Cover

Hanna sah die blitzende Klinge auf sich zurasen und wusste, dies war das Ende. Sie schloss die Augen, weil sie es nicht sehen wollte, doch plötzlich erklang ein metallisches Klirren, und sie riss die Lider wieder hoch.
Dicht über ihr schwebte die rötliche Klinge, aufgehalten von einem Schwert, buchstäblich im letzten Augenblick.
Da sie den Kopf nicht bewegen konnte, um zu sehen, wer sie gerettet hatte, strengte sie sich an, um wenigstens ihre Augen soweit zu verdrehen, dass sie etwas erkennen konnte.
Sie sah an dem blitzenden Metall entlang, entdeckte eine schmale, aber kräftige Hand und dann die Ärmel eines groben Leinenhemdes – es war Konrad mit seiner kurzen Waffe.
„Was willst du, Jungchen?“ fragte Malus gereizt und wütend. „Glaubst du, du allein hast genug Kraft, um mich aufzuhalten? Vergiss es!“ tönte der Dämon. „Diesmal gibt es keine Rettung für sie! Dieses Mal wird sie sterben und Asmodis mit ihrem Blut endlich befreien!“ Er lachte und übte weiter Druck auf die Schwertklinge aus, sodass dem Knappen die Schweißperlen auf die Stirn traten, doch plötzlich gesellte sich eine weitere Klinge hinzu, und Hanna erblickte Luca, der Konrad mit grimmiger Miene beistand.
Rund um sie her ging der Kampf weiter, doch im Auge dieses Sturms, dort wo Hanna und die drei Männer sich befanden, schien die Zeit still zu stehen.
„Er ist nicht allein!“ knurrte Luca, und Hanna konnte sehen, wie sich die Muskeln seines Oberarmes spannten, als er gemeinsam mit dem Knappen zentimeterweise den Dolch in die Höhe zwang.
Als er sah, dass er den beiden Jungen nicht gewachsen war, riss Malus schließlich mit einem wütenden Laut das Messer an sich, ließ Hanna los und zerrte sein eigenes Schwert wieder hervor.
Rasend vor Zorn schlug er auf die Beiden los und schrie außer sich: „Ihr verdammten Bälger! Wann werdet ihr endlich einsehen, dass ihr keine Chance habt?“ Bei jedem einzelnen Wort ließ er einen Hieb auf die Kämpfer niederprasseln, in einem Tempo, dass sie nicht viel mehr tun konnten, als parieren und zurückweichen, obwohl sie zu zweit waren.
Hanna lag indessen auf dem Boden und kämpfte noch immer gegen den Bann, der sie umfangen hielt.
Und jetzt endlich schien es, als würden die geistigen Fesseln sich etwas lockern. Wie jemand, der eine echte Fessel zu weiten versucht, tastete sie vorsichtig nach den Grenzen ihrer Bewegungsfreiheit, und tatsächlich war Malus offenbar wütend oder abgelenkt genug, um nicht zu bemerken, wie sie langsam an den Knoten scheuerte und sich behutsam aus den Stricken schälte, die er über ihr Bewusstsein gelegt hatte.
Endlich – mit einem letzten Ruck befreite sie sich endgültig und stand leicht schwankend auf. Sie sah sich um und erkannte, dass die übrigen Krieger mit ihren Gegnern zwar nicht unbedingt spielend fertig wurden, dass aber die Einzigen in ernsthafter Bedrängnis Luca und Konrad waren. Hinter den Kriegern standen Diana und zwei fremde junge Leute mit hoch konzentriertem Gesichtsausdruck, und Hanna wusste, dass sie all ihre geistige Kraft aufwandten, um die Schilde rund um ihre Partner aufrecht zu erhalten. Bei ihnen befand sich mit gezücktem Schwert ein weiterer Fremder, dessen Gesicht entfernt dem des Barons glich, und seine Aufgabe war es offensichtlich, die Schilde zu schützen, falls sie angegriffen wurden.
Gelegentlich blitzte es um einen der Krieger bläulich auf, was bedeutete, dass ihre Gegner immer wieder versuchten, ihren Schutz zu durchbrechen, doch noch gelang es niemandem.
Ein erstickter Aufschrei zog ihre Aufmerksamkeit wieder zu Luca und Konrad, und sie sah, das der Knappe schwankte. Aus einer Wunde an seinem Arm tropfte Blut auf den Boden, und sie begriff, dass es Zeit war, einzugreifen.
Sie sammelte sich, denn diesmal wollte sie es richtig machen, schloss die Augen und suchte ihr Feuer...
Nur Sekunden später raste eine reinigende Lohe durch den Raum, umhüllte sämtliche Dämonen, darunter auch Malus, und ein vielstimmiges, misstönendes Heulen lag in der Luft, als die Dämonen gewaltsam aus den Körpern getrieben wurden, die sie ungefragt besetzt hatten.
Mitten in diesem Feuersturm stand Hanna mit ausgebreiteten Armen, und die Flammen umspielten ihr Gesicht, als würden sie es streicheln.
Dann war es vorbei.
Das Inferno erlosch, und überall im Raum lagen reglose Körper, einige tot, die meisten jedoch nur bewusstlos. Unter ihnen waren auch Christian von Berching und Hannas Mutter.
Zu ihr führte der erste Weg des Mädchens, nachdem sie die Augen wieder geöffnet und das leichte Schwindelgefühl überwunden hatte.
Sie sank neben ihrer Mutter in die Knie und nahm deren Hand behutsam in ihre. Der Geist der Frau war wieder frei, das fühlte sie, und vor Erleichterung rollten ihr dicke Tränen übers Gesicht.
„Hanna!“ Diana war zu ihr getreten und umarmte sie fest. Hanna erwiderte die Geste und bemerkte erst dann, wie verändert das rothaarige Mädchen aussah. „Diana? Was ist denn mit dir? Und -“ sie sah sich um, „wo ist Jan?“ Diana senkte den Blick und sagte leise: „Jan ist tot. Malus hat ihn getötet.“
Hanna riss die Augen auf. „Was sagst du da? Malus hat … ? Etwa im Körper des Barons?“ Diana nickte.
„Aber das wäre jetzt zuviel auf einmal. Später erfährst du alles, das verspreche ich dir. Bist du denn soweit in Ordnung?“ fragte sie besorgt. Die Sucherin nickte. „Mir geht`s gut, aber ich glaube, Konrad ist verletzt.“
Die beiden Mädchen drehten sich um und sahen, dass sich um die wenigen Verletzten bereits gekümmert wurde.
„Wer ist das da drüben bei Konrad?“ fragte Hanna und Diana erklärte: „Nachdem der Meister dich unter dem Einfluss von Malus entführt hatte und dann auch noch Jan getötet wurde, hat Luca Hilfe angefordert. Das da ist Meister Markus von Berching, ein Cousin unseres Barons. Er leitet ebenfalls ein Ordenshaus, ist aber sofort selbst gekommen, nachdem Lucas Hilferuf ihn erreicht hat. Die Übrigen sind Krieger und Schilde, die ebenfalls zu uns entsandt wurden, und Wolfgang da hinten ist ein Hüter, den Meister Markus mitgebracht hat.“
Der etwas untersetzte Mann, auf den Diana zuletzt gedeutet hatte, beugte sich gerade über die Gestalt, die blutüberströmt auf dem Altar lag. Er hob deren Lider an, fühlte an der Kehle den Puls und richtete sich dann mit einem leichten Kopfschütteln auf.
Was bedeutete das? Wer war das überhaupt?
Vage kam Hanna die Gestalt bekannt vor. Sie machte ein paar Schritte auf den Altar zu und plötzlich erkannte sie Alexander. Erschrocken atmete sie geräuschvoll ein und spürte gleich darauf Dianas Hand im Rücken.
„Er hat gewusst, worauf er sich einlässt, glaub´ mir.“ sagte sie, und Hanna blickte sie fassungslos an, ob der unerwarteten Kälte in ihrer Stimme. Doch die Rothaarige hatte sich schon abgewendet, und als Hanna ihr fragend nachsah, kreuzten ihre Blicke plötzlich die von Luca.
Schweigend stand er inmitten der geschäftigen Betriebsamkeit im Raum und sah sie nur an. Rundum erwachten die Opfer der Dämonen aus ihrer Ohnmacht und wurden von den Armoritanern versorgt, doch die Beiden sahen und hörten nichts von alldem.
Hanna fühlte, wie ihr Herz anfing zu galoppieren und die Röte von den Fußspitzen zu den Haarwurzeln zu steigen begann. Noch nie hatte Luca sie so angesehen. Einen solchen Blick kannte sie bisher nur von einer einzigen Person – von Konrad!
Sie zuckte zusammen. Ihr fiel wieder ein, was Diana eines Abends in ihrem Zimmer zu ihr gesagt hatte. Hieß das, es stimmte? Luca empfand etwas für sie?
Doch gerade, als sie mit ihren Überlegungen so weit gekommen war, drehte er sich plötzlich abrupt um und mischte sich unter die Anderen, um ebenfalls zu helfen.
Auch Hanna kehrte wieder in die Realität zurück und die war hässlich genug, roch nach Blut und Tod und sie wandte sich erneut zu Alexanders Leichnam um. Sie fühlte tiefe Trauer, denn er war nun schon der Zweite tote Krieger, innerhalb kurzer Zeit. Mochte er sie auch verraten haben, einen solchen Tod verdiente niemand!
Sie sah seine offenen Augen, die durchschnittene Kehle und das viele Blut, das auf den Boden geflossen war und fröstelte. Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu und schloss ihm vorsichtig die Augen, bevor sie sich mit Tränen in den Augen abwandte.
Jetzt kam der fremde Meister auf sie zu und kurze Zeit später saß sie in der nun schon vertrauten, dunklen Limousine, mit einer Decke um die Schultern und Konrad neben sich. Der wirkte auch noch etwas benommen und war ungewohnt still, während sie zurück zur Burg fuhren.
Hannas Mutter und die anderen ehemals Besessenen wurden gesondert abtransportiert, bei ihnen im Wagen befand sich nur noch einer der Krieger, der ihnen zum Schutz mitgegeben worden war, und in ihrem Kopf wiederholte sich beständig die Szene, wie Lucas und ihr eigener Blick sich gekreuzt hatten. Sie wusste, es war vollkommen unpassend gerade jetzt an so etwas zu denken, aber sie konnte nicht anders.
Im Schloss sorgte sie dafür, dass Ludwig sich um Konrad kümmerte und ging dann mit schleppenden Schritten in ihr Zimmer. Mittlerweile verspürte sie eine bleierne Müdigkeit, deshalb ließ sie einfach ihr Kleid aus dem 14. Jahrhundert neben dem Bett zu Boden gleiten, schlüpfte in den Schlafanzug und kroch mit einem erleichterten Seufzer unter die Decke, wo sie fast sofort einschlief.

