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Wutschnaubend stürzte Luca sich vorwärts, packte den knieenden Jungen am Kragen und zerrte ihn auf die Füße.
Es juckte ihn in den Fingern, Alexander zu schlagen und für alles büßen zu lassen, was sich in seinem Inneren angestaut hatte, doch er beherrschte sich und knirschte stattdessen: „Was willst du hier? Hast du noch nicht genug angerichtet? Oder wollten deine neuen Freunde dich nicht mehr?“
Flehentlich starrte Alexander zu dem Dunkelhaarigen hinauf und rang in einer hilflosen Geste die Hände. Er blutete aus einer Vielzahl kleinerer Wunden in Gesicht und Oberkörper, sein Hemd hing in Fetzen, und er sah blass und jämmerlich aus.
„Bitte, lasst mich in den Kreis! Sie sind hinter mir her! Wenn sie mich erwischen, töten sie mich! Helft mir, bitte!“
Mit zwei großen Schritten brachte Luca sie beide hinter die Barriere, stieß den Blonden wieder zu Boden und knurrte: „So, du bist drin! Also – jetzt lass´ hören! Was weißt du? Und ich warne dich,“ sein Schwert erschien blitzend in seiner Rechten, „versuch´ nicht, mich zu verarschen!“
Nervös leckte Alexander sich über die Lippen, dann hockte er sich erneut auf die Knie. „Malus hat ein Ritual abgehalten, bei dem er mich opfern wollte, um Hannas Aufenthaltsort heraus zu finden und sie zurück zu holen! Er weiß jetzt, wo sie ist, aber ich konnte fliehen, bevor er das Ritual beendet hatte, und jetzt jagt er mich!“ Er machte Anstalten, sich an den Dunkelhaarigen zu klammern, doch der wich mit angeekeltem Gesichtsausdruck zurück, runzelte die Stirn und setzte die Spitze seiner Klinge an Alexanders Kehle. „Was für ein Ritual soll das sein?“ Alexander ließ beschämt den Kopf hängen und die Hände sinken.
„Es heißt Das Blut des Verräters

.“ sagte er leise. „Mein Blut. Es verrät ihm alles, was er wissen will.“ Er hob den Blick, und ein Hoffnungsschimmer erschien auf seinem Gesicht. „Aber ihr beschützt mich doch, oder? Ihr überlasst mich nicht den Dämonen, nicht wahr?“
Wie aufs Stichwort erschienen am Waldrand drei Gestalten. Die vorderste war der Baron, ihm folgten Hannas Mutter und eine weitere Dämonin. Als sie sahen, dass Alexander sich innerhalb des Bannkreises befand, fauchten die beiden Frauen wütend, doch von Berching ging ohne zu zögern lächelnd weiter. Einen Moment später veränderte sich sein Gesichtsausdruck, er sah sich um, wie jemand, der aus tiefem Schlaf erwacht, schritt aber weiter aus und näherte sich dem Tor.
„Luca?“ rief er, dann fiel sein Blick auf seinen Cousin, und seine Verwirrung vertiefte sich. „Markus? Was geschieht mit mir?“
Inzwischen hatte er die Barriere erreicht, und mit einem einzigen, großen Schritt überwand er sie.
Erneut änderte sich seine Miene, und das arrogante Grinsen erschien wieder. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als horche er in sich hinein, dann wuchs sein Lächeln in die Breite, und er sagte: „Mein geliebter Cousin! Welch eine Ehre und Freude, dich auf meinem Schloss begrüßen zu dürfen. Bleib´ nur, solange es dir beliebt! Wie du wohl siehst, bin ich zur Zeit anderweitig beschäftigt. Ich kam nur kurz vorbei, um etwas zu holen, das mir gehört!“
Er wandte sich kurz Alexander zu und blickte dann Luca und die drei übrigen Krieger an, die bereits einen Halbkreis zwischen ihm und dem Blonden gebildet hatten.
„Oh, ich bitte euch!“ sagte er. „Ich verabscheue Gewalt. Können wir das nicht vernünftig regeln?“
Seine Augen blitzten amüsiert, und kaum hatte er seinen Satz beendet, sprang er vor und ließ grüne Blitze aus seinen Händen schießen.
Diana und Noah reagierten synchron, und die Blitze prallten wirkungslos an ihrem Schild ab, welchen sie gemeinsam über sämtliche Ordensmitglieder und auch über Alexander legten. Wütend darüber, dass seine Finte erfolglos geblieben war, schrie Malus auf und sah sich im nächsten Moment von vier Schwertern attackiert.
Luca schlug als Erster zu, doch der Baron hielt plötzlich seine eigene Waffe und parierte den Hieb mühelos, griff dann seinerseits an und trieb den Dunkelhaarigen zurück.
Jetzt drangen Jan und die fremden Krieger auf ihn ein, und er hatte sichtlich Mühe, dem Hagel aus niederprasselnden Hieben zu entgehen, machte eine Geste, verschwand und materialisierte sich ein Stück hinter den Reihen der Angreifer, von wo aus er ihnen in den Rücken fiel.
Mit magischen Mitteln konnte er ihnen nicht beikommen, das verhinderte der Schutzschild, doch auch seine Schwertkünste waren nicht zu verachten.
Nun vollführte er eine weitere Geste mit der freien Hand, und ein düsterer Lichtstrahl erschien, zuckte aus seinen Fingern und bohrte sich in den Schild der Armoritaner.
Ein misstönendes Schrillen erklang, als der Strahl sich hineinbohrte, die Kuppel leuchtete blau auf, und von der Eintrittsstelle des Lichtstrahles aus flackerten immer größer werdende Risse über das Gebilde. Er versuchte offensichtlich, den Schild zu zerstören.
Diana und Noah hielten sich an den Händen gefasst, doch sie begannen zu schwanken. Der Strahl schwächte den Schild bereits, und es war den blassen Gesichtern der Beiden anzusehen, dass sie dem nicht lange würden standhalten können. Malus kämpfte immer wütender, sprang von einem Kämpfer zum anderen und gackerte dabei wie ein übergeschnappter Kobold. Noch waren die Krieger nicht erschöpft, und noch hielt der Schild, doch plötzlich fiel Diana auf die Knie und stürzte ohnmächtig vornüber.
„Diana!“ schrie Jan und war einen Moment lang abgelenkt. Der Schutzschild flackerte, wie eine Lampe mit einem Wackelkontakt, weil es für Noah zu viel war, ihn allein in dieser Größe aufrecht erhalten zu wollen.
Er musste sich geschlagen geben und tat, was er tun musste, um nicht selbst ohnmächtig zu werden – er warf seinen Schild einzig über seinen Partner Luca.
Dies nutzte der Dämon aus. Im selben Moment, als die Schildkuppel erlosch, hob er mit einem triumphierenden Aufschrei seine Waffe und stieß nach Jan.
Luca hatte gesehen, wie der Blick des Dämons zu dem sommersprossigen Jungen geflogen war, als dieser sich umdrehte und nach Diana rief, und er wollte ihm zu Hilfe eilen, aber er wusste sofort, dass er zu spät kommen würde.
Wie in Zeitlupe sah er die Schwertklinge in Jans Brust dringen, sah dessen überraschtes Gesicht und seine weit aufgerissene Augen. Dann fiel er, scheinbar unendlich langsam, und plötzlich raubte ein roter Nebel Luca die Sicht.
Adrenalin rauschte durch seine Adern und verlieh ihm ungeahnte Schnelligkeit und Kraft. Mit einem wütenden Aufschrei stieß er sich ab, hob in der Luft seine Klinge und noch bevor Malus seine Ausweichbewegung beenden konnte, schlug er zu. All seine Kraft hatte er in den Hieb gelegt, und er wusste, dass er treffen würde, noch bevor die Klinge weiches Fleisch durchschnitt und auf einen Knochen prallte.
Mit einem Schmerzensschrei taumelte der Dämon und wich zurück. Luca hatte seinen Schwertarm knapp unter der Schulter getroffen. Eine schmerzhafte Verletzung, die ihn kampfunfähig machte, jedoch nicht tödlich war.
Blut schoss aus der Wunde, und Malus presste eine Hand darauf, während er böse zu Luca starrte.
„Glaubst du, damit kannst du mich aufhalten? So verletzt du nicht mich, sondern nur deinen geliebten Meister, begreifst du das nicht?“ zischte er schwankend.
Mit gerecktem Schwert baute sich Luca wortlos vor ihm auf, und die beiden übrigen Krieger flankierten ihn. Im Hintergrund kniete von Berching neben Jan am Boden und untersuchte seine Verletzung.
„Ich könnte euch alle vernichten, wenn ich will, aber darum geht es mir diesmal noch nicht. Asmodis wäre sicher enttäuscht, wenn ich ihm nichts übrig lasse. Ich will nur eins - den Verräter! Gebt ihn mir und ich gehe." Abwartend sah er in die Runde, doch als sich keiner rührte, verzerrte sich sein Gesicht vor Wut und er rief: "Eigentlich hatte ich gedacht, ihr wärt kluge Leute und hängt an eurem Meister?“ geiferte Malus, und die ungewohnt dunklen Augen im Gesicht des Barons glitzerten heimtückisch. „Ich kann seine Wunde heilen, wenn ich es für richtig halte. Aber ich kann sie auch weiter bluten lassen, bis das Leben aus diesem Körper weicht! Wollt ihr das? Wollt ihr euren geliebten Meister tot sehen? Hmm?“
Bestürzt starrten alle zu dem Dämon, der seine Hand von der Wunde nahm und das Blut ungehindert strömen ließ.
„Gebt mir diesen elenden Verräter, und ich lasse den Baron leben!“ rief er.
Stille senkte sich über den Schlosshof und Luca spürte das allmähliche Abebben des Adrenalinrausches.
Plötzlich erklang die klare Stimme von Markus von Berching. Er machte ein paar Schritte auf den Dämon zu und sagte: „Wir verhandeln nicht mit deinesgleichen. Mein Cousin würde das genauso handhaben, da bin ich sicher. Im Übrigen glaube ich nicht, dass du ihn sterben lässt. Natürlich kannst du dir jederzeit einen neuen Körper suchen, aber einen so nützlichen wirst du nicht so bald wieder finden, meinst du nicht?“
An Malus´ Miene war abzulesen, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, und mit einem wütenden Knurren sprang der Dämon auf die Füße. Sofort reckten sich ihm drei Schwerter entgegen, und er hielt in der Bewegung inne. Auch er schien geschwächt, die zurückliegenden Ereignisse hatten offenbar auch von ihm ihren Tribut gefordert.
„Na schön. Ihr schützt also lieber den Verräter, als euren Meister. Gut, ich werde einen anderen Weg finden, zu eurer kostbaren Sucherin vorzudringen. Beklagt euch nicht bei mir, wenn unschuldiges Blut vergossen wird!“
Damit wandte er sich um und verließ den Schlosshof.
Draußen am Waldrand standen noch immer seine beiden Begleiterinnen, die sich ihm jetzt anschlossen, als er mit langen Schritten im Wald verschwand.
Die Gruppe der Armoritaner löste sich aus ihrer Erstarrung, und Markus von Berching gab seinem Hüter Anweisung, sich um Diana zu kümmern.
Luca hatte den Dämonen mit finsterer Miene nachgestarrt und wandte sich nun um, als er die Order hörte.
„Wäre es nicht besser, wenn er sich zuerst um Jan kümmern würde?“ fragte er, doch der Meister schüttelte betrübt den Kopf.
„Jan ist nicht mehr zu helfen, Luca. Er ist tot.“
Wie erstarrt blieb Luca stehen und vermochte nicht zu begreifen, was er da hörte.
Jan? Tot? Das konnte nur ein Irrtum sein, oder?
Er trat an den leblosen Körper des Kriegers heran und sank daneben in die Knie. Das Gesicht des Toten war blass und seine Sommersprossen stachen unnatürlich deutlich hervor. Seine Augen standen ein wenig offen, und den Blick abwendend, strich Luca darüber, um sie zu schließen. Er hörte sich entfernende Schritte, und als er aufblickte, sah er wie Diana zum Schloss getragen wurde. Noah kam zu ihm und legte ihm stumm die Hand auf die Schulter.
„Eigentlich habe ich ihn kaum gekannt. Wir haben drei Jahre Seite an Seite gekämpft, aber ich habe ihn trotzdem nicht gekannt.“ sagte Luca leise. Dann fuhr er auf einmal herum, sprang auf und zückte erneut sein Schwert.
Mit einer fließenden Bewegung setzte er es Alexander an die Kehle, welcher noch immer im Kies kauerte und sich während des gesamten Kampfes nicht von der Stelle gerührt hatte.
Mit ängstlichem Gesicht plumpste er nun rückwärts auf den Hosenboden und starrte mit großen Augen zu Luca hinauf.
„Gib´ mir einen einzigen Grund, nur einen einzigen, warum ich dich nicht auf der Stelle töten sollte, du Verräter!“
Er schnellte mit der Hand vor, packte ihn am Kragen und schleifte ihn hinüber zu Jan. Dort stieß er ihn neben die Leiche und sagte heiser: „Sieh ihn dir genau an, du Schwein! Deinetwegen liegt er da! Nur deinetwegen ist er gestorben! Bist du nun zufrieden?“ Ruckartig wandte er sich ab und stakte mit eckigen Schritten zum Schloss zurück.

