Das Klopfen hörte nicht auf. Penetrant und aufdringlich drang es in Björns Unterbewusstsein und verjagte die angenehmen Bilder seines letzten Traumes, in dem er gerade Vanessa küsste, das Mädchen, in das er jetzt schon seit Wochen verliebt war.
Musste das denn an einem Samstag sein?
Grummelnd drehte er sich auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf.
Aber das half nicht gegen das immer lauter werdende Hämmern an seiner Tür, denn jetzt rief seine Mutter auch noch:“Björn!! Es ist fast Mittag! Steh´ endlich auf! Hörst du nicht? Björn!!!“
Schlaftrunken setzte er sich auf und antwortete: „Ja, ist ja gut! Ich komm´ gleich runter!“
„Hoffentlich! Dein Vater braucht dich noch!“ kam es aus dem Flur und er hörte, wie seine Mutter die Treppe hinunterging. Kaum war sie weg, liess er sich zurückfallen und döste noch ein paar selige Minuten vor sich hin.
Die Party am Abend vorher war einfach megageil gewesen – nicht zuletzt, weil Vanessa dort gewesen war.
Als er an sie dachte, erschien ihr Bild vor seinem geistigen Auge und zauberte ein verzücktes Lächeln auf sein Gesicht. Sie war einfach umwerfend hübsch, gross, schlank, langbeinig, mit langen blonden Locken und herrlichen blauen Augen. Auf ihrer süssen Nase sassen ein paar vorwitzige Sommersprossen und wenn sie lachte, zeigten sich Grübchen in ihren Wangen.
Sie war erst seit ein paar Wochen in seiner Klasse, aber er hatte nur einen einzigen Blick auf sie werfen müssen und war augenblicklich total verschossen.
Das galt zwar auch für die meisten anderen Jungs aus seiner Klasse, aber nach dem gestrigen Abend machte er sich echte Hoffnungen. Sie hatte fast ausschliesslich mit ihm getanzt und ihm zum Abschied sogar einen Kuss auf die Wange gegeben. Danach war sie zwar rot geworden und schnell gegangen, aber das hiess doch wohl, dass sie auch an ihm Gefallen fand, oder?
Jedenfalls stand für ihn fest, dass er sie so bald wie möglich wiederzusehen gedachte.
Mit diesem Vorsatz im Kopf rappelte er sich endlich aus dem Bett und holte sich frische Kleider aus dem Schrank.
Was hatte seine Mutter gesagt? „Dein Vater braucht dich noch!“
Das konnte nur bedeuten, dass es wieder irgendeine lästige Arbeit gab, bei der er helfen sollte. Dazu verspürte er zwar nicht die geringste Lust, aber er wusste, dass er sich kaum würde drücken können.
Als er kurz darauf die Treppe herunter kam und das Esszimmer betrat, lief zu seinem Erstaunen der Fernseher. Das gab es sonst tagsüber so gut wie nie und überrascht bemerkte er, dass seine Mutter beim Bügeln innehielt und den Blick konzentriert auf die Mattscheibe gerichtet hielt. Einen kurzen Moment lang sah er ebenfalls hin, es schien sich um eine Nachrichtensendung zu handeln. Da er sich aber nicht dafür interessierte, setzte er sich an den Tisch, häufte sich Müsli in eine Schüssel und begann zu essen.
Mit einem halben Ohr hörte er, dass der Sprecher im Fernsehen etwas von einem Erdbeben und anschliessendem Tsunami in Japan erzählte. Er blickte auf und sah Bilder von dunklen schlammigen Wassermassen, die über Hochwasserschutzwände schwappten, sich über Strassen und Plätze wälzten und alles auf ihrem Weg mitrissen oder zerstörten. Gleich darauf wechselte das Bild und die Silhouette eines Kernkraftwerks erschien. Jetzt erzählte der gleiche Sprecher etwas von einer drohenden atomaren Katastrophe, wegen einem Ausfalls des Kühlsystems.
Seine Mutter hatte das Bügeleisen abgestellt und eine Hand vor den Mund gehoben.
„Oh, Gott!“ murmelte sie. „Die armen Menschen!“ Sie drehte sich zu ihm um. „Wenn dieses Atomkraftwerk in die Luft fliegt, meinst du, wir kriegen auch was davon ab?“
Björn winkte ab.
„Ach wo! Japan ist doch so weit weg. Das betrifft uns hier nicht!“
Seine Mutter sah ihn immer noch zweifelnd an. Er löffelte sein Müsli fertig in sich hinein und wollte dann den Tisch abräumen.