*



Blinzelnd öffnete Hanna die Augen und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Zu sehr hatte sie sich in den zurückliegenden Wochen an die karge Kammer gewöhnt, in der sie im 14. Jahrhundert gewohnt hatte, und so dauerte es einen Augenblick, bis ihr einfiel, dass sie wieder zurück in ihrer eigenen Zeit und damit auch in ihrem hellen, freundlich eingerichteten Zimmer war.
Als diese Erinnerung erst einmal klar war, strömte auch alles andere zurück in ihren Geist, was sie am Vortag erlebt hatte.
Hastig setzte sie sich im Bett hoch, als sie sich an das Wiedersehen mit ihrer Mutter erinnerte. Rasch schwang sie die Beine aus dem Bett und huschte ins Bad, um so schnell wie möglich zum Frühstück und anschließend zu ihrer Mutter gehen zu können. Trotzdem musste sie kurz innehalten, als sie den hell gefliesten Raum betrat, denn diesen sanitären Komfort hatte sie in den zurückliegenden Wochen nicht in Anspruch nehmen können.
In der Dusche schloss sie genießerisch die Augen und ließ sich das heiße Wasser mit tiefem Wohlbehagen über den Körper rieseln.
Als sie fertig geduscht und angezogen war, schlüpfte sie aus ihrem Zimmer, eilte durch den Gang und – prallte beinahe mit Konrad zusammen, der gerade die Nase aus einem der Zimmer in Treppennähe steckte.
Für ihn würde der heutige Tag sicher nicht leicht werden, fiel ihr ein. Er war aus seiner zeit herausgerissen und hierher in eine für ihn völlig fremde Welt katapultiert worden. Hanna fragte sich, ob ihm das bereits bewusst war und falls ja, ob er die Tragweite des Ganzen verstand. Aber sie mochte das Thema jetzt noch nicht anschneiden, denn sie war selbst noch zu aufgewühlt von den Geschehnissen in der alten Feldscheune.
Erst von draußen hatte sie erkannt, dass es sich um ein ehemals landwirtschaftlich genutztes Gebäude am Waldrand handelte, in welchem Malus sich und seine Anhänger versteckt hatte.
Jetzt jedenfalls sah Konrad nicht so aus, als hätte er sonderlich viel geschlafen, wenn sich auch seine Miene bei Hannas Anblick deutlich aufhellte.
Allerdings wanderte sein Blick sofort hinunter zu ihren Beinen und Hanna sah reflexartig ebenfalls an sich hinab, bis ihr einfiel, dass im 14. Jahrhundert keine Frau Hosen getragen hatte, auch sie selbst nicht. Schon am Vortag hatte er Diana mit seltsam irritiertem Blick gemustert, fiel ihr jetzt ein, und sie wurde tatsächlich ein bisschen rot, als sie sich bewusst machte, wie bizarr ihre Aufmachung auf den Jungen wirken musste.
„Ähm, … möchtest du vielleicht mit mir zum Frühstück gehen?“ Ihr Angebot erntete einen erstaunten Blick.
„Ich soll mit dir frühstücken? Mein Platz ist doch wohl eher beim Gesinde, meinst du nicht?“ Hanna musste lächeln. „Unsinn!“ lächelte sie. „Wir frühstücken immer alle zusammen! Und weil du mir immerhin gestern das Leben gerettet hast, bestehe ich sogar darauf, dass du neben mir sitzt!“
Dann jedoch fasste sie ihn genauer ins Auge. Er trug die gleichen Kleider wie am Vortag, doch die waren nicht nur vom Kampf in der Scheune beschmutzt, sondern rochen auch muffig.
„Wir müssten allerdings etwas wegen deiner Kleider unternehmen!“ Sie runzelte die Stirn und überlegte, während er ratlos an sich heruntersah.
„Warum? Was ist damit?“ fragte er, doch sie antwortete nicht, sondern betrachtete ihn abschätzend und verglich seine Größe und Figur mit den übrigen männlichen Schlossbewohnern.
Das Ergebnis gefiel ihr nicht unbedingt, aber es war eindeutig. Konrad war groß und breitschultrig, glich mehr einem Mann als einem Jungen, und der Einzige, der ihm in dieser Hinsicht ähnelte, war Luca.
Entschlossen fasste sie nach Konrads Hand. „Komm´!“ sagte sie und zog ihn mit sich über den Flur, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, an ihrem Zimmer vorbei zu Lucas Tür.
Sie versuchte das mulmige Gefühl nach dem gestrigen merkwürdigen Blickkontakt zu ignorieren, als sie klopfte.
Es war noch früh am Morgen, deshalb rechnete sie sich gute Chancen aus, Luca noch anzutreffen und wirklich wurde rasch geöffnet. Luca sah durch den Türspalt, mit freiem Oberkörper und zerzausten Haaren und zuckte kurz zurück, als er sah, wer vor seiner Tür stand.
„Was willst du denn hier?“ fragte er irritiert, und sie wurde verlegen.
„Naja,“ begann sie zögernd, „eigentlich wollte ich dich um etwas bitten...“
Sie wurde rot, und plötzlich schien es gar keine so gute Idee mehr zu sein, ausgerechnet Luca nach Kleidern für Konrad zu bitten. Aber nun war sie schon mal hier, also musste sie auch zu Ende bringen, was sie angefangen hatte. Sie trat einen Schritt zur Seite und Lucas Blick fiel auf den Knappen. Hanna wies mit der Hand auf ihn und sagte: „Er hat nichts anzuziehen und der Einzige hier, der dem äußeren Anschein nach eine ähnliche Größe haben könnte … bist du.“ Eingeschüchtert sah sie zu ihm auf und wartete auf seine Reaktion. Doch zunächst sagte Luca gar nichts, sondern ließ nur seine Blicke an Konrad hinauf- und wieder hinunterwandern. Der gab den Blick gelassen zurück, und schließlich verschwand Luca aus dem Türspalt. Sie hörten ihn in seinen Schubladen herumkramen, und als er zurückkam, hielt er ein Bündel Kleider in den Händen. Wortlos reichte er sie nach draußen und schloss dann die Tür.
Etwas konsterniert sah Hanna noch einen Moment lang auf die Maserung im Holz vor ihrer Nase und drehte sich dann zu Konrad um, welcher das Schauspiel stumm, aber mit neugierigem Blick verfolgt hatte.
Jetzt zog er die Brauen in die Höhe und sagte: „Ich glaube, er kann mich nicht leiden.“
Mit einem etwas gekünstelten Lachen winkte Hanna ab und erwiderte: „Ach, mach´ dir nichts draus. So behandelt er alle. Aber zumindest hast du jetzt was Vernünftiges zum Anziehen. Hier!“ Sie drückte ihm das Bündel in die Hand und dirigierte ihn zurück zu seinem eigenen Zimmer. „Zieh´ dich um und dann komm´ mit mir zum Frühstück, ja?“
Während sie vor der Tür auf Konrad wartete, dachte sie an Lucas Blick, als sie eben so unerwartet bei ihm aufgetaucht war. Er schien erschrocken zu sein, aber gleich darauf war er wieder so unnahbar und abweisend wie immer. Und was sollte sie dann von der Sache am Vortag halten? Erst hatte er sie angestarrt, als wollte er sich gleich auf sie stürzen, und dann sah er plötzlich einfach weg und zog sich zurück, so wie er es immer tat.
Was wollte er denn nun wirklich?
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Tür zu Konrads Zimmer geöffnet wurde und der Junge erschien. Mit der Hose war er ganz offensichtlich zurecht gekommen, aber das Shirt trug er verkehrt herum und Hanna versuchte es ihm zu erklären, bis er es über den Kopf streifte und herumdrehte. Dabei präsentierte er seinen nackten, muskulösen Oberkörper, und ihr Blick saugte sich unwillkürlich daran fest. Auf dem Bizeps des rechten Armes, welcher unter der glatten, sonnengebräunten Haut spielte, saß ein Verband. Dort hatte die Klinge von Malus ihn am Vortag getroffen. Glücklicherweise war die Verletzung nur oberflächlich und hatte nicht genäht, sondern nur verbunden werden müssen. „Tut es noch weh?“ fragte Hanna, nur um ihre Verlegenheit zu überspielen.
„Hm?“ machte Konrad, dann verstand er, was sie meinte, streifte das Shirt diesmal richtig herum über den Kopf und antwortete lächelnd: „Das? Nein, nicht mehr. Aber eigentlich ist es ja auch nicht viel mehr als ein Kratzer!“
Just in diesem Moment kam Luca lautlos von hinten und ging an ihnen vorbei, ohne einen Blick oder ein Wort in ihre Richtung zu werfen. Hanna sah ihm nach, wie er die Treppe herunterschritt und Konrad schüttelte den Kopf.
„Ganz gleich, was du sagst, ich bin sicher, dass er mich nicht mag!“


