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Luca wälzte sich unruhig in seinem Bett herum. Er fand nicht zur Ruhe, egal was er auch versuchte. Kein Schäfchen zählen und keine Meditation beschwichtigte den Aufruhr in seinem Inneren soweit, dass er die Augen hätte schließen und schlafen können.
Schließlich gab er es auf und schwang die Beine wieder aus dem Bett.
Einen Moment blieb er auf der Kante sitzen und fuhr sich mit den Händen durch die langen Haare.
Verdammt, er musste seine Gefühle unter Kontrolle bekommen, bevor er noch irgendetwas Dummes tat!
Aber vor allem musste er endlich schlafen!
Er stand auf, mit dem Vorsatz, sich in der Küche ein Glas Milch mit Honig zu holen, denn er erinnerte sich, dass ihm das in seiner Kindheit des Öfteren geholfen hatte, wenn er aus irgendeinem Grund nicht einschlafen konnte.
Da er der sommerlichen Wärme wegen nur eine Pyjamahose trug, streifte er ein Shirt über und verließ sein Zimmer. Zielstrebig ging er den Flur hinunter, bis er zu Hannas Tür kam. Er war schon fast daran vorbei, als er plötzlich stutzte.
War das nicht eine Männerstimme, die da von drinnen zu hören war?
Es war so spät, dass man schon fast wieder von früh sprechen konnte. Was machte also ein Mann um diese Zeit in Hannas Zimmer? Oder hatte er sich getäuscht?
Er schlich näher und horchte. Was er hörte, ließ ihm das Blut in den Adern stocken – das waren eindeutig Beschwörungen, in der gleichen Sprache, die er vor einigen Tagen in der Fabrikhalle gehört hatte!
Er fasste nach dem Türgriff und wollte eintreten, doch es war abgeschlossen.
Wütend und verzweifelt rüttelte er an der Klinke und schlug mit der Faust gegen das Türblatt.
„Hanna!“ rief er, doch drinnen war alles still geworden.
Er sah ein, dass das nichts brachte. Er musste sich auf andere Weise Zutritt verschaffen!
Mit seinem gesamten Gewicht warf er sich gegen die Tür, aber obwohl das Holz leise knirschte, hielt es dennoch stand.
Immer wieder Hannas Namen rufend, wiederholte er das Manöver, doch das Einzige, was er erreichte war, dass zwei weitere Türen auf dem Gang geöffnet wurden, aus denen Jan und Noah mit schlaftrunkenen Gesichtern und zerzausten Haaren auftauchten.
„Was is´n das für´n Krach? Was machst du denn da?“ wollte Noah wissen und gähnte.
„Ich muss da rein!“ gab Luca zurück, ohne in seinen Bemühungen inne zu halten.
„Was? Wieso?“ fragte Noah verdutzt. „Es ist praktisch mitten in der Nacht! Wenn du mit Hanna reden willst, tu´ das doch zu einer etwas zivileren Zeit, okay? Hier wollen manche Leute gern noch ein bisschen schlafen und außerdem ist das vielleicht nicht gerade der richtige Weg mit jemandem ins Gespräch zu kommen - um diese Zeit an ihre Tür zu poltern, oder? Kein Wunder dass sie dich nicht reinlässt!“
Luca drehte den Kopf und blaffte: „Ich will nicht mit ihr reden, ich hab´ da drin eine Stimme gehört! Irgendjemand ist bei ihr! Jemand, der Beschwörungen murmelt! Da stimmt was nicht! Also hilf mir lieber!“
Jan schaltete sich ein: „Beschwörungen?“
„Ja, Mann! Was ist jetzt? Helft ihr mir nun endlich?“ Luca warf sich ein weiteres Mal gegen die Tür.
Jan und Noah tauschten einen verwunderten Blick, dann gesellte sich Jan zu Luca und nachdem sie gemeinsam noch ein paar Mal gegen das Holz geprallt waren, hörte man ein lautes Splittern und neben dem Schloss entstand ein gezackter Riss. Daraufhin schob Jan den Dunkelhaarigen beiseite, hob einen Fuß, und mit zwei festen Tritten sprengte er die Tür vollends auf.
Sofort drängte sich Luca an ihm vorbei und stürmte ins Innere des Raumes.
Das Bett war benutzt, die Decke hing halb auf dem Boden, doch der Raum schien leer zu sein. Luca schaute sich überall um, hob sogar die Decke und spähte unters Bett, jedoch ohne eine Spur von Hanna zu finden. Jan ging unterdessen ins angrenzende Bad, kam aber gleich darauf schulterzuckend zurück. „Da ist sie nicht!“ meinte er.
„Und hier im Zimmer auch nicht.“ sagte Luca düster. „Also hat sie jemand entführt!“
Jan sah ihn überrascht an. „Die Tür war von innen abgeschlossen! Wie sollte das zugegangen sein?“
Der Dunkelhaarige erwiderte seinen Blick grimmig. „Ich hab´ doch gesagt, hier drin murmelt jemand Beschwörungen! Das war ein Dämon, oder ein Mensch mit magischen Kräften!“
„Und was denkst du, wie dieser Jemand hier reingekommen sein soll? Hast du den Bannkreis ums Schloss vergessen?“ Noah lehnte im Türrahmen und blickte verwirrt auf das zerwühlte Bett.
Da erklangen hastige Schritte im Gang, und Sekunden später tauchte Ludwig auf, im Morgenmantel, außer Atem und mit zerzausten, grauen Haaren.
„Herr Luca!“ keuchte er und hielt sich am Türrahmen fest. „Die Klingel! …. Der Baron! ….. Fräulein Theresa!“
Er konnte keinen zusammenhängenden Satz hervorbringen und stand offensichtlich völlig neben sich.
„Beruhigen Sie sich erst mal, Ludwig!“ Luca legte dem alten Mann eine Hand auf die Schulter. „Und dann erzählen sie uns alles der Reihe nach!“ Noch immer heftig schnaufend nickte der Diener, und als er wieder etwas ruhiger atmete erklärte er: „Ich war schon im Bett, als ich die Klingel von Fräulein Hanna hörte. Da bin ich rasch aufgestanden und wollte dem Herrn Baron Bescheid geben, wie es ausgemacht war. Aber der gnädige Herr war nicht in seinem Schlafzimmer und genauso wenig in der Bibliothek oder dem Salon. Da dachte ich, er wäre vielleicht bei Fräulein Theresa, weil er und sie ... naja..." Der ältere Mann stockte und warf einen verlegenen Blick in die Runde bevor er weitersprach. "Also eilte ich zu ihrem Zimmer, aber auf mein Klopfen antwortete niemand und ich bemerkte, dass die Türe nur angelehnt war. Ich trat ein und da..." Erneut hielt er inne. "Fräulein Theresa lag auf dem Bett, sie sah furchtbar aus, und einen Moment lang dachte ich, sie wäre tot!“ Er atmete tief durch, während die Blicke der jungen Leute fassungslos an ihm klebten. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr fort: „Nun, sie lebt, aber sie ist ohne Bewusstsein. Bitte kommen Sie mit mir mit, und sehen Sie nach ihr!“
In Lucas Kopf wirbelte alles durcheinander. Was sollte er jetzt tun? Das war alles zu viel auf einmal! Hanna verschwunden, Theresa aus irgendeinem mysteriösen Grund bewusstlos, der Baron nicht auffindbar!
Er spürte, wie die Blicke der Anderen an ihm hingen und rief sich selbst zur Ordnung. Sie verließen sich darauf, dass er als Ältester etwas unternahm, also sollte er das wohl auch besser tun!
„Jan!“ wandte er sich an den zweiten Krieger. „Geh´ und hol´ Diana! Noah – du kommst mit mir! Wir treffen uns alle bei Theresa! Ich habe so eine dumpfe Ahnung, dass ihre Bewusstlosigkeit mit dem Verschwinden von Hanna zusammenhängt. Das kann unmöglich Zufall sein! Später müssen wir noch das Schloss und das Gelände absuchen, falls der Meister bis dahin nicht auftaucht. Vielleicht macht der Baron einen Spaziergang?“
Die Angesprochenen nickten, nur Ludwig meinte skeptisch: „Der gnädige Herr ist ein absoluter Gewohnheitsmensch. Um diese Zeit würde er niemals einen Spaziergang machen! Ihm ist sicher etwas zugestoßen!“
Gemeinsam mit dem Diener und Noah trabte Luca den Flur hinunter bis zu Theresas Zimmer, stieß die angelehnte Tür auf und trat ein.
Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn einen Augenblick lang zögern, bevor er ans Bett trat und vorsichtig nach der Hand der Hüterin fasste.
Sie lag völlig nackt auf ihrem zerwühlten Bett, leichenblass und vollkommen reglos, sodass er verstand, was Ludwig gemeint hatte. Hätte er nicht einen schwachen, schnellen Puls unter ihrer kalten, schweißbedeckten Haut gespürt, hätte er sie tatsächlich für tot halten können.
Ihre Kleider waren im Zimmer verstreut, nur ihre Bluse lag ausgebreitet auf ihr, und Luca vermutete, dass Ludwig dies getan hatte, um ihre Würde wenigstens ansatzweise zu wahren. Das Bettzeug war nicht nur zerwühlt, sondern auch teilweise zerfetzt, und auch auf Theresas Haut waren einzelne, blassrote Kratzspuren wie von scharfen Fingernägeln zu sehen.
Behutsam tätschelte Luca ihr die Wange und rief sie beim Namen, doch es erfolgte keine Reaktion.
Schnelle Schritte und aufgeregte Stimmen waren zu hören, und er sah auf. Diana und Jan betraten den Raum, und das Mädchen starrte mit angstgeweiteten Augen auf die bewusstlose Hüterin.
„Was ist denn los mit ihr? Was hat sie?“ wollte sie wissen, doch Luca zuckte die Schultern.