*



Hanna schlich sich leise aus dem Festsaal. Ihr war nicht nach feiern zumute, wenn sie es auch allen Anderen von Herzen gönnte.
Die Frau des Barons hatte einem zweiten gesunden Knaben das Leben geschenkt, und eine knappe Woche später hatte Pater Anselm dessen Taufe feierlich vollzogen.
Zwar hielt sich die Edelfrau noch, wie es der damaligen Sitte entsprach, nur in ihren Gemächern auf, doch der Baron hatte es sich nicht nehmen lassen, ein fröhliches Fest zu Ehren seines zweiten Sohnes Albrecht zu geben. Inzwischen war es Abend geworden, die Dämmerung sank langsam nieder, und die meisten Gäste waren bereits wieder gegangen. Nur einige wenige, die von außerhalb angereist waren, würden in der Burg logieren und noch ein paar Tage bleiben, da es sich nicht lohnte eines einzigen Tages wegen eine längere Reise zu unternehmen.
Hanna hatte viele neugierige Blicke und Fragen über sich ergehen lassen müssen und war noch nachträglich froh, dass sie sich mit dem Baron auf eine glaubwürdige Geschichte geeinigt hatte. Mit steigendem Alkoholpegel waren Blicke und Fragen mancher Männer immer aufdringlicher geworden, und auch das war einer der Gründe, warum sie schließlich den Saal verlassen hatte.
Hanna hörte die lauten Stimmen der zum Teil mehr als angeheiterten Gäste und dachte traurig an ihr Zuhause.
So entwurzelt wie jetzt hatte sie sich nicht einmal gefühlt, als sie vor kurzem ihr Elternhaus Hals über Kopf hatte verlassen müssen.
War das tatsächlich erst gute zwei Wochen her? Sie konnte es kaum glauben.
Vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, schlich sie im Schatten an der Mauer entlang, bis zum Schlossgarten, der diesen Namen in seinem jetzigen Zustand mehr als verdiente. Zwar gab es dort auch einen Teil, welcher mit satten Rasenflächen, üppigen, gepflegten Beeten, einem Zierteich und alten Bäumen zum Lustwandeln und Nichtstun verleitete, aber der weitaus größere Anteil war schlicht und ergreifend ein Nutzgarten, in welchem alle erdenklichen Arten von Obst, Gemüse und Kräutern angebaut wurden, um den Bedarf der Burgbewohner das ganze Jahr über decken zu können.
Sie suchte sich einen Platz unter einer dicken Eiche und starrte trübselig ins Wasser des Teiches. Seit einer Woche war sie nun hier, und obwohl der Baron und seine Gemahlin, genauso wie die übrigen Männer des Ordens ihr seit dem Angriff auf die Baronin mit freundlichem Respekt entgegentraten und sie behandelten, als gehöre sie zur Familie, sehnte sie sich in ihre Zeit zurück. Sie kam sich vor wie ein Fremdkörper, gehörte nicht hierher und wollte auch gar nicht hier sein, aber sie hatte eben keine Wahl.
Eine einzelne Träne rollte ihr übers Gesicht, und sie wischte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung fort.
Zu weinen brachte gar nichts - wenn sie doch nur gewusst hätte, wie sie zurückkommen konnte!
Oder war sie etwa dazu verdammt, ihr Leben hier zu beschließen?
Ein Rascheln in den Büschen zu ihrer Rechten schreckte sie auf, und sie reckte den Hals. Für einen Vogel oder ein anderes Tier war das Rascheln zu laut, und sie rief: „Wer ist da?“ Einen Moment blieb es ruhig, dann teilten sich die Zweige, und ein großer, schwarzhaariger Junge, den sie auf ihr eigenes Alter schätzte, erschien. Wortlos kam er zu ihr herüber und setzte sich nach einem Moment des Zögerns zu ihr. Hanna war überrascht, denn sie hatte ihn noch nie gesehen. Er trug zerschlissene Beinlinge, ein nicht sehr sauberes Hemd von undefinierbarer Farbe und war barfuß. Vorsichtig rückte sie ein Stückchen beiseite, doch der Junge bemerkte es, wandte sich ihr zu und grinste.
„Ihr braucht keine Angst zu haben, ich beiße nicht!“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Auch wenn ich Euch schon einmal nackt gesehen habe!“
Ihr Kopf ruckte zu ihm herum, und sie fuhr auf: „Also bist du dieser Lümmel, der mich im Badehaus beobachtet hat? Der Sohn des Schmieds?“ Er nickte feixend, doch das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, als Hanna ausholte und ihm eine schallende Ohrfeige versetzte.
„Au!“ Er hielt sich die schmerzende Wange. „Was soll denn das? Ich habe doch gar nichts gesehen, wirklich! Fine war ja sofort da und hat mich verscheucht!“
Hanna schnaubte. „Was hat denn das damit zu tun? Wie kommst du dazu, sowas zu machen? Haben deine Eltern dir keine Manieren beigebracht? Du kannst doch nicht einfach jemanden beobachten, der gerade nackt in die Wanne steigen will!“
Er grinste schon wieder. „Wieso? Wenn Ihr mich mal beobachten möchtet, hab´ ich bestimmt nichts dagegen!“
Das verschlug ihr glatt für einen Moment die Sprache, und fassungslos betrachtete sie den Jungen. Der hatte sich bei seinen letzten Worten auf der Seite im Gras ausgestreckt und kaute an einem Halm, während er sie abwartend musterte und seinerseits ihre Musterung über sich ergehen ließ.
Er hatte angenehme Gesichtszüge, stellte sie fest, doch seine blauen Augen blitzten frech und herausfordernd, und seine langen, schwarzen Haare hingen in Fransen bis auf seine Schultern herab.
„Im Schloss erzählt man sich eine Menge über Euch.“ sagte er. „Ihr hättet einen Dämon aus Berthold ausgetrieben und der Baronin das Leben gerettet. Stimmt das?“
Unwirsch zuckte das Mädchen die Schultern. „Und wenn es so wäre?“ Der Junge richtete sich auf. Sein Gesichtsausdruck drückte pure Begeisterung aus. „Wenn das wahr ist, ist es ein Beweis dafür, dass man nicht von adligem Stand sein muss, um ein Krieger der Armoritaner zu werden! Ihr seid eine Frau, und wenn sie sogar Euch akzeptieren, müssen sie mich erst recht anerkennen! Gleich morgen früh werde ich den Baron noch einmal bitten, mich in seine Dienste zu nehmen!“
Hanna sah ihn erstaunt an, denn plötzlich wirkte er völlig verändert. Sogar so sehr, dass sie den abschätzigen Hintergrund seiner Bemerkung darüber völlig überhörte.
Zwar legte er eine geradezu kindliche Begeisterung an den Tag, als er davon sprach ein Krieger werden zu wollen, doch gleichzeitig lag auch ein mehr als erwachsener Ernst in seinen Zügen und seiner Stimme.
Sie erinnerte sich, wie die Magd Fine an ihrem ersten Tag in der Burg davon gesprochen hatte, dass der Sohn des Schmieds unbedingt ein Ritter werden wollte, hatte das aber lächerlich gefunden.
„Er hat dich schon einmal abgewiesen, nicht wahr?“ erkundigte sie sich neugierig. Überrascht sah er sie an und sagte in einem Tonfall, der ihr deutlich zeigte, dass das für ihn selbstverständlich war: „Ja, natürlich. Mein Vater ist ein Schmied und das bedeutet, dass ich auch Schmied werden muss! Aber ich interessiere mich überhaupt nicht für dieses Handwerk! Seit ich ein kleiner Junge war, wollte ich immer schon ein Ritter werden! Damals hat mein Vater mir sogar ein kleines Schwert und einen Schild dazu gemacht. Als er später merkte, dass es mir ernst damit ist, hat er sich dafür verflucht! Als ob es etwas damit zu tun hätte!“ Er lachte leise und ein bisschen bitter, sah zu Boden und Hanna erwiderte ohne zu überlegen: „Da, wo ich herkomme, kann man alles werden, was man möchte, egal ob reich oder arm, Mann oder Frau.“
Er hob den Kopf und sah ihr mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch ins Gesicht. „Ach ja? Und woher kommt Ihr?“