Luca war mehr als überrascht, als so früh am Morgen Hanna vor seiner Tür stand. Aber dann sah er, dass sie Konrad im Schlepptau hatte, und seine Stimmung war schlagartig im Keller.
Wieso schleppte sie diesen Kerl am frühen Morgen mit hinter sich her?
Die Beiden schienen sehr vertraut miteinander zu sein, und am Vortag war ihm auch nicht entgangen, wie der Typ Hanna ansah. Der war scharf auf sie, das sah selbst ein Blinder!
Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und gegrübelt, und nun stand der Kerl auch noch vor seiner Tür, und Hanna wollte, dass er ihm Kleider borgte!
Aber Luca sagte nichts, sondern kam ihrer Bitte nach. Kaum hatte er jedoch die Sachen nach draußen gereicht, schloss er rasch die Tür, als könnte er damit auch seine eigenen unwillkommenen Gedanken aussperren – was natürlich nicht der Fall war.
Er hörte sie noch kurz vor seiner Tür miteinander sprechen, dann entfernten sich ihre Schritte und Stimmen langsam. Aufatmend lehnte er sich an das Holz und schloss die Augen.
Wieder tauchten die Fragen in seinem Kopf auf, die ihn schon seinen Schlaf gekostet hatten. Und die Drängendste davon war: War da etwas zwischen den Beiden?
Noch konnte nicht allzu viel passiert sein, immerhin hatte Hanna am Vortag eindrucksvoll von ihrer Gabe Gebrauch gemacht und auch deutlich gezeigt, dass sie immer besser damit zurechtkam – eigentlich sogar erstaunlich gut, wenn man bedachte, dass sie noch praktisch keinerlei Ausbildung erhalten hatte.
Wenn es stimmte, was in den alten Büchern geschrieben stand, war dies das beste Indiz dafür, dass er sich bislang wegen Konrad keine Sorgen zu machen brauchte, denn sonst hätte sie ihre Fähigkeit längst eingebüßt.
Trotzdem, er würde mit Markus von Berching reden müssen, der die Amtsgeschäfte solange führte, bis sein Cousin sich hoffentlich erholt haben würde.
Zwar wusste Luca nicht, wie Hanna zu Konrad stand, aber jemand musste sie aufklären, bevor womöglich etwas passierte...
Während dieser Gedankengänge hatte er sich in seinem Bad frisch gemacht und angezogen. Nun verließ er sein Zimmer und machte sich auf den Weg zum Speisesaal um zu frühstücken. Als er sich der Treppe näherte, sah er Hanna mit Konrad zusammen vor dessen Zimmertür stehen. Die Sucherin schien ihm etwas zu erklären, und plötzlich streifte der Junge sich das Shirt über den Kopf und präsentierte seine nackte Brust.
Luca beobachtete Hannas Reaktion und registrierte sehr wohl die leichte Röte, die ihr bei dem Anblick ins Gesicht stieg.
Sie wandte sich halb ab, schielte aber doch wieder hin, und schließlich stellte sie eine Frage, die Luca nicht verstehen konnte, welche Konrad aber lächeln ließ.
Er stieß die Hände in die Taschen seiner Jeans, wo er sie ungesehen zu Fäusten ballen konnte und ging stumm an den Beiden vorbei.
Es wurmte ihn, sie so zusammen zu sehen, und eine innere Stimme beharrte darauf, dass er sich an Konrads Stelle wünschte.
Wütend stapfte er die Treppenstufen hinunter und ging in den Speisesaal, wo er jedoch feststellte, dass er eigentlich überhaupt keinen Appetit hatte.
Außer dem Baron waren am gestrigen Abend sieben weitere Menschen in die Burg gebracht worden, Hannas Mutter eingeschlossen.
Alle waren innerhalb weniger Stunden wieder zu Bewusstsein gekommen und wurden seither von den Hütern untersucht und betreut.
Offenbar hatte niemand ernsthaften Schaden genommen, doch sicherheitshalber würden sie noch einige Tage im Schloss bleiben müssen, bevor man sie wieder gehen ließ. Alle waren erschöpft und hatten kaum Erinnerungen an die Zeit, wo sie von Dämonen besessen gewesen waren. Wieviel jeder Einzelne erfahren würde, hing nicht zuletzt vom seelischen Zustand der Betroffenen ab, aber das war noch Zukunftsmusik und lag in den Händen der Hüter.
Vorläufig waren sämtliche Bediensteten eifrig damit beschäftigt, sich um die Opfer zu kümmern, daher herrschte im Speisezimmer Selbstbedienung.
Noch immer grollend nahm Luca sich nur eine Tasse schwarzen Kaffee und brütete dann in seinem Stuhl vor sich hin. Außer ihm war noch niemand anwesend, selbst Ludwig war nicht im Raum, und so wuchs sein Groll beständig, bis die Tür erneut aufging und Hanna mit Konrad eintrat, offenbar in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Beim Anblick seines finsteren Gesichts verstummten die Beiden und setzten sich wortlos nebeneinander an den Tisch. Konrad schien befangen, und Luca fiel ein, dass er erst seit dem Vortag in der modernen Welt weilte.
Vermutlich hatte er bei sich zuhause nicht mit der Herrschaft essen dürfen, und Luca ertappte sich bei dem Wunsch, dies möge hier ebenso sein, einfach nur, damit er nicht mitansehen musste, wie selbstverständlich er neben Hanna saß, mit ihr redete und vielleicht sogar lachte!
Er stellte seine Tasse mit einem Klirren auf die Untertasse zurück und stand auf. Hanna sah hoch und fragte: „Gehst du schon?“ und - mit einem Blick auf die halbleere Tasse: "Willst du nichts essen?" Sonst nichts, und genau genommen war die Frage vollkommen harmlos, doch sie führte dazu, dass er vor seinem geistigen Auge plötzlich Hanna und Konrad allein im Speisezimmer sah, wie sie nach seinem Weggang …
Er führte den Gedanken nicht zu Ende, sagte aber wütend: „Allerdings! Wenn ich euch beide noch lange ansehe, wird mir nämlich schlecht!“ Die Worte verließen seinen Mund, bevor er darüber nachdenken konnte und er wandte sich hastig zur Tür. Doch er kam nicht weit, denn plötzlich wurde er am Arm gefasst und zurückgehalten. Er drehte sich um und erwartete Konrad ins Gesicht zu sehen, stattdessen waren es Hannas Augen, die ihn zornsprühend anstarrten. Ehe er noch etwas sagen konnte, hatte sie ihm bereits eine schallende Ohrfeige verpasst. Im nächsten Moment fuhr sie, scheinbar erschrocken über ihre eigene Courage zurück, sah sich ratlos nach Konrad um und verließ dann fluchtartig das Speisezimmer.
Sich die heiße Wange haltend, sah Luca ihr nach und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte.
„Warum lässt du es an Hanna aus, wenn du auf mich sauer bist?“ Luca drehte sich zum Tisch und blickte direkt in Konrads Gesicht. „Was meinst du?“ fragte er dümmlich, worauf der Knappe aufstand und langsam zu ihm kam.
„Um es gleich ganz deutlich zu sagen – ich empfinde mehr für Hanna als reine Sympathie!“ erklärte Konrad kühl. „Und dein Verhalten eben war ganz und gar unangemessen einer jungen Dame gegenüber. Deshalb hast du die Ohrfeige zu recht bekommen. Trotzdem verstehe ich nicht, warum du so feindselig bist.“
„Keine Ahnung, wovon du redest.“ knirschte Luca mit zusammengebissenen Zähnen, und Konrad lächelte.
„Das glaube ich dir nicht.“ erwiderte er. „Du kannst mich nicht leiden, nicht wahr? Aber warum lässt du es dann an Hanna aus?“
„Wie ich mich Hanna gegenüber verhalte, geht nur sie und mich was an. Ich werde jedenfalls nicht schuld sein, wenn sie ihre Fähigkeiten einbüßt!“ fuhr Luca den Jüngeren an. Der zog die Stirn kraus, denn er verstand sichtlich nicht, was Luca meinte.
„Was meinst du damit?“ fragte er, und der Krieger gab bereitwillig Auskunft.
„Hanna weiß es noch nicht, aber als Sucherin darf sie nicht lieben! Sonst verliert sie ihre Kraft, ihr Feuer!“
Er zögerte, dann setzte er etwas leiser hinzu: „Sie war ja nur ein paar wenige Tage bei uns, bevor sie entführt wurde, darum kennt sie das Tabu noch nicht. Sie ist nicht im Orden aufgewachsen, und ihre Ausbildung hatte gerade erst begonnen! Der Baron hätte es ihr sicher gesagt, aber dann passierte die Entführung, und es war keine Zeit mehr dafür. Ich hoffe, dass es ihr bald jemand sagt, das wäre nur zu ihrem Besten.“
Konrad sah starr vor sich hin. Diese Eröffnung hatte ihn offensichtlich schwer getroffen. Doch schließlich drehte er das Gesicht in Lucas Richtung und sagte: „Ich kenne dich zwar noch nicht wirklich, aber für einen Feigling habe ich dich nach gestern eigentlich nicht gehalten.“
„Was soll das heißen?“ Luca sah ihn böse an.
„Nun, du weißt etwas, was für Hannas Zukunft sehr wichtig ist, aber du enthältst es ihr vor, gibst ihr keine Möglichkeit, sich damit auseinander zu setzen und zu verstehen, was es für sie bedeutet. Ihr alle stülpt ihr da etwas über, wofür sie vielleicht noch längst nicht bereit ist! Sie versteht es doch gar nicht, weil sie von nichts weiß! Aber anstatt selbst mit ihr zu reden, hoffst du, dass es jemand anderes tut. Das ist feige! Ich finde, du bist ihr die Wahrheit schuldig und zwar sofort!“
Ohne eine Antwort abzuwarten ging Konrad zurück zum Tisch und widmete sich erneut seiner Mahlzeit.
Luca starrte noch einen Moment auf seinen schwarzen Haarschopf über der Rückenlehne des Stuhles, dann verließ auch er den Raum.
Hatte Konrad recht? War er es Hanna schuldig, ihr eine Erklärung für sein Verhalten zu liefern? Oder ihr zumindest von dem Tabu zu erzählen?
Ohne zu einer Entscheidung gekommen zu sein, trat er nach draußen in den Schlosshof und sah Hanna mit hängendem Kopf auf dem Rand des Springbrunnens sitzen. Als das Portal leise quietschte, blickte sie hoch und stand auf. Luca ging die Treppe hinunter, und zu seinem Erstaunen kam Hanna auf ihn zu.
„Kann ich dich kurz sprechen, Luca?“ Er nickte und meinte: „Natürlich. Das trifft sich gut, ich wollte auch was mit dir bereden. Lass´ uns am besten in den Park gehen. Da sind wir um diese Zeit am ungestörtesten.“
Sie war einverstanden, und gemeinsam betraten sie den Schlosspark.
Eine Weile lang sagte keiner der Beiden ein Wort, doch dann versuchte Hanna, das drückende Schweigen mit einer harmlosen Bemerkung zu brechen: „Im 14. Jahrhundert sah es hier ganz anders aus! Da waren hier drüben überall Gemüsebeete!“
Sie lachte etwas beklommen und blieb stehen, atmete einmal tief durch und gab sich dann einen Ruck.
„Also, was ich dir sagen wollte – es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe. Zu meiner Verteidigung möchte ich anführen, dass ich wirklich nicht mehr weiß, wie ich mit dir umgehen soll. Gestern in der Scheune, da hast du mich angesehen, als ob ...“ Sie biss sich auf die Lippe, unsicher, wie und ob sie fortfahren sollte. Er kam ihr allerdings auch nicht entgegen, sondern stand nur reglos vor ihr, sah sie aus seinen dunklen Augen an und schwieg. Sie fuhr sich mit der Hand über den Kopf und blickte zur Seite. „Verdammt, Luca, du machst es mir wirklich nicht gerade einfach, weißt du? Hab´ ich dir was getan, oder was ist los? Warum bist du immer so … so … kalt? Ich kapier´ das nicht!“ Nervös knetete sie ihre Hände und sah zu ihm auf. Noch immer schwieg er, und erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass sein Gesicht wieder den gleichen Ausdruck hatte wie am Tag vorher in der Scheune. „Luca?“ fragte sie leise, aber er schien sie gar nicht zu hören. Wie in Zeitlupe streckte er eine Hand aus und berührte ihre Wange. Hanna erstarrte und riss die Augen auf.
Was war das jetzt?
Ihr Herz schlug wie verrückt, und wo seine Finger ihre Haut berührten, flammte Hitze auf. Wie von unsichtbarer Hand geschoben kam er näher, senkte den Kopf, und einen Moment später fühlte sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht.
Er zögerte einen Augenblick, kämpfte mit sich und wusste doch schon längst, dass es vergeblich war. Diesen Kampf konnte er nicht gewinnen, nicht solange sie so dicht vor ihm stand, dass er den leichten Duft ihres Shampoos riechen und die Wärme ihres Körpers spüren konnte.
Mit einem erstickten Laut schloss er sie in die Arme, fühlte das Zittern, welches sie durchlief und grub seine Finger in ihr Haar. Keines klaren Gedankens fähig registrierte er, wie sie das Gleiche tat und sich dicht an ihn schmiegte. Da war es um seine Beherrschung geschehen, er umfasste ihr Gesicht, hob es zu sich empor und trank ihren Anblick in sich hinein, wortlos, aber mit derart wildem Blick, dass Hanna erneut erschauerte.
„Keine Angst!“ flüsterte er, und in der nächsten Sekunde lagen seine Lippen auf ihren.
Er wusste, dass er dies nicht tun durfte, dass es auch ganz gewiss nicht das war, was er vorgehabt hatte, aber er konnte nicht anders.
Ihr Mund schmeckte genau so süß, wie er es sich erträumt hatte, und sie im Arm zu halten, erfüllte ihn mit ungeahnter Zärtlichkeit.
Trotzdem war er sich bewusst, dass es falsch war, was er tat, und obwohl sie versuchte, ihn festzuhalten, befreite er schließlich mühsam seinen Mund und schob sie von sich.
Irritiert sah sie zu ihm auf, und er rang verzweifelt nach Atem.
„Das … ist … falsch!“ keuchte er. „Wir … dürfen das … nicht tun!“
Verständnisloses Schweigen war ihre Antwort. „Warum nicht?“ brachte sie schließlich hervor.
Er wandte ihr den Rücken zu, denn solange sie ihn so ansah, war er nicht sicher, ob er ihr sagen konnte, was nötig war. „Du bist die Sucherin. Die alten Schriften sagen, dass es dir verboten ist zu lieben. Du würdest deine Fähigkeiten verlieren, wenn du das Verbot missachtest.“ Er wendete sich ihr wieder zu und sie sah geschockt zu ihm auf, Fassungslosigkeit in den großen Augen.
„Was?“ sagte sie, aber er konnte ihrem Gesicht ansehen, dass sie ihn genau verstanden hatte. Langsam wich sie zurück, schlang die Arme um ihre eigene Mitte und schaute ins Leere.
„Hanna!“ Er machte einen Schritt auf sie zu, doch sie entzog sich ihm und wandte sich ab. Ohne ein Wort drehte sie ihm den Rücken zu und rannte davon, hastete zurück zum Eingang, mit heißen, trockenen Augen und einem bitteren Gefühl tief in der Brust.
So war das also! Deshalb also benahm er sich so seltsam!
Und gerade noch war sie im siebten Himmel gewesen, als er sie in seine Arme gezogen und geküsst hatte! Die Erinnerung an das Gefühl seines Mundes auf ihren Lippen, ließ die Tränen endlich fließen.
Sollte sie das wirklich nie wieder erleben dürfen? Dieses Gefühl des Zuhauseseins bei einem anderen Menschen, der Zusammengehörigkeit und dieses Glücksgefühl, welches zu sagen schien, sie bräuchte nur ihre unsichtbaren Flügel auszubreiten und schon könnte sie fliegen?
Als sie die Eingangstür erreichte, strömten die Tränen bereits als breites Rinnsal über ihr Gesicht, und Konrad, dem sie in der Halle begegnete, schaute sie verdutzt an, als sie vorbeirannte, ohne auf ihn zu reagieren. Sie eilte die Treppe hinauf, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, denn sie wollte nur fort, hinauf in die Einsamkeit ihres Zimmers, um ihrem Kummer gänzlich freien Lauf lassen zu können.
Dort angekommen verschloss sie die Tür und warf sich auf ihr Bett, grub das Gesicht ins Kissen und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.