„Vorläufig weiß ich nur, dass sie bewusstlos ist. Sieht fast so aus, als wäre sie angegriffen worden. Außerdem ist Hanna verschwunden, und der Baron wird ebenfalls vermisst. Ich schlage vor, Du bleibst hier bei Theresa, während wir uns aufteilen und das Gelände absuchen. Eins der Hausmädchen soll Dir helfen, das Zimmer in Ordnung zu bringen und Theresa zu versorgen. Noah, Du und Jan, Ihr durchsucht das Schloss, ich gehe mit Ludwig nach draußen! Und noch eins,“ er hob den Finger und wies auf die Beiden, „bleibt zusammen! Wir haben keine Ahnung, was heute Nacht hier passiert ist, aber es spricht vieles dafür, dass ein oder mehrere Dämonen es ins Schloss geschafft haben! Deshalb dürfen wir kein unnötiges Risiko eingehen und müssen auf alles gefasst sein!“

*



Hanna fand sich im festen Griff des Dämons und hatte das übelkeiterregende Gefühl blitzschnell durch eine Art trockenen Strudel gezogen zu werden. Trotzdem kämpfte sie mit aller Kraft gegen die Umklammerung, mit der der Dämon sie an sich gepresst hielt. In höchster Not brachte sie schließlich ruckartig ein Knie nach oben und rammte es ihm kraftvoll in die Weichteile.
Mit einem gedämpften Laut ließ er die Luft aus seinen Lungen entweichen und krümmte sich zusammen, wobei sein Griff sich lockerte. Hanna spreizte rasch die Arme, und es gelang ihr tatsächlich, sich zu befreien. Im gleichen Moment schlugen sie hart auf dunklen, felsigen Boden auf, und sie war einen Augenblick lang benommen.
Dann jedoch registrierte sie mehrere Dinge gleichzeitig: einen kalten, unangenehm trockenen Wind, der ihr die langen Haare ins Gesicht wehte, ein seltsam düsteres Tageslicht, ohne eine erkennbare Quelle und die Tatsache, dass der Dämon sie losgelassen hatte und sich stattdessen etwa einen Meter von ihr entfernt am Boden wälzte.
Eilig rappelte sie sich auf und vergrößerte die Distanz zu ihrem Entführer so weit es ging, doch das war nicht viel. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie sich auf einer Art Insel befand. Sie blickte sich gehetzt um, und anstelle von Wasser sah sie eine schwarze, rieselnde Oberfläche, ständig in Bewegung, so als wären Millionen von Geschöpfen darunter, die herumwuselten, als warteten sie nur darauf, dass ein unvorsichtiges Lebewesen es wagte und ihnen zu nahe kam.
Sie drehte sich um sich selbst, und dabei fiel ihr Blick auf den einzigen Bewohner der Insel, welcher gleichzeitig ihr Gefangener war und Hanna stumm, mit brennendem Blick beobachtete.
Ohne es zu merken, war sie ihm bis auf wenige Meter nahe gekommen und wich jetzt instinktiv wieder zurück.
Es war die riesige Kreatur, welche sie in der Fabrikhalle für einen Sekundenbruchteil gesehen hatte, ein Geschöpf wie aus einem Alptraum.
Wie bei dem Bild in der Ordenschronik erinnerte vieles an eine ägyptische Sphinx, doch das Gesicht erschien ungleich furchterregender. Die roten Pupillen in den mitleidlosen Augen waren schlitzförmig und erinnerten an eine Schlange, und als sich die Lippen in der widerliche Parodie eines Lächelns teilten, erkannte Hanna scharfe Reißzähne dahinter.
Das musste Asmodis sein, mit glühenden Ketten an den Boden gefesselt und bebend vor Hass, das spürte sie.
Noch immer hatte sie ein merkwürdiges Gefühl der Leere in der Brust, als sie automatisch nach ihrem Feuer tastete. Kein Flämmchen, nicht einmal ein einziger Funke war zu spüren! Mit anderen Worten: Sie war dem Höllenfürsten und seinem dämonischen Diener hilflos ausgeliefert!
Da hörte sie ein Knirschen hinter sich und fuhr herum.
Der Dämon in Gestalt ihres Halbbruders hatte sich aufgerappelt und war zu ihr gekommen, ein breites Grinsen im Gesicht.
„Wie ich sehe, hast du meinen Meister bereits kennengelernt!“ sagte er, dann verbeugte er sich tief vor der Ausgeburt der Hölle und wies mit einer Hand auf das Mädchen: „Meister! Wie versprochen bringe ich dir die Sucherin der Armoritaner!“
Der Höllenfürst hob den Kopf, so weit es seine Fesseln erlaubten, und seine Stimme dröhnte über die Insel und das schwarze Meer.
„ENDLICH! NACH SO VIELEN JAHRHUNDERTEN! DU BIST EIN WÜRDIGER DIENER, MALUS! JETZT BRING´ SIE ZU MIR! ICH BIN BEGIERIG DARAUF, IHR BLUT ZU TRINKEN UND ENDLICH WIEDER FREI ZU SEIN!“
Hanna stockte der Atem.
So wollte sie nicht sterben!
Mit einem raschen Sprung brachte sie sich außer Reichweite, als der Dämon nach ihr griff, sodass seine Hände ins Leere fassten und er wütend knurrte.
„Lass´ die Mätzchen! Hier entkommst du mir sowieso nicht!“ Hanna stand mit dem Rücken zum Ozean, rechts von ihr befand sich Asmodis, und zur Linken rückte Malus näher. Verzweifelt sah sie sich um, doch es gab keinen Ausweg. Mit einem großen Schritt überwand der Dämon den letzten Meter zwischen ihnen, schlang seine Arme mit triumphierendem Lachen um das Mädchen, packte sie im Genick und drehte ihr einen Arm auf den Rücken.
„So und nun vorwärts!“ zischte er und schob sie trotz ihrer heftigen Gegenwehr in Richtung des wartenden Höllenfürsten.
Der hatte in freudiger Erwartung das Maul bereits geöffnet, seine Flügel waren halb entfaltet, und die Klauen an den Hinterbeinen scharrten unruhig im Fels.
Doch plötzlich geschah etwas Seltsames - die Luft um sie herum begann zu wabern, fühlte sich schmierig an, und dann hatte Hanna erneut das Gefühl, in einen Strudel gesogen zu werden.
Wieder stieg Übelkeit in ihr auf, und sie registrierte nur am Rande, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie hörte den wütenden Aufschrei von Asmodis, der sich um seine schon sicher geglaubte Beute gebracht sah und spürte Malus´ Überraschung.
Dieser war es wohl auch zu danken, dass es ihr relativ leicht gelang, seine Hände abzuschütteln und ihn von sich weg zu stoßen.
Gleich darauf stürzte sie in ein grünes Chaos, schoss wie ein Stein durch krachende Äste und streckte instinktiv die Hände aus, um sich irgendwo festzuhalten. Schließlich gelang es ihr, ein paar stärkere Zweige zu packen, es gab einen Ruck und dann baumelte sie einige Meter über der Erde in einem riesigen, alten Baum.
Keuchend blickte sie sich um und sah nichts als Bäume um sich herum. Sie war also in einem Wald gelandet...
Aber nicht in einem der freundlichen, übersichtlichen Wälder, wie sie sie kannte, nein, dieser Wald machte einen abweisenden, wilden Eindruck. Ein Wald, der den Menschen nicht brauchte und ihn höchstens zeitweise duldete.
Die Bäume waren knorrig, viele davon moosbehangen, und alle möglichen Arten an Laub- und Nadelbäumen wuchsen wild durcheinander. Hanna sah junge Schösslinge, kräftige, starke Stämme und alte, halb umgestürzte Veteranen, die gut und gerne 100 Jahre oder mehr auf dem Buckel haben mochten. Dazwischen vermoderten auf dem Waldboden einzelne tote Exemplare, fast schon überwuchert vom üppig sprießenden Farnkraut und anderem Unterholz. Durch die dichten Kronen fiel wenig Licht bis dort hinunter, und die Strahlen der Sonne blitzten nur spärlich durch die in einer warmen Brise raschelnden Blätter. Von irgendwo hörte Hanna das leise Plätschern von Wasser und entdeckte gleich darauf einen kleinen Bach, der sich zwischen den Farnkräutern hindurchschlängelte.
Von Malus war nichts zu sehen oder zu hören, das wertete sie als positiv, doch zuallererst sollte sie wohl zusehen, dass sie von dem Baum hinunterkam!
Sie war nicht übermäßig sportlich, aber auch kein Schwächling. Mühsam hangelte sie sich von Ast zu Ast, bis sie den Stamm erreicht hatte und machte sich dann an den Abstieg. Kurze Zeit später stand sie, zwar reichlich schmutzig und mit ein paar Schrammen, aber mit heilen Knochen unter dem Baum und sah sich aufmerksam um.
Außer Vogelgezwitscher, dem Geräusch des Baches und dem Hämmern eines Spechtes war alles still.
In welche Richtung sollte sie jetzt gehen?
Sie sah an sich herab. Der ehemals weiße Schlafanzug war inzwischen ziemlich grün und auch ihre Hände und die nackten Füße starrten vor Schmutz.
Sie zuckte die Schultern.
Wen interessierte das?
Der Gedanke an ihren Halbbruder drängte sich in ihr Bewusstsein. Was war mit ihm? Hatte Malus ihn noch in seiner Gewalt? Und falls ja, ob es ihm wohl gut ging?
Mit Gewalt schob sie diese Gedanken beiseite, die halfen ihr nicht, sondern hinderten sie lediglich am klaren Denken.
Sie war Malus und Asmodis mit knapper Not entkommen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie das zugegangen war. Jetzt musste sie zurück zum Schloss und die Anderen warnen, das war alles was zählte! Immerhin war es gut möglich, dass der Dämon in Gestalt des Barons dort auftauchte, und dann waren alle in Gefahr! Er hatte den Bannkreis einmal überwunden, warum sollte es ihm nicht noch einmal gelingen?
