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Hand aufs Herz – was für eine Vorstellung haben Sie von einem Engel?
Genauer gesagt – von einem Schutzengel?
Sehen Sie sie auch als ätherische, geflügelte Wesen von unendlicher Sanftmut und Güte, einzig und allein beseelt von dem Wunsch, den ihnen anvertrauten Menschen zu beschützen? Ja?
Ich sage dazu nur eins: Vergessen Sie´s!
Wie ich dazu komme? Ganz einfach – ich war selbst Einer!
Und eins können Sie mir glauben, ein Schutzengel zu sein ist vermutlich der beschissenste Job im ganzen Universum, und zwar mit Abstand!
Zwar hat längst nicht jeder Mensch einen persönlichen Beschützer, die weitaus meisten werden sozusagen im Rudel überwacht, aber manche, die in irgendeiner Weise besonders wichtig für den unergründlichen, göttlichen Plan sind, werden quasi individuell betreut. Und ich war so ein individueller Betreuer

.
Aber was hätte ich nach über sieben Jahrhunderten nicht darum gegeben, den Krempel hinwerfen zu können!
Meine Arbeit erfüllte mich schon lange nicht mehr und erschien mir geradezu nervtötend sinnlos!
Der ganze Ärger fängt doch schon an, wenn der uns anvertraute Mensch gerade geboren wird.
Haben Sie eine Ahnung, wie fürchterlich es sein kann, unsichtbar in einem überheizten Kreißsaal zu stehen und darauf zu warten, dass der zukünftige Erdenbürger endlich seinen ersten Schrei loslässt?
Und wenn das endlich geschafft ist, wird es ja auch nicht besser – im Gegenteil! Mit jedem Monat der vergeht werden die kleinen Hosenmätze anstrengender. Als wären all die Steckdosen, Treppen und Herdplatten nur zu dem Zweck erfunden worden, um uns beschäftigt zu halten.
Glauben Sie mir, manchmal möchte man nichts lieber, als den verflixten Rotzgören einfach mal gepflegt auf die Finger oder den Hosenboden …
Aber das ist natürlich tabu!
Überhaupt gibt es so einige Tabus in diesem Job. An erster Stelle steht dabei Ungehorsam. Als Engel hat man gefälligst zu gehorchen und zwar ohne sich zu beklagen! - Das fällt natürlich auch unter die Tabus.
Aber das schlimmste dabei ist, dass Engel im Gegensatz zu den Menschen noch nicht mal die Möglichkeit haben, sich mit einem saftigen Fluch oder wüstem Schimpfen Luft zu machen!
Wie oft habe ich mir gewünscht, mich wenigstens ein einziges Mal auf diese Weise abzureagieren!
Aber nein – die Devise hiess stets: tief durchatmen und lächeln.
Natürlich wurde auch ich nicht als Engel geboren, sondern war vor sehr langer Zeit auch einmal ein Mensch, und als ich nach meinem Tod im Alter von 27 Jahren, wegen meines gottgefälligen Lebenswandels zum Schutzengel auserkoren wurde, fühlte ich mich geehrt und war überglücklich.
Wenn ich damals einen der dienstälteren Kollegen traf, wunderte ich mich oft über die mangelnde Begeisterung, die sie an den Tag legten und verstand nicht, wieso sie genervt die Augen verdrehten, wenn ich ihnen von meinem jeweiligen Schützling vorschwärmte.
Später ging es mir dann genauso, ich wurde sozusagen ein Augenverdreher par excellence

!
Die Menschen, die ich beschützte ahnten nichts von meiner Anwesenheit und manchmal hatte ich das Gefühl, ich müsste verrückt werden.
Können Sie sich das vorstellen? Man wacht über jemanden, verhindert ab un zu Unglücksfälle, ohne dass es der Beschützte überhaupt merkt und steht ansonsten wie ein Regenschirm in der Ecke herum und tut - nichts!
Nichts, ausser einem menschlichen Leben dabei zuzusehen, wie es in mehr oder weniger grosser Bedeutungslosigkeit verstreicht.
Wenn ich wenigstens gewusst hätte, welche Rolle mein jeweiliger Schützling in dem grossartigen, göttlichen Plan spielte...!
Aber solche Dinge teilte man simplen Schutzengeln natürlich nicht mit, wozu auch?
Es interessierte ja niemanden, ob man bei dieser Art Arbeit verblödete!
Und ich brauche nicht zu sagen, dass es in diesem Job keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten, keine Entlohnung, Urlaub oder sonstige Anerkennung gab, oder?
Meine Arbeit hing mir zum Halse heraus und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als das ganze Engeldasein hinter mir lassen zu können.
Das ging natürlich nicht so einfach, aber ich suchte mir immer häufiger Schlupflöcher, soll heissen, ich überliess meine Schützlinge immer öfter unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand sich selbst und pflegte stattdessen mein Ego.
Und nachdem anfangs auch immer alles gut ging, verstieg ich mich bald in den Glauben, dass meine Anwesenheit doch eigentlich gar nicht nötig war, da sowieso nur selten etwas passierte!
Anstatt über meinen Menschen zu wachen, mischte ich mich unters Volk, verfiel schlechten menschlichen Angewohnheiten, wie Rauchen, Trinken und Spielen und selbst, als mich Kollegen warnten, dass das nicht auf Dauer gutgehen könnte, hörte ich einfach weg oder wiegelte mit ein paar Plattitüden ab.
So kam natürlich, was kommen musste und mein aktueller Schützling erlitt einen schweren Unfall, den ich mit Leichtigkeit hätte verhindern können, wenn ich dort gewesen wäre – nur leider war ich eben weit weg und betrunken und das machte wahrhaftig auf niemanden einen guten Eindruck.
Als ich erfuhr, was geschehen war, wirkte das wie die sprichwörtliche kalte Dusche.
Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich an mir herunter und bemerkte plötzlich, dass ich mehr einem Stadtstreicher ähnelte, als einem Engel.
Nun sehen Schutzengel heute längst nicht mehr aus, wie in alter Zeit, auch der Himmel muss schliesslich mit der Zeit gehen - wenigstens ein bisschen!
Früher war ein wallendes, weisses Gewand die einheitliche Uniform der Schutzengel, heute ist das anders geworden. Manche Engel fühlen sich im Anzug wohl, andere in Jeans und T-Shirt.
Und natürlich gibt es auch weibliche Schutzengel, da ist die Bandbreite beim äusseren Erscheinungsbild noch grösser.
Nun könnte man sich fragen, wozu der Aufwand gut sein soll, denn die allermeisten Menschen sehen uns Engel sowieso nicht - es sei denn, wir wollen es selbst, schon allein deshalb, weil das menschliche Gehirn sich schlichtweg weigert, Dinge wahrzunehmen, die es nach den Gesetzen der Logik nicht geben kann.
Und selbst wenn uns jemand sieht, gilt das nicht zwangsläufig auch für das Engelhafte unserer Erscheinung, sprich unsere Flügel, denn mal ehrlich - würden Sie es glauben, wenn man Ihnen ernsthaft versichert, dass da jemand herumläuft, der ein Paar überdimensionierte weisse Schwingen auf dem Rücken hat?
Sehen Sie? Schon mischt sich der Verstand wieder ein und lässt Sie nur sehen, was es "wirklich" gibt.
Kinder bilden da eine Ausnahme, zumindest hin und wieder - sie haben eben eine grössere Fantasie und sind offener für Unerwartetes. Aber das nur nebenbei!
Jedenfalls hatte ich mich wohl ziemlich gehen lassen in der letzten Zeit und sah auch dementsprechend aus.
Meine Jeans waren zerfranst und schmuddelig, mein Kapuzenshirt sah fast aus wie ein Flecktarn-Oberteil, und in meinem Gesicht stand anstelle eines Dreitagebartes ein wüstes Gestrüpp.
Was meine Flügel angeht – darüber decken wir lieber den Mantel des Schweigens. Nur soviel sei gesagt: jede heruntergekommene Stadttaube hatte damals ein gepflegteres Federkleid als ich!
Ich hatte mich bereits mehrere Wochen lang auf der Amüsiermeile einer Großstadt herumgetrieben und war völlig ahnungslos, was das Schicksal meines Schützlings betraf.
So ziemlich jedes Amüsement, das sich mir bot, hatte ich genossen, ganz egal, ob es sich um Frauen, Schnaps oder sonstige hirnzerfressende Substanzen handelte.
Natürlich war ich mir darüber im Klaren, dass ich es krass übertrieb, aber auch das konnte mich nicht davon abhalten.
Ich hatte ja selbst schon so manchen ausgebrannten und desillusionierten Engel getroffen, aber ich kann wohl ohne Übertreibung behaupten, dass es keinen gab, der mir in dieser Hinsicht das Wasser reichen konnte.
Gelegentlich war mir auch der eine oder andere Kollege begegnet und hatte angesichts meines Äusseren entsetzt die Augen aufgerissen, aber ich redete mir immer wieder ein, dass mich das nicht interessierte und machte weiter wie gehabt.
Genau genommen interessierte mich nichts mehr wirklich, weder die Menschen im allgemeinen, noch mein Schützling im speziellen, geschweige denn irgendetwas anderes. Ich hatte meine Existenz einfach gründlich satt und versuchte nur noch, meinen Überdruss und die scheinbare Sinnlosigkeit meines Daseins irgendwie zu betäuben, ganz egal womit.
Von dem Unfall meines Schützlings erfuhr ich deshalb erst Wochen danach, durch zwei himmlische Wächter, die geschickt worden waren, um mich zu einer Befragung zu holen.
(Ja, auch die "englische" Bürokratie funktioniert manchmal erschreckend langsam!)
Im Rahmen dieser Befragung sollte geklärt werden, inwieweit ich die Schuld daran trug, dass der junge Mann von einem Auto angefahren und beinahe getötet worden war.
Man gab mir die Gelegenheit, mein Äusseres herzurichten, bevor ich vor meine himmlischen Richter treten musste und während ich mein Erscheinungsbild wieder meiner Position anpasste, versuchte ich, mir eine glaubwürdige Ausrede einfallen zu lassen.
Dabei wurde mir zu meinem eigenen Erschrecken plötzlich klar, dass ich mich nicht einmal mehr an das Aussehen meines Schützlings erinnern konnte!
Die Gesichter all derer, die ich in den letzten Jahrhunderten von der Wiege bis zur Bahre geleitet hatte, schwammen vor meinem geistigen Auge ineinander und ich war nicht mehr in der Lage, sie zu unterscheiden.
Da endlich begriff ich, dass ich versagt hatte.
Und zwar auf ganzer Linie.
Mir war ja noch nicht einmal in den Sinn gekommen zu fragen, ob mein Schützling schwere Verletzungen davongetragen hatte und ob er wieder gesund würde!
Ich war nicht länger würdig, ein Schutzengel zu sein und über Gottes wertvollstes Gut zu wachen – die Menschen!
Aber gerade weil ich das nun begriff, war mein Herz mehr denn je erfüllt vom Widerwillen gegen meine Aufgabe.
Ich fühlte mich einfach nur hohl und leer und nichts schien mich mehr erreichen zu können.
In dieser Verfassung trat ich den Richtern gegenüber, die aus den ranghöchsten Engeln ausgewählt worden waren.
Ohne Umschweife gestand ich meine Verfehlung ein, in der Hoffnung, den ungeliebten Job endlich für immer loszuwerden.
Doch schon nach einer kurzen Beratung stand das Urteil fest – und es fiel nicht gerade so aus, wie ich es mir erhofft hatte.
„Ezekiel, du wirst hiermit dazu verurteilt, vorerst für die Dauer eines Jahres dein Engeldasein aufzugeben und als Mensch auf die Erde zurückzukehren. Du verlierst deine Privilegien und deine Flügel und bekommst sie erst nach Ablauf des Jahres zurück, falls eine Überprüfung deines Falles ergibt, dass du gelernt hast, die Menschen wieder zu lieben, wie es die Aufgabe eines Schutzengels ist. Falls nicht, wird dein Exil um ein weiteres Jahr verlängert. Dies wird so weitergehen, bis du entweder wieder würdig bist, deine Flügel zu tragen, oder bis zum jüngsten Tag, an dem dann unser Herr über dich richten möge.“
Unfähig zu einer Antwort starrte ich den Sprecher an und der fuhr fort:“Wir werden dir jemanden zur Seite stellen, der deine Fortschritte regelmässig überprüfen und an uns berichten wird.“
Damit war die Anhörung beendet und ich wurde aus dem Saal geführt.
Für wen das alles jetzt noch seltsam irdisch klingt, dem kann ich nur sagen, er würde sich wundern, wenn er in die Gefilde der niederen Engel käme, zu denen auch und vor allem die Schutzengel gehören. Man könnte dort tatsächlich fast meinen, man wäre noch auf der Erde - vorzugsweise in irgendeiner Behörde.
Aber das liegt vermutlich daran, dass die Engel, die dort wandeln, am meisten von allen Himmelsboten mit den Menschen und der sterblichen Welt zu tun haben.
Auf der Erde heisst es „Die Umgebung prägt den Menschen“, bei den Engeln ist es genau umgekehrt, zumindest in den unteren Rängen.
In den höheren Sphären sieht es nach allem was ich weiss anders aus, aber da ich dort nie gewesen bin, kann ich das nur vermuten.
Wie auch immer, nach diesem Urteilsspruch verliess ich ziemlich belämmert den Gerichtssaal, kam aber nicht dazu, gross nachzudenken, denn die beiden Wächter, die mich eskortierten, führten mich eine Treppe hinunter in einen anderen Raum, in dem ein weiterer Engel auf mich wartete. Er sass mit gekreuzten Armen auf einem Stuhl und stand auf, als ich hereinkam.
Geschäftsmässig reichte er mir die Hand und stellte sich vor:“Ich bin Danael. Mir fällt die Aufgabe zu, dich während des folgenden Jahres zu beobachten. Ich werde zwar nicht ständig um dich sein, aber gelegentlich unangemeldet vorbeikommen und überprüfen, ob du dich an die Auflagen hältst.“
„Auflagen?“ fragte ich nicht sehr intelligent.
„Ja. Dir ist es verboten Alkohol zu trinken, zu spielen, irgendwelche Drogen zu konsumieren oder dich mit Frauen abzugeben. Darüber hinaus versteht sich von selbst, dass du an den Kodex der Engel und die zehn Gebote gebunden bist. In der Gegend in der du fortan leben wirst, gibt es ein paar Kirchen, die alle nicht schlecht sind, falls du geistlichen Beistand suchst. In Notfällen wende dich einfach an uns, keine Sorge, wir werden dich hören.“
Ich kratzte mich am Kopf.
„Wovon soll ich als Mensch leben? Habe ich einen Beruf?“
Danael nickte. „Du bist Erzieher in einer Kindertagesstätte.“
Innerlich verdrehte ich die Augen. Schon wieder Kinder!
„Ezekiel, du solltest das vielleicht nicht so sehr als Strafe sehen, sondern vielmehr als Chance! Du wirst nicht verdammt, sondern kannst daran arbeiten, wieder zu deinem alten Ich zurück zu finden!“
Er hatte offenbar bemerkt, was mir bei der Erwähnung der Kindertagesstätte durch den Kopf gegangen war...
„Dein Name ist übrigens ab sofort nicht mehr Ezekiel, der wäre dann doch etwas zu ungewöhnlich für die Menschen in deinem Umfeld. Du heisst jetzt Andreas. Vergiss´ das nicht.“ mahnte er.
„Aha, Andreas also. Und wie weiter?“
Danael mass mich mit einem abschätzenden Blick, bevor er antwortete.
„Wie schon - Engel natürlich!“

