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Das Luftschiff glitt wie ein mattsilberner Zylinder über den strahlend blauen Frühlingshimmel.
An Bord war es still geworden, alle Passagiere drängten sich an den grossen, mehrfach verglasten Panoramafenstern, um einen Blick hinunter zum Erdboden zu werfen, gleichsam einen Blick in die Vergangenheit zu tun.
Eine Lautsprecherstimme erzählte dabei die Geschichte, die sich vor langer Zeit hier abgespielt hatte.
Auch Noriko war von ihrem Sitz aufgestanden, um sich zum ersten Mal in ihrem Leben das gewaltige Monument anzusehen, in dem ihr Grossvater zusammen mit seinen Kameraden, unter einer Kuppel aus Beton seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.
Sie sah hinaus und blickte auf eine seltsame Landschaft.
Das Luftschiff schwebte jetzt vielleicht hundert Meter über dem ehemaligen Kraftwerksgelände, und sie konnte beinahe sämtliche Einzelheiten erkennen.
Die Natur hatte sich das Areal zurückerobert, aber noch immer war deutlich zu sehen, welche Gewalten hier vor über fünfzig Jahren gewütet hatten.
Geborstene Mauern, rostige Stahlträger, die wie die Knochen eines vor langer Zeit gestrandeten, riesigen Urzeittieres anmuteten, und über allem der Grünschleier wild wuchernder Kudzupflanzen.
Selbst die Betonhülle über den Reaktorblöcken war kaum noch darunter zu erkennen.
Um Noriko herum wurden Räucherstäbchen entzündet und mit zusammengelegten Handflächen und gesenkten Köpfen leise Gebete gemurmelt.
Rasch senkte auch sie den Kopf, um nicht aufzufallen.
Sie wusste, dass der Innenraum des Luftschiffs kameraüberwacht war, und den Helden von Fukushima keinen Respekt zu zollen, war verdächtig, erst recht wenn der eigene Grossvater darunter war.
Noriko war mit der Geschichte seines Heldentums aufgewachsen.
Nachdem das grosse Erdbeben und der anschliessende Tsunami im März des Jahres 2011, mit zerstörerischer Gewalt die Ostküste ihres Heimatlandes Japan verwüstet hatten, brach in einigen Atommeilern des Landes der Notstand aus, weil die Kühlsysteme komplett ausgefallen waren.
Besonders dramatisch war die Lage hier in Fukushima. Eine Kernschmelze drohte, falls es nicht gelang, die Lage unter Kontrolle zu bringen.
Und in dieser Stunde der Not, erhoben sich 50 tapfere Männer, die bereit waren, ihr Leben für ihr Land zu geben und im Inneren des Kraftwerks ihr Wissen und ihr Können unter Beweis zu stellen, indem sie trotz drohender Verstrahlung weiter an einer Lösung des Problems arbeiteten.
Es war ihnen tatsächlich gelungen, die Katastrophe abzuwenden und das Kühlsystem wieder in Gang zu bringen, allerdings hatten sie ihren mutigen Einsatz mit dem Leben bezahlt, und ihre Leichname waren hierher nach Fukushima gebracht worden, bevor man die havarierten Reaktoren mit meterdickem Beton überzog.
Der Meiler wurde ihr Grab.
Diese Vorgänge hatten Eingang in die Geschichtsbücher gefunden, und die 50 toten Männer wurden landesweit als Nationalhelden verehrt. Jedes Schulkind kannte ihre Namen und natürlich auch Noriko.
Für ihre Grossmutter war es damals, ebenso wie für die Angehörigen der übrigen Helden eine schwere Zeit.
Sie hatte durch die Naturkatastrophe alles verloren, ausser ihrem Sohn, der damals drei Jahre alt gewesen war. Man konnte es als reines Glück bezeichnen, dass sie zum Zeitpunkt der Katastrophe mit dem Kind ihre Familie in Tokio besuchte, doch als sie zurückkam, war nichts mehr wie vorher.
Ihr Haus, ihr Mann, die vertraute Umgebung und die Menschen, denen sie tagtäglich begegnet war, alles war unwiederbringlich fort.
Von heute auf morgen stand sie vor den Trümmern ihres Lebens, und das Einzige, was sie aufrecht hielt, war der Stolz auf ihren Mann, der sein Leben für das seiner Mitmenschen geopfert hatte.