Ob sie sich wohl in der Nähe des Schlosses befand? Oder war sie irgendwo im unbekannten Nirgendwo gelandet?
Sie stand in einem Wald, der zu ihrer Rechten in sanften Wellen anstieg, also bestand zumindest die Möglichkeit, dass es sich um den Wald rund um Schloss Blaustein handelte. In dem Fall wäre es vermutlich besser, bergauf zu laufen, um es heraus zu finden?
Möglicherweise stieß sie auf diese Weise auch bald auf einen Weg, der sie bequemer weiter hügelaufwärts brachte, vorläufig aber musste sie sich durch Unterholz und Gestrüpp kämpfen und war nur froh, dass der moosbedeckte Boden einigermaßen weich war, solange sie darauf achtete, wohin sie trat.
Tatsächlich gelangte sie nach einer Weile auf eine Art Weg, der jedoch aus nicht mehr als zwei ausgefahrenen Spuren bestand. Verwirrt runzelte Hanna die Stirn. Die beiden Fahrrinnen waren kaum mehr als eine Hand breit, lagen höchstens einen guten Meter auseinander und die Räder, welche hier zuletzt den Waldboden aufgewühlt hatten, schienen ebenfalls nicht breiter als ein paar Finger zu sein. Profile waren auch nicht zu erkennen, nur eine glatte, schmale Spur.
Welche Art von Fahrzeug hinterließ eine solche Spur?
Das Mädchen zuckte die Achseln. Zumindest schien der Pfad regelmäßig benutzt zu werden, daher folgte sie ihm mit raschen Schritten bergauf.
Nach ein paar Biegungen lichtete sich der Wald allmählich, und plötzlich hörte sie menschliche Stimmen irgendwo vor sich. Sie legte noch einmal an Tempo zu, und als sie um die nächste Kurve gehuscht war, lag nicht nur das gesuchte Schloss unverkennbar vor ihr, sondern auch eine kleine Gruppe von Menschen, die einen hoch beladenen Karren in Richtung Tor schoben und sich dabei fröhlich unterhielten.
Doch das war es nicht, was Hanna innehalten und hinter einem Strauch Deckung suchen ließ, sondern die merkwürdige Kleidung der Leute.
Es waren zwei Männer und eine Frau und während die Frau einen weiten, gefältelten Rock von unauffälliger bräunlicher Farbe, ein geschnürtes Leibchen, darunter ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und auf dem Kopf eine weiße Haube trug, steckten die Männer in braunen, eng sitzenden Beinlingen und locker fallenden, hellen Hemden, die um die Hüften mit je einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurden, an welchen verschieden Gegenstände befestigt waren, darunter ein Lederbeutel und eine Messerscheide.
Was waren das für Leute? Wieso trugen sie solche seltsame Kleidung?
Und dann der Karren! Er hatte hohe Holzräder und die beiden Männer bewegten ihn fort, indem der Eine vorne an einer Art Deichsel zog und der Andere von hinten schob.
Hannas Blick wanderte weiter, fiel auf das Schlosstor.
Wo war die gekieste Auffahrt?
Und seit wann wehten Flaggen von den Zinnen herunter?
War das überhaupt das richtige Schloss?
Sie strengte die Augen an und entdeckte das Wappen an der Mauer über dem Eingang. Kein Zweifel, es war das Schloss der Armoritaner.
Aber warum sah es so anders aus?
Ihr Gedankengang wurde durch gedämpften Hufschlag unterbrochen, noch bevor sie in Deckung gehen konnte, tauchte hinter ihr eine Gruppe Berittener auf, und der Erste zügelte sein Pferd direkt vor Hanna. Sie machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts, begriff aber, dass eine Flucht sinnlos war und blieb stehen. Der Reiter blickte erstaunt auf das Mädchen herab, und sie musterte ihn mit großen Augen.
Genau wie die meisten seiner Begleiter trug der Anführer kniekurze, bestickte Hosen und darunter eine Art … Strumpfhosen?
Von denen war allerdings wenig zu sehen, da die Unterschenkel in hohen Schaftstiefeln steckten. Seine restliche Bekleidung bestand aus einem weißen Hemd und einem kurzen, roten Mantel, der locker auf die Schenkel fiel, aufwendig bestickt und mit Pelz verbrämt. Darunter saß eine enge Weste aus grünem Samt, und um die Taille war ein aufwendig verzierter Ledergürtel geschnallt, an welchem eine kostbare Schwertscheide befestigt war. Auf dem Kopf saß ein flaches Barett, von dessen Krempe ein paar lange Fasanenfedern wippten, und an den Händen trug er schön gearbeitete Handschuhe aus feinem, weichem Leder.
Auch wenn Hanna keine Ahnung hatte, wo sie sich befand, oder was das alles zu bedeuten hatte, war ihr bei seinem Anblick sofort klar, dass sie es offensichtlich mit einem Mann von Stand und Ansehen zu tun hatte. Dazu trug allerdings auch seine Haltung und sein Blick bei, welche eindeutig zu einem Mann gehörten, der es gewohnt war zu befehlen.
Unter dem Barett rutschten ein paar vorwitzige, blonde Haarsträhnen hervor, die mit einer ärgerlichen Handbewegung beiseite gestrichen wurden.
Rauchgraue Augen und ein sorgfältig gestutzter Kinnbart ergänzten das Bild, und Hanna meinte im ersten Moment ihren Halbbruder vor sich zu haben, so groß war die Ähnlichkeit.
„Christian?“ stammelte sie unversehens, und er zog die Brauen zusammen, während sein irritierter Blick an ihrer Gestalt hinab und wieder hinauf wanderte.
„Wer bist du und was willst du hier?“ fragte er in barschem Tonfall und riss Hanna damit in die Wirklichkeit zurück. Rasch kniff sie sich ins Bein, und als der Schmerz ihr signalisierte, dass sie tatsächlich nicht träumte, spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
Sie stand barfuß und im Schlafanzug vor diesem Fremden, noch dazu völlig zerrauft und verdreckt! Was er wohl jetzt von ihr denken musste!?
„Ähm, … ich … also, das ist so....“ stotterte sie, und einer seiner Begleiter schob sich neben den Anführer.
„Herr, meint Ihr nicht, sie könnte eine Hexe sein, oder eine Dämonin? Seht nur, ihr seltsames Gewand, das den Körper kaum verhüllt, und klare Worte vermag sie auch nicht zu äußern!“
Doch der Angesprochene hob die Hand, bedeutete ihm zu schweigen und wandte sich erneut an Hanna, diesmal allerdings mit der Hand am Schwertgriff.
„Also, ich frage dich noch ein letztes Mal, bevor ich dich von meinen Leuten in Gewahrsam nehmen lasse! Wer bist du?“ Hanna erschrak, als er die Klinge aus der Scheide zog und sie vom Pferd herab auf sie richtete.
„Hanna! Ich heiße Hanna!“ stieß sie hastig hervor. „Und was tust du hier, Hanna? Ich kenne alle Leute aus dem Dorf, und dich habe ich hier noch nie gesehen!“ Seine Augen waren misstrauisch zusammen gekniffen und Hanna überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte, denn sie hatte nicht vor, mit der Wahrheit ins Haus zu fallen.
„Ich habe mich verlaufen!“ brachte sie schließlich heraus, denn etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen, so durcheinander wie sie noch immer war.
„So, verlaufen?“ Der Blonde war skeptisch und sein Schwert rührte sich nicht von der Stelle. „Wo wolltest du denn hin?“ Hanna senkte den Kopf und überlegte. Er hatte davon gesprochen, alle Leute aus dem DORF zu kennen...
Wieso eigentlich DORF? Die nächste Ortschaft war doch Bad Blaustein, die kleine Stadt, oder?
Plötzlich kam ihr ein schockierender Gedanke, der ihr den Atem raubte. Er schien ihr ungeheuerlich, geradezu unglaublich, aber er würde in der Tat alles Seltsame erklären, was ihr bisher begegnet war.
Was, wenn sie bei der Rückkehr von der schwarzen Insel nicht nur einen anderen Ort, sondern auch eine andere ZEIT erreicht hatte? Ihr wurde einen Moment lang schwindlig, und sie schloss kurz die Augen.
Vage war sie sich bewusst, dass der blonde Edelmann noch immer sein Schwert auf sie richtete und auf eine Antwort wartete. Mühsam riss sie sich zusammen.
„Blaustein.“ sagte sie heiser und dann etwas lauter: „Ich wollte nach Blaustein.“ Hatte der Ort schon in alter Zeit so geheißen? Sie wusste es nicht, hoffte aber, dass dem so war.
„Nun, du stehst vor Burg Blaustein. Insofern hast du dich nicht verlaufen. Und was willst du hier?“
Hanna sah auf. Wenn dies hier das Schloss war, in dem weiß Gott wie viele Jahrhunderte später der Orden der Armoritaner sein Quartier hatte, war es dann vielleicht möglich, dass dies hier der frühere Anführer der Truppe war? Womöglich ein Nachkomme Alrics und damit ein Vorfahre von Christian und – ihr selbst? Und hatte nicht sein Begleiter eben von Hexen und Dämonen gesprochen? Wenn sie nur eine Ahnung gehabt hätte, welches Jahr geschrieben wurde...!
Sie schluckte den Angstklumpen in ihrer Kehle hinunter. Diese Männer kannten sie nicht, und sie machten nicht den Eindruck, als würden sie lange fackeln. Wenn sie eine falsche Antwort gab, war sie so gut wie tot!
„Ich suche den Orden der Armoritaner.“ sagte sie bemüht ruhig. „Ich wurde von einem Dämon namens Malus entführt, mit dem Ziel, den Höllenfürsten Asmodis zu befreien. Wir waren bereits bei ihm, doch dann zog uns etwas fort. Ich fiel und schließlich landete ich hier. Das ist die Wahrheit.“ Sie überlegte einen Moment, dann fügte sie ein „Herr!“ hinzu.
