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Die Sünden der Väter ...


Ein kalter Wind pfiff durch die Ruinen, trieb Blätter und Staub vor sich her und Shoram packte den Speer fester.
Er war heute Morgen erst hier angekommen und wanderte seitdem staunend durch die verfallenden Reste einer untergegangenen Kultur.
Seine Großmutter hatte ihm und den anderen Kindern des Clans Geschichten über die großen Siedlungen der Vergangenheit und ihre verschwundenen Bewohner erzählt.
Shoram und seine Freunde hatten staunend und ein bisschen ungläubig gehört, dass es dort Häuser gegeben haben sollte, die bis in die Wolken reichten, glänzende, vierrädrige Karren, die von ganz allein fuhren, und wenn die Menschen hungrig waren, oder Kleider brauchten, mussten sie nicht auf die Jagd gehen, sondern brauchten lediglich bestimmte Häuser aufzusuchen, wo sie alles bekamen, was sie wollten.
Allein das schien Shoram schon unglaublich, denn jeder wusste doch, dass man Nahrung nur bekam, wenn man Tiere jagte und erlegte, oder mühsam den Boden bearbeitete, säte und dann monatelang das Feld pflegte und beschützte, bis man ernten konnte, was man angebaut hatte.
Und wenn das allein noch nicht reichte, um Großmutters Geschichten ins Reich der Phantasie zu verweisen, dann galt das doppelt und dreifach für die Sache mit den Karren, die von allein fuhren.
Wie sollte so etwas möglich sein?
Als er der alten Frau gegenüber seine Skepsis zum Ausdruck brachte, hatte sie nachsichtig gelächelt und gemeint:
„Mein Junge, ich habe diese Dinge nie selbst gesehen. Ich erzähle euch nur, was mir meine eigene Großmutter erzählt hat, als ich ein Kind war und was diese wiederum auch von ihrer Ahne gehört hat.“
Da wusste Shoram, dass er es nur mit den Geschichten alter Frauen zu tun hatte, und fortan hatte er nicht mehr zugehört.
Dort, wo er aufgewachsen war, kam man mit Geschichten und Legenden nicht weit.
Das Leben draußen im rauhen Land war hart und entbehrungsreich.
Es gab nicht viele Familien dort, und die wenigen, die es bewohnten, teilten sich in Clans auf, die meist unter sich blieben, denn der Boden war karg und auch das Wild nicht zahlreich.
Außerdem gab es noch immer viele Muties, deren Fleisch ungenießbar war und sei man noch so hungrig.
Manchmal merkte man allerdings erst, wenn man ein Tier zur Strecke gebracht hatte, dass es sich um ein Mutie handelte, denn längst nicht immer waren die Veränderungen auf den ersten Blick sichtbar.
Dann hatte man umsonst Zeit und Kraft investiert und musste von vorn beginnen.
Shoram war ein geschickter Jäger, doch selbst ihm war das schon passiert und es war jedesmal ärgerlich.
Je näher man dem toten Land

kam, desto zahlreicher wurden die seltsam mißgestalteten Lebewesen, denen man begegnen konnte. Shoram wusste das, genau wie alle anderen Mitglieder seines Clans. Dass man sich vom toten Land

fernhalten musste, lernten schon die kleinen Kinder, auch wenn dieser Landstrich weit entfernt vom Clangebiet lag.
Das tote Land

war eine Zone, in der Monster hausten, bizarre Wesen, die es sonst nirgendwo gab und die ganz eindeutig nicht vom großen Schöpfer ins Leben gerufen worden waren. Ihre Herkunft lag im Dunkel der Vergangenheit begraben, und niemand wusste mehr Genaues, nur dass die früheren Bewohner der großen Städte damit zu tun gehabt hatten.
Shoram hatte zwar noch nie eine solche Kreatur gesehen, doch er hatte gehört, wie die alten Jäger des Clans davon erzählten, und deren Geschichten glaubte er mehr, als den Märchen seiner Großmutter.
Und aus eben diesem Grund war er jetzt auch hier.
Die Ruinenstadt lag am Rande des toten Landes