Luca sah ihr mit hängenden Schultern nach und verfluchte sich selbst.
Verdammt, was hatte er nur angerichtet?
Wieso hatte er sich nicht beherrschen können? Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen fuhr er sich durch die Haare und machte sich dann auf den Rückweg zum Schloss.
Als er den gekiesten Hof betrat, sah er Konrad auf sich zu kommen, und seine Miene verhieß nichts Gutes. Er seufzte, das hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt.
„Was hast du mit ihr gemacht?“ fuhr Konrad ihn erbost an, kaum dass er ihn erreicht hatte.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht!“ gab Luca im gleichen Tonfall zurück, setzte aber sofort hinzu: „Du hast doch selbst gesagt, ich soll ihr reinen Wein einschenken! Was hast du denn erwartet, wie sie reagiert? Dass sie sich freut? Wenn du was für sie übrig hast, wie du gesagt hast, müsstest du das doch wohl verstehen!“
Die beiden jungen Männer standen dicht voreinander und funkelten sich wütend an. Doch schließlich kamen sie unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass das nichts brachte und beruhigten sich.
Schweigend wichen sie auseinander, und Konrad strich sich über das zusammengebundene Haar.
„Trotzdem muss es einen Grund geben, dass sie so aufgewühlt war! So kenne ich sie nicht! Sie hat in meiner Zeit einem Dämon die Stirn geboten, gestern hat sie sogar eine ganze Schar davon ausgetrieben, ohne mit der Wimper zu zucken! Sie ist mutig und stark, also - wenn sie weint, dann ist doch etwas zwischen euch vorgefallen!“
Luca ließ die Schultern hängen und sagte leise: „Ich habe die Beherrschung verloren, das ist vorgefallen.“
Irritiert zog Konrad die Stirn kraus und fragte: „Die Beherrschung verloren? Was bedeutet das? Hast du sie … geschlagen, oder was?“
„Ich hab´ sie nicht geschlagen!“ brauste Luca auf. „Ich hab´ sie geküsst! Verstehst du jetzt? Du bist nicht der Einzige, der sie liebt! Ich würde sonst was geben, wenn ich mit ihr zusammen sein könnte! Aber es geht nicht! Es darf nicht sein, und das macht mich verrückt! Ich unterdrücke das nun schon so lange, ich kann einfach nicht mehr!“
Der Andere riss die Augen auf, als die Bedeutung der Worte, die er hörte, sein Hirn erreichte. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, tat es aber dann doch nicht.
Als hätte es ihn seine ganze Kraft gekostet, stand Luca nach diesem Ausbruch schwer atmend vor ihm und starrte ihm ins Gesicht.
Hätte er geahnt, dass ein heimlicher Beobachter bei diesem Anblick ein zufriedenes Grinsen aufsetzte, hätte er vermutlich lauthals geflucht, denn dieser Beobachter wäre für ihn kein Unbekannter gewesen, und bei dieser zufriedenen Miene hätte Luca gewusst, dass soeben ein neuer, teuflischer Plan in seinem Kopf heranreifte...
Gar nicht so weit entfernt, in einer kleinen Höhle am Ufer eines schmalen Baches, der bereits seit Jahrhunderten vom Schlosshügel herabfloss, hockte eine Gruppe von seltsam deformiert wirkenden Gestalten. Im Zentrum der Gruppe stand eine hochgewachsene Figur, die noch am ehesten von Allen menschenähnlich wirkte. Wo man bei den übrigen Wesen nicht sicher war, wieviele Beine oder Arme sie aufwiesen, ob es Fell oder Schuppen waren, was ihre Körper bedeckte und welchen Geschlechts sie nun eigentlich waren, konnte man ihn noch am ehesten für einen Menschen, einen großen, breitschultrigen Mann halten. Doch richtete man den Blick direkt auf ihn, schien seine Gestalt zu wabern wie eine Fata Morgana, und war man in der einen Sekunde noch sicher, dass er blonde, lange Haare, blaue Augen und ein Gesicht von der Schönheit eines Engels hatte, rieb man sich im nächsten Augenblick verdutzt die Augen und sah stattdessen einen schwarzhaarigen Zigeuner vor sich, nur um sich gleich darauf ein weiteres Mal zu korrigieren.
Es war, als würde sich der menschliche Geist weigern, das wahre Erscheinungsbild aufzunehmen und produzierte deshalb fortwährend Trugbilder.
Gerade hob er den Kopf von einer flachen Schale mit Wasser, in die er konzentriert hineingeschaut hatte und lachte laut auf.
„Wer hätte das gedacht? Da tut sich doch unversehens eine Schwachstelle auf! Zwar haben wir die Mutter verloren, Kata, aber dafür fällt uns vielleicht etwas ungleich Wertvolleres in den Schoß! Los! Wir haben keine Zeit zu verlieren! Geht und sucht euch neue Körper! Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir uns so verbergen müssen, denn mit etwas Glück bricht bald das neue Zeitalter an! Das Zeitalter der Dämonen!“