Es war still. Keiner der Männer rührte sich, doch schließlich stieg der Anführer von seinem Pferd und überwand die Entfernung zwischen ihnen mit einem raschen Schritt. Sein Schwert nach wie vor kampfbereit in der Hand, fasste er ihr Kinn und hob ihr Gesicht empor, sodass er in ihre Augen sehen konnte.
„Wir nehmen sie mit!“ entschied er dann, ließ sie los und saß wieder auf. Bevor Hanna noch etwas sagen konnte, trieb einer der Männer sein Pferd zu ihr, fasste nach ihrem Arm und zog sie vor sich auf den Sattel. Es war unbequem, doch das Schloss lag ja direkt vor ihnen und nur wenige Augenblicke später hallte das Klappern der Hufe von den Mauern des Torweges wider.

*




Eine Lichtung im Wald, unweit des Schlosses. Auf dem geglätteten Boden ein Pentagramm, flackerndes Feuer und Menschen auf den Knien. Eine Gestalt stand hoch aufgerichtet in ihrer Mitte, sprühend vor Zorn.
„Verdammt, Kata! Wenn wir diesen Körper nicht noch brauchen würden, würde ich dich augenblicklich in der Luft zerfetzen!“ schäumte er. „Wenn du schon ein Ritual durchführst, dann mach´ es wenigstens richtig und wenn du dir nicht sicher bist, dass du es kannst, lass´ es gefälligst bleiben!“
Bei seinen letzten Worten versetzte er der Frau, die vor ihm am Boden lag wuchtige Schläge und Tritte, die sie mit schrillem Wimmern erwiderte.
„Gnade, Meister! Wir hatten Angst ohne deine Führung! Nur deshalb haben wir die Beschwörung durchgeführt!“
„Ja, das ist auch alles was ihr könnt!“ schnauzte Malus. „Angst haben und stümperhafte Beschwörungen durchführen! Verflucht!“ Noch einmal trat er zu, und die Frau zuckte zusammen, als seine Schuhspitze ihren Bauch traf, stöhnte aber nur leise.
„Ich war so dicht dran!“ schrie er unbeherrscht und ging mit ruckartigen Schritten auf und ab. „Wenn du dieses hirnrissige Ritual nicht abgehalten hättest, wäre die Sucherin jetzt tot und Asmodis frei! Das hätte den Untergang für die Armoritaner bedeutet! Aber so ist das Mädchen irgendwo in der Zeit verschwunden! Sie hat sich von mir losgerissen und ist weiß der Teufel in welchem Jahrhundert gelandet! Wie sollen wir sie jetzt wiederfinden? Sie könnte überall sein! Verflucht!“ Er blieb stehen und blickte auf die gesenkten Köpfe seiner Untergebenen.
Wie viele mochten sie sein? Ein Dutzend vielleicht? Er schnaubte verächtlich. Damit würde es eine halbe Ewigkeit dauern, eine ordentlich Suche durchzuführen. Plötzlich fiel sein Blick auf den jungen Mann, der von den Armoritanern zu ihnen übergelaufen war, Alexander. Er war also noch immer bei ihnen! Ein böses Lächeln stahl sich in seine regelmäßigen Züge, und er legte den Kopf schief. Ein Ritual hatte seine Pläne durchkreuzt, ein weiteres würde alles wieder gerade rücken!
Das Blut dieses Verräters würde ihm helfen, zu erfahren, was er wissen wollte!

*



In einem hohen Lehnstuhl sitzend döste Luca vor sich hin. Seit fast 48 Stunden war er jetzt auf den Beinen, und wenn ihm auch nach nichts weniger zumute war, als schlafen zu gehen, ließ die schiere Erschöpfung seine Augen doch immer wieder zufallen. Aufgestört von wüsten Traumbildern schrak er stets nach wenigen Minuten wieder hoch, aber Diana hatte es nach seiner letzten, reichlich rüden Weigerung aufgegeben, ihn wegschicken zu wollen.
Seit dem frühen Morgen, nachdem eine gründliche Durchsuchung des Schlosses und des gesamten Geländes ergebnislos geblieben war, hockte er schweigend hier in Theresas Zimmer und wartete, dass sie zu sich kam.
Ihre Bewusstlosigkeit war inzwischen tiefem Schlaf gewichen, und da auch langsam die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte, machten sie sich alle große Hoffnungen, dass dies bald geschehen würde.
Luca hatte sämtliche Bediensteten weggeschickt um sie nicht zu gefährden, außer Ludwig, der sowieso nicht gegangen wäre. Außerdem hatte er beim nächsten Ordenshaus angerufen, um weitere Instruktionen zu erhalten.
Dort war man über die Neuigkeiten sehr bestürzt, und der dortige Meister hatte sich umgehend zusammen mit zwei Kriegern auf den Weg gemacht, um seinen Ordensbrüdern beizustehen. Gegen Mittag waren sie eingetroffen und hatten überdies ihren eigenen Hüter, der ebenfalls in der Heilkunde bewandert war mitgebracht.
Dieser hatte Theresa untersucht und war der Meinung, dass sie von selbst wieder zu sich kommen werde, man müsse ihr nur Zeit und Ruhe gönnen. Was ihr genau zugestoßen war, hatte er jedoch auch nicht sagen können, hielt aber genau wie Luca einen Dämonenangriff und eine zeitweilige Besessenheit für durchaus wahrscheinlich.
Da Theresa die Einzige war, die vielleicht Licht in die mysteriösen Geschehnisse bringen konnte, warteten nun alle mehr oder weniger untätig auf ihr Erwachen.
Diana hatte versucht Hannas Gedanken zu finden, doch ganz gleich wie weit sie sich diesmal öffnete, blieb das Ergebnis gleich Null. Also war die Sucherin entweder an einem weit entfernten Ort, oder tot, obwohl das keiner laut aussprach.
Trotzdem war die Stimmung im Schloss gedrückt, und keiner redete mehr als unbedingt nötig.
Inzwischen dämmerte bereits der nächste Morgen herauf, und als die ersten zaghaften Sonnenstrahlen durchs Fenster fielen, regte sich die zierliche, schwarzhaarige Frau im Bett und schlug langsam die Augen auf.
Einen Moment verharrte sie reglos, dann flog ihre Hand an den Hals und sie schrak im Bett hoch.
„Christian!“ rief sie mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht, sah sich mit wildem Blick um und gewahrte Diana und Luca, die beide bei ihrem Erwachen aufgesprungen waren. Die Rothaarige legte begütigend ihre Hand auf die Schulter der Hüterin, doch die machte Anstalten aufzustehen. „Wo ist er? Geht es ihm gut? Ich muss zu ihm!“ Energisch schüttelte Theresa die Hand ab, doch als sie in die Senkrechte kam, sackten ihre Beine unter ihr weg und Luca machte einen raschen Schritt, um sie aufzufangen. Wie eine Gliederpuppe hing sie schlaff in seinem festen Griff und ließ sich widerspruchslos zurück aufs Bett setzen.
„Langsam, Süße! Du bist noch nicht so fit, wie du denkst!“ mahnte Diana und Luca nickte. All seine Müdigkeit schien wie weggeblasen, und er ging vor Theresa in die Knie, die sich mit fahrigen Händen durch das kurze Haar strubbelte.
„Hör´ zu, Theresa, wir sind auf deine Erinnerungen angewiesen! Hanna und der Baron sind verschwunden und wir konnten bisher keine Spur von ihnen finden! Du musst uns sagen, was dir passiert ist! Bist du angegriffen worden? Kannst du dich erinnern, was hier los war?“
Theresas Augen waren groß geworden, als er erwähnte, dass die Sucherin und der Meister verschwunden waren, doch jetzt füllten sie sich mit Tränen, und sie vergrub das Gesicht in den Händen, während sie sich leise stöhnend nach vorn beugte.
„Oh, nein!“ jammerte sie. „Großer Gott, nein! Das darf einfach nicht sein!“ Tränen rannen zwischen ihren Fingern hervor, und sie wiegte sich vor und zurück. Diana schob Luca nun entschlossen beiseite. „Lass´ mich das lieber machen! Du hast doch ein Gemüt wie ein Fleischerhund!“
Sie setzte sich neben die Hüterin, legte ihr einen Arm um die Schultern und streichelte sie sanft, wie ein trauriges Kind. Lucas ungeduldige Miene übersah sie dabei geflissentlich. „Ist ja gut, Schatz, wein´ dich ruhig aus. Und wenn du dich ein bisschen beruhigt hast, erzählst du uns alles, okay?“
Theresa ließ sich in Dianas Umarmung ziehen und schluchzte verhalten, doch nach kurzer Zeit richtete sie sich entschlossen auf, wischte sich übers Gesicht und meinte: „Mein Geheule hilft niemandem und später ist dafür noch genug Zeit. Was ihr jetzt braucht, sind Informationen!“ Sie holte tief Atem. „Also, ich erinnere mich, dass ich zur Apotheke gefahren bin, und als ich wieder zurück zum Wagen wollte, stand da ein kleines Mädchen.
Sie weinte, und ich habe sie gefragt, ob ich ihr helfen kann. Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist, aber irgendwie war ich plötzlich in meinem eigenen Kopf nur noch Zuschauer! Es war, als ob man mich... in mir selbst eingesperrt hätte! Ich konnte nur noch beobachten, aber nicht mehr eingreifen! Erst als ich zum Schloss zurückkam, lockerten sich diese geistigen Fesseln etwas. Es war, als würde ich nach vorn geschoben und da habe ich ihn endlich erkannt, meinen Gefängniswärter. Es war Malus! Dieser widerliche Bastard hat mich benutzt, um die Barriere zu überwinden, und danach hat er mich sofort wieder eingesperrt! Am Abend hat er meinen Körper benutzt, um Christian zu verführen, und ihr wisst selbst, dass ein Dämon einen Menschen beim Sex am einfachsten übernehmen kann!“ Sie wurde rot bei ihren Worten und senkte den Blick. Diana strich ihr tröstend über die Hand.