, und er hoffte, hier einem Monster zu begegnen und es zu erlegen.
Wenn er mit einer solchen Trophäe als Brautpreis und Beweis seiner Tapferkeit heimkehrte, konnte ihm Rogur seine Tochter nicht länger verweigern!
Wenn alles gut lief, würde er sie vielleicht schon bald als Braut in sein Haus führen, und wenn der Schöpfer ihm gewogen war, wäre sie nicht nur fruchtbar, sondern schenkte auch einem gesunden Kind das Leben und nicht einer grässlichen Missgeburt, was leider des öfteren geschah.
Kurz dachte er an Leli, an ihre schlanke Figur und ihr liebliches Gesicht, und sein Herz schlug für einen Moment schneller.
Dann aber zwang er sich erneut zur Ruhe und suchte mit Augen und Ohren das vor ihm liegende Terrain ab.
Die Ruinen waren alt.
Wie hoch die Häuser einst gewesen waren, ließ sich nur noch bei wenigen Gebäuden abschätzen, die weitaus meisten waren nur mehr überwucherte Trümmerhaufen.
Rostige Metallskelette standen in mehr oder weniger ordentlichen Reihen zu beiden Seiten einer noch grob zu erkennenden Schneise, deren Vegetation niedriger und dürftiger war als sonst und die wohl das Überbleibsel von einer Art breitem Pfad darstellte.
Als er sich eins der Rostgebilde näher ansah, meinte er eine schwache Ähnlichkeit mit den Karren zu erkennen, die er von zuhause kannte.
Was ihn allerdings irritierte, war das Fehlen der Deichsel.
Wenn dies tatsächlich die Überreste eines Fahrzeugs darstellte, wie war dieses Gefährt dann von der Stelle gekommen?
Sollte seine Großmutter doch die Wahrheit gesagt haben, als sie von den Karren erzählt hatte, die nicht von einem Pferd oder einem Rind gezogen werden mussten?
Er beließ es dabei und ging nach allen Seiten spähend weiter.
Noch immer zeigte sich kein größeres Tier, nur ein paar Vögel stoben laut kreischend aus den Bäumen auf, als er seinen Weg fortsetzte.
Während er horchte und sich umsah, erinnerte er sich, was seine Großmutter ihm sonst noch über die früheren Bewohner des toten Landes

