Seit ich selbst Kinder habe, beschäftigt mich immer wieder eine Frage:
Wann ist der Punkt erreicht, wo aus Erziehung und Bestrafung Misshandlung wird?
Nun sagt heute das Gesetz ganz klar: Kinder
haben einen Anspruch auf eine gewaltfreie Erziehung.
Aber wie definiert man in diesem Fall Gewalt?
Gewalt, das sind eben nicht nur Prügel. Verletzende Worte, Nichtbeachtung und Liebesentzug sind doch ebenso Gewalt, oder?
Ich betrachte mich selbst nicht als Opfer von Kindesmisshandlung, trotzdem weiß ich, dass in meiner eigenen Erziehung nicht alles so gelaufen ist, wie es sollte...
Im Alter von acht Monaten wurde ich adoptiert und das war vermutlich ein Glück für mich, denn vorher war ich in einer Pflegestelle, in der Pflegekinder eine Einnahmequelle darstellten und sonst nichts.
Ich hatte mir dort bereits angewöhnt, wenn ich - wie meistens - unbeachtet im Bett lag, in der Bauchlage heftig zu schaukeln.
(Das ist eine Form des Hospitalismus, den vernachlässigte Kinder annehmen und stellt eine Ersatzhandlung für fehlendes „Gewiegtwerden“ dar.)
Mein Adoptivvater war eine Seele von Mensch. Er hätte alles für mich getan und ich kann mich nicht entsinnen, dass er auch nur eine einziges Mal die Hand gegen mich erhoben hätte.
Wenn ich bei ihm über die Stränge schlug, wählte er die einfachere Variante und – rief nach meiner Mutter!
Auch meine Mutter liebte mich, dessen bin ich mir sicher. Doch da sie eine ganz andere Kindheit gehabt hatte, als ihr Ehemann, hatte sie zu vielen Dingen eine andere Einstellung und das betraf auch die Erziehung ihrer Tochter.
Sie stammte selbst aus einer Familie mit vier Kindern. Der Vater kam nicht aus dem Krieg zurück, und die Mutter war überfordert.
Kinder, Haushalt, Landwirtschaft, Schulden, ein Geschäft, das alles führte dazu, dass meine Mutter mit neun Jahren als Älteste nicht nur die Verantwortung für die Hausarbeit und ihre Geschwister aufgebürdet bekam, sondern auch für alle die Schläge einstecken musste, wenn etwas vorgefallen war.
Ich bin groß geworden mit den Geschichten, was es da so alles gegeben hatte.
Sei es, dass der kleine Bruder nachsitzen musste, oder die kleine Schwester im Kinderwagen schrie, der Rohrstock saß locker und der Ledergürtel und Großvaters Reitpeitsche ebenfalls.
Ich habe immer noch den Satz im Ohr: „Ich bin meiner Mutter für jeden Schlag dankbar!“
Keine Ahnung, ob das stimmte, oder auch nur ein hilfloser Versuch der Bewältigung war.
Das Verhältnis meiner Mutter zu meiner Großmutter schien mir jedenfalls nie besonders gut.
Das lag auch sicherlich daran, dass meine Mutter selbst als junge Frau von zwanzig Jahren noch Schläge bekommen hatte, wenn sie von einem Treffen mit ihrem Verlobten – ihrem späteren Ehemann - heimkam.
Der junge Mann fand keine Gnade vor den Augen meiner Großmutter, kam er doch aus einer eher ärmlichen Familie.
Als meine Mutter dann schließlich einen schweren Unfall hatte und wochenlang zuhause im Bett lag, war es ihr Verlobter, der täglich nach Feierabend kam und sich um sie kümmerte. Die eigene Mutter ignorierte die Tochter völlig.
Nichtsdestotrotz heirateten die Zwei in den fünfziger Jahren dennoch und bauten ein eigenes Haus.
Ich erzähle das alles nur, weil mir das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber, in ihrer eigenen Kindheit und Jugend begründet zu sein scheint, zumindest vermute ich das heute.
Als Kind habe ich es nicht verstanden, da hatte ich zeitweise einfach nur Angst, sie zu verärgern.
Sie konnte von einer Minute zur anderen heftig aufbrausen, und dann hatte sie eine gepfefferte Handschrift, wie man so schön sagt.
Gleichzeitig gab und gibt es diese andere Seite an ihr, die fröhliche, hilfsbereite und mitfühlende Seite.
Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass ich meine Mutter liebe.
Ich verdanke ihr viel, und es gab auch mehr als eine Situation, in der sie sich vor mich gestellt hat, wie eine Löwenmutter vor ihr Junges!
Doch selbst in meiner Teenagerzeit lag noch ein Rohrstock auf unserem Küchenschrank, der gelegentlich zum Einsatz kam.
Zur Not tat es aber auch ein hölzerner Kochlöffel...
Sie hat mich nie so geschlagen, dass ich sichtbare Spuren davongetragen hätte, das nicht, aber viel schlimmer als die körperlichen Schmerzen, waren die Verletzungen der Seele.
Das klingt jetzt vielleicht etwas geschwollen, aber wie sonst soll ich beschreiben, wie ich mich als Kind gefühlt habe?