Sie biss sich auf die Lippe.
Der Baron hatte seinen Leuten das Versprechen abgenommen, dass dieser Teil von Hannas Geschichte ein Geheimnis bleiben sollte. Er fürchtete, ein Bekanntwerden könnte einen Massenauflauf verursachen, wenn jeder der davon hörte, womöglich beschloss einen eigenen Blick auf das Mädchen aus der Zukunft zu werfen. Außerdem konnte man nie wissen, wohin sich Klatsch und Tratsch verbreiteten und ob daraus keine Gefahr erwachsen würde, wenn die falschen Ohren von ihr erfuhren. Womöglich würde sie sogar für eine Hexe gehalten!
Aus eben diesem Grund hatte er sie auch gebeten, die Burg vorerst nicht zu verlassen, was dazu geführt hatte, dass sie die meiste Zeit in den Räumen der Baronin herumsaß, diese unterhielt und sich um das Baby kümmerte.
Und nun hätte sie beinahe selbst dafür gesorgt, dass diese Bemühungen zunichte gemacht wurden, weil sie einem fremden Jungen gegenüber den Mund nicht halten konnte!
„Ach, ist nicht so wichtig.“ sagte sie deshalb ausweichend und sah zur Seite.
Zu ihrem Glück war er zu sehr mit seinem Wunschtraum beschäftigt und achtete nicht weiter auf das, was sie sagte. Er streckte sich lang im Gras aus und schloss die Augen. Eine Weile schwiegen sie beide, doch plötzlich fragte er ohne die Augen zu öffnen: „Seid Ihr versprochen?“
„Hm? Was?“ Hanna sah verständnislos zu ihm hinab. „Versprochen?“
Er setzte sich auf. „Ja, ob Ihr versprochen seid?“
Als er sah, dass sie ihn offensichtlich immer noch nicht verstand, setzte er ungeduldig nach: „Haben Eure Eltern Euch schon einem bestimmten Mann zur Ehe versprochen?“
Sie zuckte zurück. „N...Nein!“ stotterte sie. „Gut!“ Er lächelte zufrieden. „Wenn ich erst ein Ritter bin, halte ich um Eure Hand an!“ Darauf wusste Hanna keine Erwiderung, sondern starrte ihn nur fassungslos an, doch noch bevor sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, ergriff er die Gelegenheit beim Schopf, beugte sich zu ihr und küsste sie mitten auf den Mund.
Einen Augenblick lang saß sie da, wie vom Donner gerührt und ließ sich widerstandslos küssen, doch als er dies offenbar als Zustimmung wertete, sie bei den Schultern fasste und nach hinten ins Gras drängen wollte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung und schob ihn energisch von sich.
„Hör auf!“ sagte sie barsch und machte Anstalten aufzustehen.
„Wartet!“ rief er. „Es tut mir leid! Glaubt mir! Es tut mir wirklich leid!“
Hanna sah ihm ins Gesicht, und er schien ehrlich zerknirscht zu sein.
Sie zögerte, denn sie verstand diesen Jungen nicht. Seine Stimmungen änderten sich schneller, als sie geistig mithalten konnte!
Und soweit sie das beurteilen konnte, entsprach sein Benehmen nicht gerade dem typischen Verhalten eines einfachen Jungen gegenüber einer jungen Dame von Stand, wie es im 14. Jahrhundert üblich war.
Seufzend ließ sie sich wieder zurücksinken und versetzte ihm einen kräftigen Rippenstoß. „Warum hast du das gemacht?“ fragte sie, doch er sah sie nur an, verlegen mit den Schultern zuckend. Seine vorherige Frechheit war gänzlich verschwunden, und plötzlich hatte sie das Gefühl, ihn jetzt zum ersten Mal wirklich zu sehen. Anstelle seiner Unbekümmertheit und Frechheit, kam Einsamkeit und Verletzlichkeit zum Vorschein, und er wirkte so unglücklich, dass sie ihn beinahe in den Arm genommen hätte, wenn sie nicht befürchtet hätte, dass er dies als Einladung missverstand.
„Warum hast du das gerade gemacht?“ wiederholte sie, doch wieder blieb er die Antwort schuldig.
Erst nach einer Weile begann er zu sprechen, mit gesenktem Kopf und sehr leise, sodass sie die Ohren spitzen musste, um ihn zu verstehen.
„Was ist denn falsch daran, Träume zu haben?“ fragte er, mehr an sich selbst gerichtet, als an sein Gegenüber.
„Pater Anselm sagt, Gott stellt den Menschen an den Platz, an den er gehört. Aber ist es wirklich Gotteslästerung, zu fragen, ob es nicht sein kann, dass er sich manchmal irrt? Denn ich fühle es doch ganz deutlich – ich habe eine andere Bestimmung! Das weiß ich schon, so lange ich denken kann! Meine Eltern haben mir die Tür gewiesen, weil ich mich weigere, das Schmiedehandwerk zu erlernen, sodass ich nun im Stall schlafe. Und die Ritter weisen mich auch ab, keiner will mich als Knappen annehmen! Dabei habe ich mich von klein auf im Fechtkampf und anderen ritterlichen Tugenden geübt! Ich sehe den anderen Knappen immer heimlich zu, wenn sie draußen üben und mache alles später nach. Natürlich bin ich nicht so gut wie sie, ich habe ja niemanden, der mich korrigiert, und meine Gegner sind höchstens ein paar Bäume, drüben im Wald. Aber ich weiß einfach, dass das meine Bestimmung ist – ein Ritter zu werden und mit den Armoritanern gegen das Böse in der Welt zu Felde zu ziehen!“ Er wandte ihr das Gesicht zu und sagte: „Ich hätte Euch nicht küssen dürfen, verzeiht mir! Aber Ihr seid für mich wie ein Wesen aus einem Traum! Schon als ich Euch das erste Mal sah, wusste ich, dass Ihr etwas Besonderes seid! Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, und außerdem würde ein Ritter so etwas nicht tun. Zumindest nicht ohne Erlaubnis der Dame.“ fügte er hinzu, und ein Anflug seines früheren Übermuts blitzte in seinem Gesicht auf. Doch gleich darauf wurde er schon wieder ernst und griff behutsam nach ihrer Hand.
„Trotzdem war es für mich kein Spass! Bitte - erlaubt Ihr mir, Euch den Hof zu machen?“
Hannas Gesicht wurde flammend rot, als sie in seine blauen Augen sah, und wo seine Finger ihre Haut berührten, schienen Millionen Ameisen darüber zu laufen, so sehr kribbelte es.
„Ich...äh, ich weiß ja noch nicht einmal, wie du heißt!“ stammelte sie verlegen, und der Junge lächelte.
„Ich bin Konrad.“ sagte er und dann: „Heißt das, ich darf?“
Hanna wirbelte der Kopf. In so einer Situation hatte sie sich noch nie befunden. Noch nie hatte ihr ein Junge zu verstehen gegeben, dass sie ihm gefiel. Die Aufmerksamkeit, die Konrad ihr entgegenbrachte, schmeichelte ihr, und er schien ja eigentlich ganz nett zu sein. Also nickte sie schließlich, und ein Strahlen ging über sein Gesicht.
Einen Moment befürchtete sie, er würde sie noch einmal zu küssen versuchen, doch stattdessen erhob er sich, half ihr auf und führte dann ihre Finger galant an seine Lippen, hauchte einen Kuss darauf und lächelte ihr zu.
„Danke, das macht mich sehr glücklich, Jungfer Hanna! Sehen wir uns morgen hier wieder? Um die gleiche Zeit?“ Sein Blick ließ ihr erneut das Blut in die Wangen steigen, und ungewohnt schüchtern senkte sie den Blick, als sie nickte.
Dann drehte sie sich um und verließ mit schnellen Schritten den Schlossgarten, wobei sie das Gefühl hatte, seine Blicke in ihrem Rücken körperlich zu spüren.
Als sie die Kammer neben dem Schlafgemach der Baronin erreichte, wo sie untergebracht war, hatte sie sich wieder etwas beruhigt und dachte klarer.
Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
Sie hatte einem Jungen aus dem 14. Jahrhundert gestattet ihr „den Hof zu machen

“!?
Was war denn da nur über sie gekommen?
Hatte sie das Heimweh so sehr im Griff gehabt?
Sie fasste sich an den Kopf und sank auf den Strohsack, der in dem kurzen Bettkasten als Matratze diente.
Dabei wollte sie doch gar nicht, dass ihr jemand „den Hof machte