Knapp vierundzwanzig Stunden später stand ich vor einem grauen Mietshaus und sah an der Fassade empor.
Hier in dieser trostlosen Gegend, die im trüben Licht des Frühwintertages noch deprimierender wirkte, sollte ich also von jetzt an als Andreas Engel leben und lernen, die Menschen wieder zu lieben.
Ich sah mich um und entdeckte auch gleich ein paar Exemplare, die sicher nur darauf warteten, dass ich ihnen meine Zuneigung zeigte - eine Gruppe von Halbstarken, die auf einem kleinen, heruntergekommenen Spielplatz herumhingen und mich musterten, als würden sie überlegen, in welcher Tasche ich wohl mein Portemonnaie aufbewahrte und wieviel Geld sich darin befinden mochte.
Ich stiess die Fäuste in die Taschen meiner Lederjacke und ging an ihnen vorbei zur Eingangstür des Wohnblocks.
Dahinter befand sich ein grün gestrichener, fensterloser Flur, von dessen Wänden der Putz bröckelte und in den nur von einem Fenster auf dem ersten Absatz der nach oben führenden Treppe etwas Licht fiel.
Die Neonröhren an der Decke waren entweder kaputt oder fehlten ganz und die Briefkästen waren grösstenteils eingedellt und verbeult.
Da hatten sich meine obersten Chefs ja eine tolle Bleibe für mich ausgesucht!
Ich hatte zwar kein Penthouse erwartet, aber etwas mehr Mühe hätten sie sich ruhig geben dürfen, fand ich. Den Fahrstuhl stellte ich gar nicht erst auf die Probe, sondern nahm gleich die Treppenstufen unter die Füsse.
Meine Wohnung lag im dritten Stock, soviel mir Danael gesagt hatte und ich war einigermassen ausser Puste, als ich dort ankam.
Als Engel hatte mir so etwas nicht die geringsten Probleme bereitet, notfalls konnte ich mich in Sekundenschnelle an jedem beliebigen Ort materialisieren. Doch jetzt war ich wieder ein Mensch und ich hatte in der letzten Zeit auf meine körperliche Verfassung nicht wirklich gut geachtet.
Als ich aus dem Treppenhaus kam, gelangte ich in einen weiteren schäbigen Flur, von dem zu beiden Seiten Türen abzweigten. Hinter manchen davon waren die typischen Geräusche menschlicher Anwesenheit zu hören. Wasserrauschen, das monotone Geplapper eines Radios oder Fernsehers, stampfende Beats aus einer Stereoanlage, Kindergeschrei oder auch laute Stimmen, die in einer der Wohnungen sogar in einen heftigen Streit verwickelt zu sein schienen. Dann stand ich vor der letzten Tür auf der rechten Seite, deren zerkratztes Holz nichts Gutes erwarten liess und neben der auf einem kleinen Schildchen „Andreas Engel“ stand.
Ich fischte den Schlüssel aus der Tasche, den mir Danael gegeben hatte und wollte eben aufschliessen, da wurde von innen geöffnet und mein „Bewährungshelfer“ stand im Türrahmen.
„Willkommen in deinem neuen Zuhause, Andreas.“ sagte er ohne zu lächeln und liess mich eintreten.
Ich erwiderte seinen Gruß nicht und schob mich stumm an ihm vorbei. In den nächsten Minuten machte ich eine Inspektionsrunde durch das Appartement und stellte fest, dass die Räumlichkeiten in einem besseren Zustand waren, als erwartet. Zwar verfügte ich in Zukunft lediglich über ein Wohn/Schlafzimmer mit Kochnische und ein winziges Bad, aber die Wohnung war zumindest sauber und komplett eingerichtet.
Ich fand sogar ein paar Kleidungsstücke vor, die ich zunächst verwundert anstarrte, weil ich als Engel immer nur daran hatte denken müssen, welches Erscheinungsbild ich annehmen wollte und schon war ich entsprechend gekleidet.
Ähnlich ging es mir mit dem Kühlschrank. Zwar wusste ich, was es damit auf sich hatte und ich hatte ja auch als Engel gelegentlich gegessen, allerdings nur um des Vergnügens willen, nicht aus Hunger, denn den kennen Engel nicht.
Und im Laufe der Jahrhunderte hatte ich auch immer seltener menschliche Nahrung zu mir genommen, einfach weil das Bedürfnis danach allmählich schwand.
Aber jetzt war mein Körper wieder völlig menschlich, mit allem was dazugehörte. Ich atmete, fühlte, roch und schmeckte wieder, genau wie vor meinem Tod und obwohl das so unfassbar lange her war, erschien es mir kein bisschen ungewohnt, es war einfach nur lästig.
„Hast du alles, was du brauchst?“ fragte Danael, der mit der für Engel typischen, leichtfüssigen Geräuschlosigkeit neben mich getreten war.
„Was ich brauche, ist meine Ruhe. Und zwar mindestens für die nächsten 500 Jahre!“ grummelte ich und er legte mir besänftigend die Hand auf die Schulter.
„Versuch´ die Chance zu nutzen, die man dir gegeben hat. Ein Jahr ist schnell vorbei, das weisst du selbst und wenn alles gut läuft, kannst du zurück kommen und deinen Platz wieder einnehmen.“
Aufmunternd lächelte er mich an, doch das liess meinen Groll nur weiter anwachsen.
Er hatte gut reden – schliesslich war er kein Schutzengel, seine Aufgabe war lediglich Beobachten und Berichten!
Jetzt holte er einen Zettel aus seiner Tasche und reichte ihn mir.
In Schönschrift stand eine Adresse darauf. Ich las sie flüchtig und sah dann fragend zu ihm auf.
„Da arbeitest du ab morgen. Findest du hin?“ erklärte er.
Ich warf noch einmal einen Blick auf den Strassennamen – kein Problem, die Gegend kannte ich... ich stutzte und blickte Danael mit zusammengekniffenen Augen an.
„Das ist doch...?“ Er nickte.
„Die Strasse in der dein verunglückter Schützling lebt, ja. Genauer gesagt liegt dein Arbeitsplatz in unmittelbarer Nachbarschaft von seinem Zuhause.“
„Und was soll das?“ fragte ich unwirsch.
Der Gedanke ihm möglicherweise zu begegnen und dadurch an meine Verfehlungen erinnert zu werden, hatte weiss Gott nichts Verlockendes an sich, auch wenn der junge Mann mich gar nicht kannte und von nichts wusste.
Ich wusste es dafür ja umso besser!
Mein Beobachter zuckte mit einem entschuldigenden Lächeln die Achseln.
„Ich bin hier nur der Ausführende. Mit Fragen nach dem Wieso oder Warum bist du bei mir an der falschen Adresse. Tut mir leid!“
„Und was soll ich machen, wenn ...“ wenn ich

ihm begegne

, wollte ich fragen. Ich brachte die Frage nicht zu Ende, aber Danael verstand auch so, was mich bewegte.
„Glaub´ mir, das wird sich alles finden. Hab´ Vertrauen, Andreas!“
Wütend drehte ich ihm den Rücken zu und ging zum Fenster. War ich nun wütend auf ihn, auf mich oder auf das ganze verdammte Universum, das sich gegen mich verschworen zu haben schien?
Ich wusste es nicht.
Danael schwieg eine Weile, dann begann er wieder zu plappern:“Du bist übrigens nicht an diese Wohnung gebunden. Wenn du genug Geld verdient hast, um umziehen zu können, steht es dir frei, dir eine andere Bleibe zu suchen. Überhaupt kannst du mit deinem Geld machen, was du willst, solange du dich an die Auflagen hältst.“
Richtig, jetzt als Mensch brauchte ich Geld.
Geld für Essen, Kleidung, Miete und was es da noch so alles gab im wahren Leben.
Als Engel war Geld für mich kein Problem gewesen, es funktionierte ähnlich wie mit der Kleidung, wobei uns echter Reichtum allerdings verboten gewesen war. Ausserdem wäre es in der obersten Zentrale aufgefallen, wenn einer von uns plötzlich mit Geld um sich geworfen hätte, zumal wir ja für Essen oder Kleidung keines brauchten und auch keine Miete oder Sozialabgaben zahlen mussten.
Ich hatte deshalb immer sehr vorsichtig sein müssen, wenn ich meine Streifzüge unternahm. Meistens hatte ich zuerst gespielt, hatte kleinere Summen gesetzt und mit meinen himmlischen Fähigkeiten dem Glück etwas auf die Sprünge geholfen, bis ich genügend Geld beisammen hatte, um mir teurere Vergnügen leisten zu können, wie z.B. eine bestimmte Sorte Frauen, hier und da eine Line oder ein paar Pillen und natürlich – am allerhäufigsten - Alkohol und Zigaretten.
Als ich daran dachte, verspürte ich das geradezu überwältigende Bedürfnis, einen Drink zu mir zu nehmen, oder wenigstens Eine zu rauchen.
Ich nahm mir vor, am nächsten Tag auf jeden Fall eine Flasche Whiskey und eine Stange Zigaretten zu besorgen - Auflagen hin oder her.
Plötzlich bemerkte ich, dass mein Bewährungshelfer schwieg. Ich drehte mich um und sah, wie er mich musterte.
„Was?“ fragte ich gereizt.
„Willst du denn gar nicht wissen, wie es Moritz jetzt geht?“ Ein leiser Vorwurf schwang in seiner Stimme mit.
Moritz - das war mein ehemaliger Schützling, und bei der Erwähnung dieses Namens schwappte eine Welle der Schuld in mir hoch.
Ruckartig drehte ich mich wieder weg, damit Danael nicht sah, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.
Nein, eigentlich wollte ich nicht wissen, wie es ihm ging.
Eigentlich wollte ich durch nichts mehr an ihn erinnert werden.
Nie wieder.
Denn eigentlich wollte ich nur vergessen, was ich vor einem knappen Monat durch meine egoistische Gedankenlosigkeit angerichtet hatte.
Trotzdem hörte ich mich leise fragen:“Wie geht es ihm denn?“
„Schon viel besser, körperlich zumindest. Die Wunde ist gut verheilt und man wird ihm bald eine Prothese anpassen. Dann ist er nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen und kann wieder allein laufen.“
Bei seinen Worten drehte ich mich langsam zurück in seine Richtung und starrte ihn an.
„Prothese?“
Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Wusstest du etwa nicht, dass er infolge des Unfalls den rechten Unterschenkel verloren hat?“
Ich schüttelte wie betäubt den Kopf. Zwar konnte ich mich nicht wirklich an das Gesicht meines Schützlings erinnern, aber ich wusste, dass er leidenschaftlicher Sportler war. Schwimmen, Radfahren, Klettern und natürlich Laufen waren immer sehr wichtig für ihn gewesen.
Nach dem Abitur hatte er sogar eine Zeitlang ernsthaft darüber nachgedacht Sport zu studieren, bevor er sich dann aber doch für den Studiengang der Rechtswissenschaften entschied.
Was eine solche Verletzung für ihn bedeuten musste, konnte ich mir lebhaft ausmalen.
„Ich hatte keine Ahnung.“ sagte ich und liess mich auf das Sofa sinken.
„Naja, du hast ja auch nie danach gefragt.“ erwiderte Dananel mit sanftem Tadel. „Er hat jetzt auch einen neuen Schutzengel. Sein Name ist Sariel, er ist noch nicht so lange dabei und dementsprechend ... enthusiastisch.“ erklärte er weiter.
„Und wie verkraftet Moritz den Verlust seines Fusses?“
Ich hob den Blick und suchte in Danaels Gesicht nach einem Anzeichen dafür, dass der junge Mann wider Erwarten gut mit seiner frisch erworbenen Behinderung zurechtkam.
Doch der wiegte den Kopf mit ernster Miene hin und her und meinte dann:“Es wäre gelogen zu sagen, dass er sich damit abgefunden hat. Er sitzt die meiste Zeit zuhause in seinem Zimmer und lässt niemanden an sich heran. Er hadert mit Gott und der Welt und ist zur Zeit sehr unglücklich und sehr wütend.“
Ich fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht und das Verlangen nach einem Drink wurde übermächtig.
„Aber er hat Menschen, die ihn unterstützen und ihm Halt geben.“ fuhr Danael fort. „Also denke ich, er wird mit der Zeit darüber hinwegkommen. Und du solltest das auch! Es hilft niemandem, wenn du dir Vorwürfe machst und es bringt dich deinem Ziel nicht näher. Konzentrier´ dich zunächst mal auf das, weshalb du hier bist und wenn du das Jahr hinter dich gebracht hast und wieder zurück auf deinem Posten bist, wird dir ein solcher Fehler garantiert nicht noch einmal unterlaufen!“
Er war zu mir gekommen und klopfte mir auf die Schulter. Dann streckte er mir die Hand hin und sagte:“Also dann – Andreas. Ich muss jetzt gehen. In ein paar Tagen komme ich wieder und sehe, wie es dir so geht. Erwarte nicht zu viel von dir, immerhin ist es lange her, dass du ein Mensch warst! Und versuch´ morgen früh pünktlich zu sein! Dein Dienst fängt um halb acht an, okay?“
Im nächsten Moment war er verschwunden und ich blieb allein in meinem neuen Appartement zurück.
Kraftlos sass ich auf dem Sofa und versuchte, mit den Bildern in meinem Kopf fertig zu werden.
Ich erinnerte mich an Moritz als Baby, wie er laufen lernte, an seine Zeit im Kindergarten und in der Schule.
Er war immer ein fröhliches Kind gewesen, ein freundlicher Junge und ein guter Schüler.
Selten hatte es Probleme mit ihm gegeben und er geriet so gut wie nie in Schwierigkeiten.
Vielleicht hatte das mit dazu beigetragen, dass ich mich was ihn betraf in falscher Sicherheit wiegte, ihn allein liess und auf meine Egotrips ging. Aber egal, was mich dazu verleitet hatte, es wäre meine Aufgabe gewesen, ihn zu beschützen und ich war nicht bei ihm, als er am Rande einer Landstrasse mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war, von einem Auto bedrängt wurde und stürzte! Und deshalb war es allein meine Schuld, dass er sein Bein verloren hatte und sich jetzt wahrscheinlich fühlte, als wäre sein Leben vorbei, bevor es richtig angefangen hatte!
Unwirsch schüttelte ich den Kopf. Danael hatte recht:
Es nützte niemandem, wenn ich mich mit Selbstvorwürfen quälte, Moritz am allerwenigsten!
Ich rappelte mich also hoch und inspizierte den Inhalt des Kühlschranks, in der Absicht, mir ein frühes Abendessen zu gönnen, da mir bereits der Magen knurrte.
Zum Glück hatten meine Chefs mir einen kleinen Fernseher zugestanden, es bestand also die Aussicht, mich anschliessend mit seichter Unterhaltung ablenken zu können.
Doch kaum hatte ich meine Nase in das Kühlgerät in meiner Küche gesteckt, als es klingelte.
Genervt schloss ich den Kühlschrank wieder und tappte zur Tür. Ein Blick durch den Spion zeigte mir einen unbekannten jungen Mann.
Da er allein war und zumindest keine sichtbaren Waffen trug, öffnete ich die Tür einen Spaltbreit.
„Ja?“
Ein strahlendes Lächeln erschien auf dem Gesicht meines Besuchers und er streckte mir eine Hand hin.
„Hallo! Ich bin Louis und wohne zwei Türen weiter! Ich hab´ zufällig mitgekriegt, dass du hier eingezogen bist und wollte mich kurz vorstellen. Darf ich reinkommen?“
Behende schob er sich durch den Türspalt, bevor ich ablehnen oder die Wohnungstür schliessen konnte.
Verdattert folgte ich ihm und stellte fest, dass er es sich bereits auf meiner Couch gemütlich gemacht hatte.
Auf dem Tisch stand eine Flasche Whiskey und als ich verdutzt daraufstarrte, weil ich überlegte, ob er sie mitgebracht hatte, lachte er und sagte:“Kleines Willkommensgeschenk. Ich dachte mir, wir trinken einen zusammen und lernen uns ein bisschen kennen.“
„Eigentlich wollte ich gerade was zu essen machen.“ protestierte ich schwach, doch er klatschte begeistert in die Hände und sprang auf. „Super Idee! Lass´ uns erst was essen, dabei lernt man sich doch am besten kennen, nicht wahr? Ich helf´ dir kochen, ja? Was wolltest du denn machen?“
Fünf Minuten später standen wir gemeinsam vor meiner Küchenzeile und während Louis mit geschickten Bewegungen Zwiebeln würfelte und dabei ohne Unterlass schnatterte, hatte ich Gelegenheit meinen unerwarteten Gast zu mustern.
Ich schätzte ihn ungefähr auf mein Alter, allerdings war sein Körperbau schlanker und graziler als meiner, was gut zu seiner lebhaften Art passte.
Er hatte hohe Wangenknochen und eine schmale Nase, die Brauen über seinen blauen Augen waren fein gestrichelte Bögen von elegantem Schwung, und seine Mundwinkel zeigten einen leichten Aufwärtsschwung, sodass es aussah, als würde er ständig leise vor sich hin lächeln.
Die schwarzen Locken auf seinem Kopf standen zerzaust in alle Richtungen, was ihm das Aussehen eines übermütigen Schuljungen gab und das Gleiche galt für die Turnschuhe an seinen Füßen, seine verwaschene Jeans und das bedruckte Shirt.
Gemeinsam brachten wir ein passables Omelett zustande und nachdem wir gegessen und abgewaschen hatten, machten wir es uns auf dem Sofa gemütlich.
Louis öffnete die Whiskeyflasche und ich fand im Schrank zwei Gläser.
Natürlich erinnerte ich mich an das Verbot von Alkohol und ich zögerte einen Moment, als er mir einschenken wollte.
„Was ist?“ Louis sah mich erstaunt an.
„Ich sollte das nicht tun.“ sagte ich, doch er wischte meinen Einwand mit einer unbekümmerten Geste weg.
„Ach komm! Ein Glas wird dich schon nicht umbringen, oder? Das ist wirklich ein guter Tropfen! Den hab´ ich selber vor einer ganzen Weile geschenkt bekommen! Aber sowas allein zu trinken ist eine echte Verschwendung. Deshalb teile ich ihn heute mit dir! Das wirst du doch wohl nicht ablehnen?“
Seine Miene wirkte ein bisschen gekränkt und so schob ich ihm schliesslich mein Glas hin...
Aber natürlich blieb es nicht bei diesem einen Glas, denn Louis füllte uns immer wieder nach, bis die Flasche leer war und als er sich verabschiedete, taumelte ich sturzbetrunken ins Bett.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, war ich schlichtweg nicht in der Lage aufzustehen.
Ich schlug mit der flachen Hand auf den Ausschalter und zog mir die Decke wieder über den Kopf, um weiter zu schlafen.
Sollten mich meinetwegen sämtliche Kindertagesstätten dieser Welt im Mondschein besuchen!!
Doch plötzlich wurde mir die Bettdecke weggezogen, das Licht flammte auf und ein kalter nasser Lappen landete in meinem Gesicht.
Prustend fuhr ich in die Höhe und stiess einen unartikulierten Schrei aus, teils aus Ärger, aber teils auch weil ich erschrocken war.
Wer war da in meiner Wohnung?
Als ich klar sehen konnte, stieg mir Kaffeeduft aus nächster Nähe in die Nase und ich entdeckte eine Tasse dieses heissen, schwarzen Muntermachers direkt vor meinem Gesicht, gehalten von einer schmalen Hand. Ich schaute daran entlang und blickte mit zusammengekniffenen Augen in Danaels Gesicht.
Er lächelte nicht, sondern sah mich mit einer Mischung aus Ärger und Resignation an.
„Hier. Trink`!“
Von seiner unerwarteten Anwesenheit überrumpelt, nahm ich ihm die Tasse ab und setzte sie an die Lippen, wobei ich mich prompt verbrannte.
„Autsch! Mist!“
Ein warnender Blick traf mich aus Danaels braunen Augen und ich tastete nach meiner schmerzenden Oberlippe.
"Wolltest du nicht erst in ein paar Tagen wiederkommen?"
„Hatte ich dir nicht von den Auflagen erzählt?“ fragte er kühl. Ich rieb mir den pochenden Kopf.
„Doch, hast du.“ Zu mehr hatte ich keine Lust.
„Und?“ Er liess seine Augenbrauen vielsagend in die Höhe schnellen, aber ich hatte immer noch keinen Bock auf seine Spielchen.
„Was und?“
„Und warum hast du sie bereits an deinem ersten Abend als Mensch ignoriert?“
Ich gab keine Antwort, sondern nippte an dem bitteren Getränk, obwohl ich nach dem überstandenen Schock kaum noch wacher werden konnte. Danael seufzte.
„Mach´ es dir doch nicht so schwer, Andreas. Was bezweckst du denn damit? Willst du nicht wieder zurück?“
„Nein.“ Einigermassen geschockt wich er einen Schritt zurück und starrte mich ungläubig an.
„Meinst du das ernst?“ Wider Willen musste ich lachen, ein bitteres, rauhes Lachen.
„Klar meine ich das ernst!“ erwiderte ich und erntete einen weiteren fassungslosen Blick.
„Aber warum?“ Ich sah zu ihm hoch und grinste freudlos.
„Warst du mal ein Schutzengel?“
Er schüttelte den Kopf.
„Dann kannst du es natürlich nicht verstehen. Aber glaubst du vielleicht, es ist lustig, zu nichts anderem da zu sein, als irgendeinen Schwachkopf sein Leben lang wie ein unsichtbarer Schatten zu begleiten und ihn daran zu hindern aus eigener Blödheit vorzeitig den Löffel abzugeben? Niemand weiss, dass du da bist, keiner nimmt das wahr, was du tust und ein Danke kriegst du auch nie zu hören! Ich verlange ja wirklich nicht, dass mir jemand aus lauter Dankbarkeit die Füsse küsst, aber eine kleine Anerkennung hier und da wäre echt mal eine Abwechslung! Stattdessen darfst du immer nur lächeln und die Fresse halten! Glaubst du nicht, dass so eine Berufung nach über 700 Jahren mal zur Belastung wird?“
Ich hatte immer lauter gesprochen und gestikulierte so heftig, dass der Kaffeerest aus der Tasse schwappte und sich auf die sonnengelbe Bettwäsche ergoss.
Schweigend sah Danael auf mich herab. Er schien zu überlegen. Schliesslich setzte er sich neben mich auf die Kante meines Schlafsofas.
„Also, so wie du es schilderst, scheinst du schon lange sehr unglücklich mit deinem Posten zu sein.“
Ich atmete tief auf und kroch ebenfalls auf die Bettkante.
„Keine Ahnung,“ gestand ich, „vielleicht bin ich auch einfach nur zu lange dabei. Oder ich hatte eben nie wirklich das Zeug zum Schutzengel, keine Ahnung.“ wiederholte ich.
„Fest steht für mich nur, dass ich nicht wieder zurück will. Von mir aus bleibe ich als Mensch hier auf der Erde bis zum jüngsten Tag. Schlimmer als vorher kann es nicht werden und so richte ich wenigstens keinen weiteren Schaden an.“
Er schaute mich von der Seite an.
„Mag schon sein, aber begreifst du auch was es für dich bedeuten kann, wenn du hierbleibst und dich nicht an die Auflagen hältst?“
„Was denn?“ Ich war nur mässig interessiert.
„Du bist kein gewöhnlicher Mensch, Andreas. Auch wenn du im Moment deine Engelsprivilegien ablegen musstest, bist du nach wie vor innerlich ein Engel. Und ein Engel, der auf dem Pfad der Sünde wandelt, wird früher oder später fallen.“
Sein Blick wurde eindringlich.
„Du verstehst, was ich damit meine?“
Ich schluckte.
„Du meinst …?“
Er nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen.
„Genau das meine ich! Ich könnte wetten, dass die Gegenseite längst weiss, dass du hier bist und auch, dass du momentan schwach und menschlich bist. Menschen lassen sich leichter verführen als Engel und ich weiß, du hast deinen Abstieg bereits als Engel begonnen! Das könnte ihnen den Weg ebnen, verstehst du? Sie werden bestimmt versuchen, dich auf ihre Seite zu ziehen!“
Ich konnte nicht länger ruhig sitzenbleiben und erhob mich. Während ich damit begann, mich anzuziehen, wirbelten die verschiedensten Bilder durch meinen Kopf.
Gefallene Engel – das war ein Thema über das in unseren Kreisen stets nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Tatsache war aber, dass es sie tatsächlich gab, auch heute noch. Immer mal wieder wechselte ein Engel die Seiten, egal ob es nun aus Unzufriedenheit geschah, oder aus irgendeinem anderen Grund.
Lockte mich das auch?
Ich horchte in mich hinein.
Nein, ich wollte eigentlich nur eins – in der Versenkung verschwinden und meine Ruhe haben, sonst nichts.
Ich hatte genug von Menschen und Engeln, aber das hieß noch lange nicht, dass mir die Gegenseite zusagte!
„Keine Sorge, Danael.“ sagte ich und setzte mich wieder, um meine Beine in die Jeans zu stecken. „So schnell falle ich nicht.“
Sein Blick bewies, dass er nicht überzeugt war, doch für mich war das Thema erledigt.
Ich erhob mich wieder, stellte die Tasse weg und fischte mir ein sauberes T-Shirt aus dem Schrank. Ich zog das Sweatshirt vom Vortag aus, streifte das saubere Oberteil über den Kopf und dann kramte ich noch einen Pullover hervor, denn es war November und dementsprechend kalt.
„So. Fertig.“ Ich schaute auf meinen Wecker und stellte fest, dass es erst kurz vor sieben war.
„Mann – warum hast du mich so früh geweckt?“ beschwerte ich mich.
Danael lächelte verlegen.
„Andreas – du bist jetzt ein Mensch. Du musst dich rasieren und dir zumindest die Zähne solltest du dir putzen, sonst erschreckst du die Kinder! Waldschrate arbeiten normalerweise nicht als Erzieher.“
„Ich auch nicht!“ brummte ich halblaut, aber wenn er es verstanden hatte, reagierte er nicht.
Vor mich hin brummelnd trollte ich mich in den winzigen, fensterlosen Verschlag, der als Badezimmer fungierte, machte ausgiebig Gebrauch von der Zahnbürste und hielt dann zum ersten Mal einen elektrischen Rasierapparat in der Hand.
Natürlich hatte ich solche Dinger schon einmal gesehen, sogar in Aktion, aber trotzdem war ich etwas unschlüssig, was ich jetzt damit anfangen sollte.
Plötzlich stand Danael hinter mir, nahm mir das Gerät aus den Fingern und schaltete es ein. Gleich darauf zeigte er mir, wie man es benutzte und es war schwer zu sagen, wer von uns beiden verlegener war.
Nachdem er das Bad wieder verlassen hatte, rasierte ich mich fertig und benutzte dann auch gleich noch die Toilette.
Auch daran würde ich mich erst gewöhnen müssen!
Um viertel nach sieben stand ich schliesslich einigermassen vorzeigbar vor meinem Bewährungshelfer und streifte mir meine Jacke über, um zur Arbeit zu gehen.
„Ach ja – bevor ich es vergesse, unten in deinem Keller steht ein Fahrrad. Es gehört dir, also fahr´ ruhig damit. Wenn es richtig Winter wird, gibt es ja immer noch den Bus.“
Er lächelte wieder, als hätte die Unterhaltung von vorhin nie stattgefunden. Ich grinste schief und erwiderte: „Also kein Dienstwagen für mich, wie?“
Er blinzelte, dann lachte er und sagte: „Siehst du – das ist doch schon gleich viel besser, als immer nur Trübsal zu blasen, oder?“
„Ha ha!“ sagte ich. „Ich platze gleich vor Fröhlichkeit!“