„Lass´ das ruhig stehen, Junge. Geh´ mal lieber raus zu deinem Vater. Heute morgen ist die bestellte Fuhre Holz gekommen und du sollst ihm helfen, es hinter dem Haus aufzuschichten.“
Björn verdrehte die Augen. So wie er seine Eltern kannte, hatten sie einen halben Wald bestellt und es würde Stunden dauern, bis er die Scheite, die sein Vater mit der Axt aus den grossen Stücken schlug an der Schuppenwand aufgesetzt hatte.
Als er um die Hausecke bog, sah er seine Befürchtungen bestätigt.
Im Schweisse seines Angesichts hackte sein Vater Holzscheite und ein riesiger Haufen davon türmte sich bereits neben ihm. Seufzend schnappte sich Björn einen Korb und machte sich ans Werk.
„Guten Morgen – oder besser gesagt Guten Mittag!“ grinste sein Vater. „Muss ja eine tolle Party gewesen sein, wie? Wann bist du denn nach Hause gekommen?“
„So gegen halb zwei, glaube ich.“ Björn erwiderte das Grinsen, denn wenn ihm auch die Arbeit gegen den Strich ging, so verstand er sich mit seinem Erzeuger doch bestens und konnte mit ihm über so gut wie alles reden.
„Und? War Vanessa auch da?“
Er nickte. „Ich wollte mich eigentlich heute oder morgen wieder mit ihr treffen.“
„Mit anderen Worten – du machst Fortschritte?“ Das Grinsen seines Vaters wuchs in die Breite.
„Sieht so aus.“ Der erste Korb war voll und Björn trug ihn hinter den Schuppen, wo er begann, die Scheite zu einer ordentlichen Mauer aufeinander zu schichten.
Als er wieder zurückkam, machte sein Vater gerade eine Zigarettenpause und schweigend sammelte Björn die nächste Ladung Scheite in den Korb.
„Sieht deine Mutter immer noch fern?“
„Ja.“ Björn nickte. „Hast du´s auch schon gesehen?“
„Hmm!“ Sein Vater trat die Zigarette aus und warf den Stummel dann in eine Blechdose mit Sand, die in seiner Nähe stand. „Schlimme Geschichte. Hoffentlich kriegen die die Lage in den Reaktoren in den Griff. Nicht auszudenken, was sonst passiert.“
„Wieso?“ Björn sah auf. „Das betrifft uns doch nicht.“
Sein Vater stützte sich auf die Axt und betrachtete ihn einen Moment lang schweigend.
„Du bist noch verdammt jung mit deinen 18 Jahren und ausserdem frisch verliebt, da ist die eigene Weltsicht schon mal beschränkt, aber meinst du nicht, dass es da unten auch junge Leute gibt, wie dich? Die vielleicht gerade zum ersten Mal so richtig verliebt sind? Oder Kinder wie die von unseren Nachbarn, Familien wie unsere, ganz normale Leute wie dich und mich eben. Und die sind plötzlich herausgerissen worden aus ihrem Leben, haben ihre Angehörigen verloren, ihr Zuhause. Und jetzt müssen sie vielleicht einer noch grösseren Katastrophe ins Auge sehen – einem Supergau! Was würdest du tun, wenn das hier passiert wäre? Würdest du dir nicht wünschen, dass andere, dass die Welt davon Notiz nimmt? Dass Hilfe geschickt wird?“
Björn sah zu Boden. „Ja, klar würde ich das. Wer denn nicht?“
Sein Vater nickte. „Dann sag´ nicht, dass uns das nicht betrifft, okay?“
„Schon gut, Paps!“ Er trollte sich mit dem Korb voller Holzscheite und rollte mit den Augen, als er ausser Sichtweite war. Mochte sein Vater sagen, was er wollte, es gab jeden Tag irgendwo auf der Welt irgendwelche grossen und kleinen Katastrophen. Man konnte sich doch nicht um alle verrückt machen! Ausserdem würde er sonstwas darauf wetten, dass schon in ein paar Tagen die Schlagzeilen wieder von anderen Sensationen berichten würden und kein Hahn mehr nach einem Erdbeben in Japan krähte, mochte es auch noch so schlimm gewesen sein.
Nach drei Stunden harter Arbeit war es geschafft, sämtliches Holz war gespalten und ordentlich aufgeschichtet.
Björn duschte und rief dann bei Vanessa an, um sich mit ihr zu verabreden.
Zu seiner Freude klang sie begeistert und eine Stunde später sassen sie gemeinsam im Kino. Und obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, fasste er sich ein Herz und küsste sie im Schutz des abgedunkelten Kinosaales. Sie lehnte sich gegen ihn, erwiderte seinen Kuss und innerlich jubilierte er vor Glück.