“! Sie wollte nur eins: Nämlich nach Hause!
Und was hieß das eigentlich genau, dieses „den Hof machen“? Sie hatte keine Ahnung, wie so etwas im 14. Jahrhundert ausgesehen vonstatten ging, hatte aber eine vage Vorstellung von schwülstigen Gedichten und gezierten Verbeugungen.
Plötzlich erschien Lucas Gesicht vor ihrem geistigen Auge, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie es viel schöner gefunden hätte, wenn er …
Sie verbot sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Luca war weit fort, genau genommen war er noch nicht einmal geboren, mit anderen Worten, es gab ihn noch überhaupt nicht, genausowenig wie sämtliche anderen Menschen, die sie im Laufe ihres Lebens getroffen hatte. Ihr schwindelte bei dieser Vorstellung, und sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch nun drängten Bilder von ihrer Mutter in ihr Bewusstsein, die sie bisher bewusst daraus ferngehalten hatte, und ihr stiegen heiße Tränen in die Augen.
Als sie erst einmal angefangen hatte zu weinen, konnte sie auch nicht mehr aufhören, sondern sank schluchzend in ihr Kissen, drückte das Gesicht hinein und ließ ihrem Kummer freien Lauf.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich etwas beruhigte, und erst da bemerkte sie, dass jemand bei ihr im Zimmer war, hinter ihr auf der Bettkante saß, und sie fuhr herum.
Doch es war lediglich die Baronin, die sie jetzt mit verständnisvollem Gesicht ansah und nur ein einziges Wort in fragendem Ton sagte: „Heimweh?“ Hanna nickte und schon wieder sprang ihr das Wasser aus den Augen. Die schwarzhaarige Frau zog sie daraufhin in ihre Arme und hielt sie fest, wiegte sie sanft, bis das krampfhafte Schluchzen ein zweites Mal abgeebbt war und Hanna sich hohl und leer fühlte.
Die Baronin löste die Arme von ihr, sah sie an und fragte: „Besser jetzt?“
Das Mädchen nickte und atmete zitternd ein und aus. „Verzeiht, bitte. Ich musste nur plötzlich an meine Mutter denken und alle Anderen, die zuhause zurückgeblieben sind. Und dann fiel mir ein, dass sie eigentlich alle noch gar nicht geboren sind, und ich fühlte mich mit einem Mal so schrecklich allein!“
„Mein armes Kind!“ sagte die Edelfrau und griff nach Hannas Hand. „Das muss ein schreckliches Gefühl sein. Aber vielleicht kann ich dich ja doch ein wenig aufmuntern oder zumindest ablenken!“ Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Ich habe mit meinem Gemahl gesprochen, er ist ebenso wie ich der Ansicht, dass wir tief in deiner Schuld stehen, dafür dass du mir und unserem Sohn das Leben gerettet hast! Mit Worten haben wir dir zwar gedankt, aber wir möchten etwas für dich tun, was darüber hinausgeht! Hanna, hast du irgendeinen Wunsch, den wir dir erfüllen können? Ich weiß, dein größter Wunsch ist sicher, in deine Zeit zurück zu kehren. Das steht leider nicht in unserer Macht, aber wenn es etwas anderes gibt, wozu wir dir verhelfen können, dann sag´ es mir, und ich werde mit meinem Gatten darüber sprechen!“
Hanna fühlte sich etwas überrumpelt. Ein Wunsch? Sie überlegte, doch ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und freundliche Menschen um sich herum, mehr brauchte sie eigentlich nicht.
Doch plötzlich blitzte ein Gedanke in ihrem Kopf auf, und sie hob den Blick. Einen Moment lang zögerte sie noch, denn sie wollte nicht für sich selbst um etwas bitten.
Ob die Baronin wohl böse werden würde?
Sie schluckte, nahm dann ihren Mut zusammen und sagte: „Edle Herrin, für mich selbst brauche ich nichts, aber es gibt jemanden hier im Schloss, der einen sehnlichen Wunsch hegt und das schon sehr lange. Wäre es vermessen, wenn ich für denjenigen um die Erfüllung desselben bitte?“
Als sie das überraschte Gesicht der älteren Frau sah, fügte sie rasch hinzu: „Ihr habt mich bei Euch aufgenommen, als gehörte ich zur Familie, und es fehlt mir an nichts, daher erschiene es mir ungehörig, noch mehr für mich zu erbitten. Aber wenn ich jemand Anderem helfen kann, möchte ich das gerne tun!“
Daraufhin hellte sich die Miene der Baronin auf, und sie neigte den Kopf: „Lass´ mich hören, um was es sich handelt, dann werde ich dir sagen, ob dein Wunsch erfüllt werden kann.“
„Nun,“ begann Hanna, „es geht um Konrad, den Sohn des Schmieds. Er hat mir erzählt, dass er gerne in den Dienst des Barons treten möchte. Sein Traum ist es von Kindheit an, ein Ritter zu werden und ein Armoritaner. Ich glaube, er würde alles dafür tun, aber er sagte mir auch, dass ihm sein Wunsch abgeschlagen worden sei, da er nicht von adligem Stand ist. Wäre es nicht möglich, eine Ausnahme zu machen?“
Die Züge der Baronin wurden noch eine Spur weicher. „Mein Kind, bist du sicher, dass du für diesen Lümmel um etwas so Wertvolles bitten willst? Vielleicht weiß er es ja gar nicht zu schätzen?“ Sie stockte und sah Hanna forschend ins Gesicht. „Du hast dich doch nicht etwa in diesen Taugenichts verliebt?“ Dem Mädchen schoss das Blut in die Wangen unter dem intensiven Blick der Edelfrau. Sie senkte den Kopf und sagte: „Es ist wahr, dass er darum gebeten hat, mir den Hof machen zu dürfen und ich ihn nicht abgewiesen habe, aber ich denke nicht, dass ich in ihn verliebt bin, Herrin.“ Die Baronin war noch skeptisch. „Ich hoffe für dich, das das stimmt, Hanna. Konrad hat, seit er hier ist, nur für Unmut gesorgt. Es wäre seine selbstverständliche Aufgabe, seinen Vater in der Schmiede zu unterstützen und dieses Handwerk eines Tages von ihm zu übernehmen, aber er treibt sich lieber im Schloss herum, oder im Wald! Er hängt seinen Träumen von Rittertum nach und sieht dabei nicht, was er vor Augen hat! Auch ein Ritter muss manchmal Dinge tun, die unangenehm sind und seinen Widerwillen erregen. Diese Bereitschaft sehe ich bei Konrad nicht. Wenn er tatsächlich ein Ritter und ein Armoritaner werden will, liegt noch ein langer Weg vor ihm!“ Sie überlegte und musterte Hanna, bevor sie weitersprach: „Aber wenn es dein Wunsch ist, werde ich mit meinem Gemahl sprechen und ihn bitten, Konrad als Knappen in seine Dienste zu nehmen. Allerdings liegt es dann an ihm, sich dessen als würdig zu erweisen. Ist er es nicht, dann muss er in die Schmiede zurückkehren. Das ist meine Bedingung.“
Hanna nickte erfreut. Es machte sie einfach glücklich, Konrad helfen zu können und sie fühlte sich schon viel besser, als noch vor kurzem.

*



Das Wetter passte zur Stimmung.
Es goss in Strömen, während sich der kurze Leichenzug in Bewegung setzte und den hellen Sarg aus der Halle hinaus und zur Rückseite des Schlosses brachte, wo inmitten des kleinen Friedhofs eine Gruft geöffnet worden war, die den toten Krieger aufnehmen sollte.
Zuvorderst hinter dem Sarg schritten Jans Eltern, die die Nachricht schwer getroffen hatte. Sie stützten sich gegenseitig und verschwanden fast unter dem riesigen, schwarzen Regenschirm, so sehr krümmten sie sich unter der Wucht ihres Schmerzes zusammen.
Dahinter ging Diana, betäubt von Beruhigungsmitteln und mit stumpfem Blick und neben ihr Markus von Berching, der sie stützte. Als Luca sah, wie sie sich dahinschleppte, fragte er sich ein weiteres Mal, ob es eine gute Idee gewesen war, ihr die Teilnahme an der Beisetzung zu erlauben. Sie hatte Jan geliebt, das hatten die Meisten geahnt, doch nun war es offensichtlich. Als sie nach dem Kampf aus ihrer Ohnmacht aufgewacht war und man ihr von Jans Tod erzählte, war sie zusammengebrochen, hatte stundenlang geschluchzt und seinen Namen gerufen, trotz Beruhigungsmitteln.
Erst als die Erschöpfung sie übermannte, war sie verstummt, hatte aber seither kaum geschlafen, sondern nur dagesessen und vor sich hin gestarrt. Sie aß nicht, sie schlief nicht, sie redete nicht.
Alle machten sich große Sorgen um sie, denn beinahe schien es, als sei ihre Seele Jan bereits gefolgt und hier wäre nur eine atmende Hülle zurück geblieben.
Hinter den Beiden folgten die Hüter Theresa und Wolfgang, dann einer der fremden Krieger, neben Luca und Noah, und Ludwig machte den Schluss. Alexander war nicht dabei, sondern saß in seinem Zimmer und wurde bewacht.
Als sie sich der Gruft näherten, schien es Luca, als wäre die offenstehende, schwere Tür ein riesiges Maul, welches sie alle zu verschlingen drohte, und er wandte den Blick ab. Die Vorstellung, dass Jan, mit dem er noch vor wenigen Tagen geredet, gekämpft und trainiert hatte, in Kürze dort drinnen hinter der verschlossenen Flügeltür liegen würde, kalt und tot in seinem verschlossenen Sarg, schien ihm derart grotesk, dass er sich in den Arm kniff, in der schwachen Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum war.
Doch er spürte den Schmerz des Kniffs und musste sich erneut der Realität stellen.
Jan und er waren zwar keine Freunde gewesen, und er hatte auch erst bei seinem Tod begriffen, wie wenig er von ihm wirklich wusste, aber das machte es nicht leichter, sondern im Gegenteil nur noch schlimmer, denn nun würde er keine Gelegenheit mehr bekommen, den Anderen besser kennen zu lernen. Diese Chance war vertan und die Gewissheit bitter.
Sein Blick schweifte über das Gelände. Automatisch suchte er nach verdächtigen Bewegungen, fand aber nichts. Nach dem Auftauchen von Malus im Körper des Barons hatten Meister Markus und die übrigen Armoritaner sich beraten und dann mithilfe einer religiösen Zeremonie den Schutzkreis rund um das Schloss verstärkt. Ob das Malus fernhalten würde, wussten sie nicht, aber sie mussten es zumindest versuchen. Darüber hinaus hatte Markus von Berching mit den beiden übrigen Ordenshäusern telefoniert und zwei weitere Krieger samt ihrer Schilde waren zur Verstärkung eingetroffen. Das war auch bitter nötig, denn es waren reihum Wachdienste eingeteilt worden, wobei jeweils zwei Krieger auf der Schlossmauer patrouillierten und einer vor Alexanders Zimmer stand. Das hätten Luca und die beiden Krieger aus dem Ordenshaus von Markus von Berching nicht allein bewältigen können. Wäre Hanna hier gewesen …
Luca ertappte sich bei diesem Gedanken und reckte den Kopf in einer ungeduldigen Bewegung, um ihn zu vertreiben.
Hanna war nicht hier, und vielleicht würde sie es auch nie wieder sein! Damit musste er sich abfinden!
Alexander hatte ihnen nach dem Kampf berichtet, dass die Sucherin im 14. Jahrhundert gelandet war, und obwohl natürlich alle erleichtert waren, dass Hanna offenbar lebte, war diese Nachricht dennoch ein Schock und niemand hatte eine Ahnung, wie man sie von dort zurückholen sollte.
Er schob diese Überlegungen von sich, trieb sie zurück in das finstere Loch in seinem Geist, wo er schon vorher seine Gefühle für Hanna eingesperrt hatte, schloss das massive Tor in seinem Bewusstsein und legte den Riegel vor.
Schweigend sah er zu, wie die Träger den Sarg auf das freie Podest in der Mitte der Gruft stellten. Anschließend bezogen er und der andere Krieger links und rechts neben dem Sarg Stellung, zückten ihre Schwerter und kreuzten die Klingen über dem Holz des Deckels. Das war ein alter Brauch, der den Zweck hatte, dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen und zu zeigen, dass er in den Reihen der Lebenden nicht in Vergessenheit geriet.
Anschließend gingen alle zurück zum Schloss, wo eine karge Mahlzeit auf sie wartete, und danach wurden Jans Eltern mit einer Limousine zurück nach Hause gebracht.
Als der Wagen abfuhr stand Luca noch lange im Hof und sah ihnen nach. Jan hatte keine Geschwister, und für seine Eltern war sein früher Tod ein schwerer Schlag. Beide konnten noch nicht älter sein, als Mitte Fünfzig, doch heute hatten sie gewirkt, als wären sie auf einen Schlag auf das Doppelte gealtert.
Er senkte den Kopf und dachte an sein eigenes Elternhaus. Er hatte noch einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester. Seine ganze Familie diente seit Jahrhunderten dem Orden, aber er war seit Generationen der erste Krieger. Wie schwer würde es seine Eltern treffen, wenn er im Kampf fiele?
… Und was würde er empfinden, wenn Hanna starb?


