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Einen Augenblick lang rührte sich keiner der Armoritaner, während die Limousine mit Hanna außer Sicht geriet, doch dann warf sich Luca herum und sprintete auf die schmale Treppe zu, die nach oben auf die Mauerkrone führte.
„Was hast du vor?“ rief Diana ihm nach, und er antwortete, ohne sich umzuwenden.
„Von da oben kann ich sie sehen, wenn sie aus dem Wald herauskommen. Wir müssen doch wenigstens mitkriegen, in welche Richtung sie fahren!“
Er erreichte die Treppe und eilte, zwei und drei Stufen auf einmal nehmend hinauf, hörte die Anderen ihm nachkommen und beugte sich über den bröckeligen Rand der Zinnen.
In seinen Ohren rauschte das Blut, und er ließ die Augen angestrengt über die Baumwipfel wandern, während er versuchte, in der zunehmenden Dunkelheit die Stelle auszumachen, wo die Zufahrt zum Schloss auf die Landstrasse stieß.
Diana, Noah und der Baron langten keuchend neben ihm an und lehnten sich ebenfalls hinaus. Alle Vier spähten hinaus, doch es war das rothaarige Mädchen, das schließlich mit dem Finger deutete und rief: „Da! Sind sie das?“
Die Männer drehten die Köpfe in die Richtung, die die ausgestreckte Hand ihnen wies.
Weit unten im Tal warfen ein Paar Autoscheinwerfer ihre Lichtlanzen voraus, und gleich darauf glühten ein paar rote Bremslichter kurz auf, als der Wagen, der soeben den Wald verlassen hatte, nach rechts schwenkte.
„Sieht so aus, als wollten sie in Richtung Stadt!“ meinte der Baron.
„Dann müssen wir auch dorthin!“ erwiderte Luca und wollte sich bereits abwenden. Von Berching jedoch hielt ihn mit einem Ruf zurück.
„Warte Luca! So einfach ist das nicht! Die Stadt ist groß, und außerdem wissen wir doch gar nicht, ob ihr Ziel wirklich dort liegt. Vielleicht fahren sie nur durch und wollen ganz woanders hin! Wir müssen einen besseren Weg finden, wenn wir Hanna helfen wollen!“
„Und welchen?“ brauste Luca auf. „Sollen wir uns hinsetzen und warten, bis sie sie getötet haben?“
„Wir helfen ihr jedenfalls ganz sicher nicht, wenn wir wie eine aufgescheuchte Hühnerhorde durch die Gegend rennen, ohne überhaupt zu wissen, wo wir nach ihr suchen sollen!“ schaltete sich Diana ein.
„Und? Was schlägst du dann vor?“ wollte Luca aufgebracht wissen.
Beide schwiegen.
„Diana könnte versuchen, ihre Gedanken aufzuspüren.“ sagte der Baron in die plötzlich eingetretene Stille hinein, und die Köpfe der Anwesenden ruckten zu ihm herum.
„Was?“ Das Mädchen riss die Augen auf.
„Du hast ihre Gedanken doch oft gelesen in den letzten zwei Tagen, nicht wahr?“ fragte von Berching und Diana nickte.
„Das schon, aber ich weiß nicht, ob es über eine größere Entfernung funktioniert. Je weiter ich greifen muss, umso weiter muss ich mich öffnen, und da sind umso mehr Menschen, je größer die Entfernung wird. Keine Ahnung, ob ich sie so finden kann. Sowas habe ich noch nie ausprobiert.“
„Dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, es zu versuchen, meinst du nicht?“ Der Baron lächelte aufmunternd, doch seine Augen blieben ernst.
„Was, jetzt gleich?“
Von Berching nickte. „Du machst dir Sorgen wegen der Entfernung, und die wird von Minute zu Minute größer. Versuch´ sie zu finden! Vielleicht erwähnen ihre Begleiter ja wohin sie unterwegs sind. Wenn sie es hört, spiegelt es sich garantiert in ihren Gedanken!“
Diana leckte sich nervös über die Lippen und nickte dann. „Okay, ich versuch´s!“
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Lange Zeit stand sie schweigend da, runzelte vor Anstrengung die Stirn, und kleine Schweißtröpfchen glitzerten auf ihrer Haut. Schließlich hielt Luca es nicht mehr aus und meinte: „Das hat doch keinen Zweck! Wir müssen hinter dem Wagen her, solange noch eine Chance besteht, sie einzuholen!“ Er wandte sich zur Treppe, doch plötzlich hob Diana die Hand und hielt ihn zurück.
„Warte! Da ist was!“ Sie legte den Kopf schief, als würde sie lauschen, und plötzlich riss sie die Augen auf.
„Ich hab´ sie! Aber es ist extrem schwierig. Ich muss mich ganz öffnen, und dann empfange ich so viel, dass ich sie erst mühsam rausfiltern muss.“
Sie schloss erneut die Augen und konzentrierte sich.
„Sie scheint noch im Wagen zu sitzen. In der Stadt. Das Auto wird langsamer, biegt ab. Sie halten. Ein Gewerbeviertel. Fabrikgebäude. Alt.... Jetzt kommt was, was die Fahrerin sagt, Moment...!“
Ihr Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. „Sie sagt was von einem Ritual. Aber ich verstehe es nicht.“
Sie öffnete die Augen, sah entschuldigend von Einem zum Anderen. „Sorry, ich hab´ sie verloren.“
„Das hilft uns schon viel weiter, Diana.“
Der Baron lächelte sie aufmunternd an.
„Das Industriegebiet also. Vielleicht eine stillgelegte Fabrik! Ich werde versuchen, per Computer mehr Informationen zu bekommen. Es könnte allerdings sein, dass wir sämtliche stillgelegten Betriebe im Gewerbegebiet absuchen müssen. Keine Ahnung, wie viele das sind. Sagt Jan Bescheid und bereitet Euch alle auf einen Kampfeinsatz vor. Luca – du arbeitest wieder mit Noah zusammen! Und jetzt los - das wird eine lange Nacht!“
Die Angesprochenen nickten, und dann eilten sie die Treppe hinunter und aufs Schloss zu. Der Baron läutete zuerst nach Ludwig und erteilte ihm einige knappe Anweisungen, bezüglich der Bewusstlosen, die noch immer beim Tor lagen, dann steuerte er sein Arbeitszimmer an und holte mit einigen gezielten Klicks das Straßennetz der Stadt auf den Bildschirm. Kurz darauf kamen die vier anderen Armoritaner ebenfalls herein, und gemeinsam beugten sie sich über den Ausdruck, den der Baron angefertigt hatte.
„Nach meinen Recherchen gibt es zur Zeit fünf stillgelegte Betriebe im fraglichen Gebiet. Zwei davon sind kleinere Handwerksbetriebe. Ich glaube nicht, dass wir dort suchen müssen. Bei den anderen Drei handelt es sich um einen metallverarbeitenden Betrieb, eine Autolackiererei und einen ehemaligen Möbelgroßhandel. Ich würde vorschlagen, dass wir dort anfangen zu suchen. Wenn die Information stimmt, dass es um ein Ritual geht, brauchen sie Platz. Den haben sie in einer leeren Fabrikhalle am ehesten. Oder gibt es andere Vorschläge?“
Alle Vier schüttelten unisono die Köpfe und von Berching faltete das Papier zusammen.
„Dann los!“ sagte er, und sie eilten im Laufschritt nach draußen.