Nach der Vorstellung gingen sie Hand in Hand durch den nahen Stadtpark. Ein paar Spaziergänger waren an diesem späten Nachmittag noch unterwegs, aber im Vergleich zum Sommer war es sehr ruhig auf dem Gelände.
Hier und da streckten schon Krokusse, Narzissen und die ersten frühen Tulpen ihre Köpfe aus der Erde und die Zweige der winterkahlen Bäume zeigten die ersten Knospen.
Die Sonne stand tief und es war frisch, doch sie froren nicht und blieben immer wieder stehen, um sich zu küssen und zu umarmen.
Als sie fast wieder beim Ausgang angekommen waren, sahen sie ein Kind auf einer Bank sitzen und irgendetwas an seiner Haltung liess sie aufmerksam werden. Vanessa warf ihm einen Blick zu und zog ihn hinüber.
Es war ein zierliches, kleines Mädchen, welches dort sass.
Björn schätzte die Kleine auf acht, höchstens neun Jahre. Sie trug Jeans, Anorak und eine pinkfarbene Mütze, und die Füsse, die den Boden im Sitzen nicht erreichten, steckten in dicken Boots.
Mit gesenktem Kopf sass sie da und obwohl ein dichter Vorhang glatter, schwarzer Haare unter der Mütze hervor in ihr Gesicht fiel, war offensichtlich, dass sie weinte, denn sie schniefte vor sich hin und wischte sich immer wieder über die Augen.
Vanessa setzte sich neben das Kind und Björn sah sich um, ob vielleicht ein Erwachsener in der Nähe war, zu dem die Kleine gehören könnte.
Vanessa legte vorsichtig ihre Hand auf die Schulter des Mädchens. „Hey, was hast du denn? Können wir dir helfen?“ Die Angesprochene schüttelte schweigend den Kopf und weinte weiter. Sie hatte ein Foto in der Hand, erkannte Björn jetzt.
„Ist deine Mama oder dein Papa in der Nähe?“ fragte Vanessa weiter. Wieder ein Kopfschütteln.
„Hast du dich vielleicht verlaufen?“ Keine Antwort.
Hilfesuchend sah Vanessa zu ihm auf und widerstrebend setzte sich Björn auf die andere Seite neben das Mädchen.
Mann, das hatte ihm noch gefehlt, sich ausgerechnet jetzt um ein fremdes Kind kümmern zu müssen. So hatte er sich den weiteren Verlauf des Tages nicht vorgestellt. Aber er spürte, dass Vanessa es ihm übelnehmen würde, wenn er es nicht tat.
Innerlich seufzend beugte er sich zu dem Mädchen und schaute auf das Foto. Es zeigte eine grössere Gruppe Menschen, die lächelnd beisammen standen und in die Kamera schauten. Ein Familienfoto?
„Ist das deine Familie?“ fragte er und das Kind hob zum ersten Mal den Kopf und sah ihn an. Ihr Gesicht war tränenverschmiert und die Nase lief ebenfalls. Als er sie jetzt so genau anschauen konnte, erkannte er an ihren mandelförmigen Augen, dass sie asiatische Vorfahren haben musste.
Er streckte die Hand nach dem Foto aus.
„Darf ich mal sehen?“
Wortlos reichte die Kleine ihm das Bild.
Björn betrachtete es genauer und ihm fiel auf, dass ein Teil der Menschen auf dem Bild ebenfalls von asiatischem Aussehen waren. Vanessa lehnte sich herüber und betrachtete die Aufnahme ebenfalls.
„Das ist mein Papa.“ Das Mädchen deutete plötzlich auf einen Mann von westlichem Äusseren, der einen Arm um eine hübsche Frau gelegt hatte, die offensichtlich aus dem fernöstlichen Kulturkreis kam.
„Und das?“ fragte Vanessa und zeigte auf die Frau. „Ist das deine Mama?“ Das Kind nickte.
„Und wo sind sie jetzt?“ wollte Björn wissen. Doch die Reaktion des Mädchens überraschte ihn. Sie zog die dünnen Beine auf die Bank, schlang die Arme darum und vergrub schluchzend das Gesicht darin.
Ratlos sahen sich Björn und Vanessa an, dann rückte Vanessa näher an das weinende Mädchen, legte die Arme um die schmalen Schultern und wiegte sie, während sie ihr mit einer Hand tröstend über den Kopf streichelte.
Plötzlich erscholl ein lauter Ruf vom Eingang des Parks her: „Kaoruko! Hier bist du! Dem Himmel sei Dank!“
Eine ältere, ziemlich aufgelöst wirkende Frau kam herbeigestürzt, liess sich auf die Knie fallen und riss das Mädchen in ihre Arme.