Der erste Tag an meinem neuen Arbeitsplatz erfüllte alle meine Erwartungen - und zwar im negativen Sinne, denn positive Erwartungen hatte ich erst gar nicht!
Nachdem die körperliche Anstrengung des Fahrradfahrens vollkommen ungewohnt war, kam ich schweissgebadet und völlig erledigt in der Kindertagesstätte an.
Dazu mochte natürlich auch die Art beigetragen haben, wie ich den vergangenen Abend verbracht hatte...?
Jedenfalls erntete ich ein paar vielsagende Blicke von Frau Hellmann, meiner neuen Chefin und Leiterin des Kindergartens.
Sie sagte jedoch nichts zu meinem Aussehen und führte mich nach einem kurzen Gespräch in ihrem Büro durch die Einrichtung, zeigte mir alles und stellte mir meine Kolleginnen vor.
Es waren ausnahmslos Frauen, aber das hatte ich nicht anders erwartet, denn Erzieher ist nicht gerade ein typischer Männerberuf.
Besagte Chefin schätzte ich auf Mitte Vierzig und sie hatte die patent-seriöse Ausstrahlung, die man bei einer Frau in ihrer Position erwartete.
Die Kindertagesstätte war eine kirchliche Einrichtung und deshalb personalmässig besser ausgestattet, als vergleichbare Häuser in privater oder öffentlicher Trägerschaft.
Es gab vier Gruppen mit jeweils zwanzig Kindern und eine sogenannte Integrationsgruppe, mit der halben Anzahl.
In dieser IG-Gruppe waren vier Kinder mit leichteren Problemen, deren Betreuung erhöhte Aufmerksamkeit erforderte.
Es war auch die einzige Gruppe, die zwei Erzieherinnen hatte, in allen anderen Gruppen war es jeweils nur eine Fachkraft und dazu kamen zwei sogenannte Springer und die Leiterin, die hauptsächlich Büroarbeit machte und nur gelegentlich aushalf.
Einer der Springer war ab sofort ich.
Nachdem ich alles gesehen hatte und einen Vortrag über den pädagogischen Ansatz, welchen man in diesem Kindergarten verfolgte, über mich hatte ergehen lassen, wurde ich einer der Gruppen zugeteilt, in der man gerade Laternen für das anstehende Martinsfest bastelte.
Das konnten die Kleinen natürlich nicht allein und ich verbrachte die nächsten Stunden damit, aus Transparentpapier ausgeschnittene Figuren in vorgefertigte Rahmen aus schwarzem Tonkarton einzukleben.
Dabei machte ich die lehrreiche Erfahrung, dass Heisskleber so heisst, weil er tatsächlich heiß ist, genau genommen sogar heiß

!
Meine Kollegin sah ein paar Mal schmunzelnd zu mir herüber, wirkte aber nicht feindselig.
Sie war eine zierliche Brünette, mit langen, klein gelockten Haaren, einem hübschen, herzförmigen Gesicht und vielen Sommersprossen, der man ansah, dass sie gern und viel lachte. Sie hiess Bente und die Kinder liebten sie ganz offensichtlich.
Mich schauten sie zumeist nur aus grossen Augen an und blieben auf Abstand.
Bente schusterte mir deshalb Arbeitsaufträge in der Laternenproduktion zu und schliesslich standen doch ein paar der Kleinen um mich herum und sahen neugierig zu, wie ich mich abmühte.
„Das kann Bente aber besser!“ meinte ein Pimpf mit skeptischem Blick auf meine brandblasenübersäten Hände.
Dann geh´ doch zu ihr und lass´ dir von ihr helfen, anstatt mir auf die Nerven zu gehen