Von klein auf hatte man Noriko diese Tat als leuchtendes Musterbeispiel japanischer Tugenden vorgehalten, und im Haus ihrer Eltern brannten stets Räucherstäbchen vor dem Bild ihres Grossvaters. Sein Andenken wurde in hohen Ehren gehalten, und an der Wand hing die Urkunde, die die Familie von der damamligen Regierung bekommen hatte und in der das Opfer ihres Vorfahren gewürdigt wurde.
Seit einigen Jahren wurden Luftschifffahrten wie diese durchgeführt. Sie waren kostenlos und sollten der japanischen Bevölkerung den Wert des eigenen Landes vor Augen führen. Einen Wert, der in den Augen der 50 Helden so hoch gewesen war, dass sie ihn über alles andere stellten, selbst über ihre Familien und ihr eigenes Leben.
Wegen der noch immer anhaltenden Strahlenbelastung kreisten die Luftschiffe allerdings immer nur ein paar Minuten direkt über dem Gelände des ehemaligen Atomkraftwerks.
Heute jährte sich das grosse Beben zum 52. Mal, und Noriko hatte sich trotz aller Zweifel, die in ihrem Herzen keimten, entschlossen herzukommen und einen ersten Blick auf das Grab ihres toten Ahnen zu werfen.
Sie war vor kurzem 21 geworden und galt nun offiziell als volljährig, daher hatte sie diese Fahrt machen dürfen. Kindern war die Luftschifffahrt verwehrt.
Von offizieller Seite hiess es, sie sollten erst herkommen, wenn sie erwachsen waren und die Dimension des Opfers begreifen konnten, dass hier gebracht worden war.
Hinter vorgehaltener Hand munkelte man allerdings, dass Kinder nicht herkommen durften, weil es noch immer zu gefährlich war.
Noriko hatte nie die Geschichte angezweifelt, die man ihr über ihren Grossvater und die Vorgänge in Fukushima erzählt hatte, sie war regelrecht zu einem Teil von ihr geworden und tief in ihrer Seele verwurzelt.
Man hatte aus der Beinahe-Katastrophe gelernt, das betonte die Regierung immer wieder.
Die neuen Atommeiler, die seit damals entstanden waren, stellten Musterbeispiele an Sicherheit dar, dass sah man immer wieder in offiziellen Dokumentationen im Fernsehen.
Da man am Beispiel von Fukushima erkannt hatte, wohin Verfehlungen an der Spitze privatwirtschaftlicher Unternehmen führen konnten, wurden sämtliche Betreiberfirmen von Atomreaktoren im Land enteignet, und die Regierung übernahm das Ruder.
Die böswillige Propaganda der westlichen Welt war zwar trotzdem lange Zeit nicht verstummt, doch da Japan sich aus eigener Kraft wieder aus den Trümmern der Havarie erhoben hatte, wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche, war es gestärkt daraus hervorgegangen und hatte seine Machtposition in der industriellen Welt behauptet.
Auch dies war tief in Norikos Geist eingesickert, während sie aufwuchs.
Seit sie jedoch an der Universität in Nagoya Agrarwissenschaften studierte, war sie sich ihrer Welt und ihrer Überzeugungen nicht mehr sicher.
Kleinste Körnchen des Zweifels – winzigen Samenkörnern gleich – waren in ihren Geist gefallen, hatten dort gekeimt und Wurzeln getrieben, breiteten sich immer mehr aus und durchzogen bald ihr gesamtes Denken und Handeln.
In Diskussionen mit Kommilitonen wurden die Zweifel genährt, und es kamen Neue hinzu. Bald war ihr vorher so gefestigtes Leben ins Wanken geraten, und tagtäglich beschäftigte sich ihr Denken nun mit der Frage, wieviel Wahrheit tatsächlich in der wohlgefälligen Geschichte über Heldentum und Opferbereitschaft steckte.
Was war damals wirklich passiert?
Waren die neuen Meiler tatsächlich sicher?
Was, wenn sich die Geschichte wiederholte?
Öffentlich durfte man solche Fragen nicht stellen, aber in der abgeschlossenen Atmosphäre der Studentenwohnheime wucherten wilde Spekulationen.
Sie sah sich in der Passagierkabine um.