*



Nachdem Hanna sich ausgeweint hatte, lag sie noch längere Zeit auf ihrem Bett und war zu kraftlos, um aufzustehen. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie ursprünglich ihre Mutter hatte besuchen wollen. So schob sie all ihren Kummer vorerst beiseite, rappelte sich mit bleischweren Gliedern auf und ging ins Bad, um sich mit kaltem Wasser die Tränenspuren weg zu waschen. Zehn Minuten später stand sie vor der Tür im Gästetrakt des Schlosses, hinter der das Zimmer ihrer Mutter lag.
Sie hatten sich noch nicht gesehen, seit sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte, doch Theresa war extra bei ihr vorbei gekommen, um ihr zu sagen, dass ihre Mutter aufgewacht war und es ihr den Umständen entsprechend gut ging. Das war spät am vergangenen Abend gewesen, nachdem Hanna bereits einige Stunden geschlafen hatte und die Hüterin war mehr als erschöpft gewesen.
Da noch immer außer Ludwig nur eine Handvoll des Personals ins Schloss zurückgeholt worden war, schien es nicht genug Hände zu geben, für alles, was getan werden musste, und Hanna hatte spontan ihre Hilfe angeboten, welche Theresa aber mit einem müden Lächeln abgelehnt hatte.
„Du hast selbst genug hinter dir, und außerdem wissen wir nicht, was uns möglicherweise noch bevorsteht! Schone deine Kräfte lieber. Wer weiß, vielleicht sind wir bald darauf angewiesen.“
Dann war sie gegangen, nachdem sie die Möglichkeit eines Besuches bei ihrer Mutter für den nächsten Morgen angekündigt hatte, und Hanna war tatsächlich rasch wieder eingeschlafen.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube klopfte sie an, und als von drinnen ein „Herein!“ zurückkam, drückte sie die Klinke nieder und trat ein.
Ihre Mutter saß auf der Bettkante, in einen flauschigen Bademantel gehüllt, und als Hanna in ihre freudig aufleuchtenden Augen blickte, flog sie an ihre Brust und ließ sich umarmen.
„Mama!“ Sie konnte nichts gegen die aufsteigenden Tränen tun, und obwohl sie gedacht hatte, dass sie ganz sicher keine mehr übrig haben würde, rollten sie ihr gleich darauf erneut in dicken Bächen übers Gesicht.
„Hanna, Liebes! Es tut mir alles so furchtbar leid!“ Sanft strich ihre Mutter ihr übers Haar und schob sie dann ein bisschen von sich weg, um sie ansehen zu können. Hanna schniefte und wischte sich mit den Händen die Tränen weg.
Erst jetzt bemerkte sie, dass noch jemand im Zimmer war, und den Kopf drehend, gewahrte sie ihren Halbbruder, der in einem kleinen Sessel neben der Tür saß. Er war blass, lächelte aber und nickte ihr grüßend zu. Wie gewohnt trug er einen korrekten Anzug, war jedoch noch etwas blass und wirkte angegriffen.
„Guten Morgen, Hanna! Geht es dir gut?“ fragte er, und sie bejahte.
„Wir verdanken dir sehr viel.“ meinte der Baron. „Ich habe gerade eben mit deiner Mutter darüber gesprochen. Zweifellos wird Malus nicht aufgeben, und wir werden sicher früher von ihm hören, als uns lieb ist, aber du hast uns hoffentlich eine willkommene Atempause verschafft, ganz zu schweigen davon, dass du uns vorerst von den Dämonen befreit hast! Das war eine wirkliche Leistung! Du hast es offenbar ganz ohne weitere Anleitung geschafft, dein Feuer zu kontrollieren und das in derart kurzer Zeit! Respekt, meine Liebe!“
Er stand auf und wandte sich zur Tür. „Ich lasse euch beide jetzt allein. Theresa besteht darauf, dass ich mich noch weiter ausruhe. Außerdem möchte ich natürlich so bald wie möglich meine Amtsgeschäfte wieder übernehmen, mein Cousin kann schließlich nicht ewig hierbleiben. Hättest du etwas dagegen, mich heute Nachmittag zu besuchen, Hanna? Ich möchte gern von dir hören, was du im 14. Jahrhundert erlebt hast!“
Das Mädchen nickte wortlos, von Berching verabschiedete sich mit einem Lächeln und verschwand zur Tür hinaus.
Mit hängendem Kopf blieb Hanna auf der Bettkante neben ihrer Mutter sitzen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hätte gern so vieles gefragt, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie alles in Worte fassen sollte, was sie bewegte. Dann jedoch fiel ihr etwas ein. „Christian hat mir gesagt, du bist nicht meine wirkliche Mutter?“ brachte sie leise hervor, ohne den Blick zu heben.
Ihre Mutter seufzte. „Hat er das? Ja, da hat er recht. Ich habe mich damals freiwillig zur Verfügung gestellt, als jemand gesucht wurde, der dich adoptiert und aufzieht. Ich hatte mir schon sehr lange ein Kind gewünscht, aber nie eines gehabt.“ Sie machte eine Pause und fasste nach Hannas Hand. „Ich hatte ja nicht einmal einen Mann! Aber dann bekam ich dich! Und ich habe dich vom ersten Tag an geliebt, als wärst du tatsächlich mein eigenes Kind! Natürlich wusste ich, dass du möglicherweise die Sucherin warst, aber es ist mir manchmal gelungen, das völlig zu verdrängen. Dann war ich einfach nur glücklich, deine Mutter zu sein. Versteh´ mich recht – ich bin sehr stolz auf dich! Du hast dich gestern deiner Position als würdig erwiesen, mehr als das! Aber ich hätte dir trotzdem gewünscht, dass diese Bürde nicht gerade dir auferlegt wird.“ Sie seufzte ein weiteres Mal. „Aber wir können uns unser Schicksal eben nicht aussuchen. Du bist die Sucherin, und dein Leben wird nicht einfach werden. Bleibt mir nur, dir zu wünschen, dass du eines Tages jemanden findest, der dir zur Seite steht und dir Kraft gibt!“
Sie lächelte, doch Hannas Augen füllten sich bei diesen Worten erneut mit Tränen, und erstaunt sah ihre Mutter, wie sie wieder zu weinen anfing. „Hanna? Was ist? Was hast du denn, mein Schatz?“ Doch das Mädchen warf ihr nur schluchzend die Arme um den Hals und grub ihr Gesicht in die Halsbeuge ihrer Mutter. Nur mit Mühe gelang es der Frau, Hanna so weit zu beruhigen, dass diese ihr erzählen konnte, was sie bedrückte. Allerdings erwähnte das Mädchen nur das Tabu selbst und nicht, unter welchen Umständen sie davon erfahren hatte.
Dann jedoch saß ihre Mutter mit betroffener Miene da und wusste sichtlich nicht, was sie antworten sollte.
„Und Luca ist sich ganz sicher was diese alten Schriften angeht?“ Hanna, die sich müde geweint hatte, nickte bloß erschöpft und schniefte. „Er ist im Orden aufgewachsen. Da kennt er die Geschichten vermutlich besser, als den Inhalt seiner Hosentasche.“ Ihre Mutter streichelte ihr nachdenklich über den Kopf.
„Das mag ja sein,“ sagte sie, „aber auch ich bin im Orden groß geworden. Von einer solchen Regel habe ich trotzdem noch nichts gehört. Vielleicht solltest du Theresa fragen. Die müsste dir ohne jeden Zweifel sagen können, ob da was Wahres dran ist.“
Hanna richtete sich auf und wischte sich mit der Hand die letzten Tränen weg. „Vermutlich hast du recht, Mama.“ sagte sie dann und versuchte ein Lächeln. Sie wollte ihrer Mutter nicht noch mehr Kummer bereiten. Die letzten Tage hatten deutliche Spuren in deren Gesicht hinterlassen, und mit heftigem Erschrecken dachte Hanna plötzlich, dass ihre Mutter noch nie so alt ausgesehen hatte.
Mit schlechtem Gewissen stand sie auf und verabschiedete sich von ihr. „Ruh´ dich jetzt lieber noch aus, Mama! Ich komme dich später noch mal besuchen, ja?“
Lächelnd drückte die Frau Hanna noch einmal an sich und nickte lächelnd. „Du hast recht. Ich bin noch ganz schön kaputt.“ Ein Schatten flog über ihr Gesicht, und das Mädchen fragte sich, ob sie womöglich gerade an schlimme Dinge dachte, die sie unter dem Einfluss des Dämons in sich getan haben mochte.
Doch sie schob den Gedanken entschlossen von sich und erwiderte die Umarmung.
Gleich darauf schlüpfte sie aus der Tür und stand dann draußen im Flur, lehnte sich an die Wand und fragte sich, was sie tun sollte.