!
...hätte ich am liebsten gesagt, aber ich beherrschte mich und rang mir ein Lächeln ab.
„Es kann eben nicht jeder so geschickt sein wie Bente, oder?“
Er antwortete nicht, sondern betrachtete mich wie ein seltsames Insekt, das er gefunden hatte und von dem er nicht genau wusste, ob er es behalten oder lieber zertreten sollte.
„Warum sind deine Haare so komisch?“ wollte er dann wissen.
Klar, sogar den Kindern fiel auf, dass ich an diesem Morgen mit der Körperpflege sparsam gewesen war. Die Fahrradfahrt hatte ein Übriges getan und jetzt sass ich mit meiner fettigen und schweissverklebten Matte hier herum.
Und wenn ich eins während meiner Laufbahn als Schutzengel gelernt hatte, dann dass Kinder für gewöhnlich keine Scheu haben, ihren Finger auf die Schwachstelle ihres Gegenübers zu legen, wenn sie so deutlich sichtbar ist.
Im Ernst – gehen Sie mit einem kleinen Kind mal in einen Supermarkt und suchen Sie eine möglichst grosse Dosenpyramide. Als nächstes lassen Sie die Hand des Kindes los und dasselbe für maximal zwei Minuten aus den Augen – was glauben Sie was passiert?
Richtig! Der süsse Fratz wird mit untrüglichem Gespür die zentrale Stützkonserve ausfindig machen, diese herausziehen und so die gesamte Pyramide zum Einsturz bringen!
...und anschliessend von den zwei Minuten noch genug übrig haben um hinter dem nächsten Regal zu verschwinden! Aber auch das wieder einmal nur nebenbei.
Ich überlegte noch, was ich erwidern sollte, da nahm meine Kollegin mir die Antwort ab.
„Der Andreas ist halt heute morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, Torben. Da schwitzt man schon mal ein bisschen. Das geht dir doch genauso, wenn du mit deinem Rad unterwegs bist und dann so richtig Gas gibst, oder?“
Der Knirps sah von ihr zu mir und wieder zurück und nickte dann.
Mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Verlegenheit sah ich zu Bente hoch und versuchte zu lächeln. Sie lächelte zurück und sagte dann laut: „So, alle mal herhören! Für heute ist Schluss mit dem Laternenbasteln. Zieht euch mal alle eure Matschhosen und Gummistiefel an, wir gehen gleich nach draussen! Wer vorher noch mal Pipi muss, geht bitte sofort und wer dabei Hilfe braucht, kommt her!“
Mit fröhlichem Lärmen rannte die ganze Rasselbande in den Flur und stürzte sich auf die Garderobenhaken. Es gab ein paar kleine Rangeleien und Bente und ich hatten alle Hände voll zu tun, um Jacken zu schliessen, Mützen auf Kinderköpfe zu drücken und kleine Füsse in die richtigen Gummistiefel zu stecken. Als endlich alle wetterfest angezogen waren, stürmten sie durch die Eingangstür ins Freigelände und besetzten johlend die Spielgeräte.
Bente und ich gingen hinterher und postierten uns in einer geschützten Ecke, von der aus wir alles gut im Blick hatten.
Das Wetter war für November erstaunlich freundlich und sogar die Sonne hatte sich noch einmal zwischen den dicken Wolken hervorgewagt.
„Ich wette, gleich kommt der Erste und muss mal.“ konstatierte meine Kollegin schmunzelnd.
„Hast du nicht eben gesagt, wer noch mal muss...“ setzte ich an, doch sie fiel mir lachend ins Wort.
„Klar hab´ ich das gesagt, das sage ich jedesmal. Aber trotzdem...“ Sie unterbrach sich, denn da kam tatsächlich ein kleiner Junge angelaufen und seine Miene drückte aus, dass ihm das Wasser buchstäblich bis zu den Haarwurzeln stand.
„Bente!“ piepste er und sie beugte sich zu ihm.
„Ich muss mal! Hilfst du mir?“ Grinsend sah sie zu mir hoch.
„Ach du, Jakob,“ sie nahm seine Hand, „schau´ mal, heute ist der Andreas hier. Der kann euch Jungs doch viel besser helfen, weil er doch selber ein Junge ist, gell?“
Bereitwillig fasste der Knirps nach meinem Ärmel und zog mich mit sich. Es schien also wirklich dringend zu sein.
Na, Klasse! Jetzt musste ich auch noch die Klofrau spielen!
Drinnen schälte ich den Pimpf erst aus dem Anorak, dann aus seiner Matschhose und der Jeans und half ihm, sich auf die kindgerechte Toilettenschüssel zu setzen. Als er fertig war, folgte das ganze Spielchen wieder rückwärts und nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, lief er voraus, zurück nach draussen und ich folgte ihm.
Bente schien einen Streit im Sandkasten schlichten zu müssen, und so stand ich zunächst allein in unserer Ecke.
Ich liess den Blick über das Gelände schweifen und plötzlich wurde er von einer Bewegung auf dem Nachbargrundstück angezogen. Ich schaute genauer hin und ein eiskalter Schrecken fuhr mir in die Glieder.
Dort, unter dem Balkon des mir wohlbekannten, hübschen Einfamilienhauses stand ein Rollstuhl in der Sonne und darin sass ein blonder, junger Mann, der sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die wärmenden Strahlen hielt.
Ich begann am ganzen Leib unkontrolliert zu zittern, denn das war niemand anderer als Moritz, mein früherer Schützling.
Der leibhaftige Beweis für mein Versagen.
Obwohl ich mich die ganze Zeit über nicht mehr an sein Gesicht hatte erinnern können und nur noch wusste, dass er blondes Haar gehabt hatte, erkannte ich ihn jetzt sofort.
Im Rahmen meines Jobs als Schutzengel hatte ich mich früher ja öfters auf dem Nachbargrundstück aufgehalten und so viele blonde junge Männer, die im Rollstuhl sassen, würde es dort vermutlich nicht geben.
Als hätte er meinen Blick gespürt, öffnete er plötzlich die Augen, drehte den Kopf zu mir und sah mich direkt an.
Sein Gesicht war wütend und er hatte die Brauen feindselig zusammengezogen. Seine Hände griffen in die Räder des Rollstuhls und ich dachte schon, er würde davonfahren.
Aber stattdessen rollte er auf mich zu, soweit der gepflasterte Gartenweg es erlaubte. Dann hielt er an und lehnte sich nach vorn.
Unwillkürlich war ich auch ein paar Schritte näher an den Zaun getreten und nun wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
Ich wollte ihm eben einen guten Tag wünschen, da kam er mir schon zuvor und blaffte mich an.
„So, bin ich jetzt nah genug, damit du alles sehen kannst?“ Er hatte eine Wolldecke über den Beinen liegen, die er nun wegzog, um mir sein verkürztes, rechtes Bein entgegen zu strecken.
„Hier, schau´ genau hin! Soll ich den Verband auch noch abnehmen? Oder reicht es so?“
Ich war sprachlos angesichts der Verbitterung und der Wut die mir da entgegenschlug und konnte doch nicht anders, als auf den Stumpf zu starren. Kurz unterhalb des Knies sass ein dicker Verband.
Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild von einem jüngeren Moritz, wie er im Sportdress über einen Feldweg joggte. Das Zittern meines Körpers wurde immer stärker, ich fühlte mich geradezu erdrückt von meinen Schuldgefühlen, und in meinen Ohren begann es zu rauschen. Ich bekam einen regelrechten Tunnelblick, Moritz´ Stimme hallte seltsam hohl in meinen Ohren, während mir der Schweiss aus allen Poren brach und ich begann zu schwanken.
Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes veränderte sich mit einem Mal, aber ich konnte meinen Blick nicht scharf stellen, bemerkte nur, wie er sich im Rollstuhl hochstemmte und irgendetwas zu rufen schien, was ich aber nicht verstand. Im nächsten Moment wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, wunderte ich mich, dass man mir ein derart hartes Bett in die Wohnung gestellt hatte. Dann schlug ich die Augen auf und starrte in die neugierigen Gesichter lauter kleiner Zwerge, die um mich herumstanden.
Ich blinzelte und die Erinnerung kam zurück. Das waren keine Zwerge, sondern die Kinder aus der Kindertageseinrichtung, in der ich seit heute arbeitete.
Aber wieso lag ich hier am Boden? Und dann auch noch offensichtlich draussen?
Ich wollte aufstehen, doch eine Stimme hielt mich davon ab.
„Nicht so hastig! Mach´ langsam, sonst fällst du gleich wieder um!“
Richtig, das war Bente, meine Kollegin, mit der zusammen ich ihre Gruppe betreut hatte.
Im Gegensatz zum bisherigen Morgen lächelte sie jetzt nicht, sondern musterte mich besorgt.
„Geht´s wieder?“
Ich nickte etwas benommen und setzte mich mit ihrer Hilfe langsam auf.
„Was ist passiert?“ Unsere Chefin kam eilig um die Hausecke, gefolgt von einem kleinen Jungen, der offenbar geschickt worden war, um sie zu holen.
„Es ist alles in Ordnung, Frau Hellmann. Wirklich, mir geht´s gut!“ bemühte ich mich abzuwiegeln und sie schenkte mir einen kühlen Blick.
„Das wohl kaum. Immerhin sind Sie gerade ohnmächtig geworden, Herr Engel. Wäre es vielleicht besser, wenn wir einen Arzt rufen?“ Ihr Gesicht strafte ihren besorgten Ton Lügen, und ich wehrte dankend ab.
„Nein, nein, geht schon. Ich schätze, ich hab´ gestern abend ein bisschen viel gefeiert, weil ich ja gerade erst in meine neue Wohnung gezogen bin. Normalerweise falle ich nicht einfach so um.“
Ihr Blick wurde etwas weicher.
„Ich verstehe. Haben Sie denn überhaupt schon etwas gegessen heute Morgen?“
Betreten schüttelte ich den Kopf.
„Dann tun Sie das vielleicht besser, bevor sich der Kollaps wiederholt. Sie sollten jetzt ohnehin mit den Kindern hineingehen, Bente!“ wandte die Leiterin sich an meine Kollegin. Die nickte und bückte sich, um mir unter die Arme zu greifen und mir aufzuhelfen.
Als sie sich vergewissert hatte, dass ich einigermassen sicher auf den Füssen stand, machte sie sich auf den Weg übers Gelände, um die Kinder zusammen zu trommeln und unsere Chefin ging davon.
Ich warf einen scheuen Blick über den Zaun und richtig, Moritz war noch da und musterte mich eindringlich.
„Alles klar, Mann?“ fragte er. Ich bejahte.
„Geht schon – ich hätte gestern Abend nicht so viel trinken sollen, schätze ich. Dann hätte ich wenigstens heute Morgen was gefrühstückt und nicht nur schwarzen Kaffee in mich reingeschüttet!“
Ich gab mich betont locker um meine Unsicherheit und Nervosität zu überspielen.
Er legte den Kopf schief und begann in der Tasche seiner warmen Jacke zu kramen. Im nächsten Moment streckte er mir einen länglichen, in silberne Folie verpackten Gegenstand hin und ich sah dümmlich darauf hinab.
„Was ist das?“ Er grinste.
„Eine Handgranate! - Was soll das schon sein? Ein Müsliriegel halt. Nun nimm´ schon!“ sagte er, als ich noch zögerte.
Ich griff über den Zaun danach, riss die Verpackung auf und biss ein Stück ab. In meinem Mund entfaltete sich das Aroma von Nüssen und Honig, während ich geräuschvoll kaute.
„Danke.“ nuschelte ich beschämt.
„Keine Ursache. Ich hab´ mich an das Zeug gewöhnt, als ich noch viel Sport gemacht habe. Hab´ praktisch immer was davon dabei. Also dann,“ er tippte sich an einen imagnären Hut, „man sieht sich!“
Damit wendete er geschickt seinen Rollstuhl und fuhr auf das Haus zu. Ich sah ihm nach, bis er in einer Tür verschwunden war und vertilgte dabei den Müsliriegel. Tatsächlich ging es mir mit etwas im Magen gleich viel besser.
Der Rest meines ersten Arbeitstages verlief vergleichsweise unspektakulär, aber als ich um kurz vor 17 Uhr meine Wohnungstür aufschloss, war ich trotzdem vollkommen erledigt. Ich überlegte, ob ich erst duschen oder erst schlafen sollte, entschied mich aber für Letzteres. Also liess ich mich voll angezogen auf mein Schlafsofa fallen und war bereits im Nirwana, als ich aufschlug.
Drei Stunden später wurde ich vom stürmischen Klingeln an der Tür aus meinen Träumen gerissen und kämpfte mich mürrisch aus den Federn. Ohne durch den Spion zu schauen, riss ich wütend die Tür auf, bereit demjenigen, der mich da so unsanft geweckt hatte, die Meinung zu geigen und – stand Louis gegenüber, dessen fröhliches Grinsen mir zunächst den Wind aus den Segeln nahm.
„Ich stör´ doch nicht, oder?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er sich an mir vorbei in die Wohnung und wedelte gleich darauf demonstrativ mit der Hand.
„Was hältst du davon, hier mal zu lüften?“ Augenblicklich steuerte er das Fenster an, zog die Gardinen zurück und öffnete beide Flügel so weit es ging.
„Ich bin gerade nach Hause gekommen und dachte mir, ich schaue mal nach wie es meinem Kumpel Andreas so geht. Und wie es scheint, bin ich ja gerade richtig gekommen, wie? Hast du etwa im Bett gelegen? Das kannst du doch noch genug, wenn du mal alt und tattrig bist, meinst du nicht? Wir Zwei sollten heute Abend mal die Clubszene unsicher machen!“
Er taxierte mich von oben bis unten und meinte dann:“Allerdings müsstest du dich dafür erst mal generalüberholen! Was ist denn mit dir los? Irgendwie siehst du aus, als wärst du unter den Bus gekommen!?“
Ich setzte mich wieder auf meine Bettkante und liess mich zurücksinken.
„Ich bin zwar nicht unter den Bus gekommen, wie du es gerade so charmant formuliert hast, aber ich hatte gestern Abend eine sehr feuchte, kleine Feier mit einem geschwätzigen Nachbarn, der mich dazu verführt hat, mehr zu trinken, als gut für mich ist. Deshalb konnte ich heute Morgen nichts essen und bin an meinem ersten Arbeitstag zur Belustigung aller Anwesenden filmreif zusammengeklappt!“
Louis hatte mir mit erstaunter Miene zugehört und schlug sich jetzt die Hand vor den Mund. Allerdings nicht aus Bestürzung, wie man hätte vermuten können, sondern um sein albernes Grinsen zu verbergen.
„Pffft! Du bist echt umgekippt? Bist wohl nichts gewöhnt, wie? Mach´ dir nichts draus!“ Er winkte ab.
„Mit ein bisschen Übung kriegst du das in den Griff! Wenn du erst ein paar Mal mit dem guten Louis um die Häuser gezogen bist ...“
Ich liess ihn nicht ausreden, sondern hob die Hand.
„Ich hab´ nicht vor mit dem guten Louis um die Häuser zu ziehen! Ich bin total kaputt und ich hab´ Hunger. Ausserdem stinke ich wie ein Iltis und will in die Dusche. Ich muss morgen arbeiten und früh aufstehen, deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du dich jetzt verziehen würdest! Mein Tag war beschissen und ich hab´ keinen Bock auf Gesellschaft, klar?“
Ich merkte selbst, dass ich unnötig heftig reagierte, konnte aber nichts gegen meine miese Stimmung tun.
Louis sah mich einen Moment lang gekränkt an, dann zuckte er die Achseln und wandte sich zur Tür.
„Ich seh´ schon, mit dir ist heute nichts anzufangen. Vielleicht geht’s dir ja morgen besser. Falls ja, kannst du gern vorbeikommen und dich entschuldigen!“
Mit diesen Worten huschte er aus der Tür und schlug sie hinter sich zu.
Seufzend schloss ich die Augen und blieb ein paar Minuten liegen. Die Begegnung mit Moritz kam mir wieder in den Sinn. Am Schluss war sein früheres Selbst wieder zum Vorschein gekommen.
Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft waren immer seine hervorstechendsten Merkmale gewesen.
Der andere Moritz, der mich wütend angefahren und versucht hatte, mich mit dem Anblick seines verkrüppelten Beins zu schockieren, der war regelrecht furchteinflössend dagegen.
Und wessen Schuld war es, dass es diese Seite an ihm jetzt so offen zutage trat?
Einen Tusch, bitte, meine Herrschaften – es folgt der Auftritt von Andreas Engel, alias Ezekiel, versoffener, egoistischer Schutzengel a.D.!
Ich merkte, wie mir die Tränen aus den Augenwinkeln rollten und wischte sie mit einer wütenden Geste weg.
„Hör´ auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen und mach´ endlich wieder einen Menschen aus dir, du stinkst nämlich wirklich!“
Ich fuhr hoch und sah Danael im Sessel sitzen. Er musterte mich mit strengem Blick und ich stützte mich auf die Ellenbogen.
„Du schon wieder!“ sagte ich genervt.
Der Typ hatte mir jetzt gerade noch gefehlt!
„Kommst du ab sofort immer so oft hier vorbei?“
Er zog die Brauen zusammen.
„Glaub´ bloss nicht, dass mir das Spass macht! Du bist nämlich längst nicht der Einzige, um den ich mich kümmern muss, falls du das glaubst!“
„Na, dann lass´ mich doch in Ruhe und bleib´ weg!“ grollte ich.
„Das werde ich, sobald ich das Gefühl habe, dass man dich eine Weile allein lassen kann, ohne dass du irgendeinen Blödsinn anstellst. Und ich habe irgendwie den Eindruck, dass das noch eine ganze Weile dauern wird!“
Ich brummte mir etwas Unverständliches in den Bart und beschloss, ihn zu ignorieren.
Obwohl ich eben noch vorgehabt hatte zu duschen, blieb ich jetzt stur liegen und starrte schweigend an die Zimmerdecke.
Nach einigen Minuten hörte ich Danael seufzen. „Meine Güte, hast du einen Dickschädel! Na gut, na gut, ich gehe. Aber steh´ endlich auf und dusch´ dich, bitte. Und vor allem: Iss´ etwas! Du bist noch nicht daran gewöhnt, dich wieder wie ein Mensch zu ernähren und regelmässig zu essen. Du kannst dich noch nicht darauf verlassen, das dir dein Körper die richtigen Signale sendet, wenn du hungrig bist. Deshalb bist du heute Morgen umgekippt. Vorerst musst du dich noch bewusst daran erinnern, wann es Zeit ist zu essen.“ Er stand auf und kam zu mir herüber.
„Und noch was – tu´ dir selbst einen Gefallen und trink´ nicht wieder so viel, okay?“
„Ja, ja, schon gut.“ erwiderte ich gereizt. „Und jetzt hau´ endlich ab und verschon´ mich so lange wie möglich mit deiner Anwesenheit!“
Ohne ein weiteres Wort verschwand Danael und ich stand auf, um in die Dusche zu gehen.
Als ich zurückkam und mir saubere Sachen angezogen hatte, fühlte ich mich schon viel wohler, obwohl ich mir das Sweatshirt, das ich nach einigem Kramen aus dem Schrank gefischt hatte, garantiert nicht selbst gekauft hätte. Überhaupt befanden sich da Sachen in meiner Kleiderauswahl, die den Schluss nahelegten, dass der, der sie ausgesucht hatte entweder farbenblind war, oder einen grottenschlechten Geschmack hatte. Es wurde höchste Zeit, dass ich mich selbst einkleidete, zumal auch die frische Unterwäsche zur Neige ging.
Ich beschloss also, am nächsten Tag nach der Arbeit ein Kaufhaus aufzusuchen und meine Scheckkarte auszuprobieren. Ich wusste zwar, was das war und wie man es benutzte, hatte aber noch nie selbst so etwas besessen, da wurde es Zeit, meinen Horizont entsprechend zu erweitern.
Während ich diese Pläne machte, inspizierte ich meine Vorräte, öffnete dann eine Dose Erbseneintopf mit Würstchen und erhitzte ihn der Einfachheit halber direkt in der Dose. Dann kippte ich mir die Mahlzeit in einen Teller und setzte mich damit vor den Fernseher.
Ich zappte mich durch die verschiedenen Programme und blieb schliesslich bei einem billigen Actionkracher mit viel Geballer, wilden Verfolgungsjagden und eintönigen Dialogen hängen. Das war genau das Richtige an diesem Abend. Es tat mir ehrlich leid, als der Streifen zu Ende war und ich ausser Verbraucherratgebern und dämlichen Talkshows nichts mehr fand, was mich von meinen Gedanken ablenkte.
Seufzend schaltete ich die Glotze aus, stellte meinen Teller in die Spüle und legte mich ins Bett.
Kaum hatte ich das Licht gelöscht überfielen mich wieder die Erinnerungen.
Aber nicht nur die wenigen, die ich von Moritz hatte, sondern ich dachte auch an viele andere meiner Schützlinge vor ihm, bis hin zu den Anfängen meiner Karriere.
Je weiter ich in meiner Erinnerung zurückreiste, desto deutlicher wurden ihre Gesichter und umso mehr Einzelheiten konnte ich abrufen. Schon das war ein deutliches Zeichen dafür, wie ernst ich damals meine Aufgabe genommen hatte und mit welcher Begeisterung ich die mir anvertrauten Menschen begleitet hatte.
Wann und wo war mir das abhanden gekommen? Und wieso?
Ich konnte mir die Fragen nicht beantworten und schlief darüber ein.