erzählt hatte.
„Sie haben den großen Schöpfer nicht geachtet und das Gesicht ihrer Mutter Erde vergessen. Es heißt, sie spielten mit Dingen herum, die sie nicht beherrschten. Diese Dinge verliehen ihnen große Macht, aber die Menschen unterschätzten die Gefahr. Als sie endlich merkten, was sie da in Händen hielten, war es zu spät.
Der große Schöpfer und Mutter Erde straften sie für ihren Hochmut.
Zuerst bäumte sich Mutter Erde unter ihren pflichtvergessenen Kindern auf, dass ihre stolzen Städte in Trümmer fielen, und dann sandte der Schöpfer mächtige Flutwellen, die alles verschlangen. Geschwächt durch diese Ereignisse, waren die Menschen nicht mehr in der Lage, die bösen Mächte zu kontrollieren, die sie selbst geschaffen hatten, und als diese sich nun gegen ihre Väter und Mütter wandten, waren sie hilflos wie kleine Kinder.
Ungezählt war die Zahl derjenigen, die so jämmerlich zugrunde gingen, die ihre Heimat verloren, oder dem Sterben ihrer Kinder machtlos zusehen mussten.
Ganze Landstriche wurden unbewohnbar, denn alles, was dort wuchs, selbst das Wasser aus den Bächen und Flüssen und die Luft zum Atmen wurden zum todbringenden Gift.
Die, die überlebten, zogen sich in entlegene Gegenden zurück, und aus ihnen entsprangen die Wurzeln unserer Ahnen.
Wir müssen uns daran erinnern, denn selbst heute werden noch missgestaltete Kinder geboren, und die Wälder und Fluren sind noch immer voller Muties. Das zeigt uns, dass Mutter Erde uns noch immer nicht ganz vergeben hat, auch wenn der Schöpfer uns gute Tiere schickt, deren Fleisch uns nährt und deren Fell uns kleidet, auch wenn er dafür sorgt, dass wir ein Dach über dem Kopf haben und ein Feuer, das uns wärmt, wenn die Nächte kalt sind.
Wir dürfen nicht vergessen, was damals geschah, denn wenn wir uns nicht mehr erinnern, werden auch wir eines Tages glauben, mächtiger zu sein, als der große Schöpfer oder Mutter Erde. Und dann wird die Geschichte sich wiederholen.“
Shoram hatte lange nicht mehr an die Worte seiner Großmutter gedacht, doch jetzt kamen sie ihm wie selbstverständlich wieder in den Sinn.
Die alte Frau war inzwischen seit Jahren tot, und seitdem war es seine Mutter, die den Clankindern die alten Geschichten erzählte. Er hatte schon manchmal daran gedacht, es ihr zu verbieten.
Seit sein Vater im letzten Winter gestorben war, war er als ältester Sohn das Clanoberhaupt und hätte es durchaus gekonnt, doch irgendetwas hatte ihn stets davon abgehalten.
Und als er jetzt durch die Ruinenstadt wanderte und immer mehr Hinweise darauf fand, dass die Geschichten tatsächlich einen wahren Kern enthielten, beschloss er, nach seiner Rückkehr dafür zu sorgen, dass unter seiner Führung die Legenden stets sorgfältig weitergegeben wurden.
Ein kehliges Knurren in seinem Rücken ließ ihn herumfahren.
Mit kampfbereit erhobenem Speer stemmte er die Füße in den Boden und erfasste mit einem Blick das seltsam unförmige Geschöpf, dass auf einem Schutthaufen zu seiner Rechten aufgetaucht war.
Es handelte sich offensichtlich um ein Raubtier, doch ein solches Wesen war Shoram noch nie zuvor begegnet.
Das Fell erinnerte an einen Löwen, doch der Kopf war merkwürdig verformt, und auf der Stirn saß ein milchiges, offenbar blindes, drittes Auge.
Dafür war der Rachen mit riesigen, nadelspitzen Zähnen bestückt und die Pranken von geradezu grotesker Größe.
Vorn an der Brust baumelte ein funktionsloses, zusätzliches Stummelbein, und an der Flanke hing ein schlaffer, zweiter Schwanz herab.
Der schütteren Mähne nach zu urteilen, handelte es sich um ein männliches Tier und das war gut so, denn Löwinnen jagten für gewöhnlich im Rudel. Dieser hier aber schien allein zu sein.
Er bleckte die Zähne und ein misstönendes Grollen drang aus seiner Brust. Dann legte er die Ohren an und schüttelte seinen Kopf.
Sabber flog von seinen Zähnen, und Shoram packte den Speer fester.
Er erwartete, dass das Tier sich auf ihn stürzen würde und wollte ihm die Waffe dann gezielt ins Herz stoßen.
Doch der Löwe machte keine Anstalten, ihn anzugreifen, sondern sah ihn nur aus seinen beiden gesunden, bernsteinfarbenen Augen an.
Plötzlich hatte Shoram das Gefühl, als läge ein stummer Vorwurf in diesem Blick.
„Siehst du, was du und deinesgleichen mir angetan habt?“ schien er zu sagen.
Er ließ den Speer ein Stück sinken und betrachtete die Kreatur mit einer Mischung aus Ekel und Faszination.
Wenn es stimmte, was seine Großmutter erzählt hatte, dann waren es seine eigenen Vorfahren gewesen, die für all das hier verantwortlich waren.
Für Zerstörung und Leid genauso, wie für die entstellten Kinder und Tiere, die stets in jeder Generation auftauchten.
Im Licht dieses Gedankens erschien es ihm mit einem Mal wie ein zusätzlicher Frevel, eines der gequälten, bizarren Geschöpfe des toten

Landes

als Brautpreis zu präsentieren.
Er senkte die Speerspitze zu Boden und sah regungslos zu, wie der Löwe sich umdrehte, von dem Trümmerberg herunterkletterte und langsam davontrabte.
Die Spitze des zusätzlichen Schwanzes schleifte im Dreck des Weges, und der Gang des Tieres war schwerfällig.
Shoram sah ihm nach, bis er hinter einer halb eingestürzten Mauer verschwunden war und setzte sich dann wieder in Bewegung, diesmal in die andere Richtung, fort von der zerstörten Stadt und ihren Erinnerungen.
Der Jäger in ihm heulte auf bei dem Gedanken daran, dass er tagelang gewandert war, um herzukommen, und nun war die ganze Anstrengung umsonst gewesen.
Doch ein anderer, nachdenklicherer Teil seines Selbst beharrte darauf, dass es keineswegs umsonst gewesen war.
Er hatte nun mit eigenen Augen gesehen, dass die Geschichten der Alten auf Tatsachen beruhten und nicht nur eine spannende Erklärung für zufällige Abweichungen boten.
Das würde er nie mehr vergessen, solange er lebte, und daheim würde er eben einen anderen Weg finden, um Leli für sich zu gewinnen.
Er schritt rasch aus, denn der Weg zurück war weit...

Impressum

Texte: Cover: 497310_R_K_by_Peter-Fenge_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2011

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