zähneknirschend schloss ich die Augen und rieb mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.
„Okay!“ sagte ich, meinen Ärger mühsam unterdrückend. „Okay, Du hast gewonnen! Ich mache es! Aber wehe, wenn Du danach nicht sofort verschwindest!“
Im nächsten Augenblick hing Nils jubelnd an meinem Hals und warf mich beinahe mitsamt dem Stuhl rückwärts um. „Danke!“ rief er. „Danke, Arno! Du bist ein wahrer Freund! Wie kann ich das wieder gutmachen?“
„Ja, ja, schon gut! Spar´ Dir das, ja?“ Ich schob ihn von mir weg und fragte: „Also, dann sag´ schon – wer ist der Kerl? Doch hoffentlich keiner von den Schlägertypen aus Deiner Schule?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, keine Sorge! Ganz im Gegenteil! Er geht zwar in meine Klasse, aber meistens ist er derjenige, auf dem die Anderen rumhacken. Dabei ist er echt nett. Er heißt Niklas. Lass´ uns heute nach Schulschluss hingehen, dann zeige ich ihn Dir!...“
So ging es weiter, er war so begeistert, seine Augen leuchteten und ich war fassungslos. Mein bester Kumpel Nils, vor dem kaum ein attraktives Mädel sicher gewesen war, saß hier vor mir und schwärmte von einem Kerl!
Verstohlen kniff ich mich in den Unterarm, und von dem Schmerz schossen mir die Tränen in die Augen.
Also war ich zumindest wach!
Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
Fortsetzung folgt
Texte: Cover:
186753_R_by_Mike Nottebrock_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2011
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