Ich erinnere mich noch an einen Abend, ich war vielleicht elf Jahre alt, da trug ich eine neue Hose und riss mir an einer Schaukel auf dem Spielplatz ein Loch hinein. Mit einem mulmigen Gefühl lief ich nach Hause und fand meine negativen Erwartungen bestätigt: Meine Mutter flippte regelrecht aus.
Sie schlug mich allerdings nicht, sondern schickte mich umgehend ins Bett, nachdem sie mich lange genug angeschrien hatte.
Mein Vater wollte vermitteln, und das Ergebnis war ein handfester Streit zwischen den Beiden, den ich starr vor Angst in meinem Bett mit anhörte.
Irgendwann kam meine Mutter wutschnaubend die Treppe hinaufgestürmt, holte mich aus dem Bett und stellte mir einen Koffer hin, mit der Aufforderung, meine Sachen hinein zu packen, da sie mich am nächsten Morgen wieder dorthin zu bringen gedächte, wo sie mich hergeholt hatten. Ich sei schuld, wenn sie und mein Vater sich jetzt trennten.
Man muss dazu sagen, dass ich seit meinem fünften Lebensjahr wusste, dass ich adoptiert worden war.
Und so hockte ich heulend vor meinem Kleiderschrank und packte Socken und Unterwäsche in den Koffer, bis sie mich irgendwann wieder zurück ins Bett scheuchte.
Viel Schlaf fand ich in dieser Nacht nicht, und am nächsten Morgen war die gläserne Lampe im Wohnzimmer kaputt und einem Sessel fehlte ein Bein...
Es gab etliche solcher Situationen im Laufe meiner Kindheit und als ich zu alt war, als dass meine Mutter mich weiterhin hätte schlagen können, verlegte sie sich auf verbale Schläge.
Sie kann sehr verletzend sein, wenn sie wütend ist und hat keine Hemmungen, unterhalb der Gürtellinie zuzuschlagen.
Ihr Lieblingsvorwurf ist Undankbarkeit, und der kommt mit Vorliebe zum Einsatz, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht.
Sie war immer der Motor unserer Familie. Sie sagte, wo es langging und mein Vater und ich folgten.
Als ich dann später mein Leben nicht mehr ausschließlich nach ihren Vorstellungen ausrichtete, wurden die Auseinandersetzungen häufiger – und gemeiner.
Das änderte sich erst, nachdem ich geheiratet hatte und auszog.
Meinem Vater kann man vielleicht zum Vorwurf machen, dass er zu weich war. Er wehrte sich nie ernsthaft gegen die Dominanz seiner Frau und ging ihr lieber aus dem Weg, wenn sie wütend war.
Interessant finde ich, dass es in den Familien ihrer beiden Schwestern ähnlich zuging.
Erfahren habe ich das allerdings erst Jahrzehnte später. Der Kontakt der Schwestern untereinander war nicht immer unbedingt der Beste, sodass wir Cousinen und Cousins erst als Erwachsene einen richtigen Draht zueinander bekamen.
Die eine Cousine erzählte mir irgendwann, wie ihre Mutter zu ihr und ihrer älteren Schwester gesagt hatte, dass sie ihnen Gift in den Kaffee tun würde, um sie los zu sein, worauf sie wochenlang Angst hatten zuhause etwas zu trinken, und eine Andere berichtete, von ihrer Mutter manchmal derart heftig geschlagen worden zu sein, dass sie nachts vor Schmerzen nicht hatte schlafen können.
Solche Formen hatte es bei mir ja zum Glück nie angenommen, aber eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass keine der Mütter heute bereit ist, etwas davon zuzugeben. Sie weigern sich rundweg, überhaupt darüber zu reden, oder streiten es empört ab.
Alle Drei sind inzwischen weit über 70 und haben auch Enkelkinder.
Denen gegenüber sind sie die reizendsten Omas, die man sich wünschen kann, aber wir – ihre Söhne und Töchter – tragen noch immer unsere Altlasten mit uns herum.
Was mich betrifft, so stand ich selbst vor Jahren an der Schwelle, meine eigenen Kinder zu schlagen, das gebe ich offen zu.
Da erschrak ich dann vor mir selber.
Seit mein Mann und ich ein eigenes Haus gebaut haben und nicht mehr mit meiner Mutter unter einem Dach leben, ist auch das zum Glück vorbei.
Zwar wird es selbst bei uns hin und wieder laut, immerhin haben wir drei Kinder, die allmählich das Teenageralter erreichen.
Aber im Großen und Ganzen bemühen wir uns, vernünftig mit ihnen zu diskutieren und sie nicht einfach mundtot zu machen, egal wie und womit.
Mit meiner Mutter telefoniere ich täglich und wir sehen uns regelmäßig.
Solange wir bestimmte Themen ausklammern, haben wir ein gutes Verhältnis.
Ich denke, ich habe inzwischen mit der Sache für mich abgeschlossen und eigentlich auch nicht mehr den Wunsch, mit ihr über die Vergangenheit zu sprechen.
Ich lebe mein eigenes Leben und habe meine eigene Familie.
Hoffentlich werde ich es anders machen...
Texte: Cover:
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Tag der Veröffentlichung: 22.04.2011
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