Im Laufe der nächsten Tage entwickelte sich allmählich so etwas wie ein Rhythmus zwischen Arbeit und Freizeit.
Neben meiner Arbeit tat ich nicht allzu viel, ausser mit dem Fahrrad oder dem Bus in die Stadt zu fahren, falls ich etwas einkaufen musste, meistens kehrte ich aber gleich in mein Appartement zurück und hing vor dem Fernseher herum.
Louis hatte sich noch nicht wieder blicken lassen, offenbar war er wirklich gekränkt.
Okay – ich würde mich also bei ihm entschuldigen müssen, aber noch verspürte ich dazu nicht die geringste Lust und schob es darum vor mir her.
Auch Danael war noch nicht wieder aufgetaucht, doch er fehlte mir am allerwenigsten von allen.
Bei der täglichen Arbeit war ebenfalls so etwas wie Routine entstanden, auch wenn ich genau merkte, dass die Kinder mir nach wie vor ziemlich reserviert gegenüberstanden. Aber ich konnte nicht gerade behaupten, dass mich das störte.
Meine Kolleginnen kannte ich inzwischen alle und irgendwie hatten sie mir gegenüber so etwas wie eine Art Mutterkomplex entwickelt. Die Geschichte von meinem Zusammenbruch hatte offenbar die Runde gemacht und auch wenn ich seither jeden Morgen ordentlich frühstückte, bevor ich zum Dienst fuhr und auf eine ausreichende Körperhygiene achtete, verging trotzdem kein Tag, an dem mir nicht mindestens eine Kollegin etwas zu essen anbot oder mich sonstwie begluckte.
Dabei waren sie zum Teil jünger als ich!
Solange das Wetter noch gut war, gingen wir täglich mit den Kindern spazieren oder ins Freigelände und bei diesen Gelegenheiten konnte ich es mir nicht verkneifen, in den Nachbargarten zu sehen, um nach Moritz Ausschau zu halten.
Einmal stand er mit Krücken auf dem Balkon und als er mich entdeckte, hob er grüssend die Hand.
Am nächsten Tag sass er wieder im Rollstuhl draussen im Garten. Ich arbeitete an diesem Tag mit Käthe zusammen, der ältesten meiner Kolleginnen und während sie Sandspielzeug ausgab, hatte ich meinen Beobachterposten in der Nähe des Zauns bezogen.
Ich hatte dem Nachbargrundstück den Rücken zugewandt, nachdem ich kurz zu Moritz hinübergewunken hatte und erschrak deshalb leicht, als er mich plötzlich ansprach.
„Na, alles klar bei dir?“
Ruckartig fuhr ich herum. Angesichts meiner Reaktion erstarb das Grinsen auf seinem Gesicht und machte einem bitteren Ausdruck Platz.
„Tut mir leid – hat der Krüppel dich erschreckt?“ fragte er bissig und wollte sich abwenden.
„Nein, kein Krüppel, sondern du. Mensch ich hab´ dich einfach nicht kommen hören!“ sagte ich schnell und er sah misstrauisch zu mir hoch. Dann drehte er seinen Rollstuhl wieder in meine Richtung und versuchte ein schiefes Lächeln.
„Geschenkt. Vielleicht bin ich in letzter Zeit ein bisschen zu empfindlich, aber egal!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Warum arbeitest du eigentlich hier?“
„Man muss ja von irgendwas leben.“ zuckte ich die Schultern und er lachte auf.
„Ja, schon. Aber – sei mir nicht böse – mit Kindern hast du doch eigentlich nicht viel am Hut, oder?“
Überrascht schaute ich ihn an.
„Woher willst du denn das wissen?“
„Ich hab´ viel Zeit und hier drüben bei euch ist fast immer irgendwas los, wenn die Kurzen draussen rumrennen. Deshalb bin ich oft zur gleichen Zeit draussen. Und wenn nicht, schaue ich durch das Fenster zu. Naja, und du stehst eigentlich immer nur hier und strahlst so eine Art „Sprich-mich-nicht-an-Aura“ aus. Die Kinder kommen auch so gut wie nie zu dir gelaufen, wenn sie was wollen, sondern gehen zu den Erzieherinnen.“
Erwartungsvoll blickte er mir ins Gesicht, doch ich schwieg. Was sollte ich ihm auch erzählen? Lügen durfte ich nicht und die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen. Ich zuckte also einmal mehr die Achseln und bemühte mich um ein unverbindliches Lächeln. „Naja, ...“ erwiderte ich schliesslich vage und kratzte mich am Kopf.
„Ist ja auch egal.“ meinte er. „Geht mich schliesslich nichts an.“ Dann streckte er seine Hand über den Zaun.
„Ich heisse übrigens Moritz Fichtner.“
„Andreas Engel.“ Ich ergriff die angebotene Rechte und schüttelte sie.
Schweigen breitete sich aus und ich fühlte mich unbehaglich. Es schmerzte fast körperlich, mich davon abzuhalten, auf sein Bein zu starren, welches heute von keiner Wolldecke bedeckt war, sodass man den Stumpf auf den ersten Blick sehen konnte.
„Übrigens nochmal danke wegen neulich.“ sagte ich schliesslich, nur um irgendetwas zu sagen.
„Gern geschehen.“ antwortete er. Dann kniff er die Augen zusammen und meinte: „Also, halt´ mich meinetwegen für verrückt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns irgendwoher kennen. Kann das sein?“
Ich lachte nervös.
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“ sagte ich schwach und innerlich leistete ich Abbitte für diese Lüge. Aber mir fiel nun mal gerade keine glaubwürdige Antwort ein.
Unter seinem scharfen Blick zog ich unwillkürlich den Kopf ein und atmete erleichtert auf, als er verkündete: „Wie auch immer, eigentlich wollte ich dich was anderes fragen. Ist das da drüben dein Rad?“
Er wies mit dem Finger auf meinen Drahtesel, der im Fahrradständer an der Hausecke steckte.
„Ja, wieso?“ Moritz lachte. „Woher hast du denn das gute Stück? Aus dem Antiquitätenladen? Hat der überhaupt schon Gangschaltung?“
Er hatte nicht unrecht, mit seinem Spott. Das Fahrrad hatte tatsächlich schon bessere Zeiten gesehen, vermutlich zu ungefähr dem Zeitpunkt, als die Dinosaurier noch auf der Erde herumstampften. Der schwere Rahmen war an einigen Stellen verrostet und es gab wirklich nur drei Gänge.
„Hey, nun mach´ mal halblang!“ beschwichtigte ich ihn halbherzig.
„Ich bin momentan ein bisschen klamm und den heissen Flitzer habe ich mit der Wohnung zusammen übernommen. Ist doch besser, als zu Fuss gehen oder den Bus bezahlen zu müssen, oder?“
Wider Willen musste ich grinsen, als ich das altersschwache Gefährt als heissen Flitzer bezeichnete und Moritz wollte sich ausschütten vor Lachen.
„Nee, also, das kann doch nicht dein Ernst sein, Mann!?“ Sein Lachen verstummte.
„Was hältst du davon, wenn ich dir mein eigenes Rad günstig überlasse?“
Schlagartig verging auch mir das Grinsen und ich spürte einen kalten Knoten im Magen.
„Dein eigenes Rad?“ echote ich etwas dümmlich und er nickte.
„Ja, klar. Ich meine – sieh mich an. Sehe ich aus, als würde ich in absehbarer Zeit auf ein Fahrrad steigen? Und wenn es nur im Keller rumsteht, setzt es über kurz oder lang Rost an. Dafür ist es aber zu schade, ich hab´s erst vor drei Monaten gekauft und noch kaum gefahren. Eigentlich wollte ich ja mein altes Rad verkaufen,“ fuhr er fort, „aber das ist seit dem Unfall nur noch Schrott.“
Sein Gesicht wurde düster, als er das sagte, mein Herzschlag beschleunigte sich und ich spürte wieder die Zentnergewichte der Schuld auf meiner Brust. Dann jedoch schien er die trüben Gedanken abzuschütteln und hob lächelnd den Kopf.
„Also, wenn du Interesse hast, komm´ doch nach der Arbeit mal rüber und schau´s dir an.
Es ist ein Bulls Desert Falcon. Im Handel kriegst du das nicht unter 1000 Euro, aber ich würde es dir für die Hälfte geben.“
Ich musste schlucken, als ich das hörte.
500 Euro für ein Fahrrad erschienen mir angesichts meiner momentanen Finanzlage absolut astronomisch. Trotzdem nickte ich und sagte:“Klar, ich komme gern mal vorbei und schau´s mir an. Ich habe gegen halb fünf Feierabend, passt es dir dann?“
Er grinste wieder breit.
„Kein Problem, Mann. Wo sollte ich denn schon gross hingehen mit meinem AOK-Chopper?“
Etwas unsicher erwiderte ich sein Grinsen und er fuhr wieder zurück ins Haus. Ich blieb mit meinen Gedanken allein zurück und schimpfte mich innerlich einen Vollidioten.
Warum hatte ich mich jetzt darauf eingelassen? Ich hatte doch sowieso keine 500 Euro, also konnte ich mir dieses Bulls Eye oder wie das Ding hiess doch ohnehin nicht leisten!
Wieso wollte ich dann trotzdem zu ihm gehen?
Wollte ich unbedingt Salz in meine Wunden streuen, indem ich mir aus der Nähe ansah, wie er lebte und was er durch meine Schuld hatte aufgeben müssen?
Aber was auch immer der Grund war, ich hatte es gesagt und ich würde meine Zusage auch einhalten.
Plötzlich erschien die halb durchsichtige Silhouette eines schwarzhaarigen, jungen Mannes auf der anderen Seite des Zaunes, verfestigte sich und dann starrte ich in ein paar feindselige, dunkle Augen in einem finsteren Gesicht.
Er trug eine schwarze, löchrige Jeans, ein rotes Shirt und darüber einen langen, schwarzen Mantel. In Augenbrauen und Lippen glänzten Piercings und die Füsse steckten in schwarzen Boots. Das Auffälligste an ihm waren jedoch die grossen, blendend weissen Flügel auf seinem Rücken.
Das musste Moritz´ neuer Schutzengel sein, wie hiess er noch gleich? Richtig – Sariel, das war der Name.
„Lass´ Moritz in Ruhe!“ knurrte er und ich wich instinktiv einen Schritt zurück, so böse sah er mich an.
Gab es etwa neue Statuten bei den Schutzengeln, die ich noch nicht kannte?
Ich hatte jedenfalls nie irgendwelche Menschen eingeschüchtert, um sie von meinem Schützling fernzuhalten!
„He, sachte!“ Ich hob die Hand. „Was hast du für ein Problem?“
„Dich!“ Seine Augen funkelten wütend. „Du bist doch Schuld daran, dass Moritz jetzt einen Fuss weniger hat, oder nicht? Weitere Körperteile wird er deinetwegen nicht einbüssen, das schwöre ich dir!“
Damit hatte er meinen wunden Punkt getroffen und ich senkte beschämt den Blick.
„Woher kennst du mich?“ fragte ich ohne aufzusehen und er lachte freudlos.
„Ich weiss nicht, ob es unter den Schutzengeln überhaupt noch jemanden gibt, der dich nicht kennt! Du hast Mist gebaut und zwar gründlich! Anstatt auf Moritz aufzupassen, hast du dich in irgendeiner Spelunke vollaufen lassen und bist billigen Huren nachgestiegen! Wenn ich zu entscheiden gehabt hätte, wärst du nicht mit so einer läppischen Strafe davongekommen!...“
„Dann sind wir mal froh, dass du nicht zu entscheiden hattest, Sariel!“ ertönte da plötzlich die schneidende Stimme von Danael hinter mir.
Ich drehte mich um und riss erstaunt die Augen auf.
Wohl um des grösseren Eindrucks willen zeigte er sich diesmal ebenfalls geflügelt und in seiner ganzen engelhaften Schönheit. Und gegen Sariel wirkte er tatsächlich wie eine überirdische Erscheinung.
Hochaufgerichtet stand er da, ein sanfter Lichtschein umfloss ihn und wer genau hinsah, erkannte sogar die Andeutung eines Heiligenscheins über seinem Kopf.
Er musste in der Hierarchie also deutlich höher stehen, als gewöhnliche Schutzengel, denn die haben keinen.
Sariel wich automatisch ein Stück zurück, während er ihn genau wie ich mit grossen Augen anstarrte.
„Lass´ Andreas zufrieden. Du weisst nicht genug über ihn, um dir ein Urteil erlauben zu dürfen. Und du bist zu jung, um die Entscheidungen des Gerichts anzuzweifeln! Geh´ lieber und kümmere dich um Moritz. Das ist deine Aufgabe!“ wies Danael ihn zurecht.
Ohne ein Wort des Widerspruchs warf der Schutzengel mir noch einen warnenden Blick zu und verschwand.
„Danke.“ sagte ich leise. „Aber er hat ja recht. Der Unfall war

meine Schuld. Ich sollte mich von Moritz fernhalten. Das bin ich ihm schuldig.“
„Und was bist du dir selbst schuldig?“ fragte mich Danael mit sanfter Stimme. Überrascht sah ich in sein Gesicht.
„Wieso? Was soll ich mir schuldig sein? Die ganze Sache ist doch wohl nur passiert, weil ich zuviel

an mich gedacht habe!“
„Nein! Du hast nur eine innere Leere verspürt und versucht sie zu füllen, indem du menschliche Vergnügungen gesucht hast. Das hat dich kurzfristig abgelenkt, und es wurde zu einer Art Droge für dich. Und wie bei jeder Droge wurde die Dosis, die du gebraucht hast, um den gleichen Effekt zu erzielen immer grösser. Und jetzt bist du sozusagen auf Entzug.“
Sein Blick war weich, als er das sagte und mir fehlten die Worte. Ich stand einfach nur da, liess seinen Anblick meine wunde Seele streicheln und fühlte, wie die Leere in meinem Herzen für einen Moment von seiner Liebe und Güte gefüllt wurde. Das war pure Engelsmagie in ihrer reinsten Form und ich badete mit Genuss darin.
Doch der Zauber währte nicht lange, denn plötzlich wurde ich an der Jacke gezupft und eine Kinderstimme fragte:“Andreas, wer ist der fremde Mann? Und wieso hat er Flügel?“
Danael lächelte auf das Kind hinunter und auch ich senkte den Blick zu Torben, der mit grossen Augen neugierig auf den Engel starrte.
„Warum fragst du ihn das nicht selbst?“ forderte ich ihn auf und der Kleine tat wie ihm geheissen.
„Bist du ein Engel?“ fragte er mit hoher Stimme und Unschuldsblick.
Dieser kleine Charmeur!
Tat doch glatt, als könnte er kein Wässerchen trüben, dabei war er ein echter Rabauke, nach allem was ich bisher mitbekommen hatte. Rotzfrech und obercool, obwohl er erst knappe sechs Jahre alt war! Wenn es irgendwo Ärger gab, oder etwas zu Bruch ging, gab es zwei Dinge, deren man sich absolut sicher sein konnte:
1. Torben hatte seine Finger im Spiel

! und
2. Er war nirgends zu sehen

!
Es erschien mir erstaunlich genug, dass ausgerechnet er den Engel sehen konnte, denn er war ein richtiges Früchtchen, wie man so schön sagt, doch jetzt gerade sah er aus, wie Muttis Liebling, mit seinen blonden Locken und den grossen, blauen Augen.
Danael beugte sich zu ihm hinunter und sah ihm in die Augen.
„Ja, Torben, ich bin ein Engel.“
„Und was machst du mit Andreas? Der ist doch voll langweilig!“ insistierte der Knirps und knipste ein 1000Watt-Lächeln an, das jeden schleimigen Talkshowmoderator hätte vor Neid erblassen lassen.
„So langweilig ist er gar nicht." erwiderte Danael. "Er ist nur in letzter Zeit ziemlich traurig gewesen, weisst du. Deshalb hat er so selten Lust Spiele mit euch zu spielen. Aber vielleicht könnt ihr ihm ja helfen wieder fröhlich zu werden?“
Jetzt war der Pimpf interessiert.
„Wieso ist er denn so traurig? Hat ihn seine Freundin verlassen?“ fragte er altklug.
„Nein, das ist es nicht, Torben. Manchmal werden Menschen traurig, weil sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen und einsam sind. Das ist ein bisschen so, als hätten sie ein Loch in ihrem Herzen und alle schönen Gefühle fliessen durch dieses Loch nach draussen und sind weg. Das zu reparieren schafft man nicht allein, dazu braucht man Hilfe. Diesen Menschen muss man wieder beibringen, was am Leben schön ist und dass es andere Menschen gibt, die sie mögen und für sie da sind. So wie eure Eltern das mit euch machen. Sie lieben euch und zeigen es euch jeden Tag auf hundert verschiedene Arten. Sie nehmen euch in den Arm, sie trösten euch, wenn ihr euch weh getan habt und hören euch zu, wenn ihr euch mit euren Freunden gestritten oder etwas besonders Schönes erlebt habt."
Zweifelnd sah der Junge zu Danael auf. „Sollen wir Andreas etwa auch in den Arm nehmen?“
Der Engel lachte:“Nur wenn ihr wollt!“
Er übersah geflissentlich meinen Gesichtsausdruck.
„Aber für den Anfang wäre es doch eine gute Idee, wenn ihr versucht, ihn ein bisschen besser kennenzulernen, oder? Vielleicht erscheint er euch dann auch gar nicht mehr so langweilig, wer weiss?“
Torben drehte sich zu mir um, musterte mich mit schräg gelegtem Kopf und ich bemühte mich, nicht aus der Haut zu fahren.
Wann hatte ich bitte schön jemals gesagt, dass ich mir engeren Kontakt zu den Kindern wünschte?
Wie konnte mir Danael das nur antun?
Der legte jetzt mit verschwörerischem Blinzeln einen Finger vor die Lippen und sagte zu dem Kind: „Aber das alles bleibt unser Geheimnis, okay? Ich bin sicher, dass ich mich da auf dich verlassen kann, nicht wahr?“
Torben nickte mit wichtiger Miene. „Klar, ich bin doch kein Baby mehr!“
Damit drehte er sich um und rannte davon. Ich sah ihm einen Moment lang nach und beschwerte mich dann bei Danael:“Was sollte das denn jetzt? Wann habe ich gesagt, dass ich einsam wäre und mir mehr Kontakt mit den Blagen wünsche? Nur damit du´s weisst – ich kann Kinder nicht ausstehen! Sie sind laut, nervig und schmutzig! Und sie tun so gut wie nie, was man ihnen sagt! Das habe ich während meiner Arbeit oft genug erlebt! Ich kann mir was Besseres vorstellen, als dass mir die Gören demnächst womöglich scharenweise am Rockzipfel hängen!“
Der Engel hörte sich meine Tirade ruhig an und meinte dann mit einem Zwinkern:“Tja, da habe ich dir dann wohl einen Bärendienst erwiesen. Das tut mir leid, Andreas. Dabei hatte ich es nur gut gemeint. Ich hoffe, du bist mir deswegen nicht böse?“
Konsterniert sah ich ihn an. Innerlich hatte ich mich auf einen theologisch-philosophischen Vortrag eingestellt und als er stattdessen meine Vorwürfe anstandslos akzeptierte und sich sogar entschuldigte, fiel mein Ärger wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
„Ähm, naja... eigentlich...!“ Ich sah mich plötzlich ausserstande meinen Zorn zu artikulieren.
Mit einem entschuldigenden Lächeln legte Danael mir die Hand auf die Schulter und seine Flügel und das überirdische Leuchten um seine Gestalt verschwanden. Gleich darauf sah er wieder aus wie ich ihn kannte, wie ein gewöhnlicher junger Mann.
„Ich muss jetzt gehen, Andreas, du weisst ja, ich habe noch andere Kunden! Und wenn du heute Abend zu Moritz gehst, nimm dich ein bisschen vor Sariel in acht. Er ist etwas … übereifrig, glaube ich.“
Seine Gestalt wurde durchsichtig und im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Ich starrte noch eine Weile auf die Stelle, wo er gestanden hatte und wusste nicht so recht, was ich von ihm halten sollte. Fast hätte ich den Eindruck gewinnen können, er mochte mich.
Konnte das sein?
Bisher hatte ich immer geglaubt, für ihn sei ich nichts anderes als ein Fall wie jeder andere, für den er zuständig war.
Musste ich meine Meinung etwa revidieren?
„Andreas!!“ Käthes Stimme holte mich in die Realität zurück. Ich drehte mich um und beeilte mich, zu meiner Kollegin zu kommen. Sie wollte mit den Kindern zurück nach drinnen und brauchte meine Hilfe dabei.
Der Rest des Tages verging ohne Zwischenfälle und als der Feierabend herankam, begab ich mich mit meinem altersschwachen Fahrrad schiebenderweise zum Nachbargrundstück.
Als ich an der Tür klingelte, wurde mir von einem untersetzten, älteren Mann geöffnet, Moritz´ Vater.
Er reichte mir die Hand und begrüsste mich freundlich.
„Sie sind sicher der junge Mann, der wegen dem Fahrrad vorbeikommen wollte, nicht wahr? Ich bin Moritz´ Vater. Aber kommen Sie doch herein, bitte! Moritz!!! Dein Besuch ist da!!“
Er drehte sich in den Hausflur und rief nach seinem Sohn, der alsbald die Treppe auf der Rückseite der Diele heruntergehumpelt kam.
Es ging langsam, da er sich mit einer Hand am Treppengeländer festhielt und in der anderen seine Krücken trug, während er mit dem gesunden Fuss von Stufe zu Stufe hüpfte. Mir zog sich unwillkürlich das Herz zusammen, als ich das sah, denn ich erinnerte mich daran, wie Moritz ebendiese Stufen früher regelrecht heruntergestürmt war.
Wieder schien die Schuld mich nieder zu drücken und ich hätte fast die Augen geschlossen, um das Elend nicht sehen zu müssen.
Als Moritz den Fuss der Treppe erreicht hatte, nahm er eine Gehhilfe in jede Hand und kam lächelnd auf mich zu.
„Hallo Andreas!“ Er reichte mir die Hand.
„Mein Vater war so nett, das Rad aus dem Keller zu holen. Dann brauche ich mich nicht die Stufen runter zu quälen.“ Ein Schatten flog über sein Gesicht, bevor er weitersprach. „Es steht hinter dem Haus. Sollen wir es uns gleich ansehen?“
Ich nickte und er wandte sich um. Sein Vater begleitete uns bis zur Hintertür und blieb dann stumm im Türrahmen stehen, während wir zu dem weissblauen Rennrad gingen und Moritz mir kurz ein paar Einzelheiten um die Ohren schlug, die sich zwar beeindruckend anhörten, mit denen ich aber nicht das Geringste anfangen konnte.
„Da steht das gute Stück!“ Er legte die Hand beinahe zärtlich auf den Sattel. „Der Rahmen besteht aus superleichtem Aluminium, das Gesamtgewicht liegt unter neun Kilo. Schaltung und Bremsen Shimano Ultegra, Ladenpreis im Schnitt 1000 Euro. Na, was sagst du?“
Ich bemühte mich, eine Miene aufzusetzen, die fachmännische wirkte, ging um das Fahrrad herum und bückte mich, als wollte ich Bereifung und Schaltwerk in Augenschein nehmen, obwohl ich von der ganzen Materie ungefähr so viel Ahnung hatte, wie der Papst vom Kinderkriegen. Dabei überlegte ich die ganze Zeit, wie ich aus der Sache wieder rauskam.
Mit geschürzten Lippen nickte ich und sagte: „Schönes Bike, wirklich. Aber um ehrlich zu sein, Moritz, ich hab´ gerade keine 500 Euro. Also fürchte ich, aus dem Geschäft wird nichts, leider.“
Ich setzte eine bedauernde Miene auf, erhob mich aus der Hocke und schob die Hände in die Jackentaschen.
„Also, wenn das das einzige Problem ist, dafür lässt sich doch eine Lösung finden, nicht wahr Moritz?“ mischte sich jetzt Herr Fichtner ein, der uns die ganze Zeit beobachtet hatte. Der Angesprochene nickte.
„Wenn du willst, kannst du mir den Kaufpreis auch abstottern. Mir geht’s ja nicht ums Geld, sondern darum, dass mein Baby nicht im Keller verrottet.“
Er sah mich fragend an und ich zermarterte mir das Hirn, was ich jetzt machen sollte.
Aber es war zu spät – ich hatte mich in eine Falle manövriert und zehn Minuten später war ich stolzer Besitzer eines Rennrades, für dass ich die nächsten zehn Monate alle vier Wochen fünfzig Euro abstottern musste.
Moritz schien hin und her gerissen zwischen der Freude, sein Rad losgeworden zu sein und der Bitterkeit des Verlustes.
Herr Fichtner setzte einen handschriftlichen Vertrag auf und bot mir dann eine Tasse Kaffee an, um den Abschluss zu feiern, wie er sagte.
Als wir im Wohnzimmer vor den dampfenden Tassen sassen, kam auch Moritz´ Mutter herein und reichte mir lächelnd die Hand.
„Sie sind also Herr Engel aus dem Kindergarten nebenan? Freut mich sehr. Gefällt ihnen das Rad? Moritz hat ja lange darauf gespart, aber ich finde er hat die richtige Entscheidung getroffen, dass er es verkauft. Bis er wieder radfahren darf wird noch viel Zeit vergehen, selbst mit Prothese und ob ein Rennrad dann gleich der richtige Einstieg ist, wer weiss? Jedenfalls ist es gut, wenn er nach vorn schaut und nicht immer nur daran denkt, was er verloren hat, nicht wahr?“
„Mama!“ Moritz hatte die Brauen zusammengezogen und schenkte ihr einen strafenden Blick. „Das will Andreas ganz sicher nicht wissen!“
„Aber warum denn nicht? Er kann doch deutlich sehen, dass du jetzt behindert bist!“
Ups – wie war die denn drauf?
Ich hatte Mühe, sie nicht erstaunt anzustarren.
Moritz sagte nichts mehr, sondern schaute stumm in seine Kaffeetasse und sein Vater schien peinlich berührt.
Plötzlich gab es eine Bewegung in einer der hinteren Zimmerecken, und ich drehte unwillkürlich den Kopf in die entsprechende Richtung. Sariel sass auf der Armlehne des Sofas und starrte mit funkelnden Augen und verschränkten Armen drohend zu mir herüber.
Das war dann wohl der Wink für mich zu verschwinden. Ich trank also meinen Kaffee aus und erhob mich.
„Frau Fichtner, Herr Fichtner, Moritz, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich habe schon genug Ihrer Zeit in Anspruch genommen. Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich das Fahrrad heute noch bei ihnen und hole es morgen nach der Arbeit ab? Dann entrichte ich auch die erste Rate.“
Mein ehemaliger Schützling nickte und stand ebenfalls auf.
„Warte, ich bring´ dich noch zur Tür.“ Es war offensichtlich, dass er der Atmosphäre im Wohnzimmer entfliehen wollte, daher wartete ich, bis er seine Krücken zur Hand genommen hatte und vor mir her zur Tür ging.
Auf dem Weg durch die Diele sagte keiner von uns ein Wort, erst als wir vor der offenen Haustür standen, reichte er mir die Hand und sagte:“Tut mir leid, meine Mutter meint, sie müsste mich abhärten, bevor ich wieder auf die Menschheit losgelassen werde. Aber manchmal merkt sie nicht, dass sie es ein bisschen übertreibt, gerade wenn fremde Leute dabei sind.“
Er lächelte ein bisschen schief und in seinen Augen war plötzlich alles zu lesen, was er sonst vermutlich sorgfältig verbarg. Der Schmerz und die Wut über den Verlust seines Beines und vor allem auch die Sehnsucht nach seinem alten unwiederbringlich verlorenen Leben, die Tatsache, dass er noch längst nicht soweit war, sich mit seiner Behinderung abzufinden, sondern noch heftig um seine innere Mitte kämpfte, der Hass auf sich selbst, dass sein Körper ihm derart den Gehorsam verweigerte und der Hass auf die Menschen um ihn herum, weil sie zwei gesunde Beine hatten und es nicht zu schätzen wussten.
Warum ich

