Es war kurz nach neun Uhr früh.
Die Sonne schien bereits warm vom Himmel und ringsum erwachten auch die anderen Läden der kleinen Einkaufsstrasse zum Leben.
Die Glocke über der Tür des kleinen Blumengeschäfts bimmelte hektisch und eine frühe Kundin betrat den Verkaufsraum.
Seit Jahren kam sie hierher, um zu den verschiedensten Gelegenheiten Blumen zu kaufen, und wenn sie sich mit der Inhaberin auch nicht gerade duzte, so bestand doch so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Frauen.
Die Kundin trat näher an die Zinkeimer mit den losen Blumen heran und ließ ihren Blick über das Angebot wandern.
Es war Juni und die Auswahl reichhaltig.
Rosen, Gerbera, Freesien, selbst Lilien in verschiedenen Farben wurden angeboten, und in der Nähe der Blumen stieg ihr das Gemisch aus den verschiedenen Düften schwer in die Nase.
„Guten Tag, Frau Raiter!“ wurde sie von der Besitzerin des Ladens begrüßt, als diese aus dem Hinterzimmer kam und ihr lächelnd die Hand reichte. „Was kann ich Ihnen denn heute Schönes anbieten?“
Die Frau hob den Blick und ergriff die dargebotene Rechte der Floristin.
„Naja, heute möchte ich einen besonders schönen Strauß. Meine Tochter hat Geburtstag und da darf es schon ein bisschen teurer sein.“
„Ist es tatsächlich schon wieder soweit?“ Die Blumenhändlerin wirkte erstaunt.
„Ja, schon wieder ein Jahr vorbei. Kaum zu glauben, wie schnell das wieder gegangen ist.“ seufzte die Kundin.
„Was halten Sie denn von diesen Rosen, zusammen mit den Gerberas dort drüben? Die sind heute morgen frisch eingetroffen, sollten also lange halten.“
Die Floristin deutete mit der Hand und die Kundin begutachtete die vorgeschlagenen Blumen. Dann nickte sie und bat: „Und noch ein paar Freesien, bitte, das sind Jennys Lieblingsblumen.“
„Wie geht es denn eigentlich Ihrem Mann? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.“ fragte die Ladenbesitzerin, während sie die ausgewählten Blumen aus den Eimern zog und zu einem kleinen Arbeitstisch im Hintergrund des Ladens hinübertrug, um sie zu einem üppigen Bukett zu arrangieren.
„Er ist ausgezogen.“ erwiderte die Frau und drehte der Floristin den Rücken zu.
Die sah betroffen hoch, doch als ihr Blick nur den Rücken der Kundin erreichte, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Das tut mir sehr leid.“ sagte sie und meinte es auch so.
Mit einem schwachen Lächeln wandte sich die Frau ihr wieder zu und sagte: „Oh, das war abzusehen. Jenny war der Leim, der uns zusammengehalten hat. Ohne sie war es nur eine Frage der Zeit, bis wir uns trennen.“
„Wie lange ist es denn jetzt her?“ fragte die Blumenhändlerin.
„In drei Wochen sind es vier Jahre.“ erwiderte die Kundin, ohne auch nur einen Moment zu überlegen.
„So lange schon?“ Die Floristin hob die Augenbrauen.
„Ja, so lange schon.“
Die Kundin sah auf, weil die Türglocke erneut klingelte und ein Mann mittleren Alters freundlich grüßend den Laden betrat.
„Mein Mann meint, ich müsste Jenny endlich loslassen. Aber ich kann das nicht. Ich bin ihre Mutter! Ich habe sie geboren, erzogen, geliebt und beschützt! Ich kann doch nicht einfach so tun, als wäre alles in Ordnung! Selbst wenn es statt sieben Jahren hundert wären! Sie ist doch mein Kind!"
Sie schüttelte den Kopf und ihr Gesicht war schmerzlich verzerrt. "Er versteht das nicht und meint, ich müsste nach vorne schauen, aufhören in der Vergangenheit zu leben. Er will überhaupt nicht mehr an sie erinnert werden und geht jedem Gespräch darüber aus dem Weg. Das war wohl auch der Grund, dass wir uns letztendlich getrennt haben.“
Die Blumenhändlerin hatte inzwischen den Strauß fertig gebunden und zeigte ihn der Kundin.
„Oh ja, der ist wunderschön! Der wird Jenny bestimmt gefallen!“ Sie lächelte erfreut.
Dann zückte sie ihr Portemonnaie und bezahlte die geforderte Summe, nahm die in Papier verpackten Blumen entgegen und verließ mit einem kurzen Gruß den Laden.
Die Besitzerin sah ihr einen Moment nach und wandte sich dann ihrem nächsten Kunden zu.
Der suchte einen Strauß für eine Dame und ließ sich ein Dutzend Rosen aufbinden.
Während er auf seine Blumen wartete, wanderten seine Gedanken zurück zu der Frau, die eben den Laden verlassen hatte. Weil er ein freundlicher Mensch war, wollte er ein Gespräch beginnen und sagte leichthin:
„Ja, das ist bestimmt nicht einfach, wenn die Kinder flügge werden und die Eltern plötzlich wieder allein sind.“
Die Floristin sah auf. „Wie meinen Sie das?“
Er machte eine Bewegung zur Tür und sagte: „Oh, ich dachte nur, wegen dem was die Kundin eben gesagt hat.
Es ist doch schade, dass sie sich von ihrem Mann getrennt hat, nachdem die Tochter aus dem Haus ist.
Aber sowas hört man ja leider immer wieder.“
Für einen Augenblick hielt die Blumenhändlerin in der Bewegung inne, dann arbeitete sie weiter, während ihr die Frage durch den Kopf ging, ob es in Ordnung war, einem Fremden zu erzählen, was sie wusste.
Zunächst schwieg sie, doch schließlich hob sie den Blick und sagte leise: „Ganz so ist es nicht. Die Kundin, die eben hier war, hat zwar Blumen für den Geburtstag ihrer Tochter gekauft, aber die ist seit fast vier Jahren tot. Ein Serienmörder hat sie vergewaltigt und erwürgt, als sie gerade mal 16 war. An einer solchen Belastung kann eine Ehe durchaus zerbrechen.“
„Oh, das … das wusste ich nicht!“ stammelte der Kunde erschrocken. „Das ist ja eine furchtbare Tragödie! Da hat die arme Frau also nicht nur ihr Kind, sondern auch ihren Mann verloren!?“
Die Floristin nickte. „Ja. Der Täter wurde zwar gefasst, aber das, was sie und die Angehörigen der anderen Opfer verloren haben, ist unwiederbringlich dahin!“
„Ja, da haben Sie wohl recht.“
Der Strauß des Kunden war fertig, er zahlte rasch und ging.
Es war gerade kein weiterer Kunde in Sichtweite und so trat die Blumenhändlerin ans Schaufenster und sah hinüber zu einer gelblichen Steinmauer, hinter der der städtische Friedhof lag.
Irgendwo dort war eine Mutter gerade dabei, ihrer Tochter zu deren 20. Geburtstag einen Blumenstrauß zu bringen ...
Texte: Cover:
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Tag der Veröffentlichung: 21.04.2011
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