Eine Weile lang klammerten sich die beiden aneinander und weinten gemeinsam.
Björn fühlte sich zwar erleichtert, aber auch etwas unbehaglich und ein Seitenblick auf Vanessa zeigte ihm, dass es ihr wohl genauso ging.
Gerade überlegte er, ob es wohl unhöflich wäre, einfach so zu gehen, da stand die Frau auf, wischte sich mit einem Taschentuch die Augen und putzte sich die Nase.
„Bitte entschuldigen Sie diesen Auftritt. Ich weiss, das muss Ihnen seltsam vorkommen. Ich war nur so in Sorge wegen meiner Enkelin, wissen Sie.“
Vanessa lächelte. „Das ist doch kein Problem.“ sagte sie freundlich. „Wir haben die Kleine hier sitzen sehen und gemerkt, dass sie weint. Da haben wir versucht, ihr zu helfen.“
Das Gesicht der Frau wurde weich. „Das ist sehr nett von Ihnen. Sie ist wegen der Nachrichten aus Japan so durcheinander, wissen Sie. Ihre Eltern sind zur Zeit beide dort. Ihre Mutter stammt aus Sendai und musste zu einer Beerdigung hinfahren. Eigentlich wollten sie ja morgen zurück kommen. Als nun die Nachricht von dem Erdbeben und dem Tsunami im Fernsehen war, war ich natürlich mehr als besorgt. Aber ich habe versucht, es vor ihr zu verbergen. Ich wollte nicht, dass sie etwas davon erfährt, bevor ich selbst Näheres weiss. Ich konnte weder meinen Sohn noch meine Schwiegertochter erreichen und wusste nicht, was ich machen sollte. Und dann hat Kaoruko mit den Nachbarskindern gespielt und eine Mutter musste sie natürlich auf die Katastrophe ansprechen. Sie hat dem armen Kind alles erzählt und Kaoruko war natürlich völlig geschockt! Ich habe sie dann bei mir in der Wohnung behalten, aber als vorhin das Telefon klingelte, ist sie davongelaufen. Ich suche sie jetzt schon seit fast einer Stunde. Zum Glück ist mir schliesslich der Park eingefallen, wo sie immer mit ihrer Mutter hingeht. Kaoruko,“ wandte sie sich an ihre Enkelin, „weisst du, wer das eben am Telefon war? Dein Papa und deine Mama! Es geht ihnen gut und sie kommen bald zu dir!“
Ein ungläubiges Staunen zeichnete sich auf den kindlichen Zügen ab, dann begann sie zu strahlen und fiel ihrer Grossmutter um den Hals.
„Ist das wahr? Mein Chichi kommt heim zu mir? Und Mami auch?“ Sie jauchzte und küsste die Frau auf beide Wangen.
„Ja, mein Schatz.“ bestätigte diese, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Björn musste schlucken und Vanessas Augen glänzten ebenfalls verdächtig. Sie verabschiedeten sich von Kaoruko und ihrer Grossmutter und verliessen schweigend und sehr nachdenklich den Park.
Björn kamen die Worte seines Vaters in den Sinn.
Plötzlich schien Japan doch sehr viel näher zu sein als noch vor kurzem.
Vanessa fasste nach seiner Hand und verflocht ihre Finger mit seinen.
„Meinst du wir könnten an unserer Schule eine Spendenaktion machen?“ fragte sie und er nickte.
„Wir sollten es jedenfalls versuchen. Und wenn die Schule nicht mitzieht, können wir ja vielleicht was anderes organisieren.“
„Hmm! Ich werde meine Eltern fragen, vielleicht haben die ja auch eine gute Idee.“
„Ja, ich auch.“
Sie trennten sich an der Bushaltestelle und eine halbe Stunde später war Björn zuhause.
Seine Eltern sassen beide im Wohnzimmer, er setzte sich dazu und kurz darauf waren sie in ein ernsthaftes Gespräch über ihre Möglichkeiten vertieft. Sein Vater machte sich Notizen und sie riefen Freunde, Bekannte und Verwandte an. Und am späten Abend, als sie alles getan hatten, was an diesem Tag möglich war, klopfte sein Vater ihm auf die Schulter.
„Ich bin stolz auf dich, Björn. Du hast heute etwas gelernt, was du hoffentlich nie wieder verlernst, nämlich echte Hilfsbereitschaft.“
„Ja, Paps. Nur dass mich da erst ein kleines Mädchen drauf bringen musste.“
Texte: Cover:
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Tag der Veröffentlichung: 26.03.2011
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