*



Die Limousine raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald. Im Licht der Scheinwerfer wirkten die Bäume wie grotesk verformte Ungeheuer, die mit Klauenhänden nach dem vorbeijagenden Wagen griffen.
Hanna war wie paralysiert, gefangen in dem Schock, der sich ihrer bemächtigt hatte, als sie endlich erkannte, dass das Wesen hinter dem Steuer tatsächlich nur noch äußerlich ihre Mutter war.
Lautlose Tränen rollten über ihre Wangen, während ihre Blicke noch immer ungläubig an der Gestalt auf dem Vordersitz hingen. Sie sehnte sich nach der tröstlichen Umarmung ihrer Mutter, doch von dieser Frau würde sie sie nicht bekommen. Deren eisige Blicke wanderten immer wieder zum Rückspiegel und Hanna spürte ihre Kälte beinahe körperlich.
Außerdem zielte Alexanders Schwert noch immer auf ihre Kehle, während er lässig in der gegenüberliegenden Ecke lehnte.
Sie fühlte sich körperlich und seelisch völlig erschöpft und hätte gern die Augen geschlossen, um in das selige Vergessen des Schlafs zu flüchten. Doch angesichts ihrer Lage war daran natürlich überhaupt nicht zu denken. Vorsichtig tastete sie mit den Fingern ihres Geistes nach dem Punkt, wo sie vor kurzem noch den pulsierenden Feuerknoten gefunden hatte, aber da war nichts.
Sie war leer, erschöpft und ausgebrannt, fühlte nichts mehr von der Gewissheit, die sie vorhin empfunden hatte und die ihr gesagt hatte, was zu tun war.
Alexander musterte sie spöttisch. „Damit hast du nicht gerechnet, was? Hast sicher gedacht, du hättest gewonnen, nachdem du die Anderen fertig gemacht hast? Aber ganz so ist es nicht, wie?“
Er lehnte sich lachend nach vorn.
„Die große Sucherin! Die Trumpfkarte der Armoritaner! Haha! Was für ein Witz!“
Hanna erwiderte stumm seinen Blick, und er wurde ernst. „Weißt du, warum ich die Seiten gewechselt habe? Soll ich es dir verraten?“ Sie sagte nichts, aber er hatte offenbar ein enormes Mitteilungsbedürfnis.
„Ich sag´s dir! Weil mich dieser ganze Scheißorden ankotzt, deshalb! Was bist du denn als Krieger? Kanonenfutter, weiter nichts! Austauschbar, ersetzbar, niemand von Bedeutung! Und du hast null Aussicht, es jemals in einen der wichtigen Ränge zu schaffen! Und wieso? Weil es da nur den Großmeister gibt und den Sucher. Und auf beide Posten hat die großartige Familie von Berching das Monopol! Unsereiner darf sich nur mit der Drecksarbeit rumschlagen! Bei der Gegenseite ist das anders! Wenn du gute Arbeit leistest, bekommst du was dir zusteht! Und zwar anständig! Wenn das Ritual erst vollzogen ist, werden alle belohnt, die ihren Anteil geleistet haben! Und ich werde verdammt noch mal dazu gehören! Ansehen, Macht, Geld! Das ist es doch schließlich, was im Leben zählt! Man muss seine Talente eben zu nutzen wissen und ...“
„Halt´s Maul!“ sagte die Frau am Steuer der Limousine. Sie hob dabei nicht einmal die Stimme, und dadurch wirkte es umso bedrohlicher. „Hör´ auf, hier rumzulabern, das geht mir auf die Nerven! Es besteht absolut keine Notwendigkeit, ihr jetzt schon von dem Ritual zu erzählen. Das erfährt sie alles früh genug! Jetzt ist nur wichtig, dass wir sie lebendig abliefern! Also halt´ gefälligst die Klappe bis wir da sind!“
Inzwischen waren sie in der Stadt angekommen und fuhren durch ein heruntergekommen wirkendes Industriegebiet. Hier gab es weniger Straßenlampen als in anderen Teilen der Stadt, und in ihrem Schein sah Hanna große Rolltore, Firmenschilder und Maschendrahtzäune vor dem Fenster vorbeihuschen. Um diese Uhrzeit wirkte das Viertel wie ausgestorben.
Minuten später wurde der Wagen langsamer und bog in eine Einfahrt. Kaum standen die Räder still, sprangen Alexander und die Dämonin heraus und zerrten ihre Geisel unsanft aus dem Fond. Hanna wurde vorwärts gestoßen, auf eine Halle zu, an deren Wand ein großes, blasses Rechteck die Stelle markierte, wo einst ein Schild verkündet hatte, was das fensterlose Gebäude beherbergte.
Sie sah sich um, in der schwachen Hoffnung irgendwo Menschen zu entdecken, die sie auf ihre Lage aufmerksam machen konnte, doch die Straße außerhalb des großen Tores lag leer und verlassen da.
Weiter unten sah man eine belebte Querstraße, über die steter Verkehr floss, doch hier war davon nichts zu spüren.
„Na los! Vorwärts!“ Alexander versetzte ihr einen neuerlichen Stoß, sie taumelte auf das Tor der Halle zu, welches sich soeben öffnete und eine Gruppe von sieben Menschen ausspie.
Während sie sich ihnen näherte, stieg in Hanna das nun schon vertraute Gefühl der Bedrohung auf, und als sie dem Vordersten in die Augen sah, die Schwärze darin erblickte und den Hass fühlte, der ihr in heißen Wellen entgegenschlug, wusste sie, dass sie es wiederum mit Dämonen zu tun hatte.
Was hatten sie mit ihr vor?
Wozu hatten sie sie hergebracht?
Ein falsches Lächeln malte sich dem Anführer der Gruppe ins Gesicht. Die Dämonin in Hannas Begleitung und auch Alexander sanken vor ihm in die Knie und beugten die Köpfe.
„Meister!“ sagte die Frau. „Wir bringen dir wie verlangt die Sucherin!“
Der Angesprochene stand inzwischen dicht vor Hanna, griff unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu sich auf.
Er musterte sie scharf, und ihr war, als stünde sie nackt vor ihm. Und nicht nur das, sie fühlte deutlich, wie er in ihren Kopf eindrang, sich dort umsah und alles ans Licht zerrte, was er wissen wollte, ohne dass sie es verhindern konnte. Sein Lächeln wuchs in die Breite, als er sah, wie sie ob des mehr als unangenehmen Gefühls das Gesicht verzog und erkannte, dass sie augenblicklich nicht in der Lage war, ihr Feuer einzusetzen.
Mit zufriedenem Grinsen wandte er sich an die sechs Dämonen, die ihn begleiteten.
„Bringt sie hinein und bereitet alles vor! Wir werden noch heute Nacht das Ritual durchführen und unseren Herrn befreien!“
Zustimmendes Gemurmel erklang, Hanna wurde gepackt und von groben Händen ins Innere der Halle geschleift.
Drinnen war es düster, jedes Geräusch hallte in der Leere wider, nur im Zentrum des riesigen Raumes war etwas in Rot auf den Boden gemalt. Darum verteilt standen eine Vielzahl roter und schwarzer Kerzen.
Als sie näher darauf zu geschoben wurde, erkannte Hanna, dass es sich bei dem Bild auf dem Boden um einen großen, kunstvoll ausgestalteten Drudenfuß handelte, in dessen einzelne Flächen komplizierte Ornamente gezeichnet waren. Von dem Gebilde schien Kälte abzustrahlen und das dumpfe Gefühl in ihrer Brust raubte ihr schier den Atem.
Ihre Bewacher schubsten sie mitten hinein in das Bild, die übrigen Dämonen zündeten die Kerzen an, und dann trat der Anführer vor, packte sie im Nacken wie eine räudige Katze und zwang sie auf die Knie.
Sein Griff schien sie zu lähmen und ließ erst gar keinen Gedanken an Gegenwehr aufkommen. Wie betäubt starrte sie hinunter auf den Betonboden und die roten Linien des Drudenfußes, während die übrigen Dämonen sich im Kreis um das Hexenzeichen aufstellten und einen monotonen Singsang anstimmten.
Wie bleierne Gewichte senkten sich die unverständlichen und misstönenden Silben auf sie herab, drückten sie schier zu Boden und nahmen ihr jeglichen eigenen Willen.
Plötzlich wanderte die Hand aus ihrem Nacken nach oben in ihr Haar, riss daran, und ihr Kopf klappte nach oben. Mit halb geschlossenen Augen blickte sie in die Düsternis unter der Hallendecke und sah, dass ihr Bezwinger die andere Hand in die Höhe reckte. Etwas blitzte darin, und sie brauchte einen Moment um zu erkennen, dass es sich um eine Klinge handelte, genauer gesagt eine Art Dolch aus rotgoldenem Metall.
Scharf und bedrohlich hing das Messer über ihr, bereit, ihr den Todesstoß zu versetzen, und der Gesang schwoll an.
Ihr Kopf schwamm, nichts schien wirklich zu sein und sie hing in der Hand des Dämons wie eine schlaffe Puppe.

*



„Hier sind sie auch nicht!“ Luca wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Er und die anderen Ordensmitglieder hatten gerade die ehemalige Autolackiererei durchsucht, dort aber ebensowenig etwas gefunden wie zuvor in den leerstehenden Lagern des früheren Möbelgroßhandels. Alle waren angespannt, denn ihnen lief die Zeit mit Riesenschritten davon, und das war ihnen nur zu bewusst.
Im Laufschritt spurteten sie zurück zum Wagen, und keine zwei Minuten später waren sie wieder unterwegs.
Keiner sagte etwas, aber alle dachten dasselbe.
Wenn ihr letzter Anlaufpunkt auf der Liste des Barons sich ebenfalls als Schuss in den Ofen erweisen sollte, standen sie mit leeren Händen da und hatten praktisch keine Chance mehr, Hanna zu finden.
Natürlich wussten sie nicht, um welche Art von Ritual es ging, aber es handelte sich bestimmt nicht um ein Kaffeekränzchen und warum sollten die Dämonen Zeit verlieren? Ihnen musste inzwischen klar sein, dass Hanna gerade jetzt am verwundbarsten war. Sie hatte ihr Feuer auch diesmal wieder mit viel zu hohem Energieverlust benutzt, weil sie es noch nicht im Griff hatte. Deshalb war sie jetzt noch auf Stunden geschwächt und wehrlos und das spielte den Dämonen jetzt direkt in die Hände. Es lag nicht in ihrer Natur, Mitleid zu haben, denn Menschen waren für sie nur in dreierlei Hinsicht interessant: Als Wirt, als Sklaven oder als Opfer.
„Wie weit ist es noch bis zu dieser alten Fabrik?“ fragte Luca.
Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und er knirschte mit den Zähnen.
„Nicht mehr weit.“ antwortete Jan, der wie immer am Steuer saß und den schweren Wagen trotz der hohen Geschwindigkeit souverän im Griff hatte.
„Nur noch da vorn um die Ecke.“ Sekunden später bremste er ab und brachte die Limousine zum Stehen.
Die Insassen sprangen heraus, sahen zum Baron, der einen raschen Blick in die Runde warf und dann stumm die Straße entlang deutete.
„Da vorn ist es!“
Sie eilten vorwärts, blieben jedoch nach ein paar Schritten wie angewurzelt stehen. Das anvisierte Gebäude war die leerstehende Produktionshalle eines ehemaligen metallverarbeitenden Betriebs, und jetzt sahen sie, dass nicht nur das Tor, welches auf das Gelände führte, weit offen stand, sondern entdeckten auch das Auto, das dicht an der Wand im Schatten abgestellt war.
„Ist das der Wagen?“ flüsterte Jan.
Von Berching nickte. „Ja, das ist er. Also sind sie hier.“ Er lauschte. „Hört ihr das?“ Alle strengten die Ohren an. Ein kaum wahrnehmbarer, monotoner Singsang drang zu ihnen.
„Das Ritual!“ stieß Luca hervor. „Sie haben wirklich keine Zeit verloren! Wir müssen uns beeilen!“
Er wollte losstürmen, doch der Baron hielt ihn auf. „Langsam, Luca! Sie haben bestimmt Wächter aufgestellt! Behalte deinen kühlen Kopf, sonst hilfst du Hanna nicht, sondern bringst dich nur selbst in Gefahr!“
Der Dunkelhaarige schien zuerst auffahren zu wollen, dann aber nickte er und gab Noah einen Wink.
„Los komm´! Kümmern wir uns zuerst um die Wächter! Wir gehen rechts herum. Nehmt Ihr die linke Seite?“ wandte er sich an Diana und Jan. Der hielt sein Schwert bereits kampfbereit in der Hand und nickte wortlos.
„Ich werde inzwischen versuchen, mir einen Überblick zu verschaffen. Kommt wieder hierher zurück, wenn Ihr mit den Wächtern fertig seid!“ sagte der Baron, und gleich darauf waren alle Fünf lautlos in der Dunkelheit verschwunden.