„Mit anderen Worten – Malus hat den Meister übernommen und dann vermutlich Hanna entführt.“
Luca richtete sich auf und drehte sich weg. „Das ist so ziemlich der Super-Gau.“ Er legte eine Hand in den Nacken und massierte sein schmerzendes Genick. „Also gut, ich informiere Meister Markus. Wir müssen beraten, was zu tun ist. Ruh´ du dich weiter aus. Ich habe das Gefühl, es gibt bald jede Menge für dich zu tun!“

*



Im Schlosshof angekommen, rutschte Hanna vom Pferd und wurde sofort wieder am Arm gepackt. Die Männer waren allesamt muskulös und kräftig, und der Griff um ihren Bizeps glich mehr einer Umklammerung, sodass erst gar kein Gedanke an Gegenwehr aufkam. Flankiert von zwei weiteren Männern, der blonde Edelmann vorneweg wurde sie über den Hof geführt, dann die Treppe hinauf und durch die Halle.
Neugierig sah sie sich um. Alles sah aus wie sie es in Erinnerung hatte und doch wieder völlig anders.
Der eigentliche Hof bestand aus festgestampftem Lehm, und an der Mauer entdeckte sie mehrere Verschläge. Aus einem davon hallten laute, metallisch klingende Schläge und Hanna begriff, dass es sich um die Schmiede handelte. Dafür sprach auch der dicke, beißende Rauch, der an einer Seite herausquoll. Ein paar Mägde trugen Körbe mit Brennholz und Gemüse zum Hauptgebäude, musterten sie im Vorbeigehen unverhohlen und steckten kichernd die Köpfe zusammen. Sie sah für deren Augen vermutlich ziemlich lächerlich aus …!
Aus den Stallungen, die noch im Urzustand waren und Tiere beherbergten anstelle einer Sporthalle, drang gedämpftes Wiehern, und Hanna sah noch, wie die übrigen Reiter sämtliche Pferde hinüberführten, wo sie von eifrigen Stallknechten in Empfang genommen wurden.
In der Halle war der größte Kontrast zu ihrer Erinnerung sichtbar. Die Wände bestanden aus nacktem, glatt behauenem Stein und waren mit großen, bestickten Wandteppichen geschmückt. Dazwischen sah sie vereinzelt gekreuzte Schwerter mit Schilden davor, ein paar Hirschgeweihe, Bären- und Wildschweinköpfe. Von der Decke hing ein riesiger, kreisrunder Leuchter aus schwarzem Metall an einer schweren Kette, in dessen zahlreichen Halterungen unzählige Kerzen flackerten und die Düsternis des hohen Raumes erhellten.
Die große Freitreppe war jedoch bereits vorhanden, und über sie stürmte jetzt ein blonder Junge von vielleicht acht Jahren herunter, dem eine hochgewachsene, schwarzhaarige Frau folgte, welche sichtlich hochschwanger war und vor der sich die Begleiter des Edelmannes ehrerbietig verneigten. Sie trug ein kostbares, blaues Samtkleid, mit weiten Ärmeln, welches ihre leuchtenden, blauen Augen betonte und dessen Säume rundum mit Stickereien und Pelz eingefasst waren. Der weite Ausschnitt ließ die zarte Haut ihres Brustansatzes und eine aufwendige, goldene Halskette sehen, in welche ebenfalls blaue Edelsteine eingearbeitet waren. Ihr Haar lag als fester Kranz um ihre Stirn und ihr schmales Gesicht strahlte, als sie des Blonden ansichtig wurde. Dieser eilte zu ihr hinauf, fasste behutsam nach ihrer Hand und hob sie zärtlich an seine Lippen.
„Meine Liebe, Ihr seht bezaubernd aus!“ sagte er. „Ich hoffe, Ihr befindet Euch wohl und auch unser zukünftiges Kind bereitet Euch nicht allzu viel Beschwernis?“ Lächelnd legte die Edeldame eine Hand auf ihren gerundeten Leib und erwiderte: „Macht Euch keine trüben Gedanken meinetwegen, mein Herr und Gemahl! Lasst mich Euch versichern, dass ich mich wohl befinde und höchstens ungeduldig auf den Tag warte, da unser Kind sich endlich entschließt, sein Quartier zu verlassen!“ Sie sah zu seinen Begleitern und Hanna hinunter und ihr Lächeln verblasste. „Doch sagt, wen bringt Ihr da in mein Haus? Dies scheint mir kaum eine angemessene Gesellschaft?“
Ihr Gatte drehte sich um, ohne ihre Hand los zu lassen und sagte: „Betrübt Euch nicht, meine Liebe. Dieses Geschöpf fanden wir draußen vor dem Tor und sie sprach davon, von einem Dämon verfolgt worden zu sein. Sie sucht die Armoritaner und da wir unser Tun nicht laut in die Welt posaunen und sie zudem nicht von hier stammt, beschloss ich, sie Pater Anselm vorzustellen. Er soll prüfen, womit wir es hier zu tun haben! Danach soll sie uns erzählen, woher sie von uns weiß und was genau hinter ihrer Geschichte steckt. Keine Angst – das Schicksal meines Vaters wird sich nicht wiederholen!“ Beruhigend drückte er ihre Finger und wandte sich dann dem Jungen zu, der sichtlich ungeduldig darauf gewartet hatte, dass er die Aufmerksamkeit bekam, welche ihm zustand. Lächelnd ging der Edelmann in die Knie und schloss den Jungen in die Arme.
„Und du, mein Sohn? Was hast du getan, während dein Vater in der Welt unterwegs war? Hast du dich in der Waffenkunst geübt, wie es sich für einen von Berching geziemt?“ Eifrig nickte der Knabe und sprudelte stolz hervor: „Ja, Herr Vater! Berthold ist sehr zufrieden mit mir! Und er hat mich auf Konrad reiten lassen!“
„Ist das so? Das sind großartige Neuigkeiten! Ich sehe, du wirst bald an meiner Seite reiten, nicht wahr?“ Aus dem Gesicht des Vaters leuchtete der Stolz und die Liebe für seinen Sohn, als er sich aufrichtete. Mit einer Hand fuhr er ihm durchs Haar und sagte dann zu seiner Gemahlin: „Meine Liebe, solange ich mit unserem Gast bei Pater Anselm weile, nimm unseren Sohn mit in die Frauengemächer und bleibt dort, bis ich Euch holen lasse!“ Sein Ton war freundlich, aber ernst, und ohne seine Entscheidung auch nur im Geringsten anzuzweifeln, streckte die Dame eine Hand nach dem Jungen aus, rief ihn beim Namen und beide stiegen die Treppe wieder hinauf, während Hanna weiter durch die Halle geführt wurde, bis zu einer massiven Holztür mit breiten Beschlägen. Ohne anzuklopfen öffnete der Blonde beide Türflügel, und gleich darauf atmete Hanna die weihrauchgeschwängerte Luft eines kleinen, prunkvoll ausgeschmückten Raumes, an dessen Wänden religiöse Malereien Auskunft über die sakrale Bestimmung der Örtlichkeit gaben.
Alle Männer tauchten ihre Finger beim Eintritt in ein kleines Weihwassergefäß und bekreuzigten sich ehrfürchtig.
Durch zwei schmale Fenster fiel gedämpftes Sonnenlicht in die kleine Kapelle, die nur über sechs schmale Bänke verfügte und am vorderen Ende einen niedrigen Altar und ein geschnitztes Kruzifix an der Wand darüber aufwies.
Davor entdeckte Hanna eine knieende Gestalt in einer dunklen Kutte, die sich beim Geräusch der Männerstiefel auf dem Boden erhob und nach dem Schlagen des Kreuzes zu ihnen umwandte. Beim Näherkommen erkannte Hanna in ihm eindeutig einen rothaarigen Mönch, groß, schlank, mit glatt rasiertem Kinn, Tonsur und einem hölzernen Kreuz an einer dünnen Lederschnur um den vogelartigen Hals.
„Euer Gnaden!“ Er neigte kurz den Kopf und sah ihnen dann aufmerksam entgegen. „Wen bringt Ihr mir an diesen geweihten Ort?“ Er bekreuzigte sich ein weiteres Mal und spähte Hanna misstrauisch ins Gesicht.
„Seid unbesorgt, Bruder Anselm, die wackeren Streiter der Armoritaner stehen Euch bei, während Ihr diese Kreatur in Augenschein nehmt! Seht sie genau an und sagt uns, ob womöglich ein Dämon in ihr steckt, oder ein anderer Geist des Bösen!“
Hanna wurde nach vorn geschoben und stand dann dicht vor dem Mönch, welcher einen Geruch verströmte, wie ein schlecht gelüftetes Zimmer und sie nun skeptisch musterte. Flüchtig flatterten Geschichten über die Hexenverfolgung durch Hannas Geist. Würden die Männer sie womöglich foltern? Oder sogar eine sogenannte Hexenprobe durchführen, an deren Ende die vermutete Hexe entweder als überführt galt oder tot war? Ihr Puls beschleunigte sich, als der Kuttenträger um sie herum zu gehen begann und sie stumm betrachtete.
Vor Angst wagte sie kein Wort zu sagen und hielt die Luft an, bis der Mönch seinen Rundgang beendet hatte und wieder vor ihr stand. „Nun, Euer Gnaden, für mich sieht sie aus, wie ein gewöhnliches Frauenzimmer, wenn auch ihre Kleidung ungewöhnlich, um nicht zu sagen äußerst unschicklich ist. Doch das könnte natürlich täuschen, wie wir alle wissen. Ich werde sie daher einer untrüglichen Probe unterziehen und ihr die heilige Kommunion geben. Wenn sie dieses unbeschadet übersteht, ist es bewiesen, dass sie zumindest kein dämonisches Weib ist!“
Als der Angesprochenen nickte, wandte sich der Mönch zum Altar und entnahm einem silbernen Hostienbehälter mit ehrfürchtigen Gesten eine einzelne Oblate, reckte sie mit demütig gesenktem Haupt zum Kruzifix empor und wandte sich dann erneut Hanna zu.