Er zog die Brauen zusammen, ob der unwillkommenen Gedanken. Hanna war nun seit fünf Tagen fort, verschollen in der Vergangenheit, und keiner wusste, ob es ihr gut ging. Malus hatte davon gesprochen, sie zurückholen zu wollen, um endlich Asmodis befreien zu können. Sie wussten nicht, wie er das bewerkstelligen wollte, aber dass er einen bestimmten Plan hatte, davon waren alle überzeugt, angesichts seiner letzten Worte, bevor er das Schloss verließ.
„Also schön. Ihr schützt also lieber den Verräter, als euren Meister. Gut, ich werde einen anderen Weg finden, zu eurer kostbaren Sucherin vorzudringen. Beklagt euch nicht bei mir, wenn unschuldiges Blut vergossen wird!“
Sie hatten es alle gehört und es verhieß nichts Gutes.


Seitdem waren die Dämonen verschwunden, und es herrschte eine unheimliche Ruhe rund um das Schloss. Alexander, den man natürlich dazu befragt hatte, wusste entweder wirklich nichts, oder er wollte es nicht sagen. Obwohl Luca letzteres für eher unwahrscheinlich hielt, da der blonde Junge offenbar darauf hoffte, wieder in die Reihen der Armoritaner aufgenommen zu werden. Und bedingunglose Kooperation konnte die Chancen auf eine Erfüllung seines Wunsches vielleicht am ehesten steigern.
Wäre es allerdings nach Luca gegangen, hätte Alexander nicht die geringste Aussicht auf eine Wiederaufnahme.
Er hasste ihn zwar nicht, aber allein der Gedanke, wieder mit ihm zusammen zu kämpfen, schien ihm vollkommen absurd.
Alexander war ein Verräter, und er würde es auch bleiben.