*



Luca und Konrad hatten einen Moment lang schweigend voreinander gestanden und sich angestarrt. Dann jedoch erreichte die Verzweiflung des Einen auch den Anderen, und gemeinsam schlenderten sie durch den Park, zurück in den Schlosshof, verbunden durch etwas, was sie gleichzeitig trennte.
In Lucas Kopf herrschte wüstes Durcheinander. So etwas hatte er noch nie erlebt. Am liebsten wäre er hinter Hanna her gerannt und hätte sie einfach nur festgehalten, aber wenn er Konrad anschaute, sah er das Spiegelbild seiner Gefühle in dessen Augen, und ihm wurde wieder bewusst, dass das, was er sich wünschte unmöglich war.
Ohne es zu merken, waren sie bis zum Schlosstor gekommen, ohne miteinander zu reden. Doch jetzt brach Konrad das Schweigen. „Und? Was machen wir jetzt?“ Er drehte sich zu Luca um und wirkte so verloren, wie ein Kind, das sich verlaufen hatte.
Und in gewisser Weise stimmte das ja auch, erinnerte sich Luca. Konrad stammte aus der Vergangenheit und es war gut möglich, dass Hanna so etwas wie ein Anker für ihn gewesen war, etwas woran er sich festhalten konnte.
Dieses Ankers war er nun plötzlich beraubt worden, und Luca konnte nur spekulieren, wie er sich jetzt fühlte.
Das machte ihn verlegen, denn sein eigener Schmerz erschien ihm dagegen klein und nichtig, und so ließ er den Blick aus dem Tor hinaus wandern.
Auf einmal stutzte er. War das nicht Hanna dort draußen?
Er machte einen weiteren Schritt Richtung Tor und sah genauer hin. Er sah einen leicht gebeugten Rücken und einen langen dunklen Zopf. „Hanna?“ rief er besorgt. War sie sich denn nicht bewusst, dass es gefährlich war, den Schutz des Schlosses allein zu verlassen?
Sie reagierte nicht, und er beschleunigte seinen Schritt.
Irgendetwas stimmte nicht.
„Luca?“ Konrad machte Anstalten, ihm zu folgen. „Ist das Hanna?“ wollte er wissen. Luca nickte ohne sich umzudrehen. „Ich denke schon. Nein, bleib´ du hier innerhalb des Schutzkreises!“ Mit einer abwehrende Geste hinderte er den Jungen, das Schlossgelände zu verlassen, als er sich an ihm vorbeischieben wollte. „Was? Wieso?“ fuhr er auf, aber Luca wandte sich zu ihm um und sah ihn eindringlich an. „Bist du der Krieger oder ich?“ fragte er ernst. „Wenn etwas nicht in Ordnung ist, oder was passiert, sollte wenigstens einer von uns in der Lage sein, Hilfe zu holen, meinst du nicht?“
Widerwillig nickte Konrad, und Luca pirschte sich langsam an das Mädchen heran, während er die Umgebung scharf im Auge behielt.
„Hanna!!?“ Noch einmal sprach er sie an, und noch immer erfolgte keinerlei Reaktion. Jetzt war er nur noch wenige Meter entfernt, und es war eigentlich unmöglich, dass sie ihn nicht hörte.
Was war mit ihr?
Sich nach wie vor aufmerksam umschauend ließ er seine Waffe erscheinen und schloss die Finger seiner Rechten um ihren kühlen Griff, während er innerlich Markus von Berching verfluchte, der den schichtweisen Wachdienst eingestellt hatte, nachdem sein Cousin wieder im Schloss weilte.
Das war unmittelbar im Anschluss an Alexanders Begräbnis geschehen, welcher trotz seines Verrats in der Ordensgruft bestattet worden war, da er sein Leben geopfert hatte, um Hanna zu retten. Es hatte ein wenig zu lange gedauert, bis die Krieger die Scheune gestürmt hatten, und Malus hatte – vermutlich eingedenk seiner früheren Fehlschläge – keine Zeit verloren und ihm praktisch sofort die Kehle durchgeschnitten. Die Zeit hatte gerade noch gereicht, dass sie die Scheune überhaupt hatten finden können, bevor der Kontakt abriss.
Jedenfalls hätte Hanna nicht einfach unbemerkt ins Freie spazieren können, wenn die Burgmauer noch besetzt gewesen wäre.
Die Distanz zwischen ihnen verkürzte sich zusehends, und noch immer rührte sich das Mädchen nicht. Als er fast direkt hinter ihr stand, streckte er die Hand aus, um sie zu berühren. Doch genau in diesem Augenblick fuhr die Gestalt vor ihm herum, und er starrte in ein Gesicht, welches zwar wie Hannas aussah, aber eine solch kalte Miene aufgesetzt hatte, dass ihn körperlich fröstelte. Er hatte gerade erst begriffen, dass es nicht die Sucherin war, die da vor ihm stand, als sie auch schon mit beiden Händen zugriff und ihm das Schwert so leicht entwand, als wäre er ein Anfänger.
„Hab´ ich dich!“ krächzte sie heiser und im nächsten Augenblick fand Luca sich gefesselt am Boden wieder.
„Hey, du!“ rief sie zu Konrad hinüber, der gerade Anstalten machte, Luca mit gezückter Waffe zu Hilfe zu eilen. „Lass´ das lieber, Jungchen! Ich habe keine Lust, dich zu töten, du sollst nämlich noch eine Nachricht überbringen!“ Der Knappe blieb stehen, und die Gestalt grinste: „So ist´s brav! Hör zu – geh´ zu Eurer Sucherin und richte ihr die besten Wünsche von Malus aus. Wenn sie Wert darauf legt, ihren Herzallerliebsten lebendig wieder zu sehen, soll sie hier herauskommen. Und zwar allein! Hast du das verstanden?“
Da richtete sich Luca mühsam auf und rief: „Sag´ ihr, sie soll das auf gar keinen Fall tun, hörst du?“ Weiter kam er nicht, denn der Dämon holte aus und schlug ihm mit Wucht ins Gesicht, dass ihm das Blut aus der Nase sprang und er mit einem leisen Schmerzenslaut wieder zu Boden sank. „Du bist gefälligst ruhig, wenn die Großen sich unterhalten, wie oft muss ich dir das noch sagen?“ kicherte sein Peiniger.
Konrad war erschrocken, machte kehrt, ohne noch länger abzuwarten und der Dämon verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust.
„Sie wird nicht kommen, Arschloch!“ stieß Luca hervor. „Du hast doch schon einmal gehört, dass wir nicht mit Euresgleichen verhandeln!“
Doch Malus lachte nur spöttisch. „Unterschätze nie die Macht der Liebe! Glaub´ mir, sie wird kommen! Euer gesamter Orden wird sie nicht zurückhalten können!“ Er legte den Kopf in den Nacken und lachte, während Luca in hilfloser Wut die Zähne aufeinanderbiss. Vom nahegelegenen Waldrand kamen jetzt eine Handvoll Gestalten auf sie zu, und Luca musste nicht in die böse grinsenden Gesichter sehen, um zu verstehen, dass das diejenigen unter Malus´ Anhängern waren, die bereits einen neuen Wirt gefunden hatten.
Sie bezogen hinter ihrem Meister Stellung und dann warteten sie...