Der waren vor Erleichterung fast die Knie weich geworden. Als der Mönch von einer „untrüglichen Probe“ gesprochen hatte, war ihr fast das Herz stehen geblieben, doch als sie dann hörte, was er vorhatte, war sie mehr als dankbar und sandte ein schnelles Stoßgebet zum Himmel.
Nachdem der Priester nun mit der Hostie vor ihr stehen blieb, senkte sie demütig den Kopf und machte einen Knicks. Dann öffnete sie den Mund und Pater Anselm platzierte die Oblate mit einem lateinischen Segenswort auf ihrer Zunge. Hanna schloss die Lippen und betete stumm. Mit ihrer Mutter war sie regelmäßig zur Kirche gegangen, fühlte sich also nicht fremd bei dieser Prozedur.
Die Männer beobachteten sie stumm, doch als nichts Aufsehenerregendes geschah, entspannte sich die Atmosphäre spürbar.
„Sie ist kein Dämon und steht auch unter keinem teuflischen Einfluss!“ verkündete der Mönch, und Hanna öffnete, sich umwendend die Augen.
Fragend schaute sie zu dem Edelmann, und der kam mit neugierigem Gesicht auf sie zu.
„Also, ein Dämon oder eine Hexe bist du nicht, sondern zweifelsfrei ein Mensch, Hanna.“ Sein Blick wanderte ein weiteres Mal an ihr hinunter und wieder hinauf und er schmunzelte. „Nun, so begierig ich auf deine Geschichte bin, glaube ich doch, du solltest zunächst vom Schmutz befreit werden und geziemende Kleidung erhalten. Danach leiste uns im Saal Gesellschaft, iss und trink´ mit uns, und dann erzähle uns alles!“
Er nickte seinen Männern zu, drehte sich um und verließ mit langen Schritten die Kapelle.
Einer der Zurückgebliebenen fasste Hanna erneut am Arm und führte sie hinaus, eine Treppe hinunter, und kurz darauf standen sie in einer gewaltigen Küche, mit mehreren offenen Feuerstellen, gewaltigen Bratspießen und Kesseln und geschäftig hin und her eilenden Menschen. Die Luft roch nach Essen und Schweiß, und als ihr Begleiter nun eine junge Magd herbeiwinkte, sah Hanna, dass dem Mädchen das Wasser in Strömen über Gesicht und Arme rann.
Mit knappen Worten erteilte der Krieger ihr den Auftrag, Hanna zu baden und einzukleiden. Das Mädchen nickte, griff nach zwei Eimern, die sie mit heißem Wasser aus einem Kessel füllte und bat Hanna dann, ihr zu folgen.
Gemeinsam verließen sie die hitzegeschwängerte Küche durch eine Hintertür und gingen über den Hof zu einer schmalen Tür, die in einen düsteren Raum führte. Licht fiel nur durch zwei schmale Schlitze hoch oben in der dicken Mauer. In der Mitte des Raumes stand ein Badezuber, und auf einem kleinen Tisch lagen Bürsten, Schwämme, gefaltete Leinentücher und ein unförmiger Klumpen bereit, welchen Hanna am ehesten für eine Art Seife hielt.
Die Magd deutete mit freundlichem Lächeln auf den Zuber und kippte ihre beiden Eimer hinein.
„Bitte, zieht Euch aus, während ich kaltes Wasser hole.“ Hanna tat wie ihr geheißen und kaum hatte sie sich entblättert, als sich plötzlich einer der beiden Fensterschlitze verdunkelte und eine Jungenstimme rief: „Haha! Ich kann dich sehen! Du bist nackt! Haha!“ Erschrocken versuchte Hanna ihre Blöße mit den Händen zu bedecken, und da verschwand auch schon, wer immer da vor dem Fenster hockte. Sie hörte die zeternde Stimme der Magd, welche vom Brunnen zurückgekehrt den Unverschämten scholt und verscheuchte.
Gleich darauf kam das Mädchen wieder herein und schleppte zwei volle Eimer mit kaltem Brunnenwasser mit sich, welche sie nun ebenfalls in den Zuber goss. „Verzeiht bitte! Er ist unverschämt und hat keinerlei Manieren, dieser Lümmel! Ich verstehe ja nicht, warum der Baron ihn und seine Familie hier wohnen lässt. Gut, sein Vater ist ein großartiger Schmied, aber der Junge ist ein richtiger Taugenichts! Er interessiert sich nicht das kleinste Bisschen für das Handwerk seines Vaters, redet stattdessen immer nur davon, als Ritter in den Dienst des Barons zu treten!“ Sie lachte. „Als ob so ein armer Schlucker je Ritter werden könnte! Es will ihn ja noch nicht einmal einer der anderen Ritter als Knappen haben!“ Sie schüttelte immer noch lachend den Kopf und fühlte mit der Hand die Wassertemperatur. „Bitte versucht einmal, ob es Euch so angenehm ist!“
Hanna steckte die Fingerspitzen ins Wasser, und als sie nickte, forderte die Magd sie auf, in den Bottich zu steigen.
Ihr war etwas beklommen zumute, vor einer fremden Person nackt in ein Bad zu steigen, aber sie wagte keinen Widerspruch. Außerdem gab sich das Mädchen so unbefangen und plauderte fröhlich drauflos, dass Hannas Anspannung bald wich und sie das warme Wasser und die kundigen Hände der Magd, die sie von oben bis unten wusch, zu genießen begann.
Nicht zuletzt erfuhr sie so auch einiges. Das Schloss gehörte dem blonden Edelmann, Arnulf von Berching, welcher es zu neuer Blüte geführt hatte. Sein Vater war Alric von Berching gewesen, und bei der Erwähnung dieses Namens horchte Hanna auf. Zu dessen Lebzeiten hatte ein Dämon das Land terrorisiert und schließlich sogar die Gemahlin des Ritters befallen. Das war eine traurige Geschichte, über die niemand gerne sprach, fuhr das Mädchen in seinem Geplapper fort. Angeblich hatte die Edeldame unter dem Einfluss des Dämons sogar ihren eigenen Sohn getötet! Das Mädchen schüttelte mit traurigem Gesicht den Kopf und fuhr dann fort: „Aber Alric ist es gelungen, den Dämon auszutreiben und zu verbannen. Allerdings hat seine Gemahlin sich später selbst getötet. Meine Großmutter hat mir davon erzählt, deshalb muss es wahr sein! Aber er hat ja noch einmal eine neue Frau gefunden, später. Er war nicht mehr jung, aber er hat einen prachtvollen Sohn von ihr bekommen, unseren Herrn Baron!“ erzählte sie stolz. „Und der hat ja bereits auch einen Sohn, der später einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten kann!“
„Was macht er denn so, der Herr Baron?“ Die Magd sah sie verständnislos an. „Was er macht?“ Hanna sah sich zu einer Erklärung genötigt. „Ich meine, womit verdient er seinen Lebensunterhalt?“ Die Augen der Magd wurden noch größer, dann begann sie zu lachen. „Fürwahr, Ihr seid in der Tat nicht von hier! Was denkt Ihr denn, was er tut? Er verwaltet das Land, das sein Vater ihm hinterlassen hat, und er dient dem Kaiser, indem er die Grenze bewacht, die an unserem Land entlang läuft. Deshalb ist er oft unterwegs und ein tapferer Kämpfer!“
Hanna wurde rot. Naja, sie hatte eben keine Ahnung, was so ein Edelmann im 14. Jahrhundert den lieben, langen Tag so trieb. Da fiel ihr ein, dass sie noch immer nicht wusste, in welchem Jahr genau sie sich befand. Ob sie einfach fragen sollte? Sie gab sich einen Ruck. „Welches Jahr haben wir eigentlich genau?“
Die Magd zog die Brauen hoch und Hanna biss sich auf die Lippe. Verflixt! Hätte sie doch nur nicht gefragt.
„Nun, Ihr scheint mir ein wenig verwirrt.“ sagte das Mädchen. „Seid Ihr überfallen worden und habt vielleicht einen Schlag auf den Kopf bekommen?“ Mit hochrotem Kopf, aber erleichtert nickte Hanna, und die Magd schien zufrieden. „Das erklärt einiges!“ sagte sie. „Aber da müsst Ihr vorsichtig sein, dass Ihr nicht noch später üble Folgen davon habt! Wir schreiben das Jahr 1369 und Kaiser Karl der IV. regiert. Aber nun lasst mich noch Euer Haar waschen, Ihr seht fürwahr aus, als wärt Ihr unter die Räuber gefallen!“
Gehorsam ließ sich Hanna die Haare ausspülen und mit Seife einschäumen. Die Finger des Mädchens waren geschickt, und als sie eine Beule ertastete, die sich Hanna wohl im Wald beim Sturz durch die Bäume geholt hatte, bestätigte das in ihren Augen die Geschichte von dem Überfall.
Hanna hatte zwar ein schlechtes Gewissen ob der Lüge, war aber trotzdem erleichtert bei dem Gedanken, dass es der Magd nun gewiss nicht mehr seltsam vorkam, was sie für Fragen gestellt hatte.
Nachdem auch ihr Haar gewaschen und ausgespült war, zog sich das Mädchen zurück mit der Ankündigung, saubere Kleider besorgen zu wollen. Hanna blieb so lange in der Wanne liegen und ließ die Geschehnisse der letzten Stunden im Geist Revue passieren. Wie lange war es jetzt wohl her, dass Malus in der Gestalt ihres Bruders in ihr Zimmer gekommen war und sie mitgenommen hatte?
Sie hatte keine Uhr, schätzte allerdings, dass es nicht mehr als vier oder fünf Stunden sein konnten.