*



Als der nächste Abend herannahte, wurde Hanna zunehmend nervös, weil sie versprochen hatte, sich mit Konrad zu treffen und außerdem hatte die Baronin ihr am frühen Nachmittag mitgeteilt, dass ihr Gemahl Konrad bereits zu sich hatte rufen lassen und ihn als Knappen akzeptiert hatte.
Was würde er nun sagen, wenn sie sich wiedertrafen? Wäre er nicht vielleicht wütend, weil sie sich eingemischt hatte?
Doch als sie dann in den dämmrigen Schlossgarten kam, saß Konrad in sauberer Kleidung und mit ordentlich zusammengebundenen Haaren am Teich und sah ihr freudig entgegen. Kaum hatte sie ihn erreicht, stand er auf und machte eine elegante Verbeugung vor ihr, an deren Ende er ihr einen prachtvollen Blumenstrauß entgegen hielt. „Oh, Konrad!“ rief sie überrascht. „Die sind ja wunderschön!“ Sie nahm das Gebinde entgegen und betrachtete die Blüten, die darin enthalten waren. Es waren Kornblumen dabei, Levkojen, Rittersporn und weitere Sommerblüher, die sie nicht alle kannte, doch überlagert wurde das Ganze vom Duft der wilden Rosen, deren kleine, aber tiefrote Blütenkelche aus den anderen Arten herausstachen.
Ihr kam ein Gedanke, und sie musterte den Jungen mit strengem Blick. „Die hast du doch nicht gestohlen?“ Grinsend schüttelte er den Kopf und hob die linke Hand.
„Nein, die habe ich alle draußen im Feld und auf den Wiesen gepflückt, Ehrenwort!“ Er wurde ernst und fasste nach ihrer freien Hand. „Ich verdanke es Euch, dass mich der Baron nun als Knappen akzeptiert. Ich möchte mich dessen würdig erweisen und ein wahrer Ritter werden! Deshalb werde ich von heute an ein neues Leben anfangen!“ erklärte er feierlich. „Ich habe ein Ziel vor Augen, nämlich Euch, Fräulein Hanna! Ich möchte ein Mann werden, zu dem Ihr aufschauen könnt! Denn Ihr wißt doch, ich habe es Euch gesagt, dass ich um Eure Hand anhalten will, wenn ich erst ein Ritter geworden bin!“
Verlegen senkte Hanna den Blick. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihm heute Abend klipp und klar zu sagen, dass er sich keine Hoffnungen machen sollte, aber jetzt, wo er so strahlend vor ihr stand, war das gar nicht so einfach.
Einerseits mochte sie ihm, wo er so glücklich war, nicht den Abend verderben und andererseits wirkte er so verändert, im Vergleich zum Vortag.
Er war ein wirklich gutaussehender Bursche, und irgendwie war es plötzlich gar kein so unangenehmer Gedanke mehr, dass er Gefallen an ihr gefunden hatte...
Gemeinsam unternahmen sie einen Spaziergang durch die Dämmerung, und es gelang ihm, ihr die Nervosität zu nehmen und sie immer wieder zum Lachen zu bringen. Sein Benehmen war über jeden Zweifel erhaben, und er versuchte nicht ein einziges Mal, sie zu küssen, oder unschicklich zu berühren.
Als sie schließlich wieder am Ausgangspunkt ihres Spazierganges angekommen waren, hauchte er wie beim letzten Mal einen zarten Kuss auf ihre Fingerspitzen und verabschiedete sie mit einer Verbeugung, einem Lächeln und der Bitte um ein weiteres Treffen am nächsten Abend. Errötend stimmte sie zu und so kam es, dass die Treffen mit Konrad allmählich eine Selbstverständlichkeit wurden, sie erlaubte ihm das "Du", und wenn es denn einmal regnete, sodass sie sich nicht sehen konnten, war Hanna missmutig und schlecht gelaunt. Es war eben einfach schön, neben ihm durch den Park zu schlendern und zu hören, was er alles Neues gelernt hatte. Er stellte sich offenbar auch gar nicht so ungeschickt an, und selbst die Baronin war nach ihren anfänglichen Zweifeln voll des Lobes über den neuen Knappen ihres Gatten.
Die Wochen vergingen, der Sommer neigte sich dem Ende zu, und auf den Feldern unterhalb des Waldes wurde die Ernte eingebracht. Bald wurden die ersten Säcke mit Getreide in der Burg eingelagert, und auch im Schlossgarten wurden die ersten Beete geräumt und mit Wintergemüse bepflanzt.
Hanna wurde traurig, als sie die ersten gelben Blätter an den Bäumen sah. Sie hatte sich an das Leben in der Burg gewöhnt, und seit die Baronin wieder voll und ganz in ihren Pflichten als Burgherrin aufging, war es fast ausschließlich Hannas Aufgabe, sich um den kleinen Albrecht zu kümmern. Zwar wurde er noch von einer Amme gestillt, doch seine sämtliche übrige Pflege wurde von Hanna übernommen, und sie war froh, auf diese Weise wenigstens etwas von all dem wieder gutmachen zu können, was tagtäglich für sie getan wurde. Auf die Art waren die Wochen ins Land gezogen, ohne dass sie es so richtig bemerkt hatte.
Doch als nun die ersten Vorboten des Herbstes durch die noch laue Luft segelten, da wurde ihr wieder bewusst, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, wie sie den Heimweg finden sollte.
So kam es, dass sie an diesem Abend nicht so voller froher Erwartung zu dem Treffen im Park erschien, wie sonst immer und obwohl sie sich bemühte, Konrad nichts von ihrer Stimmung merken zu lassen, warf er ihr doch immer wieder aufmerksame Blicke zu und brach schließlich seinen Bericht über die Ereignisse seines Tages ab und fasste nach ihrer Hand. „Was bedrückt dich?“ fragte er, und sie sah auf.
Was sollte sie ihm sagen? Noch immer war ihre wahre Herkunft ein Geheimnis, welches sie nur mit den vollwertigen Armoritanern teilte, die am ersten Tag dabei gewesen waren, doch gerade jetzt hatte sie das schier übermächtige Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen, einem anderen Menschen ihr Herz auszuschütten, erst recht, wenn es jemand war, wie Konrad, dem sie vertraute und in dessen Nähe sie sich geborgen fühlte.
Aber sie konnte es nicht, hätte es doch bedeutet, das ihr entgegengebrachte Vertrauen zu enttäuschen. Sie wandte den Blick zur Seite und sagte: „Gar nichts.“
Doch er ließ sich nicht so rasch abwimmeln, vertrat ihr den Weg und sah ihr forschend ins Gesicht. Hanna konnte nicht verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange lief, und hastig wischte sie sie fort. Konrad hatte es trotzdem gesehen und fasste behutsam ihr Kinn, drehte ihr Gesicht in seine Richtung und bat: „Willst du es mir nicht erzählen?“ Dann schien ihm ein beunruhigender Gedanke zu kommen, und er setzte hinzu: „Oder habe ich etwas Falsches gesagt oder getan?“
„Nein, nein!“ Hanna schüttelte mit einem schwachen Lächeln den Kopf. „Ich habe etwas Heimweh, das ist alles.“
Soviel konnte sie ja wohl bedenkenlos sagen...
Konrad schien bestürzt, fing sich aber schnell und sagte: „Das tut mir leid. Aber wenn du erlaubst, würde ich gerne mein Bestes tun, um dich zu trösten?“ Sie sah überrascht hoch, begegnete dem intensiven Blau seiner Augen und senkte errötend den Blick, plötzlich befangen. „Wie willst du denn das anstellen?“ fragte sie.
„Nun ja,“ er schien nun auch verlegen, „ich könnte dich in die Arme nehmen, damit du spürst, dass du nicht allein bist, wenn dein Zuhause auch weit weg sein mag. Ich verspreche dir auch hoch und heilig, dass ich keinerlei Hintergedanken dabei hege!“ ergänzte er rasch, und seine Wangen glühten.
Hanna schwieg, denn sie fühlte sich hin und her gerissen, doch er fasste ihr Schweigen wohl als Zustimmung auf und legte vorsichtig seine Arme um sie.
Einen Moment lang war es seltsam, dann jedoch entspannte sie sich und genoss die Nähe und die Wärme eines anderen Körpers so dicht an ihrem. Beinahe ohne dass sie es merkte, schmiegte sie sich an ihn, legte die Arme um ihn und ihren Kopf an seine Brust. Sie hörte seinen Herzschlag, schloss die Augen und fühlte sich geborgen. Doch plötzlich bemerkte sie, wie seine Arme sich fester um sie schlossen, in einer besitzergreifenden Geste, und aus irgendeinem Grund machte es ihr überhaupt nichts aus. Sie sah hoch zu ihm und versank augenblicklich in den blauen Tiefen seiner Augen. „Konrad...?“ flüsterte sie, als sein Gesicht immer näher kam.
Ihr Herz schlug zum Zerspringen und so laut, dass sie dachte, er müsste es hören. Ihre Augen schlossen sich und seine Lippen waren nur noch Millimeter von ihren entfernt, als plötzlich hastige Schritte und besorgte Rufe erklangen.
„Fräulein Hanna!“ Und gleich darauf noch einmal: „Wo seid Ihr, Fräulein Hanna?!“
Sie fuhren auseinander, und der Zauber des Augenblicks war verflogen. Hanna drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Rufe kamen und sah die Magd Fine atemlos auf sie zugerannt kommen. Gleich darauf stand das Mädchen vor ihnen, und nachdem sie kurz Atem geschöpft hatte, wandte sie sich an Hanna
„Der Herr Baron lässt ausrichten, Ihr sollt unverzüglich zu ihm kommen. Er ist im großen Saal, und er bittet Euch ausdrücklich, keine Zeit zu verlieren.“
Konrad runzelte die Stirn. „Ist etwas vorgefallen?“ wollte er wissen, doch die Magd zuckte die Schultern.
„Mehr weiß ich nicht. Ich sollte nur Fräulein Hanna so schnell wie möglich suchen und zu ihm schicken. Worum es geht, geruhte er mir nicht mitzuteilen.“ antwortete sie spitz, und mit einem bösen Seitenblick auf den Knappen.
„Nun,“ meinte Hanna, „dann ist es wohl besser, ich gehe zu ihm und sehe, was es gibt, nicht wahr?“
„Warte!“ rief Konrad und machte Anstalten, ihr zu folgen. „Ich begleite dich!“ Doch die Magd hielt ihn mit einer Geste zurück. „Der Herr Baron sagte ausdrücklich, er wolle Hanna allein sprechen! Du bleibst also besser hier oder gehst zurück in dein Quartier!“
Nun war es an Hanna, beunruhigt zu sein.
Was konnte von solcher Wichtigkeit sein, dass der Baron sie extra holen ließ und sie sogar allein sprechen wollte?
Eilig machte sie sich auf den Weg zum Schloss, und keine fünf Minuten später betrat sie den großen Saal, wo der Edelmann bereits auf sie wartete und unruhig auf und ab schritt.
Bei ihrem Eintritt sah er auf und blieb stehen. „Hanna!“ sagte er und kam mit ernstem Gesicht auf sie zu. In diesem Moment wurde eine kleine Tür auf der Rückseite des Saales geöffnet, und die Baronin trat ein. Sie trug eine Art Rucksack am Arm, den sie mit einem beredten Blick zu ihrem Gemahl auf einer der Sitzbänke an der Wand abstellte und setzte sich dann stumm daneben.
„Ihr wolltet mich sprechen, edler Herr?“ Hannas Beunruhigung wuchs angesichts der seltsamen Atmosphäre im Raum. Der Baron kam zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Ich fürchte, deines Bleibens ist nicht länger hier bei uns, Hanna!“ begann er und sie riss überrascht die Augen auf. „Wie?“
Mit einer Geste nötigte er sie, Platz zu nehmen und setzte sich zu ihr.
„Lass´ mich erklären, bitte!“ sagte er und rieb sich mit den Fingerspitzen die Nasenwurzel, während Hanna ihn fassungslos anstarrte.
Sie sollte fort? Wohin? Und warum?
„Schon vor einigen Tagen erreichte mich die Nachricht, dass in der nächsten Stadt das Gerücht die Runde macht, wir beherbergten eine Hexe auf Schloss Blaustein. Ich hoffte, die Gemüter würden sich beruhigen, doch jetzt hat sich ein hoher Geistlicher auf den Weg gemacht, um dieses Gerücht auf seinen Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Vor einer Stunde erst bekam ich Kunde, dass er das Dorf bereits hinter sich gelassen hat und in Kürze hier eintreffen wird. Es kann kein Zweifel bestehen, dass er und sein Gefolge dich einem hochnotpeinlichen Verhör unterziehen werden, wenn sie dich hier antreffen! Deshalb musst du fort! So schnell wie möglich! Meine Gemahlin hat dir selbst Wegzehrung und einige andere nützliche Dinge eingepackt und sie hergebracht! Nimm´ sie an dich und verlasse die Burg durch die kleine Seitenpforte hinten im Park! Dann laufe immer bergab, und wenn du den Bach erreichst, folge seinem Lauf weiter hügelabwärts, dann wirst du auf eine verborgene Höhle stoßen. Dort kannst du vorerst bleiben, und sobald der Geistliche fort ist, lasse ich dir eine Botschaft zukommen, wie es weitergeht. Du ...“
An dieser Stelle wurde er unterbrochen, denn plötzlich löste sich eine Gestalt aus dem Dämmer über ihren Köpfen und sprang mit elegantem Schwung zu Boden. Es war Konrad, der den Baron mit grimmigem Blick anstarrte, als er sich aufrichtete.