?
Die Frage hätte nicht deutlicher in seinem Gesicht zu lesen sein können, wenn er sie sich in grossen Lettern auf die Stirn geschrieben hätte.
Das war zuviel für mich. Ich krümmte mich unter der Wucht meiner Schuld und Moritz sah mich erstaunt an, als ich mit gesenktem Kopf stammelte:“Es tut mir leid, Moritz. Es tut mir so furchtbar leid! Bitte verzeih´ mir!“
Er sah mich verständnislos an und fragte verwirrt:“Was tut dir leid?“
„Das mit deinem Fuss, ich ...“
Weiter kam ich nicht, denn im Gang hinter ihm tauchte die Silhouette von Sariel auf. Ich versuchte, mich zusammenzureissen, doch Moritz wirkte noch immer irritiert.
„Okay, Mann, aber - damit hast du doch nichts zu tun! Dafür brauchst du

dich doch nicht zu entschuldigen!“
Den Blick weiter auf seinen Schutzengel gerichtet, straffte ich mühsam den Rücken und murmelte: „Ich schätze, ich bin ein bisschen fertig nach meinem Arbeitstag. Ich sollte jetzt wirklich gehen.“
Meinen Worten zum Trotz blieb ich noch stehen, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, er wollte noch etwas sagen.
Im Hintergrund rückte Sariel ein Stück näher und ich spürte seine Feindseligkeit, die von ihm ausstrahlte wie eisige Böen.
„Ich bin eigentlich selbst Schuld.“ hörte ich Moritz plötzlich leise sagen und hielt den Atem an.
Sprach er von seinem Unfall?
„Es hat geregnet an dem Nachmittag und ich war viel zu schnell unterwegs. In einer Kurve bin ich dann weggerutscht und gestürzt. Das Letzte, woran ich mich erinnere ist, wie das Auto auf mich zurast und ich merke, dass das Rad unter mir ausbricht. Danach ist alles dunkel. Als ich im Krankenhaus wach geworden bin, war mein Bein weg und die Ärzte haben mir gesagt, ich wäre damit unter die Leitplanke geraten und hätte es mir abgetrennt. Leider ist es auf die Strasse gerollt und unter den Reifen eines LKWs zerquetscht worden. Sonst hätten sie es mir vielleicht sogar wieder annähen können.“
Er sah zur Seite und ich bemerkte, dass ihm eine Träne über die Wange rollte. Mit einer ärgerlichen Geste wischte er sie weg und sagte sarkastisch: „Oh Mann, jetzt löse ich mich hier auch noch auf! Ich weiss gar nicht, warum ich dir das überhaupt erzähle und dich mit meinen Problemen belaste. Vergiss es einfach, okay?“
Er machte Anstalten, ins Innere des Hauses zurückzukehren, doch einer spontanen Eingebung folgend hielt ich ihn zurück und schloss ihn in meine Arme.
Einen Augenblick lang wirkte er erschrocken und lag stocksteif in meinem Arm, doch dann spürte ich, wie er sich entspannte, sich an mich drückte und zu weinen begann.
Nachdem der Damm erst einmal gebrochen war, schien ein regelrechter Sturzbach aus ihm heraus zu strömen.
Er schlang die Arme um meinen Rücken, klammerte sich an mich und schluchzte wie ein kleines Kind.
Seine Krücken fielen klappernd zu Boden und im Hintergrund tauchte Vater Fichtner aus der Tür auf. Als er uns so da stehen sah, kam er eilig herbeigeeilt und seinem Gesicht und den verdächtig glänzenden Augen war anzusehen, dass er am liebsten ebenfalls geweint hätte. Bei uns angelangt, legte er behutsam den Arm um seinen Sohn und löste seine Finger von mir.
„Komm` mein Junge, komm´ her.“ redete er ihm leise zu. Dann hob er eine Krücke auf, drückte sie ihm in die Hand und führte den immer noch Weinenden durch die Diele zurück ins Haus und die Treppe hinauf.
Ich blieb mit nassgeweintem Pullover und einem dicken Kloss in der Kehle in der immer noch geöffneten Haustür stehen und sah ihnen nach.
Da schob sich Sariel aus dem Hintergrund und schritt auf mich zu.
Bei mir angekommen, musterte er mich mit einem abschätzenden Blick.
„Reife Leistung, Ezekiel!“
Ich verzog das Gesicht. „Auf deine Häme kann ich verzichten!“
Er schüttelte den Kopf. „Das war keine Häme, auch wenn ich wünschte, es wäre so! Moritz hat seit dem Unfall noch kein einziges Mal geweint. Er hat immer nur versucht, stark zu sein, um es den Menschen in seiner Umgebung so leicht wie möglich zu machen. Ich kann dich immer noch nicht leiden, Ezekiel, aber das war auf jeden Fall ein Fortschritt für ihn!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging zur Treppe. Auf dem Weg dorthin wurde er durchsichtig und war gleich darauf verschwunden.
Was hatte er da gerade gesagt?
Moritz hatte seit dem Unfall noch kein einziges Mal geweint?
Das war schlicht unvorstellbar. Er musste über eine immense innere Stärke verfügen, wenn das stimmte.
Und es musste schon stimmen, wenn Sariel es sagte. Er war schliesslich Tag und Nacht in seiner Nähe.
Angesichts dessen erschien mir meine eigene Schwäche doppelt verwerflich. Ich liess den Kopf hängen, bückte mich und stellte den einzeln zurückgebliebenen Gehstock in die Ecke hinter der Haustür. Anschliessend zog ich die Tür zu, trottete durch den Vorgarten und schwang mich auf mein klappriges, altes Fahrrad, welches von innen an den Zaun gelehnt auf mich gewartet hatte.
Während ich nach Hause fuhr, bezog sich der Himmel mit dicken, bleigrauen Wolken und als ich in meiner Wohnung angekommen war und aus dem Fenster sah, begann es in grossen, federleichten Flocken zu schneien.
Obwohl ich hungrig war, warf ich mich auf mein Bett, verschränkte die Hände unter dem Kopf und starrte an die Decke, während ich noch immer Moritz´ Hände spürte, wie sie sich in meinen Pullover krallten und das Beben seines Körpers noch immer sein Echo in mir fand.
So viel Verzweiflung!
So viel Angst, Schmerz und Bitterkeit in einem einzigen Menschen!
Wie sollte er da allein wieder herausfinden?
Ich schloss die Augen und in meinem Geist tanzten Bilder von Moritz vor und nach dem Unfall.
Hatte er denn keine Freunde?
Ich zermarterte mir das Hirn und versuchte mich zu erinnern. Aber alles was ich fand, waren Schulfreunde, Jungen und Mädchen, die sein Leben geteilt hatten, solange er noch ein Jugendlicher war.
Ich wusste einfach nicht, ob es ausser den Eltern Menschen in seinem Leben gab, mit denen er seine Sorgen und seine Freuden teilte, mit denen er lachte und vielleicht auch weinte, mit denen er ins Kino ging, in eine Kneipe oder ein Popkonzert.
Ich hatte schlichtweg keine Ahnung, weil ich mich nicht dafür interessiert hatte, als noch Zeit dafür gewesen wäre.
Mein Gesicht brannte vor Scham bei diesem Gedanken, doch gleichzeitig reifte ein Entschluss in mir: Ich konnte zwar den Unfall nicht ungeschehen machen und ihm auch sein Bein nicht wiedergeben, aber ich konnte versuchen, für ihn da zu sein!
Und wenn er wider Erwarten tatsächlich niemanden sonst hatte, konnte ich vielleicht sein Freund werden, seine Tränen aushalten und seine Wut. Konnte ihm vielleicht helfen, bei dem Versuch, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen!
Ich setzte mich auf.
Konnte ich auf diese Weise nicht auch mein eigenes menschliches Dasein wieder unter Kontrolle bekommen?
Indem ich ihm einen Sinn gab?
Einen Sinn der nicht darin bestand, einfach nur irgendwie zu überleben, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch nach dem nächsten Drink, der nächsten Kippe, der nächsten willigen Frau und der Sehnsucht nach Begreifen, nach Erfüllung, Ruhe und innerem Frieden?
Es war einen Versuch wert, fand ich.
Und wenn ich schon gerade dabei war, gab es da doch noch etwas, was ich besser nicht mehr auf die lange Bank schieben sollte, nämlich die Sache mit Louis!
Das zu klären schien mir ein guter Anfang zu sein.
Seufzend stand ich auf, strich meine Kleider glatt und griff nach dem Wohnungsschlüssel.
Eine knappe Minute später stand ich im Gang vor einer Tür, neben der ein Schild verkündete, dass hier ein gewisser L. Levin

wohnte. Nach Louis´ Beschreibung und der Beschriftung musste ich hier richtig sein.
Einen Moment zögerte ich noch, dann drückte ich entschlossen auf den Klingelknopf.
Es surrte im Inneren des Appartements, doch danach blieb es eine ganze Weile still und ich dachte schon, es wäre niemand zuhause. Plötzlich jedoch verdunkelte sich der Türspion und gleich darauf wurde geöffnet.
„Andreas?“ Louis stand in Boxershorts und T-Shirt mit verstrubbelten Haaren auf der Türschwelle und sah mich aus seinen blauen Augen erstaunt an. Ich lächelte verlegen.
„Darf ich kurz reinkommen?“
Er trat zur Seite und machte stumm eine einladende Geste.
Seine Wohnung war das Gegenstück zu meiner, wie ich feststellte, doch war sie völlig anders eingerichtet.
Die Wände des Wohnzimmers und des Flurs waren mit Postern, Bildern und allem möglichen Schnickschnack buchstäblich tapeziert, sodass das dunkle Rot der Wandfarbe kaum noch zu sehen war.
Neben der Tür zum Wohn/Schlafraum stand sein Bett an der Wand und ich registrierte am Rande, dass es keine einfache Schlafcouch war, wie bei mir, sondern ein breites Doppelbett, dessen Bettzeug zerwühlt halb auf dem Boden hing.
Direkt gegenüber standen ein Fernseher und eine Stereoanlage, CDs und DVDs lagen in unordentlichen Haufen auf dem verkrümelten, purpurfarbenen Teppichboden und eine angebrochene Flasche mit grün schillerndem Inhalt stand auf einem kleinen, fleckigen Couchtisch. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es sich um Absinth handelte. Daneben stand ein Glas mit einem speziellen Absinthlöffel, eine kleine Wasserkaraffe und eine Packung Zuckerwürfel.
Dieses Getränk hatte ich im 19. Jahrhundert öfters gesehen, aber selbst nie probiert.
Ich wusste lediglich, dass es sich um einen bitteren Kräuterlikör handelte, der wegen des hohen Alkoholgehaltes von teilweise über 80% grundsätzlich mit Wasser verdünnt getrunken werden sollte. Nachdem er lange Zeit verboten war, kam er in den letzten Jahren wieder zunehmend in Mode.
Offenbar auch bei meinem Nachbarn.
Im Gegensatz zum restlichen Raum war die Küchenzeile sauber und wirkte unbenutzt.
„Was kann ich für dich tun?“ unterbrach Louis meine Inspektion und ich drehte mich zu ihm um.
Er wirkte etwas benommen, so als hätte ich ihn gerade aus dem Bett geholt und ich kam nicht umhin mich zu fragen, wann er vergangene Nacht nach Hause gekommen war. Immerhin war es früher Abend und bereits stockdunkel.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, gähnte er und fuhr sich mit den Fingern durch seine schwarzen Locken, dass sie noch wilder in alle Richtungen abstanden.
„Tut mir leid, ich bin noch nicht ganz da.“ sagte er. „Ich war auf einer Megaparty letzte Nacht und bin erst heute Morgen um sieben nach Hause gekommen.“ Plötzlich warf er mir einen verschmitzten Blick zu. „Du hättest mitkommen sollen! Wer weiss, vielleicht hätte es dir gefallen?“
Er kicherte leise und bückte sich, um sein Bettzeug aufzuheben.
„Naja,“ ich druckste ein bisschen herum, gab mir aber dann einen Ruck, „ich wollte mich eigentlich nur bei dir entschuldigen. Mein Benehmen letztes Mal war wirklich nicht in Ordnung. Also, was ich sagen wollte – es tut mir echt leid.“
Er hatte sich auf seine Bettkante gesetzt und sah mit einem leisen Lächeln zu mir auf.
„Wenn es dir leid tut, wie du dich benommen hast, dann setz´ dich gefälligst erst mal.“ sagte er dann.
Ich schaute mich im Zimmer nach einer Sitzgelegenheit um, fand aber nichts ausser seinem Bett oder dem Fussboden. Er begriff, was mein Blick zu bedeuten hatte und klopfte grinsend neben sich auf die Bettkante.
„Na los! Oder hast du Angst, ich könnte beissen?“
Etwas verlegen erwiderte ich sein Grinsen und liess mich dann neben ihm nieder, allerdings mit gebührendem Abstand.
Den machte er sofort wieder zunichte, indem er dicht an mich heranrutschte.
Meine Verlegenheit schien ihn köstlich zu amüsieren, denn er grinste wie ein Honigkuchenpferd.
„Wie sieht´s aus, Kumpel? Möchtest du was trinken?“ Er wies auf den Absinth, doch ich schüttelte den Kopf.
„Nein, vielen Dank. Ich glaube, ich werde in nächster Zeit weitgehend auf Alkohol verzichten. Ist besser für mich.“
Er musterte mich mit einem undefinierbaren Blick und meinte dann:“Du gehst doch wohl nicht unter die Abstinenzler, oder?“
Ich zuckte die Achseln in einer unverbindlichen Geste.
„Hast du die grüne Fee