Ob man im Schloss ihr Verschwinden schon bemerkt hatte?
Die Tür öffnete sich, und die Magd kam zurück, mit einem ganzen Arm voller Stoff.
„Die gnädige Frau hat mir eines ihrer abgelegten Kleider für Euch gegeben! Seht nur, das wird euch ausgezeichnet stehen!“ Sie hielt ein aufwendig gearbeitetes Kleid aus dunkelgrünem Samt hoch, welches mit goldfarbigen Borten verziert und auf dem Mieder kuunstvoll bestickt war. Der Saum war mit Pelz besetzt, und Hanna schien es unglaublich, dass sie etwas so Wertvolles tragen sollte.
„Für mich? Das kann ich doch nicht annehmen!“ sagte sie mit weit aufgerissenen Augen, doch das Mädchen setzte eine belustigte Miene auf. „Aber sicher könnt Ihr das! Die Herrin hat es seit ihrer ersten Schwangerschaft nicht mehr getragen, weil es ihr nicht mehr passt. Seitdem lag es in einer Truhe in der Abstellkammer. Es riecht noch ein wenig muffig, obwohl ich jedes Jahr frische Kräutersäckchen hineinlege. Ich hoffe, das stört Euch nicht?“
Hanna schüttelte den Kopf, noch immer ganz benommen von der Aussicht, dieses wunderschöne Kleidungsstück tragen zu dürfen. Auf Geheiß der Magd stieg sie aus dem Zuber und ließ sich abtrocknen. Danach wurde sie zuerst in ein Leinenhemd gehüllt, darüber kam ein helles Unterkleid aus einem feinen, leichten Stoff und dann das feine Samtgewand.
Die Ärmel öffneten sich am Ellbogen und fielen wie schwere Blütenkelche über ihre Unterarme bis zu den Händen, das Mieder lag eng an und betonte die Figur, wobei es etwas ungewohnt war, das eigene Dekollete derart hervorgehoben zu sehen. Der Rock dagegen fiel wieder weit und locker bis zu den Füßen, und Hanna kam sich ganz fremd vor, als sie ein paar Schritte durch den Raum machte. Zuletzt reichte die Magd ihr ein paar leichte grüne Schuhe, die der Farbe nach wohl zu dem Kleid angefertigt worden waren und ein wenig zu locker saßen, was sie aber nicht störte.
Mit in die Hüften gestemmten Armen begutachtete das Mädchen kritisch ihren Schützling und nickte dann zufrieden. „Ja, so könnt Ihr Euch sehen lassen! Nur Euer Haar müssen wir noch zähmen!“
Sie bugsierte Hanna auf einen Hocker und griff nach einem Kamm. Anfangs ziepte und zerrte es fürchterlich, doch nach etwa einer halben Stunde hatte das Mädchen die feuchten Strähnen nicht nur entwirrt, sondern auch noch zwei goldfarbene Bänder in ebenso viele dicke Zöpfe eingeflochten, diese kunstvoll um Hannas Kopf gelegt und festgesteckt.
„Nun seid Ihr hübsch genug, um selbst an der Tafel des Kaisers Platz zu nehmen!“ meinte sie stolz und reichte Hanna einen Handspiegel. Ungläubig betrachtete diese ihr Gesicht, welches durch die hochgesteckten Haare ganz verändert wirkte, viel erwachsener.
„Gefallt Ihr Euch?“ fragte die Magd und Hanna nickte errötend. Daraufhin nahm das Mädchen ihr den Spiegel wieder ab und meinte: „Dann folgt mir jetzt, bitte! Die Herrschaften speisen bereits, und der Herr hat Anweisung gegeben, dass Ihr ihnen Gesellschaft leisten sollt.“
Hanna folgte der Magd gehorsam über den Hof zurück zur Küche und von dort wieder durch die Halle. Es überraschte sie wenig, als sie merkte, dass das Mädchen den Raum ansteuerte, der auch in der Neuzeit noch als Speisesaal genutzt wurde und aus dessen geöffneter Tür bereits lautstarke Fetzen einer angeregten Unterhaltung zu hören waren.
Als sie eintrat, verstummten die Tischgespräche, und Hanna wagte kaum, sich umzusehen. Sie blieb in der Tür stehen, bis die Baronin aufstand und ihr mit wohlwollender Miene entgegen schritt.
„Bitte, Hanna, tritt näher und nimm an meiner Seite Platz. Mein Gemahl war so freundlich, mir zu berichten, wie er dich draußen vor dem Tor gefunden hat und was du ihm erzählt hast. Nun bin ich genauso neugierig wie er zu erfahren, woher du kommst und warum du uns gesucht hast! Bitte setz´ dich, iss und trink´ und befriedige unsere Wissbegier mit deiner Geschichte!“
Sie nahm Hanna beim Arm und führte sie an die langgestreckte Tafel, an welcher Baron von Berching und seine Männer vor gut gefüllten Zinntellern saßen. Auf der mit einem dicken Tuch bedeckten Tafel standen Platten mit gebratenen Hühnern, Schüsseln mit einem dicken Eintopf, gekochtes Gemüse und ein breites Brett mit mehreren Weißbroten. Ein Diener stand hinter dem Hausherrn bereit und hielt eine große Zinnkanne in den Händen.
Hanna sank neben die Baronin auf eine Holzbank und registrierte, dass die versammelten Männer noch immer schwiegen und sie neugierig musterten, was ihr die Röte ins Gesicht trieb.
Schüchtern sah sie auf, und die Edelfrau, die wohl begriff, was in ihr vorging, nahm einen Napf und füllte ihn mit einer großzügigen Portion des Eintopfs. „Hier, mein Kind! Iss! Du siehst hungrig aus!“
Dankbar nahm Hanna ihren hölzernen Löffel und begann zu essen. Erstaunt bemerkte sie, dass die zähe Speise wider Erwarten gut schmeckte, nach einer Vielzahl von Kräutern und frischem Gemüse und plötzlivh heißhungrig leerte sie ihre Schüssel bis auf den Grund. In der Zwischenzeit setzte die Unterhaltung am Tisch wieder ein und als sie den Eintopf verzehrt hatte, legte die Baronin ihr schmunzelnd vom gebratenen Huhn vor, dazu Gemüse und eine dicke Scheibe Brot. Erneut machte Hanna sich mit gesundem Appetit über die Speisen her, und als zum Nachtisch kandierte Früchte hereingebracht wurden, griff sie auch dort zu. Zu trinken reichte man ihr einen Becher mit gewürztem Wein, und erst als sie trank, merkte sie, wie durstig sie war.
Dann endlich war sie satt, und aus den Blicken der Umsitzenden schloss sie, dass sie nun allmählich ihre Geschichte erzählen musste.
Da fragte der Baron auch schon: „Nun, Hanna, wir sind unseren Pflichten als Gastgeber dir gegenüber wohl gerecht geworden. Nun erzähle uns also deine Geschichte! Was hast du mit den Armoritanern zu schaffen? Und welcher Dämon verfolgte dich?“
Sie sah in die ernsten Gesichter der Männer und begann: „Der Name des Dämons ist Malus. Er dient Asmodis und will ihn befreien. Deshalb hat er mich schon zweimal entführt, um mich zu töten, denn mein Blut soll dem Höllenfürsten die Freiheit bringen. Das erste Mal befreite mich der Orden, doch gestern Abend kam er im Körper meines Halbbruders in mein Zimmer und verschleppte mich auf eine seltsame Insel, wo Asmodis gefangen ist. Kurz bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, zog uns etwas fort von dieser Insel. Ich schüttelte Malus ab und landete dort draußen im Wald, allein, ohne den Dämon. Keine Ahnung, wohin es ihn verschlagen hat, aber ich glaube, wenn er in der Nähe wäre, hätte er sich bereits gezeigt.“
Alle hatten mit mehr oder weniger ungläubigen Gesichtern zugehört, der Baron hatte eine Hand ans Kinn gelegt und strich sich nachdenklich durch den Bart.
„Warum wollte dieser Dämon unbedingt dein Blut? Du sagst, er wollte Asmodis befreien, aber wieso sollte gerade dein Blut dieser Kreatur die Freiheit bringen?“
Sie senkte den Kopf. „Mein Halbbruder ist Baron Christian von Berching und ...“ Weiter kam sie nicht, denn der Baron stellte mit einem Knall seinen Trinkbecher ab und stand auf. „Was redest du da?“ donnerte er.
„Es gibt keinen Baron Christian von Berching! Der Einzige von Berching mit dem Titel Baron bin ich, Arnulf von Berching! Ich rate dir, uns keine Lügen zu erzählen!“ Die übrigen Anwesenden redeten aufgeregt und laut durcheinander.
Hanna war zusammengezuckt und sah ängstlich zu ihm auf. „Ich schwöre, es ist die Wahrheit! Baron Christian von Berching ist einer Eurer Nachfahren, edler Herr! Auf irgendeine mir unbekannte Weise reiste ich durch die Zeit zurück und landete hier bei Euch.“
Der blonde Edelmann starrte sie an, in seiner Miene kämpften Skepsis, Neugier und glatter Unglaube um die Vorherrschaft, doch schließlich setzte er sich, nahm einen großen Schluck aus seinem Becher und gebot den Anderen mit einer herrischen Handbewegung zu schweigen.
„Du sagst, du bist durch die Zeit gereist – aus welchem Jahr kommst du?“ Hanna zögerte, denn die Antwort musste den Anwesenden unglaublich scheinen. „2010.“ sagte sie leise, und erneut erhoben die Männer des Barons ihre Stimmen, etliche standen auf und redeten mit ärgerlichen Gesten auf sie ein.
Der Baron und seine Gemahlin schwiegen und sahen sich ernst an, dann stand der Edelmann erneut auf, und das Stimmengewirr verstummte.