*



Die Atmosphäre war gedrückt und das war angesichts der traurigen Vorfälle der letzten Tage auch kein Wunder.
Luca saß mit den anderen Kriegern, die gerade keinen Wachdienst hatten, den zugehörigen Schilden, den Hütern und dem Meister in der Bibliothek. Zum wiederholten Male beratschlagten sie, was sie tun konnten, doch wie jedesmal versickerte die Diskussion, erstickte in Ratlosigkeit, und wie schon so oft in letzter Zeit verspürte Luca eine hilflose Wut und den unbändigen Drang, irgendetwas zu zerschlagen. Plötzlich klopfte es, und als der Meister den Kopf hob und „Herein!“ rief, erschien Alexander in der Tür. Sein Bewacher war direkt hinter ihm, trotzdem fuhr nicht nur Luca in seinem Stuhl hoch.
Der blonde Junge war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte kaum gegessen oder geschlafen, seit er wieder im Schloss war, seine Haare hingen ihm ungepflegt ins Gesicht, und er wirkte weit älter als er tatsächlich war.
„Was willst du hier?“ schnauzte Luca ihn an, und der Meister hob beschwichtigend die Hand.
Der Angesprochene stand mit gesenktem Kopf da, wirkte jedoch gefasst, als er mit ruhiger Stimme zu sprechen begann.
„Ich bin hier, weil ich euch helfen möchte.“ sagte er und sah auf. „Ursprünglich hatte ich ja gehofft, ich könnte erneut Aufnahme bei den Armoritanern finden, aber in den letzten Tagen ist mir klar geworden, dass das nicht möglich ist. Ich bin nicht länger würdig, ein Krieger zu sein, das sehe ich jetzt ein. Trotzdem möchte ich noch einmal etwas richtig machen, und deshalb biete ich mich als Köder an. Ich gehe freiwillig zurück zu Malus und führe euch auf diese Weise zu ihm. Dann soll er sein Ritual durchführen, und wenn er Hanna zurückgeholt hat, müsst ihr nur rasch genug eingreifen und sie befreien!“
Alle Anwesenden waren bei seinen Worten aufgesprungen und starrten ihn entsetzt an.
„Alexander! Ist dir klar, was du da sagst?“ rief von Berching entsetzt. Der Blonde nickte. „Ja.“ sagte er schlicht.
Tiefe Stille schloss sich an, welche Luca mit einem krachenden Faustschlag auf die Tischplatte vor sich zunichte machte.
„So ein Blödsinn!“ tobte er los und ignorierte die Blicke der Anderen. „Das ist der größte Haufen Scheiße, den ich je vor der Nase gehabt habe!“
Er richtete sich auf und fixierte Alexander mit finsterem Blick. „Was hast du vor, du Verräter? Du willst uns zu ihm führen, sagst du? Mit anderen Worten, du weißt, wo er sich aufhält? Stehst du also noch immer in seinen Diensten? War der ganze Kampf nur ein gewaltiger Fake, oder was? Willst du uns in eine Falle locken?“
Während seiner Worte war er um den Tisch herum gegangen und stand nun direkt vor dem blonden Jungen, der ihn erschrocken ansah und heftig den Kopf schüttelte.
„Nein! So ist es nicht! Versteht mich bitte richtig! Ich weiß nicht, wo Malus und seine Dämonen sich verstecken, aber ich bin sicher, dass er das Schloss noch immer beobachten lässt, in der Hoffnung, mich doch noch in die Finger zu bekommen! Wenn ihr mich nun sozusagen rauswerft, werden sie bestimmt keine Zeit verlieren und mich schnappen! Er braucht mein Blut für das Ritual! Ich glaube nicht, dass er schon einen anderen Weg gefunden hat, zu Hanna zu gelangen, sonst hätte er es längst getan, und wenn das der Fall wäre, wüssten wir es, denn dann wäre Asmodis frei! Und das wäre nicht unbemerkt geblieben!“
Luca stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und ließ den Kopf hängen, wirkte aber nicht mehr ganz so abweisend, wie noch kurz zuvor.
„Und was machen wir, wenn sie dich haben? Was wenn wir deine Spur verlieren? Wie sieht dein Plan dann aus?“
„Ihr werdet ihn nicht verlieren. ICH werde ihn nicht verlieren!“
Alle Köpfe fuhren herum und ein rundes Dutzend Augenpaare musterten das Mädchen, das lautlos im Türrahmen aufgetaucht war. Es war Diana, und man sah ihr zwar an, dass sie litt wie ein Tier, aber gleichzeitig wirkte sie entschlossen und gefasst.
Ihre roten Haare leuchteten wie eine Flamme, und das Gleiche galt für ihren Blick, der aus ihrem blassen Gesicht loderte wie ein Fanal. Mit festen Schritten kam sie ins Zimmer und erwiderte die erstaunten Blicke, die ihr entgegengebracht wurden.
„Ich weiß,“ sagte sie, „der Gedanke an Rache sollte uns fremd sein, aber so leid es mir tut, Malus, dieser Bastard, hat Jan getötet, und das verzeihe ich ihm nicht!“ Sie blieb stehen und senkte den Blick in Lucas Augen. „Es ist mir egal, was du oder sonst jemand davon hältst! Ich sage, wir schicken Alexander los, und ich bleibe an ihm dran! Ich habe mit ihm trainiert, bevor er uns verraten hat. Er weiß, wie er mich aussperren, aber auch, wie er es mir leichter machen kann, ihn zu finden und seinen Weg zu verfolgen. Nicht wahr?“ Sie drehte sich zu dem Blonden um, der bejahte.
Meister Markus von Berching stand auf und hob die Hände.
„Moment, Moment! Nicht so schnell!“ Er sah von Einem zum Anderen. „Alexander, dein Angebot ehrt dich, aber ist dir bewusst, dass das deinen Tod bedeuten könnte, was du da vorschlägst?“ Der Angesprochene nickte ernst, und von Berching wandte sich an Luca und Diana. „Und ist euch das auch bewusst?“
Luca verschränkte die Arme und nickte ebenfalls. „Natürlich!“ knurrte er und auch Diana bejahte.
„Und ihr seid bereit, dieses Risiko einzugehen?“ Der Meister war entsetzt. „Was seid ihr? Armoritaner oder Dämonen, denen ein Menschenleben nichts bedeutet?“
Luca schwieg und schob den Unterkiefer vor, während Diana zu Boden sah. Dann jedoch blickte sie auf und sagte: „Es tut mir leid, wenn mich meine Gefühle nicht länger würdig erscheinen lassen, eine Armoritanerin zu sein, aber ich kann sie nicht einfach abstellen, und sie zu ignorieren ist mir ebenfalls nicht möglich!“ Sie legte eine Hand auf ihre Brust, und ihr Gesicht verzerrte sich, als sie fortfuhr: „Ich brenne innerlich! Noch nie habe ich etwas so sehr gewollt, wie ich jetzt Malus vernichten will! Ihn und seine verfluchte Brut! Und ob ich nun im Orden bin oder nicht, ich werde erst wieder Ruhe haben, wenn das erreicht ist!“
„Siehst du das genauso, Luca?“ wandte sich der Meister bestürzt an den Krieger, welcher seinen Blick einen Moment lang schweigend erwiderte, bevor er sagte: „Nicht ganz, Meister. Immerhin ist es der Körper des Barons, den er benutzt. Ich bin nur der Meinung, wir haben schon zu viel Zeit verloren. Alexanders Vorschlag ist alles was wir haben, und auf Dianas Kräfte ist Verlass! Das hat sie schon des Öfteren bewiesen. Wenn wir nur hier herumsitzen und darauf warten, dass die Gegenseite den ersten Zug macht, wird sich an der Situation nichts ändern und wer weiß, ob Hanna im 14. Jahrhundert nicht in Gefahr ist? Ich sage, wir sollten es versuchen!“
Resigniert sah von Berching sich in der Runde um, und nachdem noch eine weitere Stunde über die genaue Vorgehensweise gestritten worden war, willigte er schließlich schweren Herzens ein.
Als endlich alle die Bibliothek verließen, bildeten Diana und Luca den Schluss, und das Mädchen hielt den Krieger am Arm zurück. Eindringlich sah sie ihn an und fragte: „Worum geht es dir hierbei? Um Alexander oder um Hanna?“ Er blinzelte überrascht, dann verfinsterte sich sein Blick wieder. „Was meinst du damit?“ gab er zurück. „Natürlich geht es um Hanna. Was aus Alexander wird, ist mir egal. Er ist ein Verräter. Seinetwegen wäre Hanna beinahe schon einmal getötet worden, und es ist seine Schuld, dass Jan gestorben ist, oder etwa nicht?“
Diana erwiderte seinen Blick ohne mit der Wimper zu zucken und entgegnete: „Hanna empfindet mehr für dich, als bloße Sympathie, Luca! Ich dachte, das solltest du wissen!“
Er machte einen Schritt rückwärts. „Hat sie dir das so gesagt?“ wollte er dann wissen, doch das rothaarige Mädchen schüttelte verneinend den Kopf. „Hat sie nicht. Aber wenn man die Blicke sieht, die sie dir zuwirft... Nur glaubt sie, dass du sie nicht ausstehen kannst, weil du dich so dämlich aufführst. Und dabei hast du doch auch was für sie übrig, nicht wahr?“
Luca wusste nicht, was er antworten sollte, doch Diana redete auch schon weiter. „Ich erzähle dir das deshalb, weil ich nicht möchte, dass es euch eines Tages so geht, wie mir und Jan! Ich habe zu lange auf den richtigen Moment gewartet, und jetzt kommt er nie mehr.“ Sie richtete einen verdächtig glänzenden Blick ins Leere, bevor sie weiterredete. „Aber das nur nebenbei. Was ich eigentlich sagen will ist - verzettel´ dich bei der Sache hier nicht in kleinliche Rachegelüste gegenüber Alexander! Hier geht es nur um eins: Hannas Rettung! Wenn wir zusätzlich noch Malus schaden, oder ihn vielleicht sogar vernichten könnten, wäre das mehr als toll, aber damit rechne ich nicht, noch nicht. Dafür brauchen wir all unsere Kräfte, vor allem die von Hanna, deshalb kommt es zunächst mal darauf an, unsere Sucherin zurück zu bekommen! Alles andere ist zweitrangig! Kriegst du das hin?“
Ihr Blick bohrte sich in seinen, und er nickte entschlossen. „Natürlich!“
„Gut!“ zufrieden wandte sie sich ab und marschierte aus dem Raum. Als ihre Schritte verklangen, ließ Luca sich in einen Sessel sinken und stützte den Kopf in beide Hände.
Was hatte Diana da eben gesagt? Hanna empfand mehr für ihn als bloße Sympathie?
Aber - änderte das etwas? - Nein! Hanna war nun mal die Sucherin, und die Regeln in den alten Büchern waren unerbittlich. Abgesehen davon, dass sie weit fort war und ihre Rückkehr noch längst nicht sicher, sondern nur eine vage Möglichkeit an einem fernen Horizont, gab es nach wie vor das Tabu!
Natürlich, sie wusste nichts davon. Sie war fern vom Orden aufgewachsen, zu ihrem eigenen Schutz, und ihre eigentliche Ausbildung hatte noch nicht einmal richtig begonnen. Wie sollte sie da von diesem Tabu wissen?
Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass in seinem Herzen ein Gefühl der Wärme und Freude aufkeimte, obwohl er es sofort zu unterdrücken versuchte.
Sie empfand also etwas für ihn? Einen Moment lang gestattete er sich den Tagtraum von Hanna in seinen Armen, wie sie ihn voller Liebe ansah, wie er sie berührte und küsste...
Er rief sich zur Ordnung. Diese Gedanken waren gerade jetzt mehr als unangebracht. Jetzt galt es, sich auf das vor ihnen Liegende zu konzentrieren. Mit einer ruckartigen Bewegung stand er auf und straffte die Gestalt.
Die übrigen Krieger waren sicher schon in der Sporthalle, um zu trainieren und er beschloss, ebenfalls dort hin zu gehen. Der bevorstehende Kampf würde sicher kein Zuckerschlecken, denn sie hatten keine Ahnung, mit wie vielen Dämonen sie es zu tun bekommen würden. Da war es wichtig, die Stärken und Schwächen der einzelnen Krieger zu kennen und sich aufeinander einzuspielen.
Alexander würde in der Zwischenzeit noch ein letztes Mal mit Diana üben, damit der geistige Kontakt nicht abriss, nachdem die Gegenseite ihn geschnappt hatte.
Blieb nur zu hoffen, dass sie schnell genug am Ort des Geschehens waren, sobald es ernst wurde...