überhaupt schon mal probiert?“ Er griff nach der Flasche und seinem Glas, schenkte es zur Hälfte voll mit dem grünen Likör und platzierte den Absinthlöffel quer darüber. Dann setzte er einen Zuckerwürfel darauf, nahm die Karaffe und träufelte Wasser über den weissen Brocken. Langsam löste sich der Zucker auf und tropfte in die grüne Flüssigkeit, die sich dadurch milchig verfärbte.
Als der gesamte Zucker sich verflüssigt hatte, legte er den Löffel beiseite und nahm das Glas in die Hand. Er hielt es gegen das Licht, schwenkte es leicht und betrachtete den Inhalt.
„Geiles Zeug, dieser Absinth. Du solltest es wirklich mal probieren!“ meinte er ohne mich anzusehen.
Ich versuchte ein Grinsen, obwohl ich mich zunehmend unbehaglich fühlte.
„Wieviele davon hast du denn schon intus?“
Louis nahm einen Schluck und schloss geniesserisch die Augen, während er langsam schluckte. Dann drehte er den Kopf und richtete einen irritierend blauen Blick auf mich.
„Jedenfalls nicht genug!“ lachte er übermütig. „Na komm´, nur ein einziges Glas! Und wenn es dir nicht schmeckt, darfst du es stehen lassen. Onkel Louis wird deine Reste dann schon vernichten!“
Er stand auf und holte ein sauberes Glas aus einem Schrankfach in der Küchenzeile. Damit kam er zurück zum Bett, stellte es auf den Couchtisch und bereitete eine zweite Mischung vor, die er mir hinschob.
Unsicher starrte ich auf das milchige Getränk, zögerte und wusste nicht, was ich machen sollte.
Einerseits wollte ich keinen Alkohol mehr trinken, wollte meinen Lebenswandel ändern, doch andererseits konnte ich die Stimme in meinem Kopf nicht zum Schweigen bringen, die mir einflüsterte, dass an einem einzigen Glas doch wirklich nichts Schlimmes war.
Louis bemerkte meinen Zwiespalt, stupste mich in die Seite und meinte:“Na los! Oder ist er zu stark für dich?“
Das schien den Ausschlag zu geben.
Zu stark? Für mich? Pah!
Es war doch noch gar nicht so lange her, da hatte ich halbe Portionen wie ihn unter den Tisch getrunken!
Ich umschloss also das Glas, setzte es an die Lippen und leerte es in einem Zug. Dann stellte ich es zurück auf den Tisch und wischte mir die Lippen.
Gar nicht mal so übel, das Zeug.
Dank des Zuckers war nur ein leicht bitterer Nachgeschmack zu spüren und die enthaltenen Kräuteröle mischten sich auf meiner Zunge mit einem angenehmen Prickeln.
Louis sah mich an, wie ein Lehrer einen begabten Schüler, und ich liess mich zu einem zweiten und einem dritten Glas überreden. Bis dahin war ich allerdings schon mehr als angeheitert, da ich ja noch nichts gegessen hatte und der leere Magen für den Alkohol kein Hindernis darstellte.
Danach schob er die Flasche allerdings weg und wandte sich mir zu. Er hatte fleissig mitgetrunken, doch schien er seltsamerweise noch immer weitgehend nüchtern zu sein.
Vertrug er tatsächlich so viel mehr als ich?
„Wiescho bisch du nich bedrunkn?“ lallte ich mit schwerer Zunge und er lachte mit blitzenden Augen.
„Das würde ich mir nie erlauben, jetzt betrunken zu sein, so kurz vor meinem Ziel!“
Hä? Was für ein Ziel?
Verständnislos starrte ich ihn an und seine blaue Iris schien zu leuchten, als würde sie von innen angestrahlt.
Plötzlich gab er mir einen Stoss, dass ich hintenüberfiel und schwang sich mit einer fliessenden Bewegung über mich. Blitzschnell packte er meine Hände, drückte sie auf die Matratze und presste seine Lippen auf meinen Mund.
Einen Moment lang war ich völlig perplex, doch dann kam die jähe Ernüchterung und ich begann mich zu wehren. Eigentlich hätte es kein Problem sein sollen, Louis schmale Gestalt abzuschütteln, doch zu meinem Erstaunen hielt er mich mühelos unten, selbst als er eine meiner Hände losliess, um seine Finger unter meine Kleider zu schieben.
Was war denn nur in ihn gefahren?
War er etwa schwul?
Und warum war er so stark?
War ich wirklich so betrunken?
Seine Hand fand meine Brustwarzen und er strich mit den Fingern darüber, zwickte hinein und gleichzeitig zwängte er seine Zunge in meinen Mund.
Ich strampelte mit den Beinen und versuchte, mit der freien Hand seinen Kopf von mir weg zu drängen, doch meine Bemühungen prallten an ihm ab, als wäre ich ein kraftloses Kind.
Erst als er mir die Hose aufknöpfte und hineinfasste, gelang es mir unter Aufbietung all meiner Kraft, meinen Mund zu befreien.
„Louis!? Was soll denn das? Bist du verrückt? Lass´ mich sofort los!“
Aber er lachte nur meckernd, zog seine Finger aus meiner Hose und fing damit meine freie Hand ein, die sich noch immer gegen sein Gesicht presste.
„Verrückt? Manche würden es vielleicht so nennen, Ezekiel! Aber ich wollte schon immer mal einen gefallenen Engel vernaschen. Und da kommst du mir gerade recht! Du baumelst schon längst über dem Abgrund, du weisst es nur noch nicht! Wie eine überreife Frucht, die nur darauf wartet, dass der nächste Windstoss sie herunterwirft! Und dieser Windstoss will ich sein! Nein, ich werde

der Windstoss sein, der dich ins Verderben stösst! Ihr Engel seid ja so überheblich, was uns Dämonen angeht! Glaubst du wirklich, du wärst was Besseres? Meinst du, du kannst dem Abgrund widerstehen, wenn er dich lockt? Wenn ich dich hier und jetzt nehme, kannst du deinem Körper wirklich verbieten zu reagieren?“
Er lachte höhnisch und ich starrte wie hypnotisiert in seine Augen, deren Pupillen sich schlitzartig in die Länge gezogen hatten.
„Im Leben nicht! Du nicht! Du bist schwach und erbärmlich, kannst nicht mal dem Alkohol widerstehen, selbst wenn er dir von jemandem angeboten wird, der dir praktisch fremd ist!“ spottete er und beugte sich herunter, um mich erneut zu küssen.
„Und wenn ich mir dich jetzt nehme, ich als Dämon, dann gehörst du endgültig zu uns!“ triumphierte er, bevor seine Lippen sich meinen näherten und von ihnen Besitz ergriffen.
Ich warf den Kopf zur Seite, um seinem Kuss zu entgehen, doch er liess meine Hände los, fasste mit den Fingern in meine Haare und hielt mich fest, während er mir seinen Mund aufzwang. Krampfhaft hielt ich die Lippen geschlossen, aber er presste seine Finger kräftig gegen meine Kiefergelenke, sodass ich mit einem dumpfen Aufstöhnen den Mund öffnete, um dem Schmerz zu entgehen. Rasch schob er seine Zunge zu mir und als er das geschafft hatte, liess er erneut beide Hände über meinen Körper wandern.
Ich umklammerte sein Handgelenk, als er ein weiteres Mal in meine Hose fasste und meinen Penis mit festem Griff umschloss, doch ich hatte nicht genug Kraft, um ihn daran zu hindern.
Louis gehörte also zur anderen Seite, er war ein Dämon, oder zumindest besessen!
Die Angst schnürte mir die Kehle zu.
Was sollte ich nur tun?
Da fiel mir plötzlich ein, was Danael gesagt hatte: In Notfällen wende dich einfach an uns.

Wir werden dich hören.


Mit letzter Kraft befreite ich noch einmal meinen Mund und rief den Namen meines Bewährungshelfers.
„Danael!! Hilfe!!!“
Es war nicht besonders laut, da Louis mich noch immer in seinem Klammergriff hielt, doch es war offenbar laut genug, denn Sekunden später erfüllte ein helles Licht den Raum, der Dämon in Menschengestalt wurde von mir heruntergerissen und flog quer durch den Raum gegen die nächste Wand, an der er langsam herunterrutschte.
Benommen richtete ich mich auf und sah Danael im vollen Glanz seiner Engelsmagie mitten im Raum stehen.
Er trat auf Louis zu, der wie ein Häufchen Elend auf dem Teppich kauerte und donnerte:“Im Namen Jesu befehle ich dir, höllischer Geist, weiche von uns und wage nicht wiederzukehren, um uns zu versuchen!“
Dabei hielt er eine Hand in Richtung auf Louis ausgestreckt.
Der Mann am Boden krümmte sich wie unter Peitschenhieben, sein Körper zuckte und wand sich und plötzlich schnellte er mit weit geöffneten Augen in die Höhe. Sein Mund öffnete sich und eine Art Rauch quoll zusammen mit einem unmenschlichen Stöhnen heraus. Der Rauch verschwand, der Körper fiel in sich zusammen und rührte sich nicht mehr.
Danael bückte sich, hob ihn auf seine Arme, als hätte er überhaupt kein Gewicht und trug ihn durch das Zimmer auf das Bett.
Erst dann wandte er sich mir zu. Sein Gesicht war ernst, als er sagte:“Du bist unvorsichtig, Andreas! Ich hatte dich gewarnt, dass die andere Seite versuchen würde, dich zu Fall zu bringen! Warum hast du wieder getrunken?“
Ich sah zu Boden und blieb die Antwort schuldig.
Danael seufzte. „Diesmal konnte ich dir in letzter Minute helfen. Das hier war ein schwacher Dämon. Ihn zu vertreiben war nicht weiter schwer. Aber das nächste Mal werden sie garantiert stärkere Geschütze auffahren!“
„Das nächste Mal?“ fragte ich entsetzt und er nickte mit besorgter Miene.
„Du hast doch nicht etwa geglaubt, sie würden jetzt aufgeben? Du bist ein Engel, Andreas! Dich auf ihre Seite zu ziehen, ist ein Verdienst, den sich jeder Dämon gern zurechnen würde! Sei also in Zukunft nicht mehr so leichtsinnig!“ Er holte tief Luft, bevor er hinzusetzte:“Und lass´ die Finger vom Alkohol!“
Ich nickte. „Verstanden.“
Der Bewusstlose regte sich leicht und Danael fasste meinen Arm. „Geh´ jetzt besser. Wenn Louis zu sich kommt, wird er nichts von dem mehr wissen, was eben hier passiert ist!“
"Hat ihm die Sache geschadet?" wollte ich noch rasch wissen. Danael sah mit bekümmerter Miene zu dem grazilen jungen Mann hinüber.
"Körperlich ist er in Ordnung, vielleicht wird er leichte Kopfschmerzen haben. Aber seine Seele ist es, die beschädigt wurde. Das war sie allerdings schon vorher, sonst hätte der Dämon gar keinen Zugang zu ihm bekommen. Was aus ihm wird - wer kann das schon sagen? Leider gehört er nicht zu den Menschen, die einen persönlichen Schutzengel haben und unser Herr gab allen seinen Kindern einen freien Willen. Es liegt also an ihm, was er aus seinem restlichen Leben macht. Aber jetzt müssen wir wirklich gehen, sonst bemerkt er uns noch!"
Die Gestalt des Engels verblasste bereits und ich beeilte mich, möglichst geräuschlos aus der Tür zu huschen. Die Wirkung des Alkohols schien sich vollkommen verflüchtigt zu haben.
Erst als ich in meine Wohnung zurückgekehrt war, begann ich die Nachwirkungen des Schocks zu spüren und liess mich auf meine Schlafcouch fallen, bis mein Herzschlag sich normalisiert hatte und meine Finger nicht mehr zitterten. Jetzt erst begriff ich so richtig in welcher Gefahr ich geschwebt hatte!
Hätte Danael mich nicht gerettet, wäre ich jetzt vielleicht schon ein gefallener Engel, auf dem Weg in die Tiefen der Verdammnis!
Wie hatte ich noch vor kurzem zu ihm gesagt? Keine Sorge. So schnell falle ich nicht!


Da hatte ich mich wohl gründlich verschätzt!


Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Bus zur Arbeit. Über Nacht hatte es kräftig geschneit und überall sah man Autofahrer, die der Wintereinbruch mit der Tatsache konfrontierte, dass sie auch dieses Jahr mit dem Reifenwechsel zu lange gewartet hatten und die nun in dem halbgefrorenen Matsch auf den Strassen herumrutschten.
Von daher hätte ich ohnehin nicht mit dem Fahrrad fahren können. Allerdings bedeutete es auch, dass ich mein neues Rad am heutigen Tag noch nicht würde mit nach Hause nehmen können. Trotzdem wollte ich meine erste Rate begleichen und Moritz bei dieser Gelegenheit einen Besuch abstatten.
Die Kinder waren den ganzen Vormittag über zappelig vor Ungeduld, weil sie natürlich nichts lieber wollten, als hinausrennen und im Schnee spielen.
Als es endlich soweit war, beschlossen die Erzieherinnen, der Einfachheit halber alle Gruppen gleichzeitig draussen spielen zu lassen, damit sich die Kinder nicht gegenseitig ablenkten, weil die eine Gruppe draussen herumtobte und die Anderen sich die Nasen an den Fenstern plattdrückten.
So standen diesmal alle Kolleginnen und ich zusammen in der gewohnten Ecke, wenn auch nicht für lange.
Der Schnee war etwas angetaut und ließ sich leicht zu großen Kugeln rollen, weshalb plötzlich ein Wettbewerb über den schönsten Schneemann ausgerufen wurde.
Jede Gruppe musste in Gemeinschaftsarbeit Einen bauen und dann sollte der Beste prämiert werden. Außerdem wurde heißer Kakao für Alle in Aussicht gestellt.
Mit Feuereifer machten sich die Kinder ans Werk, aber nach einer Weile sah ich eine Gruppe mit hängenden Köpfen neben ihren schon ordentlich gerollten Kugeln stehen. Es war die IG-Gruppe, die nur aus zehn Kindern bestand, von denen dazu über die Hälfte noch keine fünf Jahre alt waren.
Meine Kolleginnen schienen nichts zu bemerken, sondern schwatzten unbekümmert, also ging ich zu den Kleinen hinüber und fragte, was los war.
Zehn Paar grosse Augen schauten mich an und dann erklärte die Älteste der Gruppe, ein kleines, rothaariges Mädchen mit tränenerstickter Stimme, dass sie zwar schöne, grosse Schneekugeln gerollt hatten, diese aber nicht aufeinandersetzen konnten, weil sie schlichtweg zu schwer waren. Eine war ihnen bei dem Versuch schon zerbrochen, und wie sollten sie so bitte schön eine Chance haben, den besten Schneemann zu bauen?
Ich überlegte nicht lange, sondern bückte mich und hob die nächstliegende Kugel auf.
„Wo soll sie hin?“ fragte ich und die Kinder strahlten.
In der nächsten halben Stunde arbeiteten wir mit vereinten Kräften und unser Schneemann wurde wirklich sehr schön.
Zwar errang er nicht den ersten Platz, aber wir wurden nur knapp geschlagen.
Ich freute mich mit den Kindern und ertappte mich sogar dabei, wie ich herzlich mit ihnen lachte und herumalberte.
Meine Kolleginnen schienen ebenfalls angetan von meiner neuentdeckten Heiterkeit und Bente meinte irgendwann: „Weisst du eigentlich, dass du ganz anders aussiehst, wenn du lachst? Viel besser!“
Dabei schenkte sie mir einen tiefen Blick , sodass ich erstaunt innehielt und unwillkürlich mein Gesicht betastete.
Das brachte sie wiederum zum Lachen und ich stimmte ein bißchen verlegen mit ein.
Es fühlte sich gut an und es tat auch gut, dieses Lachen aus tiefstem Herzen. Schon lange hatte ich es nicht mehr versucht und erst jetzt fiel mir das wirklich auf.
Wann war es mir eigentlich abhanden gekommen?
Und wieso hatte ich das nicht gemerkt?
Ich kam allerdings nicht dazu eine ausführliche Nabelschau abzuhalten, denn plötzlich wurde ich an der Hand gepackt und über das Gelände gezerrt. Es war Torben, der mich da hinter sich her schleppte und dann stand ich vor einem niedrigen Schneehaufen, der von fünf weiteren Kindern gerade mit Schaufeln und Händen festgeklopft wurde.
„Du musst uns helfen, Andreas!“ erklärte Torben im Brustton der Überzeugung.
„Aha. Und wobei? Was macht ihr hier?“ fragte ich skeptisch.
„Na, wir bauen ein Iglu, das sieht man doch wohl!“ trumpfte ein anderer Knirps auf, den ich nach kurzem Überlegen als Jakob identifizierte.
„Ein Iglu?“ Ich war überrascht, denn bis jetzt hatte der Schneeberg wenig Ähnlichkeit mit dieser frostigen Behausung, sondern wirkte mehr wie ein gigantischer, reichlich flacher Pfannkuchen.
„Da braucht ihr aber noch viel mehr Schnee.“ meinte ich deshalb und griff mir eine Schaufel.
Schnell hatte ich die Kinder eingeteilt und jeder machte sich begeistert ans Werk.
Torben und ich schaufelten Schnee oben auf den Hügel und die anderen Pimpfe stampften und klopften ihn fest.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die weiße Pracht genügend verdichtet war, durften alle zusammen anfangen, eine Höhle hinein zu graben.
Irgendwann kamen meine Kolleginnen herüber, inspizierten das im Entstehen begriffene Iglu und staunten nicht schlecht, da inzwischen schon zwei der Kinder im Inneren hockten und von dort aus weiter gruben.
Wir bauten immer weiter und bemerkten gar nicht, wie die Zeit verging, bis plötzlich eine Stimme vom Haus her rief:“Kakao ist fertig!“
Da ließen meine Baumeister alles fallen und stürmten johlend Richtung Tür. Nur Torben blieb noch zurück. Er hatte auch aufgehört am Iglu zu bauen, musterte mich und meinte dann gönnerhaft:“Vielleicht hat der Engel ja recht und du bist wirklich gar nicht so langweilig!“
Damit drehte er sich um, liess mich stehen und rannte ebenfalls los, um sich seinen wohlverdienten Kakao zu sichern.
Ich sah ihm nach und merkte plötzlich, dass es mich freute, was er da gerade gesagt hatte.
Die übrigen Erzieherinnen, die noch im Freigelände waren, begannen das liegen gelassene Spielzeug einzusammeln und ich wollte ihnen gerade zur Hand gehen, da fiel mein Blick auf das Nachbargrundstück Ich traute meinen Augen kaum, denn da stand Moritz am Zaun, mit nur einer Krücke und auf zwei Beinen.
Als er sah, daß ich ihn bemerkt hatte, lächelte er und winkte mich zu sich herüber. Ich eilte zu ihm und wies auf seine Füsse.
„Wow! Was ist passiert? Hast du jetzt deine Prothese?“
Er nickte mit gerötetem Gesicht.
„Ja. Ich bin eben aus der Stadt gekommen. Den ganzen Tag darf ich sie zwar bislang nicht am Stück tragen, weil die Wunde noch nicht ganz abgeheilt ist, aber das ist doch gleich ein ganz anderes Lebensgefühl!“
Er grinste. „Du bist heute aber auch anders drauf, als sonst, oder? Zumindest hab´ ich dich noch nie so viel mit der Kindern spielen sehen.“
„Seit wann beobachtest du mich denn schon?“ wollte ich etwas verlegen wissen.
„Och, schon eine ganze Weile. Der Schneemann-Wettbewerb war gerade vorbei, als ich nach Hause gekommen bin. Wie sieht es denn aus mit heute Abend? Dein Rad wirst du ja bei dem Wetter noch nicht mitnehmen wollen. Kommst du trotzdem vorbei?“
„Wenn ich darf, gern. Außerdem steht ja die erste Rate an.“ erwiderte ich und er strahlte.
„Natürlich darfst du! Hast du vielleicht Lust mit uns zu Abend zu essen?“ fragte er dann und ich war überrascht.
„Das ist nett, aber macht euch doch wegen mir keine Umstände!“
Er schüttelte heftig den Kopf.
„Das sind doch keine Umstände! Wir müssen schliesslich auch was essen und - ich bin dir noch was schuldig. Wegen gestern...“ fügte er errötend hinzu.
Ich überlegte nicht lange.
„Wenn das so ist, bleibe ich gerne zum Essen!“
„Schön!“ freute er sich und verzog im nächsten Moment das Gesicht.
„Was ist?“ fragte ich beunruhigt, doch er winkte ab, hob das rechte Bein und fasste seine Gehhilfe fester.
„Nichts weiter, die Prothese drückt nur noch ein bisschen auf der Wunde. Das vergeht bald.“ Er lächelte wieder und machte eine lässige Geste.
„Also dann, bis heute Abend!“
Ich sah ihm nach, bis er im Haus verschwunden war und begab mich dann auch zurück in den Kindergarten, wo ich gerade noch ein paar Tropfen Kakao aus den Kannen kratzen konnte, die gerade ausreichten, um mich aufzuwärmen.
Die Kinder hatten ihre Tassen längst geleert, waren mit roten Wangen und glänzenden Augen schon wieder in ihre Gruppen zurückgekehrt und auch ich beeilte mich, meine Tasse auszutrinken, während Alina, der zweite Springer bereits die Spülmaschine bestückte.
„Das hat heute richtig Spass gemacht, dir zuzusehen.“ sagte sie etwas schüchtern, als sie bei meinem Platz anlangte und die Hand nach der leeren Tasse ausstreckte. Ich nickte. „Ja, mir hat es auch Spass gemacht.“
Sie schlug verlegen die Augen nieder und meinte: „Bisher hatte ich fast den Eindruck, du magst gar keine Kinder. Aber das kann ja gar nicht sein, schliesslich wärst du sonst bestimmt nicht Erzieher geworden! Und heute hat man auch gemerkt, daß du eigentlich richtig gut mit ihnen umgehen kannst! Ich glaube, die Kinder aus der IG-Gruppe haben dich schon ins Herz geschlossen!“
Mit roten Wangen ging sie zurück in die Küche und hantierte geräuschvoll herum, während ich ihr nachsah und dabei in mich hineinhorchte.
Noch vor kurzem hatte ich Danael gegenüber felsenfest behauptet, daß ich Kinder nicht ausstehen konnte und bisher war das auch so gewesen.
Hatte sich daran inzwischen etwas geändert?
Hatte mich die Begegnung mit Louis am vergangenen Abend derart aus der Bahn geworfen?
Auf jeden Fall konnte ich nicht leugnen, dass mir die Veränderung irgendwie gefiel, also zuckte ich innerlich nur mit den Schultern und begab mich zurück zu Bente, mit der ich an diesem Tag zusammenarbeitete.
In zwei Tagen war Laternenfest und daher lief die Bastelmaschinerie auf Hochtouren.
Seufzend liess ich mich auf einem der kleinen Stühle nieder.
Das Spielen im Schnee mochte ja spassig gewesen sein, aber die unsägliche Fummelei mit Schere und Heißkleber war definitiv nichts für mich!
Trotzdem gab ich mein Bestes und freute mich mit den Kindern, als endlich alle Laternen für ihren Einsatz bereit waren.
„Wie läuft das denn eigentlich ab, bei diesem Laternenumzug übermorgen?“ fragte ich Bente, nachdem wir unsere unbequemen Plätze auf den viel zu niedrigen Stühlen verlassen hatten und unsere schmerzenden Rücken und Beine geradebogen. Ich wusste zwar, dass der Umzug um 19 Uhr beginnen sollte und ich deshalb um 18.30 Uhr nochmals an meinem Arbeitsplatz erscheinen musste. Doch über die organisatorischen Details war ich mir noch nicht im Klaren.
Bente wandte mir lächelnd ihr sommersprossiges Gesicht zu.
„Ach, das macht jedes Jahr wieder grossen Spass! Wir teilen die Kinder in zwei Gruppen auf und gehen ungefähr eine Stunde lang hier durch das Viertel. Da ist kaum Autoverkehr und die Anwohner freuen sich schon jedes Jahr auf uns. Die Springer bleiben hier und bereiten in der Zwischenzeit heißen Tee und Bockwürstchen vor. Die können sich die Kinder und Eltern dann holen, wenn wir zurück sind. Anschließend wird noch ein Lagerfeuer angezündet und gesungen und so gegen zehn Uhr löst sich das Ganze meistens auf. Danach muß natürlich noch aufgeräumt werden und meistens gehen wir so gegen halb elf nach Hause.“
„Klingt anstrengend.“ meinte ich und sie nickte. „Ist es auch. Aber es macht den Kindern so viel Freude! Das wirkt richtig ansteckend, glaub´ mir! Es wird dir gefallen!“
Noch vor wenigen Tagen hätten ihre Erläuterungen für eine rasante Talfahrt meiner Stimmung gesorgt, jetzt aber ertappte ich mich dabei, wie ich lächelnd nickte.
Was war denn mit mir los? Wo war der zynische Kinderhasser geblieben?
Aber was auch immer der Grund für die Veränderung war – Bente schien es jedenfalls zu gefallen, denn sie rückte ein bisschen näher und sagte leise:“Also ehrlich, Andreas! Du hast dich wirklich verändert! Das macht ja heute richtig Spaß mit dir zu arbeiten!“
Dabei sah sie mir tief in die Augen und unwillkürlich kamen mir die Auflagen in den Sinn, an die ich mich halten musste, während ich als Mensch auf Erden wandelte.
Keine Frauengeschichten