Das Luftschiff hatte seine Runde über dem Reaktor beendet und drehte ab, daher wandten sich die meisten Passagiere wieder ihren Sitzplätzen zu.
Die meisten schwiegen und es herrschte eine feierliche Atmosphäre.
Unter den wenigen, die noch an den Fenstern verharrten, war ein junger Mann, der etwa in Norikos Alter sein mochte. Er starrte weiter bewegungslos hinaus und mit den Fingern umkrampfte er die Haltestange, die unter den Fenstern angebracht war.
Als hätte er ihren Blick bemerkt sah er auf, und als Noriko in sein Gesicht schaute, erkannte sie dort all jene Zweifel, die auch sie beschäftigten.
Langsam ging sie zu ihm hinüber und stellte sich neben ihn, nicht wissend, wie sie ein Gespräch beginnen sollte.
Doch er nahm ihr diese Bürde ab, indem er sich ihr zuwandte und lächelnd eine Verbeugung andeutete.
„Bitte, gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle, mein Name ist Fuyuhiko Tsuge.“ sagte er höflich.
Sie erwiderte die Begrüssung und nannte ihm ihren Namen. Dann fragte sie: „Haben Sie auch einen Vorfahren hier in Fukushima?“
Er nickte und erwiderte: „Ja, mein Grossvater war einer der Fukushima 50.“
Noriko nickte, sie erinnerte sich an den Namen Tsuge.
„Mein Grossvater gehörte ebenfalls dazu. Ein grosser Mann, den ich immer bewundert habe.“ hörte sie sich sagen.
Er sah sie schweigend von der Seite an, und dann schauten sie eine Weile gemeinsam nach draussen, dorthin, wo die Ruine des Reaktors langsam aus ihrem Blickfeld verschwand.
Plötzlich brach es aus ihr heraus. „Ich weiss nicht, was ich glauben soll. Ist es damals wirklich so gewesen, wie es in den Büchern steht? Was meinen Sie?“
Überrascht drehte er den Kopf und begegnete ihrem Blick. Er zögerte einen Moment mit der Antwort, doch in ihrem Gesicht fand er nur ein Spiegelbild seiner eigenen Zweifel.
„Ich weiss es nicht.“ gestand er. „Aber ich habe vor, es herauszufinden.“
Wortlos sah sie ihn an, in der stillen Hoffnung, er möge sich erklären.
„Es gibt viele von uns.“ sagte er schliesslich mit gesenkter Stimme. „Viele fragen sich inzwischen, was damals wirklich passiert ist. Ob es tatsächlich nur verleumderische Propaganda des Westens war, als wochenlang von einer Kernschmelze in Fukushima berichtet wurde. Und ob die neuen Reaktoren tatsächlich so sicher sind, wie immer behauptet wird.“
Er sah sich um, dann nahm er ihre Finger, zückte einen Stift und schrieb ihr eine Nummer auf die Handfläche.
„Lächeln Sie.“ sagte er. „Dann wird man glauben, es wäre etwas Romantisches, was wir hier machen. Das ist meine Handynummer. Wenn Sie genauso sehr nach Antworten suchen wie wir, dann rufen Sie mich an.“
Noriko tat wie ihr geheissen und lächelte den jungen Mann an.
Um den Anschein zu wahren, redeten sie noch ein wenig belangloses Zeug, bevor sie beide wieder zurück auf ihre Plätze gingen. Bald darauf landete das Luftschiff sanft auf dem neuen Flughafen in der Nähe von Tokio.
Noriko stieg aus und warf Fuyuhiko einen letzten Blick zu, bevor sie in den Shuttle stieg, der sie zurück nach Nagoya bringen würde.
Während der Fahrt spürte sie in ihrer Hand die Stelle, wo die Nummer aufgeschrieben stand. Sie schien zu kribbeln, genau wie ihre Kopfhaut.
Aufregung hatte von ihr Besitz ergriffen, denn für sie war klar, dass sie anrufen würde.
Sie wollte die Wahrheit, endlich, nach so vielen Jahren.
Kaum war sie in ihrem Appartement griff sie nach dem Mobiltelefon und wählte die Nummer, die er ihr gegeben hatte.
Es klingelte drei Mal, dann meldete er sich.
„Hier ist Noriko...“ sagte sie.

Impressum

Texte: Cover: 505190_R_B_by_Thommy-Weiss_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2011

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