*



Erstaunt blickte der Baron auf seinen Knappen, der da so unversehens vor ihm aufgetaucht war.
„Konrad? Was tust du hier?“ fragte er, und der Angesprochene verneigte sich vor seinem Dienstherrn, wie es sich gehörte. „Verzeiht, Herr von Berching, aber ich war besorgt um Fräulein Hanna. Deshalb folgte ich ihr und versteckte mich oben in der Galerie, um zu hören, was Ihr mit ihr zu bereden hattet. Wollt Ihr sie tatsächlich ganz allein fortschicken? Sie kennt die Gegend nicht und ist nur ein zartes Fräulein! Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was ihr alles zustoßen könnte!“
„Moment mal!“ ereiferte sich Hanna. „So zart bin ich nun auch wieder nicht!“
Doch keiner der beiden Männer achtete auf ihren Einwand.
„Was schlägst du also vor?“ wollte der Baron mit ärgerlichem Gesichtsausdruck wissen.
„Ganz einfach!“ entgegnete der Junge. „Lasst mich Fräulein Hanna begleiten! Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche und weiß von hundert Schleichwegen im Wald, auf denen uns garantiert niemand folgen kann!“
Von Berching verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete Konrad kritisch.
„Das kann nicht dein Ernst sein, Junge! Glaubst du wirklich, ich ließe dich, einen Knappen zweifelhafter Herkunft, allein mit Hanna gehen?“
In unverändertem Ernst kniete der Junge plötzlich nieder und sagte: „Edler Baron, ich bitte Euch, vertraut mir das Leben der Jungfer an! Ich schwöre Euch, bei allem was mir heilig ist, dass ich sie mit meinem Leben beschützen werde! Sie könnte nirgends sicherer sein, als bei mir!“
Der Baron zögerte. Seine Gemahlin war aufgestanden und an seine Seite getreten. „Mein Herr, die Zeit drängt!
Und auch wenn ich noch vor kurzem der Meinung war, Konrad sei ein Taugenichts und ein Tagedieb, so habe ich inzwischen meine Meinung geändert. Es wäre sicher gut für Hanna, jemanden an ihrer Seite zu haben, der die Gegend und auch die hiesigen Sitten und Gebräuche kennt!“ Sie schenkte ihrem Gatten einen bedeutungsvollen Blick und der verstand. „Nun ja, da mögt Ihr recht haben!“ sagte er zögerlich. In diesem Moment wurde die Tür zum großen Saal aufgerissen und Berthold stürmte herein. Mit einer kurzen Verbeugung blieb er stehen und sagte dann: „Herr Baron! Die Torwache meldet das Herannahen einer Gruppe Reiter und einer Kutsche!“
Der Baron und seine Gemahlin sahen sich an, ebenso Hanna und Konrad. Damit war die Sache entschieden.
„Das sind sie! Der Priester und sein Gefolge! Hier!“ Er griff nach dem Rucksack und drückte ihn Konrad in die Hand. „Beeilt euch! Lauft zur Seitenpforte und dann fort mit euch! Und versteckt euch gut – wer weiß, ob sie nicht Suchmannschaften ausschicken?!“
Hastig griff Konrad nach dem Gepäckstück, fasste Hanna bei der Hand und beide rannten durch die Halle zur Küche, und von dort hinaus in den Schlossgarten. Die kleine Pforte in der Mauer war kaum zu sehen, aber Konrad kannte sie offenbar, denn er steuerte sie ohne Umschweife direkt an, und in dem Moment, als er den Riegel zurückschob, erscholl vom Torweg her das Klappern von Hufen und das Knarren von Kutschenrädern.
Dann waren sie draußen, Konrad schlug die Pforte hinter sich zu, und, sie wiederum bei der Hand ergreifend und mit sich ziehend, rannte er schnurstracks über die gerodete Hügelkuppe, hinüber zum Wald.
Hanna kam nicht dazu, nachzudenken, oder sich gar zu ängstigen. Konrad hielt ihre Hand fest, und sie hatte genug damit zu tun, peitschenden Ästen und Brombeeranken auszuweichen und aufzupassen, dass sie nicht stürzte.
Erst nach einer ganzen Weile, als sie bereits das Ufer des Baches erreicht hatten, blieben sie völlig atemlos stehen.
„Das war knapp!“ meinte der Junge, bückte sich und schöpfte mit der hohlen Hand Wasser, welches er durstig trank. Dann spritzte er sich eine Handvoll der erfrischenden Flüssigkeit ins Gesicht und sah sich nach Hanna um.
„Willst du auch etwas trinken?“ Doch sie stand nur stumm da und sah zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ihr Herz klopfte noch immer heftig, doch jetzt aus Furcht. Sie bildete sich ein, laute Stimmen von Verfolgern zu hören und zitterte am ganzen Leib.
Vorhin im Saal hatte sie noch empört darauf bestanden, nicht zart zu sein, doch jetzt, wo sie allein hier mitten im Wald stand und nicht wusste, was auf sie wartete, fühlte sie sich nicht nur zart, sondern auch mehr als hilflos.
„Hanna?“ Sie hörte Konrad gar nicht, starrte nur blicklos hügelaufwärts, denn plötzlich schien ihr Leben sich in den letzten Wochen nur auf diesen Punkt hin entwickelt zu haben, angefangen mit dem Verschwinden ihrer Mutter, über ihre Entführung, bis hin zu diesem Moment. Sie fühlte sich mit einem Mal wie eine Fliege im Spinnennetz, deren Zappeln einzig dazu führt, dass sie sich noch rettungsloser verstrickt.
„Hanna?“ Sie zuckte zusammen und wandte sich um. Konrad stand hinter ihr und musterte sie mit besorgtem Blick. „Können wir weiter?“ fragte er, doch sie blieb ihm die Antwort schuldig. Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie den Kopf geschüttelt.
Wozu fliehen? Es würde das Unvermeidliche doch nur hinauszögern!
Sie sah zu Boden und Konrad begriff wohl, wie es um sie stand, denn er schlang seine Arme um sie und hielt sie fest, teilte seine Wärme und seine Zuversicht mit ihr. Sie schmiegte sich in seine Umarmung, legte die Arme um ihn und gab sich dem tröstlichen Gefühl hin, nicht völlig allein zu sein.
Doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass etwas nicht stimmte.
Sie schob sich ein Stückchen von ihm weg und registrierte im selben Moment, dass auch er wachsam war.
„Was ist los?“ flüsterte sie, doch er antwortete nicht. Unwillkürlich tastete sie nach ihrem Feuer und fand eine kleine, aber heiße Flamme tief in sich. Vorsichtig schickte sie ihre Sinne aus, und im nächsten Augenblick krümmte sie sich unter einer Welle der Übelkeit.
„Hanna?“ Konrad war beunruhigt, ließ sie aber nicht völlig los. Noch immer sah er sich aufmerksam um, weil auch er die Bedrohung spürte, die sie umgab und mit unsichtbaren Händen nach ihnen griff.
„Was ist das?“ fragte er, doch sie war inzwischen zu Boden gestürzt, lag auf allen Vieren und schnappte nach Luft, von der es plötzlich viel zu wenig zu geben schien. Sie erinnerte sich, dass sie schon einmal etwas Ähnliches erlebt hatte, kurz vor ihrer Entführung. Damals hatte Christian, ihr Halbbruder sie gefunden und zurück in ihr Zimmer gebracht. Später hatte sich herausgestellt, dass Malus von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Hieß das, er war schon vorher in der Gewalt des Dämons gewesen und sie hatte es gespürt? Und bedeutete das dann, dass auch jetzt Dämonen in der Nähe waren? Mit aller Gewalt kämpfte sie um einen klaren Kopf, stemmte sich hoch und sah sich nach allen Seiten um, doch der Wald sah vollkommen friedlich aus. Der kleine Bach plätscherte fröhlich wie schon die ganze Zeit, die Vögel in den Bäumen zwitscherten, und eine leichte Sommerbrise bewegte raschelnd die Blätter.
Doch jetzt nahm sie ein Geräusch wahr, das nicht hierher passte. Ein Summen, wie von einem wütenden Bienenschwarm, das immer lauter wurde und nun gab es für Hanna keinen Zweifel mehr, dass Dämonen dahintersteckten.
Dieses Geräusch hatte die ersten beiden Angriffe auf sie begleitet, daran erinnerte sie sich nur zu gut.
Mit einer überraschend energischen Bewegung machte sie Anstalten, Konrad hinter sich zu schieben. Doch der wollte sich das nicht gefallen lassen, denn seine Weltanschauung gebot ihm etwas Anderes, und so wehrte er sich, fasste sie um die Taille und zog sein kurzes Schwert, während er sich weiter umschaute.
Und dann ging plötzlich alles rasend schnell. Die Umgebung verschwamm, die Luft schmeckte nach heißem Metall, und sie versanken gemeinsam in einem wirbelnden Strudel aus Farben.
Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten und ihr Blick sich klärte, sahen sie sich umringt von einer ganzen Gruppe Menschen.
Hanna schaute sich um, erblickte Holzwände, einen Altar, darauf eine leblose, blutige Gestalt, die ihr vage bekannt vorkam, flackernde Kerzen und – ihren Halbbruder, welcher sie mit einem ordinären Grinsen musterte und nach ihr griff.
Mit einer raschen Handbewegung zeichnete er etwas auf ihre Stirn, und sie stellte fest, dass ihr eigener Wille davonflatterte wie Spreu im Wind.
Sie stand reglos da und starrte Malus ins grinsende Gesicht, der sich jetzt ihrem Begleiter zuwandte. Konrad hatte sich erstaunlich schnell gefasst und mit gezückter Klinge eine Verteidigungshaltung eingenommen.
„Wen hast du denn da mitgebracht, Schwesterherz?“ lachte Malus. „Sag´ nur, du hast dir im 14. Jahrhundert einen kleinen Verehrer angelacht? Das ist ja süß! Aber du wirst verstehen, dass wir ihn loswerden müssen. Er ist lästig.“ Lässig schnippte er mit den Fingern, und die umgebenden Gestalten drängten vor.
Doch noch bevor Konrad den ersten Hieb austeilen konnte, erfüllten plötzlich hastige Schritte die Luft, Rufe wurden laut, und plötzlich waren sie da – Luca und Diana, Noah und einige fremde Krieger, deren Schwerter im Kerzenschein aufblitzten. Noch immer konnte Hanna sich nicht bewegen und war dazu verdammt, die Rolle der Beobachterin einzunehmen. Verzweifelt bemühte sie sich, die geistigen Fesseln abzustreifen, doch sie war nicht in der Lage sich auch nur das kleinste bisschen aus eigenem Antrieb zu rühren, während um sie herum erbitter gekämpft wurde.
Die meisten Dämonen waren inzwischen geflohen oder tot, die Ordensmitglieder waren ein gut aufeinander eingespieltes Team, und auch Konrad schlug sich wacker, doch noch immer leisteten Einige erbitterten Widerstand.
Plötzlich war Malus wieder an ihrer Seite. Er hatte den Krieger, mit dem er sich soeben noch duelliert hatte, einem seiner Untergebenen überlassen und zückte jetzt den Dolch aus rötlichem Metall, den sie noch aus der Fabrikhalle kannte.
„Bringen wir es endlich hinter uns!“ knurrte er wütend und zog ihren Kopf an den Haaren in den Nacken.
Hanna riss die Augen auf, ihr Atem ging keuchend, so angestrengt kämpfte sie gegen den Bann unter dem sie stand, doch mit einer laut hervorgestoßenen Beschwörung stieß Malus das Messer nieder.


Fortsetzung folgt...

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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2011

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