„2010 sagst du? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Kannst du beweisen, was du da sagst?“
Sie überlegte, schüttelte dann aber resigniert den Kopf. „Ich fürchte nicht. Alles was ich Euch geben kann, ist mein Wort, dass ich die Wahrheit sage.“
„Herr!“ mischte sich einer der Männer ein, ein grobschlächtiger Mann, mit einem roten Bart und einer schwarzen Haarmähne. „Das könnt Ihr doch nicht wirklich glauben! Sie mag ja kein Dämon und auch keine Hexe sein, doch wer sagt uns, dass sie nicht trotzdem mit dem Satan und seinen Schergen im Bunde steht und nur hier ist, um uns zu verwirren?“
„Nein, edler Herr! Ich schwöre, so ist es nicht! Ich bin Mitglied des Ordens in meiner Zeit! Zwar noch nicht lange, aber ich habe bereits erfahren, auf welche Weise der Orden gegründet wurde und welchen Zielen er dient!“ rief Hanna im Bemühen, den Baron zu überzeugen.
„Nun, dann wirst du auch verstehen, dass wir bloßen Worten nicht trauen, sondern Beweise sehen wollen. Du bist im Orden, sagst du? Das erscheint mir seltsam.“ erwiderte der Edelmann. „Weiber nehmen wir nicht in unsere Reihen auf. Sie taugen nicht zum Kampf, sind schwach und wankelmütig und dem Satan nur allzu oft ein williges Opfer.“
Er warf einen entschuldigenden Blick zu seiner Gemahlin hinüber, die ihm jedoch nicht widersprach.
In Hanna begann es zu brodeln. „Mit Verlaub, edler Herr,“ sagte sie fest, „zu meiner Zeit ist das anders. Es gibt einige Frauen unter den Armoritanern. Sie besitzen wertvolle Fähigkeiten und sind vollwertige Mitglieder des Ordens!“
Der Baron sah sie zweifelnd an. „Und was ist mit dir? Welches sind deine Fähigkeiten?“ fragte er.
„Ich bin die Sucherin, Herr.“ antwortete Hanna und sah ihm geradewegs in die Augen. Und noch während sie das tat, spürte sie plötzlich, dass der Knoten in ihrer Brust wieder da war und anschwoll. Er war so lange fort gewesen, dass sie kurz unter dem Ansturm des Gefühls schwankte, doch gleich darauf stellte sich auch das altbekannte Gefühl der Bedrohung ein. Schwach nur, aber dennoch spürbar.
Unauffällig sah sie in die Runde.
Woher kam es, ausgerechnet jetzt?
„Sucherin? Diese Bezeichnung hörte ich niemals vorher. Was muss ich mir darunter vorstellen?“ wollte der Baron wissen, und Hanna konzentrierte sich mit Gewalt auf das Gespräch.
„Ich spüre Dämonen auf und kann sie mit Feuer austreiben.“ sagte sie, und obwohl sie wusste, dass es stimmte, fühlte es sich an wie Aufschneiderei, als sie es selbst aussprach.
„Feuer?“ Er zog die Brauen in die Höhe. „Wie das?“
„Nun, ich...“ Sie runzelte die Stirn, als sie überlegte, wie sie es ihm am besten begreiflich machen sollte, doch sie kam nicht dazu, denn der Feuerknoten in ihrer Brust schwoll weiter an und die Bedrohung wurde so gewaltig, dass sie das Gefühl hatte, sie mit den Händen greifen zu können.
Wie eine Kompassnadel schwang sie herum, drehte ihr Gesicht dem grobschlächtigen Mann mit dem roten Bart zu, welcher vorhin gegen sie gesprochen hatte und sah, wie seine Augen zu schwarzen, lichtlosen Löchern wurden und sein Gesicht sich verzerrte.
Er sprang auf und stürzte auf die Gemahlin des Barons zu, die in plötzlichem Erschrecken die Augen aufriss, als sie das Schwert in der Faust des Mannes blitzen sah. Noch während er die Waffe zum Stoß hob, streckte Hanna ihm die Hände entgegen und ließ ohne lange zu überlegen einen Feuerstoß in seine Richtung schießen.
Und diesmal spürte sie, dass sie es richtig machte. Nicht perfekt, aber richtig. Sie gab genügend Energie in die Flammen, um den Angreifer aufzuhalten, aber nicht so viel, dass es sie sämtliche Kraft gekostet hätte.
Auf halbem Wege wurde der Dämon zurückgeschleudert, heulte schmerzerfüllt auf und landete an der gegenüberliegenden Wand, wo er in Flammen gehüllt liegenblieb. Sein Körper zuckte, verbrannte aber nicht.
Das Feuer reinigte ihn lediglich, und einen Moment später fuhr eine dunstige Gestalt aus ihm heraus und verschwand unter wütendem Jaulen nach draußen.
Das Alles war so schnell gegangen, dass keiner der übrigen Anwesenden sich gerührt hatte, und auch jetzt kam nur ganz allmählich wieder Leben in die schockierten Männer.
Der Baron hatte sich als Erster gefangen und eilte an die Seite seiner Gemahlin. Er ging vor ihr in die Knie und nahm ihre zitternde Hand. „Meine Liebste!“ sagte er mit schwankender Stimme. „Seid Ihr wohlauf? Hat Euch Berthold auch kein Haar gekrümmt?“
Die Übrigen waren aufgesprungen und zu dem reglos Daliegenden geeilt, einige zogen ihre Schwerter, und Hanna sah sich genötigt einzugreifen.
„Halt!“ rief sie, und die Männer hielten inne. „Tötet ihn nicht! Der Dämon ist fort, und er ist frei.“
Sie murrten unwillig, doch der Baron, seinen Arm schützend um seine Gemahlin gelegt rief: „Ihr habt gehört, was sie sagt und gesehen, was geschehen ist! Holt Bruder Anselm, dass er Berthold die heilige Hostie reiche. Dann werden wir wissen, ob sie recht hat und der böse Geist wirklich fort ist!“
Zwei Männer lösten sich aus der Gruppe und eilten davon.
Erst jetzt wurde Hanna so richtig bewusst, was sie soeben getan hatte. Mit zitternden Knien sank sie auf die Bank und bemerkte nur am Rande, dass die schwarzhaarige Edelfrau sich im Arm ihres Mannes soeben aufstöhnend nach vorn beugte.
„Liebste? Was fehlt Euch?“ Der Baron war sofort wieder besorgt. Seine Gemahlin stieß zischend den Atem aus und machte Anstalten, sich zu erheben. „Eine solche Frage vermögt auch nur Ihr Männer zu stellen!“ antwortete sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Lasst die Wehmutter rufen, Euer Kind drängt es auf diese Welt!“
Aufatmend streckte sie die Hand nach Hanna aus. „Reiche mir deinen Arm, mein Kind und stütze mich auf dem Weg zu meiner Kammer! Und ihr, mein Herr und Gemahl, schickt meine Kammerfrauen zu mir!“
„Sofort, Liebste!“ Mit einem flüchtigen Handkuss wandte sich der Baron um und verwandelte sich binnen Sekunden in eine Spezies, die auf dem gesamten Planeten zu allen Zeiten gleich aussah: einen werdenden Vater...
Und Hanna fand sich plötzlich als Begleitung der Gebärenden auf dem Weg zu deren Kammer.

*



Luca, Jan und die übrigen Mitglieder des Ordens, mit Ausnahme von Theresa, welche noch immer schlief, saßen zusammen in der Bibliothek des Schlosses und schwiegen. Ratlos sahen sie von Einem zum Anderen und wussten doch nichts mehr zu sagen. Stundenlang hatten sie nach jedem Strohhalm gegriffen und versucht eine Strategie zu entwickeln, um ihre Sucherin zu finden und zurück zu holen, doch mit wachsender Verzweiflung wurde ihnen klar, dass sie machtlos waren. Sie hatten keine Ahnung, ob Hanna noch lebte, oder wo sie sich befand, selbst Diana hatte keine Spur von ihr finden können, und Luca wäre am liebsten irgendjemandem an die Gurgel gegangen.
Er wusste, dass Malus sich des Meisters bemächtigt hatte und dieser Hanna unter dem dämonischen Einfluss entführt hatte, aber wäre er jetzt hier gewesen, hätte er ohne mit der Wimper zu zucken, mit ihm die Klingen gekreuzt!
Wütend schlug er mit der Faust auf die Sessellehne. „Es muss doch irgendetwas geben, was wir tun können!“
Mit flammendem Blick sah er zu Meister Markus von Berching hinüber, einem Cousin des Barons, ohne Adelstitel, aber Führer des nächstgelegenen Ordenshauses und seinem Verwandten in beinahe brüderlicher Liebe ergeben. Jetzt schüttelte er mit traurigem Gesicht den Kopf und sagte: „Es tut mir leid. Wenn du wüsstest, wie sehr!“
Plötzlich erklangen hastige Schritte in der Halle vor der Bibliothek und einen Moment später steckte einer der beiden Krieger, welche der Meister mitgebracht und die er zum Wachdienst eingeteilt hatte, das Gesicht zur Tür herein.
„Meister?“ sagte er, und der Angesprochene runzelte fragend die Stirn. „Es kommt jemand. Wir kennen ihn nicht, aber er scheint verletzt zu sein! Und er wird verfolgt!“
Alle standen auf und wenige Minuten später langten sie am Schlosstor an, wo sie sahen, dass der zurückgebliebene Krieger jemanden mit dem Schwert auf Abstand hielt, der am Boden kniete.
Die Gestalt war schmutzig, blutüberströmt und hockte zitternd und schwankend im Kies der Einfahrt.
Als die Schritte der Ankömmlinge sich näherten, hob er den Kopf und Luca blieb wie angewurzelt stehen.
Es war Alexander!


Fortsetzung folgt

Impressum

Texte: Cover: 108132_R_by_rotmabe_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich bedanke mich bei tolkiner, die einen Teil vorab gelesen und mir wertvolle Ratschläge gegeben hat!

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