Hanna saß mit gesenktem Kopf bei Theresa und hörte deren Ausführungen zu, unsicher was sie nun davon halten sollte. Direkt nach dem Besuch bei ihrer Mutter war sie hergekommen und hatte trotzdem beinah gehofft, die Hüterin würde sie abweisen, weil sie zuviel zu tun hatte. Aber Theresa hatte sie freundlich hereingebeten und sich zu ihr gesetzt, um zu hören, was sie bedrückte.
Zunächst stockend, doch dann immer flüssiger berichtete Hanna ihr, was Luca gesagt hatte, wobei sie allerdings weder ihre Gefühle für Luca, noch den Kuss erwähnte. Die Hüterin runzelte die Stirn, während sie zuhörte, und als Hanna verstummte, blieb auch sie eine Weile still. Sie betrachtete das Mädchen aufmerksam und atmete dann tief durch. „Da hast du dir in der Tat ein heißes Eisen als Thema ausgesucht, Hanna. In der Tat streiten sich innerhalb des Ordens schon sehr lange die Gelehrten über diesen Punkt. Es existiert ein Fragment einer alten Handschrift, aus dem manche dieses Verbot ableiten. Ich habe sie selbst ein einziges Mal gesehen und die moderne Übersetzung dazu gelesen. Manche der alten Gelehrten des Ordens haben bereits vor Jahrhunderten ihre eigene Interpretation zu diesem Thema niedergeschrieben, und die Abschriften dieser Texte kursieren bis heute. Wie ich gerade schon angedeutet habe, sind eben einige der Ansicht gewesen, dass sich aus dem Textfragment ein Verbot jeglicher romantischer Liebe und natürlich auch von allem, was darüber hinausgeht ableiten lässt. Natürlich haben sie auch sofort eine Drohung formuliert, was dem Sucher passiert, der sich nicht daran hält, nämlich der Verlust der göttlichen Kräfte. Andere dagegen verstehen es genau entgegengesetzt, nämlich dass die Liebe dem Sucher oder der Sucherin zusätzliche Kraft verleiht. Aber nichts von alldem ist in irgendeiner Form bewiesen. Ich weiß nur, dass die früheren Sucher immer angehalten wurden, sich allem zu enthalten, was mit Liebe zu tun hatte, und leider ist auch nichts überliefert, das uns einen Anhaltspunkt geben könnte, was tatsächlich passiert, wenn ein Sucher sich verliebt. Also waren entweder tatsächlich alle bisherigen Sucher keusch, oder – was ich für wahrscheinlicher halte - sehr verschwiegen, keine Ahnung. Luca hat offenbar auch einige der alten Texte gelesen, aber nach dem zu schließen, was du mir erzählst, nur die eine Seite kennengelernt.“ Sie seufzte. „Ich fürchte, ich bin dir keine große Hilfe in der Sache. Aber ich kann mich nur wiederholen, indem ich sage, dass diese Frage bis heute nicht schlüssig beantwortet ist.“
Hanna saß wie betäubt da und wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr schwirrte der Kopf vom soeben Gehörten.
Theresa verstand was in ihr vorging und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Das war vermutlich alles ein bisschen viel auf einmal, wie? Ich beneide dich nicht um diese Bürde, Hanna. Du wirst irgendwann eine sehr schwere Entscheidung treffen müssen, schätze ich. Ich hoffe für dich, dass das noch lange dauert!“
Sie lächelte Hanna aufmunternd zu, und diese hob mit schierer Willenskraft ebenfalls die Mundwinkel.
Wenn Theresa geahnt hätte, dass diese Entscheidung gar nicht mehr so weit in der Zukunft lag...
Einer Antwort wurde Hanna jedoch enthoben, denn plötzlich wurde heftig an die Tür gehämmert und dieselbe im nächsten Moment bereits aufgerissen. Konrad stürmte herein, verschwitzt und außer Puste, als wäre er gerannt, und als er Hannas ansichtig wurde, stürzte er auf sie zu.
„Hanna! Ein Glück, dass ich dich gefunden habe! … Malus hat....“ Er schnaufte und konnte gar nicht weiter reden. Die beiden Frauen waren bei der Erwähnung des Dämons aufgesprungen und starrten den Knappen mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was? Was hat Malus getan?“ wollte Theresa wissen, und endlich hatte Konrad wieder genug Luft, um den begonnenen Satz zu beenden. „Er hat Luca!“ stieß er hastig hervor, und eine eiskalte Hand schien nach Hannas Herz zu greifen. „Luca?“ fragte sie mit seltsam spröden Lippen. „Was ist passiert?“ schaltete sich die Hüterin wieder ein, und Konrad antwortete: „Malus hat Hannas Gestalt angenommen und vor dem Tor gewartet. Luca wollte sie fragen, was sie allein da draußen macht, und als er bei ihr angekommen ist, hat sie sich umgedreht und es war gar nicht Hanna, sondern Er! Er verlangt, dass Hanna nach draußen kommen soll, sonst wird er Luca töten!“ Es war dem Jungen anzumerken, dass er noch völlig durcheinander war.
Theresa fasste ihn bei den Armen. „Hör mir jetzt genau zu! Du gehst sofort in die Bibliothek, weißt du, wo das ist?“ Als er nickte, fuhr sie fort: „Da ist der Baron! Erzähl´ ihm was du uns gerade erzählt hast und tu´ dann, was er dir befiehlt!“ Konrad nickte ein weiteres Mal, warf Hanna noch einen Blick zu und verschwand, worauf Theresa sich Hanna zuwandte. „Und du bleibst hier, hörst du? Du rührst dich nicht vom Fleck, bis ich wiederkomme!“ sagte sie eindringlich.
Hanna fühlte sich wie betäubt.
Malus hatte Luca? Er drohte damit, ihn umzubringen, falls sie nicht herauskam?
Und nun sollte sie tatenlos hier sitzen und warten, bis die Anderen das Problem entweder lösten, oder Luca tot war?
Tot – wie Alexander oder Jan?
Der Gedanke schnitt ihr ins Herz, raubte ihr den Atem, und plötzlich wurde ihr zweierlei klar. Erstens, dass sie tatsächlich in Luca verliebt war, und zweitens, dass die Gelehrten, die dem Sucher die Liebe untersagen wollten, falsch lagen. Denn sie liebte ihn bereits, und wenn sie in sich hineinfühlte, war ihr Feuer da, wo es immer gewesen war in den letzten Wochen! Heiß und einsatzbereit, und stärker als je zuvor.
Ihr wurde bewusst, dass Theresa noch immer vor ihr stand und sie anstarrte, und sie straffte den Rücken.
„Tut mir leid, Theresa!“ schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß, du meinst es gut, und ich danke dir für deine Sorge um mich, aber ich werde gewiss nicht hierbleiben und tatenlos zusehen, wie noch jemand meinetwegen stirbt! Diesmal nicht! Es wird Zeit, dass ich die Sache jetzt endlich zu Ende bringe! Und wenn du versuchst, mich hier einzusperren, springe ich notfalls auch aus dem Fenster!“
Damit ließ sie die verdutzte Theresa stehen und eilte aus der Tür. Sie gelangte ungesehen nach unten und huschte durch die Eingangshalle, noch bevor die Rufe der Hüterin, die ihr nach der ersten Überraschung gefolgt war, jemanden aufstören konnten.
Draußen rannte sie die Freitreppe hinab und stob über den Kies des Schlosshofes in Richtung Tor.
Plötzlich war alles klar. Sie hatte zwar größere Angst, als je zuvor in ihrem Leben, aber diese Angst galt nicht ihr selbst, sondern Luca, und wenn sie nur daran dachte, dass Malus ihn womöglich getötet hatte, bis sie dort war, spürte sie neben der Furcht einen Zorn in sich brodeln, heißer als ein kochender Lavasee.
Dann stand sie im Torbogen und sah nach draußen. Dort erwartete sie ein ganzer Pulk von Dämonen, deren boshafte Essenz sie wahrnahm wie einen fauligen Geruch. Die neuen Wirte waren unterschiedlichsten Alters, vom Teenager bis zur alten Frau war alles dabei, doch Hanna war sehr wohl bewusst, dass die größte Gefahr von dem großen Mann ganz vorn ausging, der sich einer genauen Betrachtung irgendwie zu entziehen schien, obwohl er bewegungslos dastand und ihr mit einem triumphierenden Grinsen entgegen sah.
„Siehst du, ich habe dir doch gesagt, sie wird kommen! Du scheinst ihr viel zu bedeuten, freut dich das nicht?“ Der Dämon kicherte und breitete die Arme aus, während er ein paar Schritte auf Hanna zu machte.
„Wie schön, dass du unsere armselige Runde mit deiner Gegenwart beehrst, meine Liebe! Aber bitte – komm´ doch näher! Wir reißen dir schon nicht den Kopf ab, nicht wahr?“ Er lachte schallend über seinen eigenen miesen Witz, wirkte aber gleich darauf erstaunt, als sie ohne das geringste Zögern aus dem Schutzkreis nach draußen trat.
Er drehte sich zu Luca um, der gefesselt auf dem Boden lag und sie fassungslos anstarrte.
„Was machst du da?“ rief er Hanna zu. „Geh´ sofort zurück! Los, geh´ zurück!“
Sie sah kurz zu ihm hin, antwortete aber nicht, sondern sammelte ihre Energie, speiste den Feuerknoten in ihrer Brust und wartete.
„Sie hat Mut, deine Kleine! Das muss ich ihr lassen! Sieh nur, wie sie mich anstarrt! Wenn Blicke töten könnten, läge ich bereits hier im Staub!“ Der Dämon amüsierte sich königlich. Dann machte er eine Kopfbewegung zu seinen Getreuen. „Los, packt sie!“ Und an Hanna gewandt: „Mach´ eine falsche Bewegung und er ist tot!“
Dabei trat er zu Luca und zerrte ihn vom Boden hoch, indem er mit einer Hand seine Kehle umschloss und mit den klauenähnlichen Fingern der anderen auf die Schlagader zielte.
Die übrigen Dämonen drängten vor und packten sie an den Armen, drängten und stießen sie vorwärts, als hinter ihr auf dem Schlossgelände plötzlich Schritte und Stimmen aufklangen. Gleich darauf erschienen der Baron und sein Cousin, sowie sämtliche Krieger mit gezückten Schwertern im Torbogen. Hinter ihnen tauchten gleich darauf noch Konrad, Theresa, Noah und Diana auf. Als sie die Szene sahen, die sich ihnen darbot, hob der Baron eine Hand und bedeutete den Kriegern sich zurück zu halten.
„Malus!“ rief er, und ihm war die ohnmächtige Wut anzuhören, die ihn angesichts der Aussichtslosigkeit der Lage überfiel.
„In voller Schönheit!“ erwiderte der Dämon mit vor Sarkasmus triefender Stimme und deutete sogar eine lächerliche Verbeugung an, um den Großmeister des Ordens zu verspotten. „Und diesmal wird es nicht schiefgehen, das schwöre ich dir! Wappne dich lieber, denn in wenigen Augenblicken wird Asmodis frei sein!“
Inzwischen war die Gruppe der Dämonen mit Hanna bei ihm angelangt, und er ließ Luca zu Boden fallen wie einen nassen Sack. Stattdessen packte er Hanna und zwang sie in die Knie, riss die linke Hand in die Höhe und der rote Dolch erschien blitzend zwischen seinen Fingern. Wie schon zuvor zerrte er dann ihren Kopf nach hinten und stieß eine Reihe von Beschwörungen aus, in der gutturalen, misstönenden Sprache, die Hanna schon einmal gehört und die sie beinahe eingeschläfert hatte. Jetzt jedoch blieb ihr Kopf vollkommen klar, sie nahm sogar alles wesentlich schärfer war, als jemals vorher. Die Farben der Kleider, des Himmels und des Grases schienen unnatürlich grell und sämtliche Gerüche stachen ihr wie mit spitzen Nadeln in die Nase.
Die Zeit schien still zu stehen, während sie nach oben starrte und darauf wartete, dass er zustieß. Sie wusste, das sie nur eine verschwindend geringe Chance, ein winziges Zeitfenster hatte, auch wenn sie genau fühlte, was sie tun musste. Dabei war ihr noch nicht einmal klar, woher sie plötzlich alles so genau wusste. Aber es stand so kristallklar vor ihrem inneren Auge, als wäre es längst geschehen und sie sähe es in einer Art Film. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, während sie tief atmete, sie schloss die Augen, konzentrierte sich, und die Frequenz verringerte sich weiter, bis sie selbst spürte, dass nur noch vereinzelte Schläge durch ihre Brust rollten. Gleichzeitig war der Feuerknoten in ihrer Brust zum Bersten gespannt, und sie presste ihre geistigen Fäuste darum, damit er nicht vor der Zeit platzen konnte.
Malus verstummte, und Hanna riss die Augen auf, sah das Messer herabstoßen und wappnete sich gegen den Schmerz, der gleich darauf folgte, als die Klinge ihre Haut durchstieß und das Blut aus ihrer Kehle sprudeln ließ.
Sie hörte einen vielstimmigen Schrei, eine der schreienden Stimmen war näher als die anderen und für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie: „Das ist Luca!“ doch dann konzentrierte sie sich trotz des Schmerzes wieder und bremste ihren Puls, damit er nicht das Leben aus ihr herauspumpte.
Nichtsdestotrotz war es ihr Blut, was vergossen wurde, das Blut der Sucherin und einen Augenblick später fiel ein gewaltiger Schatten über sie, als sich plötzlich der Höllenfürst, von seinen Fesseln befreit, materialisierte und mit den Schwingen schlagend auf das Schlosstor losstürmte.
Jetzt folgte der schwere Teil...
Malus hatte sie losgelassen, kaum das Asmodis erschienen war und rannte mit den anderen Dämonen zusammen gegen die Verteidigung des Schlosses an. Luca und Hanna waren sich selbst überlassen und nun kroch sie auf allen Vieren mühselig zu Luca, der regungslos dalag. Sie befürchtete einen Moment lang, Malus oder einer der anderen Dämonen hätte ihn doch noch getötet, aber er lebte. Er lag mit weit offenen Augen auf dem Rücken und sah in den Himmel auf, während ihm die Tränen aus den Augenwinkeln rannen.
Als Hanna sich über ihn beugte, blinzelte er ungläubig und drehte das Gesicht in ihre Richtung.
„Du lebst?“ fragte er, und sie nickte, presste dabei aber eine Hand auf ihre Halswunde, die sich bereits schloss. Obwohl sie den Blutverlust geringer hatte halten können, als befürchtet, fühlte sie sich trotzdem schwach, denn auch die Konzentration auf die Verringerung des Pulsschlages und die nun einsetzende Wundheilung hatte sie Kraft gekostet, was sie jetzt träge sein ließ und ihr das Gefühl gab, durch zähen Sirup zu schwimmen, der jeder Bewegung hartnäckigen Widerstand entgegensetzte.
„Hör zu,“ bat sie, „ich werde diesen Kampf hier und jetzt beenden, aber ich brauche deine Kraft dafür.“ Sie knotete seine Fesseln auf, während im Hintergrund Schwerter klirrten, Menschen schrien und der Höllenfürst wütend brüllte. Dafür musste sie beide Hände benutzen, und das Blut lief ihr in einem dünnen, warmen Rinnsal vom Hals über die Brust. „Du musst tun, was ich sage und darfst es nicht in Frage stellen, in Ordnung?“
„Dein Hals...!“ protestierte er, doch sie schnitt ihm das Wort ab. „Diesen Kampf könnt ihr nur mit Schwertern nicht gewinnen! Also lass´ meinen Hals jetzt meine Sorge sein und tu´ was ich dir sage, verstanden?“
Er sah ihr in die Augen und nickte. „Was soll ich tun?“ fragte er und sie verlangte: „Nimm mich in den Arm, küss´ mich und lass´ mich deine Liebe spüren!“
Er starrte sie an und blinzelte. „Was?“ Doch sie schob sich bereits näher an ihn heran und legte die Arme um seinen Hals. „Das kann ich nicht tun! Du wirst deine Kräfte verlieren! Und dann werden wir alle sterben!“
Er klang verzweifelt, und sie presste ihn an sich. „Nein, das wird nicht passieren, glaub´ mir! Ganz im Gegenteil!“
Er sah sie noch immer zweifelnd an.
„Vertraust du mir?“ fragte sie. Sein Gesicht gab die Antwort, und sie nickte: „Dann tu es!“ Einen Herzschlag lang sah es noch so aus, als wollte er widersprechen, doch dann schloss er ergeben die Augen und küsste sie.
Im nächsten Augenblick hatte er das Gefühl, als würden ihre Seelen verschmelzen, sämtliche Kraft und Energie schien durch seine Lippen aus seinem Körper gesaugt zu werden, und selbst durch die geschlossenen Augenlider sah er, dass Hannas Silhouette plötzlich zu glühen begann.
Sie klammerte sich an ihn und küsste ihn, als hinge ihr Leben davon ab – vielleicht war es ja auch tatsächlich so – und gleichzeitig erhob sich eine gewaltige, feurige Gestalt aus ihr und schritt auf die Dämonenbrut zu. Die hatten gespürt, dass eine neue Gefahr auf sie zukam und wandten sich panisch zur Flucht, doch es war zu spät.
Das reinigende Feuer umhüllte die zuckenden Körper und diesmal wurden die Dämonen nicht nur aus ihren unfreiwilligen Wirten ausgetrieben, sondern verbrannten danach restlos in den weißen Flammen, die nach ihnen griffen, sie festhielten und verzehrten.
Selbst Malus wurde gefangen, und während er schreiend verging, wechselte er wohl noch Dutzende Male die Erscheinungsform. Doch als was er auch erschien, er hatte der Glut nichts entgegen zu setzen und schließlich verhallte sein Kreischen - er war vernichtet.
Nun war nur noch Asmodis übrig, der Höllenfürst, und der machte keinerlei Anstalten zu fliehen, sondern stellte sich zum Kampf.
Luca öffnete die Augen und sah, wie die beiden riesigen Gestalten sich umkreisten, Angriffe und Gegenangriffe ausführten und sich mit brutaler Gewalt gegenseitig zu vernichten suchten. Doch er spürte auch, dass Hanna in seinen Armen schwächer wurde.
Er wusste nicht, was genau gerade geschah, aber irgendwie gab seine Kraft ihr Stärke.
Aber warum wurde sie dann schwächer? Er fühlte sich zwar angeschlagen, aber keineswegs völlig erschöpft.
Was konnte er tun? Er überlegte verzweifelt. Irgendetwas musste er tun, sonst würde er sie verlieren, und das durfte nicht geschehen – er liebte sie doch!
Der Höllenfürst trieb sie jetzt vor sich her, die feurige Gestalt drohte in die Knie zu brechen, und Luca schlang reflexartig seine Arme fester um Hanna, deren Arme bereits von seinem Hals zu gleiten drohten. Daraufhin erfuhr ihr brennendes Pendant einen neuen Auftrieb und schlug zurück. Luca starrte – und begriff: Hanna hatte gesagt, er sollte sie seine Liebe spüren lassen. Und genau das musste er tun – uneingeschränkt!
Er schloss die Augen wieder und konzentrierte sich völlig auf das Mädchen in seinen Armen. Ihren Geruch, ihren Geschmack, die Art wie sie sich anfühlte, er nahm ihre gesamte Präsenz in sich auf, öffnete sich und sein Herz vollständig.
Sofort überfiel ihn ein brennender Schmerz, als ihm praktisch alles augenblicklich entrissen wurde und in Hanna hineinströmte.
Er brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, dass es nun Asmodis war, der in die Enge getrieben wurde und schließlich kreischend in den Flammen verging, und er sah es auch nicht mehr, denn kaum war der Kampf vorbei, sanken sie beide, noch immer engumschlungen zusammen und verloren das Bewusstsein.
Sein letzter wacher Gedanke galt Hanna, dann umfing sie beide gnädige Schwärze …

