Solange ich denken konnte, gab es ihn.
Groß, tröstlich und beschützend, ein Ort zum Träumen, Spielen und Verstecken.
Der riesige, alte Ahorn auf dem elterlichen Grundstück, gehörte zu meiner Kindheit, wie der Garten, in dem er stand und das Haus, um dessen Südwestbalkon er seine Äste schmiegte.
Und das war auch das Besondere an diesem Baum: Meine Mutter hatte ihn als junge Frau gepflanzt, nachdem sie ihn eines Tages unweit ihrer Arbeitsstelle gefunden hatte. In trauriger Stimmung hatte sie damals auf einer Bank nahe einer kleinen Kirche gesessen. Rein zufällig streiften ihre Hände dabei das junge Bäumchen, welches neben der Bank seine Ästchen ins Licht streckte, und ihr war, als wollte es ihr Trost zusprechen.
In einem spontanen Entschluss hatte sie es daraufhin aus der Erde gegraben und nach Feierabend in ihren Garten neben dem neu erbauten Haus gepflanzt.
Zwar hatte der Schössling das gut verkraftet, war rasch verwurzelt und wuchs prächtig, doch eines schönen Tages fraß irgendein unbekanntes Tier die Spitze des jungen Bäumchens ab, und infolgedessen bildete er drei neue Spitzen aus, die über vierzig Jahre später das „grüne Wohnzimmer“ bildeten, an das ich mich stets erinnere, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke. So war aus dem eigentlich unerwünschten Verlust der Baumspitze etwas Besonderes geworden.
Immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich das dichte, grüne Dach vor mir, mit den spitzzackigen Blättern und den geflügelten Früchten.
Die Samen des Ahorn segelten jedes Jahr zu Tausenden in unseren Garten, und wir hatten immer alle Hände voll zu tun, die Keimlinge aus den Beeten zu zupfen.
Einmal wurden ihm zur Unzeit – spät im Frühling - ein paar größere Äste gestutzt und er blutete wochenlang aus den Schnittstellen, dass uns schon angst und bang wurde, obwohl wir versuchten sie zu versiegeln.
Ich war damals noch ein Kind und irgendwann kam ich auf den Gedanken, die Tropfen aufzufangen und den durchsichtigen, leicht grünlichen Saft zu kosten.
Zu meinem Erstaunen war er süß und bekömmlich.
Auch die Wegbeschreibung zu unserem Haus erleichterte uns unser Baum.
Er war ebenso hoch wie das dreigeschossige Gebäude selbst, und wer noch nie bei uns war, erhielt die Info „... das Haus mit dem hohen Baum daneben!“, denn er war von weitem schon zu sehen.
Wenn wir auf unserem Balkon saßen, war es, als befänden wir uns mitten im Baum, da er uns von zwei Seiten komplett umschloss und zu jeder Jahreszeit hatte er etwas zu bieten:
Im Sommer bauten Vögel ihre Nester darin, erfreuten uns von morgens bis abends mit ihrem Gesang und kamen durchaus bis in die Teller auf dem Balkontisch geflattert, um sich unserer Mahlzeit anzuschließen – egal, ob wir noch dort saßen oder nicht.
Im Herbst, wenn das Laub in bunter Fülle den Boden bedeckte, sammelte ich es händeweise auf, verarbeitete es zu regelrechten Decken und genoss es, darin herum zu rascheln.
Im Winter hängten wir Futterhäuschen und Meisenknödel in die kahlen Zweige und schauten den Vögeln beim Fressen zu.
Und im Frühling, wenn die Blüten des Ahorn aufsprangen, summte und brummte gleichsam der ganze Baum vor Bienen und Hummeln und während man in dem zarten, süßen Duft badete wusste man mit untrüglicher Gewissheit – der Winter ist vorbei!
All das ist heute Vergangenheit.
Der alte Ahorn stand zu dicht beim Haus und vor einigen Jahren stellte sich heraus, dass er mit seinen Wurzeln das Fundament und die Zuleitung zum Abwasserkanal zu unterwandern begann.
Es traten Schäden auf und schließlich stand fest: Der Baum muss weichen!
Schweren Herzens bestellten wir einen Gärtner und obwohl ich zu dieser Zeit schon erwachsen war, gebe ich zu, dass ich mich in das hinterste Zimmer unseres Hauses verkroch, um das Geräusch der Säge nicht zu hören, wie sie meinem Freund aus Kindertagen Stück für Stück das Leben nahm.
Denn natürlich konnte der Baum wegen der Nähe zum Haus nicht in einem Stück gefällt werden.
Man musste ihn langsam von oben nach unten abtragen.
Selbst heute, während ich diese Zeilen schreibe, kommen mir bei der Erinnerung noch immer die Tränen.
Als der Gärtner fort war – das Holz hatte er gleich mitgenommen – ging ich nach draußen, betrachtete den Stumpf, der als kläglicher Rest übrig geblieben war und fühlte mich wie ein Verräter.
Inzwischen wohne ich nicht mehr in meinem Elternhaus. Ich habe geheiratet und selbst Familie.
Wir bauten vor einigen Jahren ein eigenes Haus, und ich beschloss ebenfalls einen Baum zu pflanzen.
Es war keine Frage, was für ein Baum das sein würde – natürlich ein Ahorn.
Jeden Tag schaue ich aus dem Fenster und freue mich, wenn ich sehe, wie er langsam wächst.
Natürlich ist es keine Frage – er wird mir nie meinen alten Freund ersetzen können, aber mit seiner Hilfe leiste ich ein bisschen Abbitte für unseren Frevel...
Ich hoffe, mein Freund verzeiht mir, wo immer er auch sein mag!
Texte: Coverbild: 499287_R_K_B_by_Gerd-Altmann_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2011
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