*



Hanna hatte begriffen, dass sie sterben würde.
Unfähig, sich zu wehren, eingelullt vom Gesang der Umstehenden hoffte sie nur, dass es schnell gehen würde. Doch das Messer verharrte noch über ihr, und der Dämon, der sie gepackt hielt begann mit beschwörender Stimme unverständliche Silben in einer harten, guttural und obszön klingenden Sprache hervor zu stoßen.
Unverständlich?
Nein...
Hanna runzelte die Stirn. Immer deutlicher formten sich Worte hinter ihrer Stirn, bis sie erkannte, dass sie im Gegenteil ganz genau verstand, was er sagte.
„Aschmodäus! Großer Fürst! Unheilsbringer und Träger der Pestilenz! Höre uns an! Wir bringen dieses Geschöpf dar, Dich zu befreien! Ihr Blut wird die Ketten lösen, die Dich binden! Kehre zurück zu uns, und schenke uns deine Gunst!“
Immer wieder rief er die gleichen Worte und klebrigen Fäden gleich fühlte sich Hanna eingesponnen in seine Beschwörungen, bis ihr Mund wie von selbst anfing mitzulallen. Undeutlich zunächst, doch allmählich immer klarer, rollten die verzerrten Silben von ihren Lippen. Die Luft rings um sie und den Messerträger begann zu flirren, und ihr Herz raste in höchster Not.
Plötzlich lag ein Rauschen und Sirren in der Luft, Unruhe kam in den umgebenden Kreis, der Gesang wurde ungleichmäßig und riss dann ab.
Das Flimmern der Luft erstarb, der Dämon mit dem Messer verstummte und sah auf.
Wie aus einem Traum erwachend blinzelte Hanna in die düstere Halle, die vom Rauch der flackernden Kerzen erfüllt war und sah fünf Gestalten den Kreis um die Dämonen enger ziehen.
Wer war das?
Ihr Blick irrlichterte über die Gestalten, und sie sah einen roten Haarschopf, blitzende Brillengläser und das kalte Glänzen von blankem Stahl.
Der Orden?
Noch immer war sie wie benebelt, zwang sich jedoch zu genauerem Hinsehen.
Tatsächlich, da war der Baron, ein paar Meter weiter Luca und Jan auf der anderen Seite. Zwischen den Kämpfern sah sie Diana und Noah, alle hoch konzentriert und mit finsteren Mienen.
Die Dämonen des äußeren Ringes sahen sich nervös um, doch ihr Anführer, im Zentrum des Drudenfußes ließ keine Erschütterung erkennen, packte nur fester in Hannas Haar und zog sie dicht an sich heran. Im nächsten Augenblick spürte sie das Messer an ihrer Kehle, und die Stimme des großen, dunklen Mannes hallte durch das Gebäude.
„Keinen Schritt näher! Sonst schlitze ich ihr augenblicklich die Kehle auf!“
Der Baron hob die Hand, und die Armoritaner blieben stehen.
„Malus!“ sagte von Berching. „Also du steckst dahinter! Das hätte ich mir eigentlich denken können! Was hast du diesmal vor?“
Der Dämon lachte zynisch. „Das möchtest du gern wissen, wie? Naja, ich wüsste nicht, warum ich es dir verschweigen sollte! Du kannst mich sowieso nicht mehr aufhalten! Also bleib´ nur hier und mach´ es dir gemütlich! Genieß´ die Show! Was du hier gleich sehen wirst, ist die Befreiung meines Herrn! Ja, da staunst du, wie? Asmodis wird frei sein, noch heute Nacht! Ich wette, er ist entzückt, dich hier vorzufinden, wenn er gleich bei uns ist. Ich glaube, er hat mit deiner Familie noch eine alte Rechnung offen! Und nach fast 600 Jahren kann man ihm doch wirklich keinen Vorwurf machen, wenn er schlechte Laune hat, oder? Sieh´ es ein, Berching – diesmal hast du verloren!“
Noch einmal lachte er, dann hob er erneut das Messer und intonierte von Neuem seine Beschwörung.
Von Berching starrte mit brennenden Augen auf das Mädchen im Zentrum des Hexenzeichens. Sie war mittlerweile vollkommen in sich zusammengesunken, schien geistig kaum noch anwesend zu sein.
„Hanna!“ Luca machte einen Schritt vorwärts und hob sein Schwert. Als er seinen Fuß in den Drudenfuß setzte, die Reihe der Dämonen durchbrach, die größtenteils unsicher herumstanden und nicht wussten, ob sie bleiben, oder ihr Heil in der Flucht suchen sollten, leuchtete rund um ihn und seinen Partner die bläuliche Aura eines Schutzschildes auf, und Noah verzog das Gesicht.
„Wenn du weitergehst, kann ich dich nicht mehr schützen! Das Ding zieht mir die gesamte Kraft ab!“ rief er und Luca zögerte.
„Aber was sollen wir dann tun?“
Doch keiner der Armoritaner wusste eine Antwort, sie sahen nur hilflos von Einem zum Anderen und mussten untätig zusehen, was weiter geschah.
Hanna hörte ihren Namen rufen und hob den Kopf. Sie kämpfte mit jeder Faser darum, Herr ihrer Sinne zu bleiben, während die Luft um sie herum erneut zu flimmern begann. Sie spürte, dass sie nicht mehr viel Kraft hatte, es war ihr sowieso schleierhaft, woher sie die Energie nahm, um nicht wieder vollends unter den Bann der Beschwörung zu fallen wie vorhin.
Sie sah Luca am Rande des Drudenfußes stehen. Sein Gesicht war eine Maske der Verzweiflung, und als ihr Blick zu von Berching weiter wanderte, erkannte sie, dass es um ihn ähnlich bestellt war.
Vorsichtig tastete sie noch einmal nach dem Feuer in sich und fand ein kleines Flämmchen, schwach und kurz vor dem Erlöschen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Fünkchen. Von überall aus ihrem Körper, und aus den entlegensten Winkeln ihrer Seele zog sie alles an Kraft ab, was sie finden konnte. Ihr war vage bewusst, dass sie dies ihr Leben kosten konnte.
Doch das Leben wollten die Dämonen ihr ohnehin rauben. Sie wollten Asmodis befreien, indem sie sie töteten, den Höllenfürsten, den der allererste Armoritaner besiegt und verbannt hatte, nachdem er diesem praktisch alles genommen hatte, was ihm auf der Welt lieb und teuer war.
Das durfte nicht geschehen!
Um das zu verhindern, war ihr Leben kein zu hoher Preis.
„Hanna!“ Noch einmal rief Luca nach ihr, und sie öffnete die Augen wieder.
Unter ihren geistigen Fingern war das zarte Flämmchen inzwischen zu einem kraftvollen Ball herangewachsen, stärker noch als vorher. Sie fühlte sein hitziges, ungeduldiges Pulsieren und wartete auf den richtigen Augenblick.
Die Hand in ihrem Haar zerrte ihren Kopf rückwärts, entblößte ihre Kehle, und im gleichen Moment, als der Dämon das Messer niedersausen ließ, bäumte sie sich auf und schleuderte ihm ihr Feuer entgegen.
Die Welt barst in einem Meer aus weißglühenden Flammen, sie spürte einen durchdringenden Schmerz, hörte einen hohen, klagenden Schrei und begriff, dass es ihr eigener war.
Die Hand in ihrem Haar verschwand, und im Fallen sah sie eine Gestalt, von feurigen Lohen umhüllt durch die Halle laufen, sah die Linien des Drudenfußes aufglühen, als rote Tropfen darauf niederfielen und hörte das Singen der Schwerter des Ordens, die unter den kopflos auseinander stiebenden Dämonen reiche Ernte hielten.
Für einen Moment schien es, als sei eine monströse Kreatur in der Halle, die sich unter glühenden Ketten wütend aufbäumte und mit blutigen Schwingen schlug, doch das Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war, und Hanna schlug bewusstlos auf dem Boden auf.


Ruhe und Frieden erfüllte sie. Nichts tat mehr weh, sie schwebte gleichsam körperlos an einem dunklen, doch seligen Ort voller Wärme, und obwohl sie weder wusste, wo sie sich befand, noch wie sie dort hingekommen war, wünschte sie sich, nie mehr dort weggehen zu müssen. Der Kampf in der alten Fabrik war nicht mehr als eine ferne, bruchstückhafte Erinnerung, etwas aus einem bösen Traum, den sie vor langer Zeit gehabt hatte.
Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und aalte sich in wohliger Zufriedenheit.
Irgendwann wurde ihr jedoch bewusst, dass leise Stimmen wie von weit her immer wieder ihren Namen riefen. Sie runzelte missbilligend die Stirn.
Wer störte sie hier?
Vage kamen ihr die Stimmen bekannt vor, doch sie ignorierte das Rufen und es verschwand.
Aber nicht für immer. Es kam wieder und wieder, und obwohl ihr zunächst schien, als würde es lauter, begriff sie doch schließlich, dass es noch genauso laut oder leise war, wie zu Anfang. Lediglich ihre Aufmerksamkeit hatte sich verändert. Mehr und mehr wandte sie sich den Stimmen zu, fand einen Lichtschimmer, der sie anzog und dem sie schließlich aus eigenem Antrieb folgte, auch wenn sie ahnte, dass er sie aus ihrem geborgenen Königreich wegführte.
Anfangs zögerte sie, hielt inne und sah sich bedauernd um, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu bleiben und dem Bedürfnis zu gehen.
Doch plötzlich drang eine Stimme ganz deutlich an ihr Ohr, ließ sie alle Zweifel vergessen und zog sie wie an einem silbernen Faden ins Licht...
...blinzelnd öffnete sie die Augen und blickte verwirrt in die Rüschenvorhänge ihres Bettes.
„Sie ist wach!“ rief jemand mit unverkennbarer Erleichterung. Mühsam drehte Hanna den Kopf und blickte in Dianas strahlendes Gesicht.
„Wird ja wohl auch Zeit!“ brummte jemand anders hinter dem rothaarigen Mädchen.
Luca stand dort mit regungslosem Gesicht und wandte sich jetzt ab. Er griff nach der Türklinke und sagte im Gehen: „Ich informiere den Baron und bin dann in der Sporthalle, falls mich jemand sucht.“
Diana drehte sich erstaunt zu ihm um und erwiderte: „Was? Nachdem du die ganze Zeit hier Wache gehalten hast, willst du jetzt in die Sporthalle gehen? Ist das dein Ernst?“
Doch der Angesprochene antwortete nicht und war einen Moment später verschwunden.
Das rothaarige Mädchen wandte seine Aufmerksamkeit wieder der im Bett Liegenden zu und fasste, sich auf die Bettkante setzend nach ihrer Hand.
„Wie geht’s dir, Süße? Tut dir was weh?“
„Nein.“ wollte Hanna sagen, doch es kam zunächst nur ein rauhes Krächzen aus ihrem Mund, und sie bemerkte erstaunt, dass ihre Kehle völlig ausgetrocknet war.
„Warte!“ sagte Diana, goss etwas Wasser aus einer Karaffe auf dem Nachttisch in ein Glas und reichte es ihr. Behutsam half sie ihr, sich etwas aufzurichten und ein paar durstige Schlucke zu nehmen.
„Besser jetzt?“ Hanna nickte, und Diana stellte das Glas weg.
„Was ist denn eigentlich passiert?“ fragte die Liegende. „Ich erinnere mich nur noch an Bruchstücke. Wie komme ich überhaupt hierher?“
Dianas Gesicht wurde ernst. „Du weißt aber schon noch, dass Alexander uns verraten hat, oder?“ Als Hanna nickte, fuhr die Rothaarige fort: „Naja, nachdem ich mich von dir und Alexander verabschiedet hatte, bin ich zum Essen gegangen. Ein paar Minuten später kam der Baron herein, und ich erwartete eigentlich, dass du bei ihm wärst. Das warst du aber nicht und auch Alexander und Luca kamen nicht. Da habe ich ihn gefragt, ob er weiß, wo du steckst und so erfahren, dass er dich seit dem Vormittag nicht mehr gesehen und auch nicht nach dir geschickt hatte. Damit war klar, dass was nicht stimmt, und wir sind Euch suchen gegangen. Noah hat Euch dann am Tor entdeckt, aber als wir hinkamen, war schon alles vorbei. Du hattest die Dämonen außer Gefecht gesetzt und Luca Alexander. Dann tauchte deine Mutter auf und ...“
Hanna hob die Hand. „Daran erinnere ich mich. Sie haben mich mitgenommen und zu der alten Fabrik gebracht. Da wollten sie ein Ritual abhalten, um Aschmodäus zu befreien.“
Die Erinnerung an die monströse Kreatur, die sie für Sekundenbruchteile gesehen zu haben glaubte, flatterte durch ihren Geist, und schaudernd schloss sie die Augen.
„Was ist danach passiert? Meine Erinnerung reißt ab, als ihr aufgetaucht seid. Habt ihr die Dämonen besiegt?“
Diana verzog ungläubig das Gesicht.
„Das weißt du nicht mehr? Süße, das war der Hammer! Wir standen ziemlich belämmert da. Dieser Typ, Malus, der hatte dich gepackt und drohte uns, er würde dir sofort die Kehle durchschneiden, wenn wir eine falsche Bewegung machen! Im Drudenfuß war er geschützt, wir kamen nicht an ihn heran. Luca hat es zwar versucht, musste aber aufgeben. Und dann hast du dein Feuer auf sie losgelassen! Wahnsinn! Weißglühende Flammen! Das war echt so was von cool!... Naja, aber es hat dich auch dein letztes bisschen Kraft gekostet.“ fuhr sie etwas verlegen fort. „Außerdem hat dich dieser Malus am Hals erwischt mit seinem Messer. Zwar nicht richtig, aber es sah ganz schön beängstigend aus, als wir uns endlich um dich kümmern konnten. Im ersten Moment dachten wir, du wärst tot, so wie du da lagst. Der Baron meint, es sei auch ganz schön knapp gewesen. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass du noch lebst, sagt er.“
Sie endete mit ihrem Bericht, und Hanna tastete mit den Fingern nach ihrem Hals, fand einen Verband und ließ die Hand wieder sinken.
In diesem Moment wurde die Tür schwungvoll aufgestoßen, und ihr Halbbruder stürmte herein, gefolgt von Jan und Noah. Sein Blick suchte Hanna, und als er sie mit offenen Augen im Bett liegen sah, ging ein Leuchten über sein Gesicht.
„Hanna, meine Liebe! Dem Himmel sei Dank, du bist wieder bei uns! Du hast uns in den letzten Tagen ordentlich Sorgen gemacht!“
Er eilte an ihre Seite, und Diana machte ihm bereitwillig Platz, doch Hanna stutzte.
„Tage? Wieso Tage? Wie lange war ich denn … weg?“ Er fasste ihre Hand und erwiderte sanft: „Vier Tage. Wir waren wie gesagt ehrlich besorgt um dich. Aber sag´ - wie fühlst du dich?“
Vier Tage? Das erschien ihr eine ziemlich lange Zeit und verschlug ihr im ersten Moment die Sprache.
„So lange? Naja,“ meinte sie dann, „das erklärt vielleicht, wieso ich solchen Hunger habe?“
Diana klatschte in die Hände. „Hunger? Na, wenn es weiter nichts ist, da lässt sich Abhilfe schaffen, glaube ich!“
Sie flitzte aus der Tür, und Hanna blieb mit dem Baron und den beiden Jungen allein. Von Berching wollte aufstehen, doch sie hielt ihn fest, denn ihr war noch etwas eingefallen.
„Christian, warte!“ bat sie. „Was ist mit meiner Mutter? Habt ihr sie ….?“ Sie konnte es nicht aussprechen, doch ihr Halbbruder verstand, schüttelte den Kopf und ließ sich noch einmal auf das Bett zurücksinken.
„Nein. Sie ist zusammen mit Alexander und ein paar Anderen entkommen.“
„Und Malus?“
Der Baron seufzte bekümmert. „Malus hat seinen Wirt verloren, aber er ist zu stark, als dass ihn das lange aufhalten könnte. Er wird sich einen anderen Körper suchen, wiederkommen und seine Helfer erneut um sich scharen. Mit ihm hat der Orden schon seit Jahrhunderten zu tun. Er taucht immer wieder auf, wie ein Stück Falschgeld. Leider.“
Die Tür wurde ein zweites Mal geöffnet und Diana tauchte auf. Sie trug ein Tablett mit einer Schüssel, Teller und Besteck. Ihr folgte eine unbekannte junge Frau mit schwarzen, raspelkurzen Haaren, einem herzförmigem Puppengesicht und einem auffälligen Muttermal unter dem rechten Auge.
„So!“ rief Diana. „Hier kommt was zu essen für die Patientin! Und ich habe dir noch jemanden mitgebracht! Hanna – das ist Theresa, die Hüterin der Bücher. Sie hat dich in den letzten Tagen ein paar Mal untersucht. Sie ist nämlich ausgebildete Krankenschwester und kümmert sich um kranke oder verletzte Ordensmitglieder. Heute Morgen hat sie noch gemeint, dass sie die weitere Verantwortung ablehnt, wenn du nicht bald aufwachst! Scheint, als hätte das gewirkt?“
Ihre gute Laune war ansteckend, Theresa und Hanna schüttelten sich lächelnd die Hand, und dann half Diana ihr, sich im Bett aufzusetzen, damit sie essen konnte.
„Was ist denn das? Suppe? Hast du nichts … Kräftigeres?“ Die Kranke sah konsterniert von ihrem Teller zu Diana auf.
„Tut mir leid, Süße! Weisung von Theresa! Sie meint, du sollst langsam anfangen und deinen Körper nicht überfordern. Wenn dir die Suppe bekommt, kriegst du beim nächsten Mal mehr!“ Sie hob die Augenbrauen, und dann scheuchte sie die Männer aus dem Zimmer.
„Und ihr verschwindet jetzt besser! Hanna ist gerade erst zu sich gekommen und noch ziemlich fertig! Außerdem will Theresa sie nach dem Essen noch einmal untersuchen, also hopp!“
Währenddessen hatte Hanna sich bereits heißhungrig über die Suppe hergemacht, und Theresa setzte sich auf das kleine Sofa im Hintergrund.
Während Hanna aß, schwieg sie, musterte nur das Gesicht des Mädchens, erst als von der Suppe kein Tropfen mehr übrig war und die Kranke satt und zufrieden zurück in ihre Kissen sank, brachte sie sich wieder in Erinnerung, indem sie ans Bett herantrat und sie mit routinierten Handgriffen und scharfem Blick untersuchte. Zuletzt zog sie den Verband von Hannas Hals und runzelte ein wenig die Stirn, als sie die darunter verborgene Wunde inspizierte, doch schließlich nickte sie zufrieden. „Sieht so aus, als wärst du soweit in Ordnung. Alles was du brauchst ist Ruhe. Das Einzige, womit ich nicht ganz zufrieden bin, ist der Zustand deiner Halswunde. Sieht so aus, als wäre sie ein bisschen entzündet. Aber ich fahre nachher in die Stadt und besorge ein Antiseptikum. Damit sollten wir das Problem schnell in den Griff bekommen.“
Sie sah sich nach Diana um. „Wo ist denn der Zerberus geblieben, der in den letzten Tagen dieses Zimmer bewacht hat?“
Die Rothaarige stutzte, lachte dann und meinte: „Ach, sprichst du von Luca? Der ist, kaum dass Hanna aufgewacht war, in die Sporthalle geflüchtet!“
Theresa grinste ebenfalls und erwiderte: „Schade. Jetzt könnte er sich doch mal nützlich machen und aufpassen, dass sie genug Ruhe bekommt! Aber so sind sie, diese Männer! Nie da, wenn man sie braucht!“
Beide lachten, und Hanna sah verwirrt von Einer zur Anderen.
„Hey, stop mal! Auszeit! Wovon redet ihr da eigentlich? Und du“ wandte sie sich an die immer noch kichernde Diana, „du hast doch, wenn ich recht überlege, vorhin schon so eine seltsame Andeutung gemacht, von wegen Luca hätte die ganze Zeit hier Wache gehalten! Was bedeutet das? Klär´ mich mal auf, bitte!“
„Ach, nichts weiter, außer dass Luca sich offenbar seeehr große Sorgen um dich gemacht hat.“ Sie verdrehte vielsagend die Augen. „Er hat dich auf der Rückfahrt von der Fabrik die ganze Zeit im Arm gehalten, und nach zwei Tagen musste der Baron ihn unter Gewaltandrohung hier aus deinem Zimmer holen.“ Sie feixte übers ganze Gesicht, tauschte amüsierte Blicke mit Theresa und hatte sichtlich ihren Spaß an der ganzen Geschichte.
Hannas Augen waren immer größer geworden, während Diana redete, und jetzt stand ihr der Mund offen vor Überraschung.
„Was? Luca? Du verarschst mich doch!“
Aber der Rotschopf schüttelte den Kopf, dass die Haare wild um ihr Gesicht flogen.
„Nein, Ehrenwort! Es stimmt! Frag´ doch Theresa hier, wenn du mir nicht glaubst!“
Ein Seitenblick auf das Gesicht der Schwarzhaarigen bestätigte was sie gehört hatte, und nun war sie sprachlos.
„Aber warum denn?“ Fragend blickte sie wieder Diana an, und die lachte hell auf. „Ist das so schwer zu erraten? Er... ähm, mag dich!“
Nun war die Reihe an Hanna zu lachen.
„Luca? Mich mögen? Im Leben nicht! Hast du eigentlich noch nicht mitgekriegt, wie er mich behandelt?“
Sie schnaubte und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Süße, du magst ja die Sucherin sein, aber von Jungs verstehst du echt nichts, oder?“ Diana griff erneut nach ihrer Hand und sah sie mitleidig an.
„Luca ist ein Typ, der keine Schwäche zeigen will. Er kann nicht mit seinen Gefühlen umgehen! Und zeigen kann er sie erst recht nicht! Er ist im Orden groß geworden und hat sich immer nur auf seine Rolle als Krieger vorbereitet. Was anderes kennt der gar nicht. Und als Krieger muss er eben stark sein, darf dem Feind keinen Angriffspunkt bieten. Ein richtiger altmodischer Macho halt! Ob man deshalb immer so aus der Wäsche gucken muss, wie er, sei mal dahin gestellt, aber wie dem auch sei, ich würde sonst was drauf verwetten, dass er dich mag und zwar sehr!“
Hanna schwieg einen Moment lang und dachte darüber nach, was das andere Mädchen gesagt hatte, dann aber schüttelte sie noch einmal mit Nachdruck den Kopf und erwiderte: „Ich glaub´s trotzdem nicht!“
„Na, dann glaube ich es für dich mit, okay?“ Dianas gute Laune war durch nichts zu erschüttern.
Bald darauf verabschiedeten sich die beiden Besucherinnen und versprachen, bald wieder zu kommen. Vorerst jedoch sollte Hanna sich ausruhen und schlafen. Gehorsam ließ sie sich in die Kissen sinken und schloss die Augen.
Kaum war jedoch die Tür hinter den beiden Besucherinnen zugefallen, klappte sie die Lider wieder auf.
Schlafen? Sie hatte die letzten vier Tage mehr oder weniger nur geschlafen! Das sollte doch wohl für eine Weile reichen!
Unweigerlich wanderten ihre Gedanken zu dem, was Diana da vorhin angedeutet hatte.
Luca und sie mögen? Pah! … Andererseits – was, wenn doch etwas daran wäre?
Sie rief sich sein Gesicht ins Gedächtnis, mit dem Ergebnis, dass sie sich daran erinnerte, wie er sie aus der Sporthalle ins Schloss getragen hatte...
Obwohl sie allein war, wurde sie rot und verzog ärgerlich das Gesicht. Um sich abzulenken stieg sie schließlich aus dem Bett, tappte ans Bücherregal und zog aufs Geratewohl einen der Bände heraus, nahm ihn mit ins Bett und begann zu lesen.
Erst dort stellte sie fest, dass es sich um einen schmalzigen Historienschinken handelte, der noch dazu in recht altertümlich gestelzter Sprache verfasst war. Trotzdem las sie weiter, bis ihr die Augen zufielen und sie in wirren Träumen versank.

*



Draußen in der Sporthalle drosch Luca inzwischen mit seinem Schwert auf mehrere der hölzernen Übungspuppen ein. Er hatte der Wärme wegen sein T-Shirt ausgezogen und sein Oberkörper glänzte vor Schweiß.
Natürlich war er längst über das Niveau hinaus, wo er sein Können an leblosen Puppen erproben musste, die taugten nur für Anfänger, aber er hatte nach körperlicher Betätigung geradezu gelechzt, und etwas anderes gab es für ihn zur Zeit nicht zu tun.
Nun hatte zwar sein Körper eine Aufgabe, aber seine Gedanken tanzten weiter wild durcheinander.
Seit dem Tag, wo er den Auftrag bekommen hatte, Hanna zu beschützen, war sein Leben und seine Weltsicht komplett auf den Kopf gestellt worden.
Anfangs wütend darüber den Babysitter - wie er es im Stillen für sich nannte - spielen zu müssen, noch dazu in der Maske des neuen Mitschülers, obwohl er bereits 21 war, hatte ihn dieses Mädchen bald völlig in ihren Bann gezogen.
Sie war keine dieser aufgedonnerten Puten, wie sie zuhauf in der Schule herumliefen, sondern auf eine stille, unaufdringliche Art hübsch und klug noch dazu.
Er musste jedesmal an sich halten, wenn die Oberzicke der Klasse, diese Susanne ihr Schandmaul an ihr wetzte. Aber er durfte dem Wunsch, ihr eine zu verpassen nicht nachgeben, denn sein Auftrag lautete: Beobachten, Wachsam sein, aber keine Aufmerksamkeit erregen. Dass er auch außerhalb der Schule unsichtbar in Hannas Nähe bleiben musste, vereinfachte seinen Auftrag nicht gerade.
Obwohl er in einem Haus des Ordens groß geworden war und sich immer nur auf seine Laufbahn als Krieger vorbereitet hatte, begriff er doch recht bald, dass er drauf und dran war, sich in Hanna zu verlieben, aber auch das trug nicht gerade dazu bei, seine Stimmung zu heben, sondern stürzte ihn in einen tiefen inneren Konflikt.
Der Orden brauchte dringend die Kraft und die Macht des Suchers. Alle hofften darauf, dass er sich bald zeigen würde, doch Luca hoffte mindestens ebenso inständig, dass es nicht Hanna war.
Wenn sie es war, gab es überhaupt keine Hoffnung mehr, dass seine Liebe sich erfüllen könnte, unabhängig davon, ob Hanna nun etwas für ihn empfand oder nicht.
Er hatte die alten Schriften gelesen und wusste daher, dass der Sucher von dem Zeitpunkt an, wo sich seine Gabe zeigte, „rein“ bleiben musste, unter allen Umständen.
Gelang ihm oder ihr das nicht, verlor er seine Macht und wurde für die Armoritaner nutzlos.
So fühlte sich Luca hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen und dem Wissen um das was nötig war und dringend herbeigesehnt wurde.
Als dann der Tag kam, wo sich das Feuer zum ersten Mal in Hanna bemerkbar machte, stürzte eine Welt für ihn ein. Er fühlte sich auf merkwürdige Art verraten, denn dies bedeutete nichts anderes, als dass es vorbei war, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Mit diesem Gefühl konnte er noch viel weniger umgehen, fand kein Ventil für seinen Kummer und versuchte den Schmerz unter seiner schroffen Art zu verbergen. Da er ohnehin kein geselliger Mensch war, fiel es auch Keinem weiter auf, außer Hanna natürlich, die ihn ja nicht wirklich kannte.
Als sie ihm im Speisezimmer so unerwartet scharf geantwortet hatte, konnte er nur aufstehen und gehen, sonst hätte er womöglich etwas gesagt, was er später bereut hätte. Nicht, weil es so gemein gewesen wäre, sondern weil er kurz davor gewesen war, sie um Verzeihung zu bitten, und wer konnte schon ahnen, wohin das letzten Endes geführt hätte?
Nein, es war besser, sie hielt ihn weiter für einen arroganten Affen, und alles blieb wie es war.
Vielleicht sollte er den Baron bitten, ihn in eins der beiden anderen Ordenshäuser zu versetzen und einen Ersatz für ihn anzufordern?
Doch allein bei dem Gedanken, nicht mehr in diese braungrünen Augen sehen zu können, die für ihn bereits zur Sonne geworden waren, um die er innerlich kreiste, zog sein Herz sich schmerzhaft zusammen.
Wütend schlug er auf die hölzerne Puppe ein, dass kleine Späne in alle Richtungen davonflogen, bis er atemlos innehalten musste. Keuchend wischte er sich über das nasse Gesicht, da ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm, und er fuhr herum.
„Wow! Wusste gar nicht, dass sich die Dämonen jetzt schon in unseren Trainingspuppen verstecken?“
Noah saß im Schneidersitz lässig an die Wand gelehnt und sah, auf einem Grashalm kauend, spöttisch zu ihm auf.
Luca erwiderte nichts und wandte sich ab.
„Sie geht dir ganz schön unter die Haut, was?“ schob der Blonde nach. Luca ruckte zu ihm herum.
„Wer?“ fragte er betont gleichgültig, doch sein Partner lachte. „Hey, ich kenn´ dich! Immerhin sind wir seit drei Jahren ein Team, schon vergessen? Versuch´ nicht, mir was vorzumachen! Du bist scharf auf die Kleine, stimmt´s?“
„Keine Ahnung wovon du sprichst.“ Luca bückte sich und hob sein T-Shirt auf, während Noah sich aufrappelte und ihm auf die Schulter schlug.
„Ach, komm´ schon! Du weißt genau wovon ich rede! Von Hanna! Du siehst sie an, wie ein Verhungernder eine Schüssel mit Essen, wenn du denkst, keiner merkt es! Gib´s zu, sie hat´s dir angetan, oder nicht?“
Resigniert seufzte Luca auf. „Merkt man das so deutlich?“ Er lehnte sich an die Wand und ließ den Kopf hängen.
„Naja, ob es alle merken weiß ich nicht.“ meinte sein Partner. „Aber ich kenne dich ja auch um Einiges besser, als die Meisten hier. Nur, was ich echt nicht verstehe ist – warum bist du so frustriert? Wieso gehst du nicht einfach zu ihr und lotest deine Chancen mal aus? Oder hast du das schon gemacht und sie hat dich abblitzen lassen?“
Der Dunkelhaarige schwieg lange Zeit, sodass Noah ihn besorgt anschaute. „Luca?“
Da hob der Angesprochene den Kopf und sah ihm in die Augen. „Nein. Und das werde ich auch nicht tun, okay? Es darf nicht sein. Sie ist die Sucherin und deshalb darf sie nicht … Es ist eben verboten!“ schloss er heftig.
„Hä?“ Noahs Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Was ist verboten?“
„Mann, du schnallst aber auch gar nichts!“ herrschte Luca ihn an. „Der Sucher trägt das Göttliche Feuer

! Er muss rein bleiben! Liebe und Ehe, Familie, all so was ist ihm verboten! Sonst verliert er die Macht, Dämonen auszutreiben und wer weiß? Vielleicht ist dann die Gabe für alle Zeit verloren.“
Noah hatte mit erstaunter Miene zugehört und meinte jetzt: „Krass! Da muss sie ja praktisch leben wie eine Nonne! Ach du Scheiße! Aber sag´ mal - woher weißt du das überhaupt alles so genau?“
„Du bist nicht im Orden aufgewachsen, deshalb weißt du vieles nicht. Aber ich bin mit der Geschichte der Armoritaner groß geworden! Wo andere Kinder Gute-Nacht-Geschichten erzählt bekamen, waren es bei mir Stories über die Anfänge des Ordens und ihre großen Kämpfe. Was meinst du, weshalb ich Krieger geworden bin? Jedenfalls weiß ich seit meiner Kindheit, dass der Sucher zwar eine große Macht in sich trägt, aber dafür auch auf vieles verzichten muss, was für andere Menschen selbstverständlich ist.“
Er ließ seine Waffe verschwinden und streifte mit abgehackten, energischen Bewegungen das Shirt über den schweißnassen Oberkörper. Dann drehte er sich zu Noah, und in einer seltenen, melancholischen Anwandlung sagte er leise: „Tu´ mir einen Gefallen und sprich nicht mehr davon, okay?“
Noah musterte ihn überrascht, nickte aber, als er sein Gesicht sah. Darin spiegelten sich Lucas Empfindungen deutlicher, als er sie mit Worten hätte formulieren können.
Sie verließen die Sporthalle und sahen gerade noch, wie ein Wagen aus dem Schlosstor fuhr.
„Wer ist denn das?“ Luca beschattete die Augen mit der Hand. „Theresa?“
Noah nickte. „Ja, sie will in die Apotheke. Hannas Halswunde hat sich etwas entzündet, und sie hat davon gesprochen, eine Salbe oder sowas besorgen zu wollen.“
Er sah dem Wagen noch einen Moment nachdenklich hinterher, dann wandte er sich an seinen Begleiter.
„Glaubst du, es stimmt, was ich gehört habe?“
Luca blieb nicht stehen, verdrehte aber im Gehen genervt die Augen.
„Woher soll ich das wissen, wenn du in Rätseln sprichst? Was weiß ich denn, was du gehört hast?“
„Naja,“ Noah grinste, „Diana hat gemeint, der Großmeister und Theresa wären..., du weißt schon...!?“
„Ich weiß gar nichts.“ beschied Luca ihn knapp. „Ich hab´ keine Zeit für Klatsch und Tratsch und es interessiert mich auch nicht!“ Er beschleunigte seinen Schritt, und Noah begriff plötzlich, dass er besser das Thema wechselte. Im Stillen schalt er sich unsensibel, weil er nicht daran gedacht hatte, wie schmerzhaft die Vorstellung für Luca sein musste, dass es womöglich ganz in seiner Nähe glückliche Paare geben könnte.
Den Rest der Strecke zum Hauptgebäude legten sie schweigend zurück und trennten sich in der Halle, da Noah etwas mit Diana besprechen und sein Partner zuerst duschen wollte.
Sie verabschiedeten sich also, und Luca stieg mit großen Schritten die breite Treppe hinauf.
Auf dem Weg zu seinem Zimmer kam er an Hannas Tür vorbei, und einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, anzuklopfen und nachzusehen, wie es ihr ging. Er hatte die Hand schon gehoben, ließ sie aber dann doch wieder fallen. Mit gesenktem Kopf eilte er weiter und verbot sich nachzudenken.


Hanna schlief die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen tief und traumlos und als sie aufwachte, fühlte sie sich erfrischt und ausgeruht. Nur die Halswunde ziepte ein klein wenig, aber auch wiederum nicht so viel, dass es sie beeinträchtigt hätte.
Sie blickte aus dem Fenster und erkannte an dem besonderen Zwielicht, welches draußen herrschte, dass es noch sehr früh sein musste.
Einen Augenblick erwog sie, sich noch einmal umzudrehen, doch eigentlich war sie komplett wach. Daher schwang sie die Beine aus dem Bett und ging ins Badezimmer, um sich unter die Dusche zu stellen.
Das heiße Wasser spülte ihre Poren frei und gab ihr das ersehnte Gefühl von Sauberkeit zurück, das sie bereits vermisst hatte. Sie hatte keine Ahnung, ob Theresa sie auch gewaschen hatte, während sie bewusstlos gewesen war, vermutete es aber.
Trotzdem war diese Katzenwäsche natürlich kein Vergleich zu dem herrlichen Prasseln der Wasserstrahlen auf ihrer Haut. Außerdem hatte sie selbst gemerkt, dass ihre Haare verschwitzt und fettig waren und massierte mit Wonne das Shampoo in die langen Strähnen.
Als sie fertig war und sich angezogen hatte, fand sie auf dem Tischchen in ihrem Zimmer ein Tablett mit Frühstück – und diesmal verdiente die Mahlzeit ihren Namen. Knusprige Brötchen, Marmelade, Müsli, Wurst- und Käseaufschnitt, sogar ein weichgekochtes Ei fand sich unter dem Tuch, welches über dem Tablett ausgebreitet war. Durstig leerte sie ein Glas Orangensaft und machte sich dann heißhungrig über die Köstlichkeiten her.
Anschließend fühlte sie sich angenehm satt und zufrieden.
Was sollte sie nun tun? Sich wieder ins Bett legen? Nein, entschied sie, garantiert nicht. Das Bettzeug müffelte und musste dringend gewechselt werden, bevor sie sich wieder hineinlegte. Hanna stand auf und trat ans Fenster, öffnete beide Flügel weit und lehnte sich hinaus.
Sie blickte direkt in den Schlosshof hinunter und konnte knapp über die Mauerkrone sehen, allerdings auch nur bis in die Baumwipfel des umgebenden Waldes.
Eine Bewegung unten im Hof zog ihren Blick an und sie sah hinunter. Eine dunkel gekleidete Gestalt stapfte über den Kies und verschwand in der Sporthalle, hinter deren Fenstern gleich darauf helle Lichter aufflammten.
War das nicht Luca gewesen?
Trainierte der schon so früh am Tag?
Hanna zog den Kopf zurück und beschloss nach Ludwig zu suchen. Zwar kannte sie sich kaum aus im Schloss, aber sie sagte sich, dass sie ja irgendwann damit beginnen musste, sich auf eigene Faust zurechtfinden zu wollen.
Sie verließ also ihr Zimmer und blieb einen Moment vor der Tür stehen, blickte den Gang hinauf und hinunter und wählte dann die Richtung, in die sie einige Tage zuvor mit Diana gegangen war.
Mit energischen Schritten lief sie durch den breiten Flur und suchte nach der Treppe, die irgendwo an seinem Ende sein musste.
Zu beiden Seiten des Korridors befanden sich Zimmertüren, ohne dass sie gewusst hätte, was sich dahinter verbarg, oder werd dort wohnte, doch als sie die Treppe bereits sehen konnte, beschlich sie ein eigenartiges Gefühl plötzlicher Schwäche.
Sie schwankte mit einem Mal und streckte die Hand nach der Wand aus, um sich abzustützen.
Was war denn jetzt los?
War sie doch noch stärker angeschlagen, als gedacht?
Sie machte zwei weitere Schritte vorwärts, musste aber gleich wieder innehalten. Ihr Mageninhalt stieg ihr sauer in die Kehle, und sie konnte nur mit Mühe verhindern, dass sie sich übergab. Das Atmen wurde schwer, und sie spürte vage, dass ihr am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.
Mit einer Hand raffte sie am Ausschnitt ihrer Bluse, wie um sich Luft zu verschaffen, japste aber nur noch mehr, brach in die Knie und lag schließlich auf allen Vieren, unfähig sich emporzustemmen.
Eine ungeheure Beklemmung legte sich auf ihre Brust, in der sich plötzlich alles hohl und leer anfühlte, so als fehlte etwas ungeheuer Wichtiges, und sie hatte das Gefühl, als werde sie von einem Zentnergewicht nieder gedrückt.
„Hanna!“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie hätte gern den Kopf gehoben, um zu sehen, wer es war, konnte es aber nicht.
Die Stimme schien vertraut, doch das Rauschen in ihren Ohren machte es unmöglich genau zu sagen, um wen es sich handelte. Kräftige Hände fassten sie unter den Achseln, zogen sie in die Höhe, und gleich darauf wurde sie hochgehoben und zurück zu ihrem Zimmer getragen.
Je näher sie dem vertrauten Raum kam, umso mehr flaute ihr Puls ab, das Rauschen in den Ohren verschwand, und sie konnte endlich die Person erkennen, die sie auf den Armen hielt.
Es war ihr Halbbruder.
Erschöpft schloss sie die Augen und ließ sich auf ihr Bett legen. Plötzlich war die angeschmuddelte Bettwäsche überhaupt nicht mehr wichtig.
Von Berching eilte ins Bad und kam kurz darauf mit einem feuchten Waschlappen zurück, mit dem er ihr das Gesicht abwischte. Dankbar machte sie die Augen wieder zu und sah erst auf, als der Lappen verschwand und eine liebevolle, besorgte Hand ihr die Haare aus der Stirn strich.
„Was war denn los? Du bist ja regelrecht zusammen geklappt!“ Besorgt runzelte der Baron bei seiner Frage die Stirn. „Hast du dich übernommen? Wo wolltest du überhaupt hin?“
„Ich wollte nur Ludwig suchen und ihn um saubere Bettwäsche bitten, sonst nichts. Und vorher habe ich bloß geduscht und ganz normal gefrühstückt! Das kam wie angeflogen – keine Ahnung, was das war!“
Sie sah ratlos zu ihm auf. „Kurz vorher war ich noch total fit, und jetzt fühle ich mich auch wieder gut.“
Ihr Halbbruder hielt ihre Hand in seiner und musterte sie aufmerksam.
„Vielleicht sollten wir doch lieber einen Arzt zu Rate ziehen?“ überlegte er laut, doch Hanna wiegelte rasch ab.
„Nein, nein, mir geht’s doch schon wieder gut! Wahrscheinlich war es einfach nur leichtsinnig von mir, nachdem ich vier Tage bewusstlos war, gleich auf eigene Faust im Schloss herum zu wandern. Vielleicht gehe ich besser erst mal nicht mehr allein, bis ich wieder völlig fit bin!?“
Von Berching nickte und stand auf. „Bleib´ auf jeden Fall erst mal liegen. Ich schicke dir Ludwig vorbei, und Theresa wollte ja auch noch nach deiner Halswunde sehen. Sie sagte etwas davon, dass sie sich entzündet hätte – hast du Schmerzen?“
Hanna schüttelte den Kopf. „Nein, wirklich nicht. Es piekt ein bisschen, wenn ich den Hals drehe, aber sonst nichts.“
Einen Herzschlag lang betrachtete der Baron sie noch etwas unschlüssig, dann meinte er: „Also, ich lasse dich jetzt allein, aber ich denke, es ist besser, wenn ich Ludwig bitte, die alte Klingel neben deinem Bett wieder in Betrieb zu nehmen, damit du dich melden kannst, falls etwas sein sollte. Wir haben das Rufsystem zwar abgestellt, weil es uns zu altmodisch erschien, aber die Leitungen sind alle noch vorhanden. Lediglich die alten Zugseile haben wir entfernt. Es dürfte kein Problem sein, wieder eins anzubringen. Und ich werde Theresa bitten, umgehend nach dir zu sehen. Wenn du also das Zimmer verlassen möchtest, melde dich bitte, damit dich jemand begleitet, ja?“
Hanna versprach es, und von Berching verließ das Zimmer.
Mit raschen Schritten eilte er über den Gang und klopfte dann an die Tür, vor der Hanna zusammengebrochen war. Zunächst rührte sich nichts, und er glaubte schon, die Bewohnerin des Raumes sei nicht anwesend.
Das hätte natürlich auch erklärt, warum sie offenbar nichts vom Zusammenbruch der Sucherin direkt vor ihrer Tür bemerkt hatte...
Doch gerade, als er schon gehen wollte, ertönte von drinnen eine Frauenstimme.
„Ja? Wer ist da?“
Es war unverkennbar Theresas Stimme, doch sie klang belegt und irgendwie seltsam, so als wäre die Sprecherin gerade erst aus einem tiefen Schlaf aufgewacht.
„Theresa? Ist alles in Ordnung?“ Der Baron runzelte die Stirn.
„Ja. Nein. Ich weiß nicht.“ Die Hüterin klang verwirrt, und von Berching griff nach der Türklinke. Gleich darauf stand er mitten im Zimmer und sah einigermaßen verwundert auf die junge Frau, die vollständig angezogen auf dem verwühlten Bett lag.
Er trat näher. „Verzeih` dass ich einfach so hereinkomme, aber du klingst nicht gut. Bist du krank?“
Besorgt musterte er das blasse Gesicht, welches im Kontrast zu den schwarzen Haaren noch bleicher schien, als es ohnehin war. Theresa rieb sich über die Stirn und sah verständnislos an sich hinunter.
„Keine Ahnung, was mit mir los ist. Ich weiß nur noch, dass ich gestern Abend in die Stadt gefahren bin, um Salbe zu kaufen.“
„Das hast du offensichtlich auch getan.“ Der Baron deutete auf eine kleine Tüte, die auf dem Tischchen in der Nähe des Fensters lag. Sie folgte seiner Geste mit dumpfem Blick und schien zu überlegen.
„Ich habe keinen Schimmer, wie ich nach Hause gekommen bin. Ob ich mir was eingefangen habe?“
Von Berching setzte sich an die Bettkante und legte eine Hand auf ihre Stirn.
„Du scheinst tatsächlich Fieber zu haben. Vielleicht war es ja alles etwas viel für dich in der letzten Zeit?! Erst die anstrengende Reise wegen dem Buch, dann hast du dich gleich nach deiner Rückkehr Tag und Nacht um Hanna gekümmert, wer weiß? Vielleicht fordert dein Körper jetzt den Tribut?“
Theresa verzog das Gesicht. „Christian, du lebst wirklich noch im Mittelalter! Auch wenn ich eine Frau bin – so zerbrechlich sind wir gar nicht! Wir halten eine Menge aus! Obwohl du das nicht glaubst und uns immer noch am liebsten in Watte packen möchtest wie in irgendeinem früheren Jahrhundert! Ich schätze, ich habe mir nur einen Virus eingefangen, das ist alles. Ich bleibe einfach mal einen Tag im Bett, schlafe mich aus, und du wirst sehen, morgen geht es mir wieder gut!“ Sie lächelte und lehnte sich zu ihm hin. Nach einem Moment des Zögerns legte der Baron seinen Arm um ihre Schulter und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Vielleicht hast du recht.“ sagte er und stand auf. „Ich schätze, dann ist es auch besser, wenn ich dich jetzt in Ruhe lasse. Was meinst du, soll ich mir Hannas Wunde selbst ansehen? Salbe aufzutragen kriege ich wohl gerade noch hin.“
Theresa schaute ihn skeptisch an. „Eigentlich glaube ich, es wäre besser, wenn Diana das macht. Sie hat mir schon öfters bei solchen Dingen geholfen und weiß, worauf sie achten muss.“
Von Berching nickte und griff nach der Apothekentüte. „Dann sage ich ihr am besten gleich Bescheid, in Ordnung? Und du ruhst dich aus, bis es dir besser geht. Ganz egal, ob morgen, übermorgen oder erst in einer Woche!“
Er wollte das Zimmer verlassen, doch ein leiser Ruf von Theresa hielt ihn zurück. Als er sich zu ihr umwandte, hatte die junge Frau eine Hand nach ihm ausgestreckt. Lächelnd ergriff er sie, und sie zog ihn aufs Bett zurück.
„Willst du mich ernsthaft so abspeisen, Christian?“ lächelte sie schelmisch und schlang die Arme um ihn. Er lachte und ließ sich von ihr tief und leidenschaftlich küssen, erwiderte den Kuss und hielt ihre schmale Gestalt in einer festen Umarmung. Nach einer Weile machte er sich allerdings lachend los und scherzte: „Dir scheint es ja doch schon wieder gut zu gehen, was?“
Sie erwiderte sein Lachen und hielt ihn fest. „Mir geht’s immer gut, wenn du bei mir bist, Christian, das weißt du doch. Wir hatten nur in den letzten Wochen viel zu wenig Zeit für einander, findest du nicht auch? Wie wäre es, wenn du noch ein bisschen bleibst?“
Sie schob die Unterlippe vor und sah ihn von unten herauf bittend an. Von Berching war überrascht, so offensiv kannte er Theresa nicht.
„Ich denke, das wäre keine gute Idee, Liebes." sagte er langsam. "Du bist nicht gesund, und ich habe in einer halben Stunde einen wichtigen Termin. Wenn es dir wieder besser geht, komme ich aber gern auf dein Angebot zurück.“
Ihre Augen verdunkelten sich, sie stand auf und kam mit wiegenden Hüften lächelnd auf ihn zu. Dabei streifte sie ein Kleidungsstück nach dem anderen ab und warf es beiseite. „Und ich kann wirklich gar nichts tun, um dich umzustimmen?“
Er stand da wie gebannt, sah ihr zu und schluckte. Es stimmte schon – in letzter Zeit hatten sie sich viel zu selten gesehen, geschweige denn Zeit für einander gehabt und bei aller Zurückhaltung – auch er war nur ein Mann...

*



In Hannas Zimmer war der Strom der Besucher nicht abgerissen. Zuerst tauchte Ludwig auf, um das Frühstückstablett abzuräumen und die Bettwäsche zu wechseln. Kurze Zeit später kam er noch einmal und brachte eine Samtkordel neben ihrem Bett an, mit der sie die Hausglocke betätigen konnte. Der Ruf kam dann in der Küche und im Dienstbotentrakt an.
Kaum war er verschwunden, erschien Diana auf der Bildfläche, um sich im Auftrag des Barons ihre Halswunde anzusehen. Während sie einen Salbenverband anlegte, plauderten die Mädchen fröhlich, und Hanna hatte auch Gelegenheit, einige Fragen zu stellen, die ihr nach den Erlebnissen der letzten Tage im Kopf herumgingen.
So erfuhr sie beispielsweise, dass das Schloss von einem Schutzkreis umgeben war, der Dämonen daran hinderte, das Gelände zu betreten.
Dies erklärte auch, was Hanna am Abend ihrer Entführung beobachtet hatte.
„Das ist bei allen Häusern des Ordens so.“ fügte Diana noch hinzu.
„Bei Allen? Wieviele gibt es denn davon?“ wollte Hanna wissen. „Wenn man das Schloss mitzählt drei. Alle hier in Deutschland und jedes unter der Leitung eines Mitglieds der Familie von Berching. Der Orden hat nicht mehr als vielleicht ein Dutzend kämpfende Mitglieder, die in diesen Ordenshäusern leben. Dafür gibt es aber eine Menge anderer Menschen, die uns unterstützen und nach außen hin ein scheinbar völlig normales Leben führen. Du findest praktisch in jeder größeren Stadt irgendwelche Helfer, deren Familien den Armoritanern teilweise schon seit Generationen dienen. Aus deren Reihen stammen für gewöhnlich auch die Krieger und deren Schilde. Dass jemand von außen rekrutiert wird, so wie ich, kommt fast nie vor. Bei mir war es eine Ausnahme, zum Einen wie schon mal gesagt, wegen meiner Fähigkeiten, und zum Anderen weil meine gesamte Familie von Dämonen ausgelöscht wurde. Das war vor drei Jahren, und der Großmeister erkannte damals sofort, was in mir schlummerte, als er mich fand. Ich lebte als Einzige noch, weil ich reflexartig einen Schutzschild um mich gewoben hatte, als die Dämonen versuchten, mich zu töten. Er nahm mich mit hierher und schlug mir vor, mit einem Krieger zusammen als Schild zu arbeiten. Ich habe nicht wirklich lange überlegt, und so habe ich Jan getroffen.“
Ihr Gesicht nahm einen leichten Rosaton an und Hanna musste lächeln.
„Du magst ihn sehr, oder?“ Der rötliche Hauch vertiefte sich und Diana versuchte ihre Verlegenheit mit ausladenden Gesten zu überspielen. „Mögen? Jan? Ich?“
Sie stand auf und lief nervös hin und her, nahm Dinge zur Hand und legte sie wieder hin. „Naja, was heißt mögen … wir verstehen uns ganz gut, das schon...“
Sie brach ab und Hanna kicherte.
„Was? Warum lachst du?“ fuhr die Rothaarige auf und versetzte Hanna einen etwas unsanften Schubs in die Seite, was diese aber nur noch mehr zum Lachen reizte. Schließlich griff Diana sich ein Kissen und warf es Hanna an den Kopf, diese schleuderte es zurück, und schließlich lachten beide wie übermütige Kinder, bis sie nebeneinander aufs Bett plumpsten und nach Atem ringen mussten.
Nach einer Weile stemmte Diana sich auf die Ellbogen hoch und sah Hanna grinsend an. „Wenn ich zugebe, dass ich Jan mag, musst du aber auch ehrlich sein!“ Verwundert schaute das dunkelhaarige Mädchen hoch.
„Wie meinst du denn das?“ wollte sie wissen.
„Na, ganz einfach – gib´s zu, dass du auf Luca stehst!“
Hanna fuhr hoch und protestierte sofort: „Luca? Wie kommst du denn auf sowas?“
Das Grinsen im Gesicht ihres Gegenübers wuchs in die Breite. „Ich hab´ Augen im Kopf! Er gefällt dir, oder etwa nicht? Muss ich erst wieder deine Gedanken lesen?“
„Untersteh´ dich!“ brauste Hanna auf, und Diana lachte hell auf. „Keine Sorge! Ich kann mich gerade noch beherrschen!“
In diesem Moment klopfte es und Hanna rief: „Herein!“ Die Tür schwang auf, und draußen standen Luca und Jan.
Beide sahen reichlich konsterniert drein, als sich die Mädchen verdutzt anschauten und dann in laut schallendes Gelächter ausbrachen.

*



Seit dem missglückten Ritual raste Asmodis vor Wut.
Heftiger denn je bäumte er sich in seinen Fesseln auf und versuchte sie zu zerreißen.
Dass es ihm nicht gelang, fachte seinen Zorn nur umso mehr an.
Sein Diener Malus ließ sich nicht blicken, und der schwarze Fels bebte unter seiner Raserei.
Doch schließlich spürte er eine Veränderung in der Luft.
Er hielt inne in seiner Tobsucht und streckte gleichsam witternd die Nase in den Wind, der mit unveränderter Intensität die schwarzen Sandkörner Schmirgelpapier gleich über die Insel fegte.
Die umgebende Luft flirrte, begann zu wabern, und er lauerte angespannt darauf, was geschehen würde.
Kam Malus endlich zurück?
Sein schwarzes Herz schlug schneller bei der Vorstellung, was er am liebsten mit seinem unfähigen Diener machen würde.
Doch als sich tatsächlich eine Gestalt manifestierte und unterwürfig vor ihm kniete, traute er seinen Augen kaum.
Er spürte den Dämon, doch die Gestalt, die er sah, stand im krassesten Gegensatz dazu und entfachte seinen Zorn von Neuem.
„MALUS?“ dröhnte seine Stimme über den schwarzen Ozean.
„Mein Herr und Meister!“ kam die prompte Antwort.
Asmodis entfaltete seine Schwingen, fuhr die gewaltigen Krallen aus und scharrte in ohnmächtiger Wut über den Fels, dass kleine Steinsplitter durch die Luft flogen.
„WIE KANNST DU ES WAGEN? WILLST DU MICH VERSPOTTEN?“ donnerte er.
Die Gestalt hob den Kopf.
„Nein, Meister! Die Gelegenheit ergab sich, und es schien mir nur passend, dass der Untergang der verfluchten Armoritaner aus ihren eigenen Reihen besiegelt werden würde! Jetzt, wo ich mich in diesem Körper verberge, ist die Barriere zu ihrem Schloss kein Hindernis mehr für mich! Und was noch besser ist: noch heute Nacht bringe ich Dir die Sucherin, Meister! Diesmal gehe ich kein Risiko ein. Kein Ritual in der sterblichen Welt wird es sein, sondern ich bringe das Mädchen her, und Du selbst kannst sie töten! Ihr Blut wird Dich endlich befreien, Meister!“
Der Kopf der Gestalt sank dem Boden entgegen, und widerwillig musste sich Asmodis eingestehen, dass sein Diener vielleicht doch nicht so unfähig war.
„GEH! BRING´ MIR DAS MÄDCHEN! UND SORGE DAFÜR, DASS ES DIESMAL KEIN FEHLSCHLAG WIRD!“

*




Müde lag Hanna in ihrem Bett und wartete auf den Schlaf, vorläufig wollte er sich jedoch nicht einstellen.
So vieles war in den letzten Tagen passiert, sie hatte so viel Neues und Unglaubliches gehört, gesehen und gelernt, dass sie beinahe Angst hatte, den Kopf zu hastig zu bewegen, aus Furcht, einige der Dinge, die noch keinen festen Platz in ihrem Verstand gefunden hatten und quasi noch unsortiert herumlagen, könnten herausfallen.
Natürlich war das Unsinn, aber ihr schien das Bild, welches sie mit dieser Vorstellung verband, sehr passend.
Es gab viel für sie zu sortieren: der Orden, Dämonen, ihre eigene Rolle als Sucherin und so viele Kleinigkeiten, die auf den ersten Blick unwichtig schienen, sich aber hier und da unerwartet in den Vordergrund drängten und beachtet werden wollten.
Wie zum Beispiel die Frage nach dem Eis, welches sie in ihrer verwüsteten Küche vorgefunden hatte. Wenn Hanna sich die Hölle vorstellte, dann gewiss nicht als einen Ort, an dem es Eis gab. Zu sehr spukte in ihrer Vorstellung das Höllenfeuer ihrer Kindergeschichten herum.
Doch die Anderen hatten es ihr erklärt.
„Das Eis ist quasi die Visitenkarte des Dämons, der deine Mutter übernommen hat. Jeder von ihnen hinterlässt eine. Beim Einen ist es Feuer, beim Anderen Eis, aber genauso gut hättest du eine stinkende Schwefelwolke vorfinden können, eine Schleimspur oder sonstwas. Das ist vergleichbar mit dem Beinheben von Hunden: Hier war ich, Finger weg!

Dämonen sind von Haus aus nun mal keine Teamplayer. Dafür sind sie zu eitel und selbstverliebt. Nur wenn ein Stärkerer sie dazu zwingt schließen sie sich zusammen, oder wie jetzt wenn es um ein bestimmtes Ziel geht, von dem sie sich alle einen Vorteil erhoffen.“
Das war zwar eine seltsame, aber dennoch irgendwie einleuchtende Erklärung.
Und dann war da natürlich noch Luca...
Hatte Diana recht, wenn sie behauptete, sie – Hanna – fände Gefallen an ihm?
Das war doch absurd, oder?
Grummelnd drehte sie sich auf die andere Seite. Als ob sie Gefallen finden könnte an so einem ungehobelten, schlecht gelaunten, groben, eingebildeten ….. ihre Gedanken stockten, denn plötzlich stand ihr ein Bild vor Augen: Luca, wie er hier in ihrem Zimmer auf dem Sofa saß und grinste.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und erneut wälzte sie sich herum.
Naja, okay, an diesen Luca könnte sie sich eventuell sogar gewöhnen....
Das Bild verschwand und wurde abgelöst von einer anderen Erinnerung – Lucas Gesicht, als sie in der Fabrikhalle dem Tod nahe war und er ihren Namen rief.
Aber selbst wenn Diana recht hatte und sie etwas für ihn übrig hatte, spielte das keine Rolle.
Sein Verhalten ihr gegenüber zeigte doch deutlich, dass er sie für ein nervendes Ärgernis hielt, nicht wahr?
Seufzend setzte sie sich auf, denn sie hatte das Gefühl, immer wacher zu werden anstatt schläfriger. Wütend boxte sie in ihr Kopfkissen und mummelte sich dann in die Bettdecke ein, als könnte sie auf diese Weise die ungebetenen Bilder und Gedanken aussperren. Sie bemühte sich, an etwas anderes zu denken, etwas Schönes, und plötzlich fiel ihr ihre Mutter wieder ein. An sie hatte Hanna während der letzten Stunden überhaupt nicht gedacht, und jetzt schmerzte ihr Gewissen, obwohl es sich dabei doch um reinen Selbstschutz gehandelt hatte.
Das Wissen, dass ein Dämon im Körper der Frau steckte, die sie zwar nicht geboren hatte, wie sie jetzt wusste, aber sie doch zweifelsohne geliebt hatte, wie ihr eigenes Kind, war zuviel, als dass Hanna es ertragen hätte, ständig daran zu denken. Trotzdem erschien es ihr wie ein Frevel, hier zu liegen und über ihre Gefühle für einen Jungen nachzugrübeln, während sie keine Ahnung hatte, wie es ihrer Mutter ging.
Entschlossen kniff sie die Augen zu, denn sie wollte nicht weinen, drängte die aufsteigenden Tränen zurück und schwor sich im Stillen, dass sie alles daransetzen wollte, ihre Mutter ausfindig zu machen und sie von dem Dämon zu befreien. Mit diesem Vorsatz im Kopf schlief sie endlich ein.


Sie wachte auf, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, es wäre kalt. Sie schlug die Augen auf und blickte an die Wand, spürte im gleichen Moment dieselbe schreckliche Beklemmung wie am Morgen und wusste mit einem Mal, dass die Ursache dafür hier mit ihr im selben Raum war.
Es war dunkel, und sie spitzte die Ohren, während sie versuchte, ihren Atem ruhig zu halten und sich nicht zu bewegen. Sie hörte nichts, aber das Gefühl verschwand nicht. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und drehte sich vorsichtig um, darauf gefasst, jeden Moment von einem schrecklichen Monster angegriffen zu werden, welches aus dem Dunkel gestürzt kam. Das geschah jedoch nicht, und sie schimpfte sich eine Idiotin.
Sie war hier im Schloss des Armoritaner-Ordens. Das Gelände war durch einen Bannkreis geschützt, also was für Ungeheuer sollten hier ihr Unwesen treiben?
Noch immer einer Panik nahe, ließ sie ihre Blicke durch die Düsternis des Raumes schweifen und wurde geblendet, als plötzlich eine Wandlampe aufflammte.
Reflexartig kniff sie die Augen zu und hob eine Hand, um sie abzuschirmen und zu sehen, wer derjenige war, den sie im Sekundenbruchteil zwischen dem Klicken des Lichtschalters und dem Schmerz in den Augen auf dem kleinen Sofa hatte sitzen sehen, bevor sie ihre geweiteten Pupillen vor dem jähen Lichteinfall schützen musste.
Sie blinzelte und ließ die Hand dann erstaunt sinken.
„Christian? Was machst du denn hier?“ Doch die hochgewachsene Gestalt gab ihr keine Antwort, sondern stand wortlos auf. Verdutzt starrte Hanna ihren Halbbruder an, der sich schweigend ihrem Bett näherte, und als sie in seine Augen sah, fasste jähes Begreifen mit kalten Fingern nach ihrem Herzen.
Das war nicht wirklich ihr Halbbruder sondern ein Dämon, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie das möglich war!
Seine sonst so freundlichen Augen waren nur mehr lichtlose Löcher und strahlten jene Kälte ab, die Hanna geweckt hatte. Der Mund war zu einem grausamen Lächeln verzerrt, und je näher er kam, umso deutlicher fühlte sie den Hass, den er für sie empfand.
Unfähig, auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben, rutschte sie im Bett rückwärts, bis sie an die Wand stieß, ihre Hände glitten über die Täfelung, und sie hatte keine Ahnung was sie machen sollte. Sie hätte gern geschrien, aber ihr Hals war wie zugeschnürt.
„Hilfe!“ krächzte sie und hörte ihn zynisch lachen.
„Schrei´ nur! Selbst wenn sie dich hören, werden sie zu spät kommen. Wir Beide machen jetzt eine kleine Reise! Ich möchte dich jemandem vorstellen, Schwesterherz! Er brennt schon förmlich darauf, dich kennen zu lernen, glaub´ mir!“
Noch einmal lachte er und streckte die Hände nach ihr aus. Sie wollte ihm ausweichen, doch er war schnell und packte sie, wollte sie vom Bett zerren, und es war nur dem Gewicht der um ihre Beine gehedderten Bettdecke zu verdanken, dass es ihm nicht auf Anhieb gelang.
Hanna ruderte wild mit den Armen, und plötzlich bekam sie etwas zu fassen – die Samtkordel des Dienstbotenrufs!
Einen Wimpernschlag lang zögerte sie, bis sie begriff, was sie da in den Fingern hielt, doch dann zog sie mit aller Kraft.
Mit einem wütenden Knurren packte er ihre Hand und riss ruckartig daran, sodass ihr die Schnur heiß durch die Finger glitt und sie sie reflexartig öffnete. Im nächsten Moment hatte er sie auf die Füße gezerrt, presste sie fest an sich und intonierte eine kurze Beschwörung.
Sekunden später bewies nur noch das zerwühlte Bettzeug auf dem Boden, dass hier etwas nicht stimmte...

...wird fortgesetzt

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Texte: Coverbild: 108132_R_by_rotmabe_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2011

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