*



Epilog


Schnee fällt in riesigen, weichen Flocken leise zischend zu Boden und bedeckt bereits das Schloss und die Umgebung. Drinnen ist es wohlig warm, und in der großen Halle steht, noch unbeleuchtet, eine riesige Tanne, geschmückt mit bunten Kugeln, elektrischen Kerzen, kleinen Engelsfiguren und Ähnlichem, und darunter liegen eine Menge Päckchen und Pakete, die die Bewohner des Schlosses in den letzten Stunden dort abgelegt haben. Vor kurzem ist unten in der Stadt die Christmesse zu Ende gegangen, und eine große Limousine fährt in den Hof. Sieben Menschen steigen aus und fünf von ihnen gehen unter fröhlichem Geplauder die Treppe hinauf. Sie sind dick eingemummt, tragen Mützen und Handschuhe, doch zwei halten sich trotzdem an den Händen. Überhaupt sind diese beiden ruhiger als die Übrigen, dafür sehen sie sich oft an und lesen in den Blicken des Anderen, so wie Verliebte das gern tun.
Hanna und Luca verstehen sich häufig ohne Worte, und das hat nicht nur damit zu tun, dass sie einander lieben. Sie haben ihre Seelen miteinander geteilt und seither verstehen sie sich als Eins.
Nun verbringen sie ihr erstes Weihnachtsfest miteinander, und niemand nimmt Anstoß daran, dass sie hinter dem Weihnachtsbaum verschwinden, nachdem sie ihre Jacken abgelegt haben und sich dort auf ihre eigene Art und Weise ein frohes Fest wünschen.
Ihnen folgt Hannas Mutter. Sie ist glücklich, dass ihre Tochter glücklich ist und froh, dass der Kampf gegen Asmodis gut ausgegangen ist. Sie spürt, dass Luca der Richtige für Hanna ist und freut sich, Weihnachten mit den Beiden verbringen zu können. Als sie sieht, wie die Zwei hinter dem Baum in Deckung gehen, lächelt sie und wendet sich dann um, um nach Konrad zu sehen, der wie sie weiß, auch sehr an Hanna hängt.
Aber sie kann ihn nicht entdecken, nur Baron von Berching, wie immer korrekt in Schlips und Kragen und Theresa sind hinter ihr noch hereingekommen. Auch diese Beiden sind inzwischen offiziell ein Paar, verlobt sogar, aber sie sind älter und gehen etwas dezenter mit ihren Gefühlen um.
Der Baron erteilt gerade Anweisung, das Essen aufzutragen und die Baumbeleuchtung einzuschalten und Ludwig, sein Diener führt sie wie immer gewissenhaft aus.
Keine Minute später erstrahlt der Weihnachtsbaum, was sogar die beiden Turteltauben dahinter hervorlockt und Ludwig verschwindet im Speisezimmer, von wo bereits ein verlockender Duft herüberweht.
Draußen vor der Tür ist es dunkel. Kein köstlicher Duft ist hier zu riechen, nur der Schnee fällt weiter und bedeckt alles mit einer pudrigen Schicht. Ein paar Fußspuren führen von der Treppe weg und Konrad, der eben noch unschlüssig dagestanden hat, folgt ihnen, bis hinter das Schloss und auf den kleinen Friedhof, auf dem die Gräber jetzt aussehen, als hätte jemand weißen Zuckerguss darübergegossen.
Vor der Tür der Gruft steht eine schmale Gestalt, kaum zu sehen in der Dunkelheit, aber weil Konrad weiß, dass sie hier ist, weiß er auch, dass es Diana ist. Sie steht vor dem Mausoleum, aber anders als noch vor kurzem sind ihre Augen trocken.
Sie starrt auf die Muster im massiven Türblatt und sieht nicht einmal auf, als Konrad sich neben sie stellt.
Er ist oft mit ihr hier gewesen in den letzten Wochen, denn er hat das Gefühl, ihren Schmerz verstehen zu können. Auch er hat etwas verloren, unwiederbringlich und für alle Zeit, und erst nach einer Weile hat er verstanden, dass es sich dabei nicht um Hanna handelt, auch wenn er das anfangs geglaubt hat.
Natürlich hat es geschmerzt zu sehen, dass sie sich für Luca entschieden hat und das wohl schon lange, bevor sie ihn überhaupt getroffen hat.
Aber rückblickend erscheint ihm dieser Schmerz heute als etwas Flüchtiges, kaum der Rede wert. Erst spät hat er wirklich begriffen, was es bedeutet, dass er nie wieder in seine Zeit zurückkehren kann. Seine Familie, seine Heimat, er kann sie nie wiedersehen, genausowenig wie Diana Jan jemals wiedersehen wird. Er hat viel nachgedacht in der letzten Zeit, und der Baron war ihm eine große Hilfe und eine Stütze. Er hat ihm angeboten, ihn auszubilden und als Krieger in den Orden aufzunehmen, womit die Erfüllung seines Traums in greifbare Nähe gerückt ist.
Aber auch die Zeit, die er mit Diana verbracht hat, war eine Bereicherung für ihn. Inzwischen ist sie ihm mehr als wichtig geworden, und auch wenn er es nicht wagt, angesichts ihrer Trauer an so etwas auch nur zu denken, ist da ein kleines Fünkchen in seinem Herzen, aus dem gern eine Flamme und vielleicht noch mehr werden möchte.
Aber er hat Zeit. Diesmal fühlt es sich anders an, als bei Hanna, und er spürt instinktiv, dass er sich Zeit lassen kann.
Lange stehen sie so schweigend nebeneinander und der Schnee bildet eine Schicht auf ihren Schultern und Köpfen. Geduldig wartet Konrad und schließlich dreht sich Diana zu ihm um. „Lass´ uns gehen!“ sagt sie und Konrad nickt. Wortlos gehen sie durch die wachsende weiße Decke, in der ihre Schritte knirschen, und als sie den Friedhof verlassen haben, schiebt sich plötzlich eine Hand in seine.
Er wirft einen kurzen Blick zur Seite und begegnet Dianas Blick. „Fröhliche Weihnachten!“ sagt sie. Er lächelt.
„Fröhliche Weihnachten!“ erwidert er und gleich darauf verschwinden sie im Schloss...


ENDE


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /