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Da stehe ich nun, starre aus meiner dunklen Wohnung hinaus in die Nacht, betrachte die Wolken, die vom stürmischen Wind über den Himmel getrieben werden, als wären sie auf der Flucht vor irgendetwas unaussprechlich Bösem und warte darauf, dass der Mond über die Häuserzeile steigt, die ihn jetzt noch vor meinen Blicken verbirgt.
Abend für Abend wiederholt sich dieses Spiel seit nunmehr drei Wochen, und von Tag zu Tag fürchte ich mich mehr, wenn ich sehe, wie die silberne Scheibe am Nachthimmel unaufhaltsam wächst und der Tag des nächsten Vollmondes immer näher kommt.
Geistesabwesend streiche ich mir über die frischen, fast unsichtbaren Narben auf meinem linken Unterarm, während ich wie hypnotisiert nach draußen schaue und den Mond allein mit der Kraft meiner Gedanken zurück unter die Horizontlinie zu zwingen versuche. Natürlich gelingt mir das nicht, und wenn ich es nicht mehr aushalte, wenn die nackte Panik mit Geisterfingern nach mir greift, mein Herz fast bis zum Zerspringen schlägt und ich trotz meines hektischen Atmens einfach nicht mehr genug Luft in die Lungen zu bekommen scheine, dann lasse ich mit fliegenden Fingern die Jalousien herunter und ziehe die Vorhänge vor, als könnte ich nicht nur das Mondlicht aussperren, sondern auch alles Andere, was damit zusammenhängt, auf verstohlenen Pfoten durchs Dunkel schleicht und mir seit Wochen immer näher kommt.
Das Schlimmste ist, dass ich es bereits in mir spüren kann! Obwohl mir der Anblick des Mondes solche Angst macht, fühle ich seine Verlockung in meinem Blut, jedesmal wenn das bleiche Licht meine Haut berührt.
Dann stellt sich das Tier in mir geifernd auf die Hinterpfoten und streckt seine furchtbare Schnauze in die Luft, gleichsam Witterung aufnehmend und begierig auf den Tag, wo es endlich frei sein wird.
Dieser Tag ist es, vor dem ich mich am meisten fürchte und ich weiß, dass er kommt, so sicher wie auf den Herbst der Winter folgt und auf den Tag die Nacht.
Das Tier ist bereits zu einem Teil von mir geworden, ein Parasit, der sich untrennbar mit mir verbunden hat, und der einzige Weg, ihn loszuwerden wäre mein Tod, doch selbst der ist mir nicht mehr vergönnt.
Ich habe es längst versucht, habe Tabletten geschluckt, mir die Pulsadern aufgeschnitten und bin zuletzt sogar von einem alten Wasserturm gesprungen. Doch das Einzige, was es gebracht hat, waren Schmerzen.
Die Tabletten wurden von meinem veränderten Metabolismus buchstäblich verbrannt, ohne den geringsten Schaden anzurichten, die Schnitte in meinen Unterarmen verheilten binnen Sekunden, und als ich mit verdrehten Gliedern unter dem Turm lag und jeder einzelne zerschmetterte Knochen meines Körpers seine eigene Melodie des Schmerzes sang, spürte ich schon kurz nach dem Aufprall, wie sie sich wieder zusammen zu fügen begannen.
Kaum zehn Minuten später konnte ich aufstehen und nach Hause gehen, als wäre nichts geschehen!
Es scheint also keinen Weg zu geben, der daran vorbei führt: In dem Moment, in der ersten Minute, wenn der Vollmond sein Gesicht das nächste Mal über den Horizont schiebt, verwandle ich mich in ein Monster und bringe Tod und Verderben über jeden, der mir in die Quere kommt!
Dabei war es doch das genaue Gegenteil, was ich stets wollte! Helfen und heilen waren schon immer die erklärten Ziele meines Daseins, darauf habe ich seit meinem 15. Lebensjahr hingearbeitet!
Habe das Gymnasium sausen lassen, um stattdessen eine medizinisch-technische Fachschule zu besuchen und danach die Krankenpflegeausbildung zu machen.
Obwohl die drei Jahre Lehrzeit nicht immer einfach waren, war es mir gelungen, im Staatsexamen alle drei Prüfungsbereiche – mündlich, schriftlich und praktisch – mit „Sehr gut“ abzuschließen, und danach fand ich problemlos eine Stelle im Fachbereich meiner Wahl, der Chirurgie.
Dort hatte ich mich über den Zeitraum von zehn Jahren allmählich hochgearbeitet und zuletzt war ich stellvertretende Stationsschwester. Ich ging in meiner Arbeit auf, mit Patienten, Ärzten und Kollegen kam ich gut zurecht und wurde auch vom Chefarzt geschätzt.
Aber all das ist nichts mehr, als nur noch ein ferner Traum, zerstört in einer einzigen Nacht, vor mittlerweile etwas mehr als drei Wochen...

Ich hatte Nachtdienst, und obwohl mir meine Arbeit an sich Freude machte, war Nachtdienst im November etwas, was nicht gerade dazu beitrug, meine Laune zu heben, denn man existierte praktisch nur noch in der Dunkelheit.
Wenn ich morgens früh vom Dienst nach Hause kam, dämmerte es noch nicht einmal. Dann machte ich mir nur rasch ein kleines Frühstück, überflog dabei kurz die Zeitung und kroch ins Bett, noch bevor es draußen hell war. Und wenn am späten Nachmittag der Wecker klingelte, sank bereits wieder die Finsternis herab. Manchmal sah ich tagelang keine Sonne, erst recht, wenn das Wetter so trübe und nasskalt war, wie in dieser Woche.
Es regnete leicht, und ein kalter Wind pfiff mir ins Gesicht, als ich in jener verhängnisvollen Nacht vom Parkplatz zum Eingang der Klinik hastete, fröstelnd und einzig von dem Wunsch beseelt, ins Warme zu kommen.
Am Himmel jagten Sturmwolken dahin und ließen nur hin und wieder eine hellere Lücke durchblitzen. Zwar war eigentlich Vollmond, doch der war noch nicht aufgegangen, und man hätte vermutlich auch nicht viel von ihm gesehen.
Als ich kurz darauf die Station betrat, erwartete mich hektische Betriebsamkeit, denn wenige Minuten zuvor war noch eine Neuaufnahme gekommen.
Während eine Kollegin bereits mit dem Bericht über die Ereignisse des Tages begann und mir erklärte, welche Patienten im Laufe des Tages operiert worden waren, welche Neuzugänge es gegeben hatte und worauf ich im Laufe der Nacht besonders zu achten hatte, kümmerten sich die beiden übrigen Kollegen um den neuen Patienten. Kurz bevor die eigentliche Übergabe beendet war, kamen sie abgehetzt herein und setzten sich zu uns.
Ich erfuhr nun, dass der neue Patient ein junger Mann von 28 Jahren war, der offenbar beim Joggen einen Zusammenbruch erlitten hatte. Mit unerklärlichen Schmerzen in Brust und Bauch war er in die Notaufnahme gebracht und dort als Fall für die Chirurgie eingestuft worden, nachdem sowohl der Kardiologe als auch der Internist nichts gefunden hatten, was in ihr Ressort wies.
Zwar hatte eine Ultraschalluntersuchung auch keine Ursachen geliefert, die eindeutig chirurgisch behandelt werden musste, doch da die Schmerzen noch immer nicht gänzlich verschwunden waren, wollte man ihn auch nicht nach Hause schicken. So landete er zur Beobachtung bei uns und lag in einem Einzelzimmer, direkt neben dem Schwesternzimmer.
Nicht, weil er so ein schwerer Fall gewesen wäre, sondern einfach weil er Glück hatte und das Zimmer gerade frei war.
Nachdem die Übergabe beendet war und ich mich von meinen Kollegen verabschiedet hatte, holte ich mir einen kleinen Rollwagen und packte meine üblichen Materialien darauf, die ich immer mit mir führte, wenn ich eine erste abendliche Runde durch die Zimmer drehte. Dazu gehörten Fieberthermometer, Blutdruckmesser und Schlaftabletten ebenso wie saubere Wassergläser, Mineralwasser, Papiertücher, Einmalhandschuhe und einige andere Kleinigkeiten. Natürlich hatte ich auch die Patientenkurven dabei, damit ich Messwerte und verabreichte Medikamente sofort eintragen konnte.
Ich mochte diese Tour durch die Patientenzimmer eigentlich sehr gern. Es ergab sich meistens die Gelegenheit zu einem – wenn auch kurzen – Plausch mit den Patienten, und man erfuhr oft Dinge, die in der Hektik des Tages untergingen. Es war ein gutes Gefühl, wenn ich - für gewöhnlich eine gute Stunde später - meine Runde beendete und alles bereit war für die Nachtruhe.
Natürlich herrschte auch nachts keine absolute Ruhe auf der Station, schließlich hatte man es mit kranken und alten Menschen zu tun. Oft genug schellte es, Frischoperierte mussten überwacht, Infusionen gewechselt und Patienten zur Toilette begleitet oder auf die Bettpfanne gesetzt werden. Gelegentlich hatte ich es auch schon mal mit einem schwereren Fall zu tun und musste mitten in der Nacht einen Arzt aus dem Bett klingeln. Neuaufnahmen kamen ebenfalls häufig während der Nacht und mussten angemessen versorgt werden. Und nicht zuletzt waren da noch der ganze Papierkram und die vielen Kleinigkeiten, die routinemäßig vom Nachtdienst erledigt werden mussten, wie das Auffüllen der Materialschränke in Untersuchungs- und Schwesternzimmer, das Reinigen des Arbeitsraumes und Ähnliches.
Langeweile kam wahrhaftig nie auf.
An diesem Abend ging ich zuerst zu dem neuen Patienten, um mich vorzustellen und zu sehen, wie es ihm ging.
Als ich die Tür nach einem flüchtigen Anklopfen öffnete, bekam ich zuerst einen leichten Schreck, weil er leichenblass mit geschlossenen Augen dalag und sich selbst bei meinem Eintritt nicht rührte.
Doch gleich darauf regte er sich, drehte den Kopf und schlug die Augen auf. Ein schwaches Lächeln huschte über seine markanten Züge, und er machte Anstalten, sich aufzusetzen. Dabei verzerrte er jedoch das Gesicht und presste eine Hand auf seinen Bauch. Offenbar bereitete ihm die Bewegung Schmerzen.
Ich bedeutete ihm daher, liegen zu bleiben und trat ans Bett.
„Haben Sie starke Schmerzen?“ fragte ich. „Soll ich vielleicht den Arzt rufen, damit er ein stärkeres Schmerzmittel verordnet?“ Aber er verneinte und meinte: „Nein, nein, lassen Sie nur, Schwester. Es geht schon. Ich habe mich nur zu plötzlich bewegt.“
Daraufhin stellte ich mich bei ihm vor und erklärte ihm, dass ich im Laufe der Nacht häufiger bei ihm hereinschauen würde, um zu sehen, wie es ihm ginge. Er könne sich aber jederzeit per Klingelknopf melden, falls die Schmerzen schlimmer würden, oder sonst etwas nicht in Ordnung sei.
Danach kontrollierte ich noch seinen Blutdruck und die Körpertemperatur und fand seine Werte leicht erhöht, aber nicht besorgniserregend.
„Haben sie eigentlich ihren Blinddarm noch?“ fragte ich, und er lächelte erneut.
„Das Gleiche hat mich der Arzt in der Notaufnahme auch schon gefragt!“ erklärte er und fügte hinzu: „Nein, der wurde ausgebaut, als ich noch im Kindergarten war. Und wenn er nicht nachgewachsen ist, muss ich Sie enttäuschen, auch wenn ich das nur ungern tue!“
„Nein, da wären Sie der Erste, dem das passiert!“ lachte ich, und er machte ein enttäuschtes Gesicht.
"Schade. Ich hatte schon gehofft, noch ein bisschen länger in den Genuss Ihrer Pflege zu kommen!"
Sieh mal an, war er etwa aufs Flirten aus? Trotz der Schmerzen?
Während ich seinen Puls fühlte, musterte ich ihn heimlich und gestand mir ein, dass er mir durchaus gefiel. Seine schwarzen Haare waren kurz und umrahmten ein gut geschnittenes Gesicht, mit einer etwas zu breiten Nase, tiefblauen Augen und einem sensiblen Mund.
Die Hand, die ich zum Pulsmessen angehoben hatte war lang und schlank, und die Fingernägel sauber und gepflegt, etwas was ich bei Männern sehr schätzte. Alles in allem durchaus ansehenswert!

dachte ich bei mir.
Ich verkniff mir ein Schmunzeln und trug seine Werte in die Kurve ein. Dann wünschte ich ihm eine gute Nacht und löschte das Deckenlicht, bevor ich den Raum verließ.
Meine Runde nahm an diesem Abend mehr Zeit in Anspruch als gewöhnlich, weil etliche unvorhergesehene Sachen dazwischenkamen. So musste ich in einem Zimmer eine Operationswunde komplett neu verbinden, da der Patient sich versehentlich selbst eine Wunddrainage gezogen hatte, in einem anderen Zimmer hatte eine demenzkranke, alte Dame sich von ihrer Windel befreit und mit ihren Ausscheidungen sehr kreative Dinge angestellt. Dazwischen klingelte noch etliche Male das Telefon, eine neue Patientin wurde gebracht, und ich musste mit dem diensthabenden Arzt wegen einer dringenden Blutentnahme verhandeln.
So war es schon fast 23 Uhr, als ich aus dem letzten Patientenzimmer kam und mich endlich den übrigen Dingen widmen konnte, die noch zu erledigen waren.
Eine knappe Dreiviertelstunde später machte ich den ersten meiner routinemäßigen Kontrollgänge durch die Zimmer. Inzwischen war es etwas ruhiger geworden, und die meisten Patienten schliefen.
Zuletzt betrat ich wieder das Zimmer des jungen Joggers, und auch er hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Zwar hatte ich im Nachtdienst immer eine Taschenlampe in der Kitteltasche, doch in seinem Zimmer brannte noch das Nachtlicht, sodass ich sie nicht brauchte, als ich näher ans Bett schlich und ihn schärfer in Augenschein nahm.
Aus der Nähe bemerkte ich, dass sein Gesicht von einem feinen Schweißfilm bedeckt war, und als ich vorsichtig nach seinem Puls fühlte, merkte ich, dass das auch auf seine Hand und demnach wohl auf den gesamten Körper zutraf.
Hatte er etwa Fieber?
Behutsam legte ich eine Hand auf seine Stirn und fuhr im nächsten Moment zurück, als er die Augen aufschlug und schon im gleichen Augenblick nach meiner Hand schnappte. Einen Moment lang war sein Gesicht eine verzerrte Grimasse der Wut, und ich machte einen unsicheren Schritt nach hinten.
Doch gleich darauf klärte sich sein Blick, und er wirkte mindestens ebenso entsetzt wie ich.
„Großer Gott! Entschuldigen Sie, Schwester. Ich bin nur so wahnsinnig erschrocken.“ Er senkte kurz den Blick und lächelte verlegen. „Ich hatte einen Alptraum, wissen Sie?“
„Einen Alptraum?“ echote ich etwas benommen und er nickte.
„Ja, vor einem knappen Monat hat mich beim Joggen ein wild gewordener Hund oder sowas angegriffen und in letzter Zeit träume ich immer wieder davon. Dann bin ich regelrecht in Panik. Ich weiß nicht, ich glaube, ich habe Sie eben für das Tier gehalten und, ...“ er brach ab, den Blick auf meinen linken Unterarm geheftet. „Oh Gott – war ich das?“
Ich folgte seinem Blick und entdeckte vier frische, blutige Kratzer, die sich etwas geschwollen und gerötet auf der Haut meines Armes abzeichneten. Er schien ehrlich bestürzt, und ich beeilte mich, ihn zu beruhigen.
„Keine Sorge! So etwas kommt schon mal vor, und ich bin ja selbst auch nicht ganz unschuldig. Immerhin habe ich mich im Schlaf an Sie rangeschlichen! Ich möchte nicht wissen, wie ich an Ihrer Stelle reagiert hätte!“
Doch er schaute immer noch betrübt auf die Verletzungen, sodass ich mich bemüßigt fühlte hinzu zu fügen:
„Das sind doch nur ein paar harmlose Kratzer! Wenn Sie mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätten, hätte ich sie noch nicht einmal gleich bemerkt!“ Dann wechselte ich das Thema: „Aber was ist denn nun mit Ihnen? Sie fühlen sich an, als hätten Sie Fieber! Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihre Temperatur messe? Vielleicht müssen wir doch nochmal den Arzt rufen!“
Er war einverstanden, und ich holte das Thermometer. Bei der letzten Messung war seine Temperatur bereits leicht erhöht gewesen, doch jetzt zeigte die Digitalanzeige 39,9° C. Ich sagte es ihm und fragte bei der Gelegenheit gleich nach seinen Schmerzen, doch die hatten sich nicht verändert.
Trotzdem hielt ich es für besser, mit dem diensthabenden Arzt Rücksprache zu halten und klingelte ihn aus dem Bett. Er war dementsprechend begeistert und ließ sich schweigend die Symptome schildern.
Dann meinte er: „Also, ich habe den Patienten in der Notaufnahme selbst gesehen und würde sagen, bis zum Morgen beschränken wir uns darauf, seine Symptome zu bekämpfen. Eigentlich wäre er ein Fall fürs CT, aber mitten in der Nacht kriegen wir das nicht, außer es handelt sich um einen Notfall und so dramatisch ist die Lage ja nicht. Geben Sie ihm Novalgin Tropfen gegen das Fieber, und legen Sie Kühlelemente in seine Leisten. Sollte er nicht darauf ansprechen oder seine Schmerzen schlimmer werden, rufen Sie mich wieder an, okay?“
Nach dem Auflegen führte ich die Verordnung aus, vermerkte sie im Krankenblatt und wandte mich wieder meinen übrigen Aufgaben zu. Allerdings dauerte es dann eine Zeitlang, bis ich mich dem jungen Patienten wieder widmen konnte. Eigentlich hätte ich seine Temperatur längst kontrollieren müssen, aber er war nun mal nicht der einzige Patient, und es gab andere, die mich wesentlich mehr auf Trab hielten, zumal ich ja nachts ganz allein auf der Station und somit für ALLES zuständig war.
Als ich dann endlich sein Zimmer betrat, hatte ich sofort das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte, konnte es aber nicht benennen. Er schien wie beim letzten Mal zu schlafen, war aber unruhig und bewegte sich in einem fort.
Lag es am Fieber? Oder träumte er wieder von der Hundeattacke, von der er mir erzählt hatte?
Er war noch immer schweißgebadet, und ich trat vorsichtig näher.
Als ich in sein Gesicht starrte, fiel mir plötzlich der ausgeprägte Dreitagebart auf. Hatte er den vorhin auch schon gehabt? Mein Blick wanderte zu seinen Händen, die permanent hin und her zuckten, und ich runzelte die Stirn. Hatte ich nicht ursprünglich noch gedacht, wie sauber und gepflegt seine Fingernägel waren? Offenbar hatte ich nicht genau genug hingesehen, denn jetzt sah ich deutlich, dass sie um einiges zu lang und von leicht gelblicher Farbe waren. Offenbar war ich gestresster, als angenommen. Nur gut, dass ich bloß noch eine einzige Nacht vor mir hatte!
Mit langem Arm – ich wollte nicht noch einmal zum Opfer seines Traumgebildes werden – fühlte ich nach seinem Puls und holte erschrocken Atem, als ich merkte, wie er raste. Ich berührte ihn an der Schulter und spürte bereits durch das Klinikshemd die Hitze seiner Haut.
Beunruhigt schüttelte ich ihn leicht, und er kam auf der Stelle zu sich.
„Wie fühlen sie sich? Sie glühen ja regelrecht!“
Sein Blick war unerwartet klar, als er antwortete: „Naja, nicht berauschend, aber auch nicht so schlecht. Außer, dass ich das Gefühl habe, als würde mir eine gefühlte Million Ameisen über den Körper laufen!“
Das wurde mir jetzt zu seltsam. Als ich die Temperatur kontrollierte, zeigte das Thermometer knapp über 41° C an, und ich erneuerte rasch die CoolPacks in seinen Leisten, bevor ich ans Telefon ging und den Pieper des Dienstarztes anwählte.
Doch die Stimme, die sich meldete, gehörte einer Schwester, und noch bevor sie es selbst sagte, wusste ich, was das bedeutete: Der Chirurg stand im OP und war unabkömmlich. Mist!
Dennoch schilderte ich das Problem und hörte dann, wie die Schwester alles für den Arzt wiederholte.
Im Hintergrund erklang das gleichmäßige Piepsen der Kreislaufüberwachung, Stimmen und leise Musik.
Ja, fiel mir ein, der Oberarzt der Abteilung stand in dem Ruf nur bei Musik zu operieren. Und wenn es sich um einen Notfall handelte, war es gut möglich, dass man ihn geholt hatte. Das bedeutete aber auch, dass es sich vermutlich nicht um etwas vergleichsweise Simples, wie etwa einen entzündeten Blinddarm handelte, was rasch abgehandelt wäre, sondern eher um eine größere Sache, die einige Stunden in Anspruch nehmen würde. Demnach war mit dem Auftauchen eines Arztes auf der Station vorerst nicht zu rechnen.
Ich vernahm eine Männerstimme, welche auf die Erklärung der Schwester zu antworten schien, konnte aber nichts verstehen. Doch die Übersetzung folgte auf dem Fuße, und ich erhielt die Anweisung, die Novalgin-Dosis zu erhöhen und zusätzlich zu den CoolPacks Wadenwickel anzulegen. Sollte auch das keinen Erfolg haben, durfte ich mich noch einmal melden, und man würde versuchen, einen Kollegen von der Internen Abteilung aufzutreiben und auf die Station zu schicken.
Verärgert legte ich auf. Verdammt! Wenn das Fieber noch etwas höher stieg, würde sein Zustand lebensbedrohlich, und ich konnte mich schließlich nicht neben ihn stellen! Dass das Novalgin keinen Einfluss darauf hatte, war doch bereits mehr als bewiesen, und meiner Meinung nach musste er dringend intensivmedizinisch überwacht werden. Aber ohne ärztliche Anordnung waren mir in jeder Hinsicht die Hände gebunden!
Ich ging also an den Medikamentenschrank und holte das Fläschchen mit den Tropfen heraus, doch während ich 20 Tropfen abzählte, ertönte aus dem Nebenzimmer plötzlich ein entsetzlicher Schrei.
Vor Schreck fiel mir fast die Flasche aus der Hand, deshalb stellte ich sie rasch ab und rannte hinüber.
Der junge Mann lag im Bett und schien eine Art Krampfanfall zu haben? Ein Fieberkrampf vielleicht?
Er bäumte sich auf und bog den Rücken durch, dass ich glaubte, sein Rückgrat krachen zu hören.
Ein neuerlicher Schrei höchster Qual entrang sich seiner Kehle, und er kratzte sich in einem fort über die Brust.
Ich gab dem Nachtschränkchen einen Stoß, damit es vom Bett wegrollte und er sich nicht daran verletzte, dann sprintete ich zurück ins Dienstzimmer und riss den Telefonhörer an mich. Ich drückte die Wahlwiederholung, und als sich kurz darauf erneut die Schwester meldete, fiel ich ihr ins Wort und sprudelte rasch hervor, was hier geschah.
Die Anweisungen, die folgten waren knapp und präzise. Der Diensthabende würde den OP verlassen und sofort kommen. Ich sollte inzwischen Valium aufziehen und den Notfallwagen bereit stellen.
In fliegender Hast riss ich Spritzen, Kanülen und Ampullen aus den Schränken und bereitete ohne nachzudenken alles für eine i.v.-Injektion vor. Anschließend rannte ich in das Untersuchungszimmer und zerrte den Notfallwagen aus seiner Ecke. Das alles dauerte keine fünf Minuten, doch als ich wieder vor dem Zimmer des Patienten ankam, war darin alles still.
Die Tür war angelehnt und ich verspürte plötzlich eine seltsame Scheu, sie aufzustoßen und in den Raum zu sehen. Eben noch hatte er regelrecht getobt und jetzt...?
War er bewusstlos geworden, oder sogar … tot?
„Du dumme Gans! Wenn er tatsächlich einen Herzstillstand hat, musst du ihm erst recht helfen! Also steh´ hier nicht so blöd rum, sondern beweg´ deinen Arsch! Mach´ schon!“

schimpfte ich mit mir selbst.
Was war denn jetzt auf einmal mit mir los? Das war doch nicht die erste Notfallsituation, die ich erlebte!
Entschlossen streckte ich die Hand aus, um die Tür aufzuschieben und den Notfallwagen hinein zu bugsieren, doch da drang ein Laut aus dem Zimmer, der mir im wahrsten Sinne des Wortes das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein kehliger, böser Laut, ein Knurren wie von einem Raubtier, obwohl ich mir in diesem Moment kein Raubtier vorstellen konnte, das in der Lage gewesen wäre, ein solches Geräusch zu produzieren.
Es weckte Vorstellungen von gelben Augen, scharfen Krallen und spitzen Reißzähnen.
Aber das war doch verrückt! Hier gab es doch keine Raubtiere! Das war ein Krankenhaus!
Wie gelähmt starrte ich auf die Tür, während das Knurren lauter wurde. Dann hörte ich mit unheimlich geschärfter Wahrnehmung ein leises Klicken wie von langen Krallen auf dem Linoleumboden der Klinik und begriff plötzlich, das sich das, was auch immer dort drinnen war, zur Tür bewegte und damit auf mich zu.
Das Klicken verstummte, dafür vernahm ich ein anderes Geräusch, auf das ich mir zunächst keinen Reim machen konnte, bis mir plötzlich klarwurde, dass jemand – oder etwas! - laut schnüffelnd die Luft einsog und witterte!
Großer Gott – es roch mich! Was auch immer da drinnen war, hatte meinen Geruch aufgenommen, und endlich löste sich meine Starre!
Ich warf mich herum und stieß den Notfallwagen beiseite, stürmte den Flur hinunter und wagte nicht, mich umzudrehen, als ich ein lautes Gepolter vernahm. Das war der Notfallwagen!

schoss es mir durch den Kopf, während ich weiterrannte und die Tür zum Gang nicht näher zu kommen schien. Es hat

den Notfallwagen einfach umgeworfen, als wäre es nichts!

Das Klicken der Krallen kam näher, und ich hörte wildes Geifern hinter mir.
Noch immer blickte ich mich nicht um, denn zum Einen fürchtete ich, den Verstand zu verlieren, wenn ich womöglich genau das sah, was mir meine Phantasie vorgaukelte, und zum Anderen bestand die Gefahr, dass ich stolperte und hinfiel, wenn ich nicht in die Richtung blickte, in die ich rannte.
Doch kurz bevor ich die Tür erreichte, geschah genau das – ich verhedderte mich mit den Füßen und schlug unsanft auf dem braunen Kunststoffbelag auf.
Reflexartig rollte ich mich zusammen und schlang die Arme um meinen Kopf, schluchzend vor Angst und am ganzen Körper zitternd. Um zu schreien hätte ich mehr Kraft gebraucht, aber die war komplett aus mir gewichen. Ich war felsenfest davon überzeugt, gleich sterben zu müssen.
Wie eine wirbelnde Wolke aus rauhem Fell, blitzenden Fangzähnen und Raubtiergeruch war das Wesen im nächsten Moment über mir, drückte seine Pranken in meinen Rücken und – hielt dann völlig unerwartet in der Bewegung inne. Ich hörte nichts mehr, als das schon bekannte Schnüffeln. Dann plötzlich schlappte eine heiße, nasse Zunge über meine Hände, und ich hob zögernd und vorsichtig den Kopf.
Was ich sah, war tatsächlich geeignet, den Verstand zu verlieren, und mir war auf den ersten Blick klar, dass dieses Wesen nichts anderes sein konnte, als ein Werwolf.
Riesig, zottig, mit gelb glühenden Augen, schwarzem Fell und scharfen Zähnen stand er über mir und blickte auf mich hinunter.
In seinen Augen stand dabei eine menschlich anmutende Intelligenz, aber gleichzeitig auch unverhohlen und nur mühsam unterdrückt, Blutgier und Bosheit.
Warum tötet er mich nicht?


Der Gedanke ließ mich zusammenzucken und dann vorsichtig von ihm wegrutschen. Hatte ich etwa doch noch eine Chance? Er ließ es geschehen, beobachtete mich nur, und dann kam er noch einmal näher, presste seine Schnauze gegen meine Brust und sog geräuschvoll die Luft ein.
Was machte er da? Es schien beinahe, als wolle er sich meinen Geruch einprägen! Aber wozu? Wenn er mich töten wollte, konnte er es doch sofort tun, hier und jetzt!
Im nächsten Moment legte er den Kopf zurück und heulte, ein schauerliches Geräusch, das von den Wänden zurückgeworfen wurde, und im gleichen Augenblick öffneten sich hier und da Türen von Patientenzimmern und neugierige, verschlafene Gesichter erschienen.
Der Lärm war nicht unbemerkt geblieben...
Die Bestie blickte sich um, knurrte unwillig, und einen Herzschlag später huschte sie mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung zur Tür, schob sie auf und verschwand.
Ich lag noch immer halb auf dem Boden, wie betäubt und völlig benommen. Doch als die Patienten auf den Flur hinaus strömten und ängstliches Stimmengewirr aufbrandete, rappelte ich mich auf und machte mich auf den Weg dorthin, wo die Trümmer und Einzelteile des Notfallwagens im Gang verstreut lagen.
Mechanisch begann ich die Sachen aufzuheben und wusste dann doch nicht, wohin damit, also ließ ich sie wieder fallen. Schließlich stand ich vor der Tür des Zimmers, wo das alles begonnen hatte. Sie stand weit offen und hing schief in den Angeln, sodass ich einen ungehinderten Blick in den Raum hatte, und was ich da sah, ließ mich trotz meines Schocks eintreten.
Das Bett war zerwühlt, die Bettwäsche teilweise zerrissen, und überall lagen Stücke des Klinikshemds und büschelweise schwarze Haare. Dazwischen aber sah ich noch etwas anderes, worauf ich mir zunächst keinen Reim machen konnte. Halb durchsichtige, pergamentähnliche Fetzen, von denen ich einen in die Hand nahm und betrachtete, ihn aber im nächsten Moment fallen ließ, als hätte ich mich daran verbrannt, weil mir schlagartig klar wurde, worum es sich handelte.
Es war Haut, menschliche Haut, abgestoßen bei einer unheiligen Metamorphose und deutlicher Hinweis darauf, dass ich keiner Täuschung erlegen war.
Ich hatte natürlich in meinem Leben schon Filme über Werwölfe gesehen - wer hat das heutzutage nicht? - aber das Angenehme an diesen Filmen war doch gerade die Tatsache, dass man das Geschehen auf der Leinwand problemlos ins Reich der Phantasie verweisen konnte!
Und nun stand ich híer, und es geschah wirklich! Ein Monster war von der Kinoleinwand entkommen und hatte sich in die Realität hinüber gestohlen!
In diesem Moment tippte mir jemand von hinten auf die Schulter, und mit einem Aufschrei fuhr ich herum.
Es war der diensthabende Arzt, und in seinem Gesicht stand völliges Unverständnis angesichts des umgebenden Chaos. Er erwartete eine Erklärung, aber die bekam er nicht von mir, denn in diesem Moment gab etwas in mir dem angestauten Druck nach, und ich fing an zu weinen, schluchzte fassungslos und konnte nicht mehr aufhören. Wie eine Flickenpuppe sackte ich zu Boden, völlig kraftlos und unfähig, mich wieder zu erheben.
Diese Nacht war das letzte Mal, dass ich meinen Arbeitsplatz sah.
Angesichts meines Zusammenbruchs wurde ich krankgeschrieben und blieb die nächsten Tage einfach zuhause in meinem Bett.
Ich erzählte niemandem, was ich gesehen hatte, auch wenn es mich Überwindung kostete zu schweigen. Der Patient aus dem Einzelzimmer blieb verschwunden, und die Polizei hatte anfangs intensiv nach ihm gesucht. Daher kamen sie noch oft zu mir und wollten wissen, was in der Nacht geschehen war, aber ich schwieg, so sehr sie mir auch zusetzten. Sollten sie sich doch ihren eigenen Reim auf das machen, was die Patienten gesehen zu haben glaubten!
Was hätte ich ihnen auch sagen sollen?
Das der Vermisste sich in einen Werwolf verwandelt hatte?
Das wäre ein Freifahrtschein in die Psychiatrie gewesen, und wenn noch so viele Patienten von einem riesigen, schwarzen Tier berichteten. Und außerdem gab es da noch etwas, was mir keine Ruhe ließ:
Er hatte mich nicht getötet! Warum?


Im angrenzenden Stadtwald waren in den folgenden Tagen ein Rentnerehepaar und eine Studentin verschwunden. Man hatte bis heute keine Spur von ihnen gefunden, doch ich war mir ganz sicher, dass ich wusste, was aus ihnen geworden war. Die Polizei sprach davon, dass es noch Hoffnung gebe, solange man keine Leichen gefunden hatte, aber ich wusste es besser, denn ich erinnerte mich noch gut an die teuflische Intelligenz in den gelben Raubtieraugen. Dass keine Leichen gefunden worden waren, bewies nur, dass er tatsächlich nicht dumm war...
Dass er seinen Mordinstinkt und seinen Hunger aber anderweitig gestillt hatte und nicht an mir, dafür hatte ich in den langen Stunden nächtlichen Grübelns eine andere Antwort gefunden, die mir zwar absolut nicht gefiel, aber schlüssig schien.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich eines Nachts plötzlich im Bett hochfuhr und angesichts meiner plötzlichen Erleuchtung das Licht einschaltete. Im nächsten Augenblick starrte ich auf die dünnen Striemen auf meinem Arm, wo er mich gekratzt hatte, und in meinem Geist fielen plötzlich ein paar Puzzleteile an den richtigen Platz.
Wie wurde man zum Werwolf? - Indem man von Einem verletzt wurde! Es wurde weitergegeben wie eine Infektion, so lernte man es zumindest in den Filmen.
Natürlich gab es keine Garantie, dass das stimmte, aber wenn die Sache mit dem Werwolf an sich stimmte, warum dann nicht auch das?
Ich spann den Gedanken weiter und fragte mich, ob es vielleicht möglich sein konnte, dass er den giftigen Keim, den er an mich weitergereicht hatte, schon damals an mir gerochen und mich deshalb als Artgenossen erkannt und nicht getötet hatte?
Hieß das, ich war dazu verdammt, zu werden, was er war?
Damals, in der Nacht, als mir zum ersten Mal diese Erkenntnis kam, versuchte ich noch, sie zu verdrängen und als Folge meines Traumas abzutun. Aber inzwischen, kaum zwei Wochen später, stehe ich Nacht für Nacht am Fenster, starre den Mond an und spüre das Fremde in meinem Blut. Und noch etwas spüre ich – ich spüre IHN, meinen Schöpfer. Er ist dort draußen und wartet auf mich. Seine Ungeduld wird täglich größer, und manchmal ist mir, als stünde er bereits hinter mir. Er lässt sich nicht sehen, noch nicht, aber wenn es soweit ist, wird er da sein, als mein Meister und als mein Gefährte.
Ich habe Angst vor diesem Tag, aber das Tier in mir wird täglich stärker und bald wird es nicht mehr die Bestie sein, die in meinem Inneren gefangen ist und die Welt durch die Gitterstäbe ihres Käfigs sieht, sondern ich werde eingekerkert sein und hilflos zusehen, wie sie über meinen Körper herrscht, ihm eine neue Form aufzwingt und ihre mörderischen Gelüste stillt.
Dann bin ich für alle Zeit ein Monster...

Impressum

Texte: Cover: 156787_R_K_B_by_levis_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

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