!
Schade – Bente war wirklich niedlich.
Im nächsten Moment schimpfte ich mich einen Vollidioten.
War mir der Ärger durch das missachtete Alkoholverbot noch nicht genug gewesen?
Abgesehen davon – Bente war tatsächlich ein appetitliches Ding, aber ganz bestimmt keins von den leichten Mädchen, mit denen ich mich abgegeben hatte, während ich meine Alleingänge unternahm. Demnach war es sicher besser, unsere Beziehung auf einer kollegialen Ebene zu belassen.
Ich räusperte mich also und lächelte unverbindlich.
„Findest du?“ fragte ich und rückte ein Stückchen weg von ihr. „Mir macht es auch Spaß mit dir zu arbeiten. Ich kann bestimmt noch viel von dir lernen, meinst du nicht?“
Etwas Besseres war mir nicht eingefallen und ich sah, wie ihr Lächeln in die Breite wuchs.
„Ja, das glaube ich auch!“ sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick.
Himmel – hatte ich da etwa Öl ins Feuer gegossen?
Zum Glück entbrannte in der Puppenecke ein geräuschvoller Streit, der die Anwesenheit meiner Kollegin erforderlich machte und ich brauchte nicht zu antworten.
Gleich darauf belegte mich Torben erneut mit Beschlag und wollte unbedingt, daß ich ihm und seinen Freunden etwas vorlas.
So verging der restliche Nachmittag wie im Flug und ehe ich mich´s versah, war der Feierabend herangerückt.
Nachdem ich mich vor dem Tor von meinen Kolleginnen verabschiedet hatte, ging ich hinüber zum Hause Fichtner und schon als ich vor der Haustür stand, empfing mich ein köstlicher Duft, den ich zwar nicht zuordnen konnte, der mir aber das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.
Auf mein Klingeln hin wurde die Haustür von Moritz geöffnet, der noch immer mit seiner Prothese herumlief und mich grinsend begrüsste.
„Hi! Komm´ rein! Das Essen ist gleich fertig!“
Ich streifte mir die Jacke und die nassen Schuhe aus und begrüsste zunächst seine Eltern.
Dann lieferte ich die erste Rate des Kaufpreises ab und ließ mich zusammen mit ihm und seinem Vater auf der Couchgarnitur nieder.
Die nächste Viertelstunde war etwas unangenehm, da Herr Fichtner mich ein wenig auszufragen versuchte und ich aufpassen musste, was ich sagte.
Lügen durfte ich nicht und die Wahrheit kam aus naheliegenden Gründen nicht in Frage.
Ich versuchte mich also etwas vage um die Untiefen des Gesprächs herum zu manövrieren und war heilfroh, als Frau Fichtner das Essen auftrug und uns an den Tisch rief.
Die Atmosphäre während der Mahlzeit war angenehm entspannt, wozu sicher auch die - zumindest optische - Abwesenheit von Sariel beitrug. Frau Fichtner hatte ein köstliches Spinatrisotto gekocht und zum Nachtisch gab es Schokoladenpudding mit Vanillesosse. Alle langten wacker zu und auch mir wurde eine zweite Portion aufgenötigt.
Währenddessen erzählte mir Moritz von seinen Zukunftsplänen, auch er schien an diesem Abend aufgeräumt und locker. Als das Abendessen beendet war, bedankte ich mich und wollte mich verabschieden.
Wie beim letzten Mal stand Moritz auf und brachte mich zur Haustür, während Herr Fichtner seiner Frau half, den Tisch abzuräumen. Immer noch redend ging Moritz vor mir her durch den düsteren Flur und da geschah es - er setzte seine Krücke auf die Kante des Läufers, mit dem die Diele ausgelegt war, die Gehhilfe rutschte ab und er geriet ins Straucheln.
Rasch griff ich zu und hielt ihn fest, sodaß lediglich die Krücke aus seiner Hand flog, an die Wand purzelte und langsam zu Boden glitt.
In diesem Augenblick, als ich ihn bei den Schultern hielt und er mit erschrockener Miene zu mir aufblickte, war ich ihm so nah, daß ich trotz der schummrigen Beleuchtung die kleinen, dunklen Sprenkel in seiner Iris sehen und sein Shampoo riechen konnte.
Plötzlich verspürte ich eine herzklopfende Verlegenheit, die ich mir nicht erklären konnte und obwohl er längst wieder sicheren Tritt gefasst hatte, ließ ich ihn noch nicht los.
Seine Wangen überzogen sich mit einer leichten Röte, er starrte mir ins Gesicht und ich hätte ihn am liebsten in meine Arme geschossen.
Dieses Bild vor meinem geistigen Auge war dermassen irritierend,daß es den Bann brach und ich meine Hände von seinen Schultern löste.
Was hatte ich denn da für Gedanken?
Bemüht sie zu vertreiben, räusperte ich mich und hob die Krücke vom Boden auf.
"Hier."
Mit gesenktem Kopf nahm Moritz sie entgegen und ich sah trotz der blonden Haare, die ihm in die Stirn hingen, dass sein Gesicht flammend rot war.
Meine Güte – warum hatte ich ihn jetzt so in Verlegenheit gebracht?
Was hatte ich mir denn eigentlich gerade gedacht?
„Ähm, … ich geh´ dann jetzt mal.“ stotterte ich und öffnete die Haustür.
Rasch trat ich nach draußen, um etwas Distanz zwischen uns zu bringen, bevor ich ihn wieder ansah.
Er schien mindestens ebenso durcheinander zu sein, wie ich und nickte nur stumm, bevor er sich hastig verabschiedete.
„Ja, ist gut. Ciao, Andreas!“
Er hob noch einmal kurz die Hand und zog sich dann eilig ins Haus zurück.
Während ich den Weg zur Bushaltestelle unter die Füße nahm, ließ das Herzklopfen allmählich nach und ich atmete tief durch.
Warum hatte mich die Nähe zu Moritz nur so durcheinander gebracht?
So etwas war mir noch nie passiert und auf dem gesamten Heimweg grübelte ich darüber nach.
Selbst als ich später in meiner Wohnung vor dem Fernseher saß, konnte ich mich nicht auf das bunte Geflacker auf dem Bildschirm konzentrieren, sondern sah ständig sein Gesicht und seine erschrocken aufgerissenen Augen vor mir.
Das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen war immer noch da und ich fragte mich, ob ich vielleicht auf dem Wege war, die Liebe zu den Menschen neu zu entdecken und wieder zu meinem alten Selbst zurück zu finden.
Vielleicht hatte Danael ja recht und es wäre doch nicht das Schlechteste?
Im Gegenteil, plötzlich schien die Vorstellung wieder ein vollwertiger Schutzengel zu sein, ihren Schrecken weitgehend verloren zu haben. Nach dem heutigen Tag konnte ich nicht mehr leugnen, dass ich dabei war, mich zu verändern.
Das Spielen mit den Kindern hatte nicht nur Spaß gemacht, es hatte auch etwas in mir bewegt. So, als hätte ein riesiger Eisklumpen, der auf meiner Seele lastete, endlich begonnen zu schmelzen.
Aber wieso brachte mich das dann derart aus dem Gleichgewicht, dass ich so seltsam auf Moritz´ Nähe reagierte? Ich kannte ihn doch schließlich seit er geboren worden war!
Die hektische Titelmelodie einer Nachrichtensendung riss mich aus meinen Gedanken und ich bemerkte, dass es fast Mitternacht war. Ich schaltete den Fernseher aus und öffnete kurz das Fenster, um vor dem Schlafengehen noch einmal frische Luft herein zu lassen. Dabei wehten mir feuchte Tropfen ins Gesicht und ich sah, dass es angefangen hatte zu regnen.
Verrückt! War es nun November oder April?
Der Schnee auf den Straßen und Gehwegen schmolz und die wenigen Autos die auf der Straße noch unterwegs waren, erzeugten rauschende und platschende Geräusche.
Da kam mir plötzlich der Gedanke, dass ich bei Fortschreiten der Schneeschmelze vielleicht am nächsten Tag mein neues Rad abholen konnte. Das würde bedeuten, dass ich Moritz wiedersah und als ich gedanklich diesen Zusammenhang hergestellt hatte, beschleunigte sich mein Puls erneut.
Himmel, jetzt war es aber mal gut!
Mit einem ungeduldigen Kopfschütteln schloss ich das Fenster und machte mich bettfertig. Gleich darauf schlüpfte ich unter die Decke und zog sie mir bis zu den Ohren.
Und dann lag ich im Dunkeln und konnte nicht einschlafen...
Jedesmal, wenn ich die Augen zumachte, erlebte ich vor meinem geistigen Auge erneut die Szene mit Moritz in der Diele seines Elternhauses und ich wurde immer wacher, anstatt schläfriger.
Mist! Was hatte das zu bedeuten?
Man hätte ja beinahe annehmen können, ich hätte mich in ihn verliebt. ... Moment?
Mit einem Ruck setzte ich mich auf.
Was hatte ich da gerade gedacht?
Verliebt? Ich? In Moritz?
Ich wollte ein abfälliges Schnauben loslassen, um mich selbst zu beruhigen, aber das dabei entstehende Geräusch klang dünn und unsicher.
Konnte das möglich sein?
War es denkbar, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte?
Nein, oder?
Ich horchte in mich hinein und versuchte, die Art der Gefühle auszuloten, die ich für Moritz hatte.
Wie fühlte es sich gleich noch einmal an, wenn man verliebt war?
Es schien Äonen her zu sein, dass ich so etwas wie Liebe erlebt hatte.
Naja, genau genommen war es tatsächlich eine kleine Ewigkeit - über 700 Jahre waren seither vergangen. Zu der Zeit nämlich, als ich noch ein Mensch war, lange vor meiner Existenz als Schutzengel, war ich unglücklich in ein Mädchen namens Gudrun verliebt gewesen und diese unglückliche Liebe hatte unter anderem dazu beigetragen, dass ich in ein Kloster eingetreten war.
Eine Entscheidung, die ich zwar zu meinen Lebzeiten nie bereut hatte, die ich aber heute ganz sicher nicht mehr so treffen würde.
Gut, das war mir soweit klar – und wie hatte es sich nun damals angefühlt?
Ich überlegte und verglich die Gefühle von damals mit meinen jetzigen Empfindungen.
Das Ergebnis ließ mich aus dem Bett springen und wie einen Drogensüchtigen auf Entzug im Zimmer hin und her laufen.
Das gab es doch nicht! Das konnte, das durfte nicht wahr sein!
Ich hatte mich tatsächlich in meinen ehemaligen Schützling verliebt?
In einen Mann?
Himmel hilf! Ich raufte mir die Haare.
Was sollte ich denn jetzt machen?
Ich blieb stehen und wunderte mich über meine eigene Blödheit.
War doch klar, was ich machen musste – nämlich gar nichts!
Moritz durfte nie erfahren, wie es in mir aussah!
Unter gar keinen Umständen!
Niemals!
Selbst wenn er wider Erwarten das Gleiche fühlen sollte, wie ich, gab es keine Zukunft für uns. Egal, wie man es drehte und wendete, ich war noch immer ein Engel und diese Art von Liebe war mir verboten.
Ich hatte zwar in der Vergangenheit oft genug gegen dieses Gebot verstossen, um mich mit fleischlichen Genüssen zu betäuben, mit Moritz jedoch wäre es etwas anderes, soviel war mir jetzt schon klar. Das wäre keine Affäre, um des reinen körperlichen Genusses willen, hier waren echte Gefühle im Spiel.
Dazu kam, dass mein Aufenthalt hier auf der Erde begrenzt war, und ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn ich Moritz das Herz brach, indem ich ihm etwas vorspielte, was keine Zukunft hatte.
Vielleicht wäre es sogar besser, ich würde mich ganz von ihm fernhalten, überlegte ich.
Mit mechanischen Bewegungen legte ich mich wieder ins Bett.
Genau – das würde ich tun – ich würde am nächsten Tag das Fahrrad abholen und dann aus seinem Leben verschwinden.
Keine Gespräche mehr über den Zaun, keine Einladungen mehr zum Abendessen, nichts dergleichen. Wenn er mich dann für ein Arschloch hielt – okay, das konnte ich aushalten.
Hauptsache, ich brachte sein Leben nicht noch mehr durcheinander als bisher.
Nachdem ich zu diesem Entschluss gekommen war, drehte ich mich auf die Seite, schloss die Augen und verbot mir, weiter darüber nachzudenken.
Das gelang mir nur mäßig und es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Schlaf mich endlich übermannte.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fühlte ich mich wie gerädert.
In wirren Träumen war ich auf meinem neu erworbenen Rennrad über eine Landstraße gerast und hatte versucht, Moritz´ Unfall zu verhindern. Sariel und Louis hatten mich verfolgt, sich vor mich geschoben und mich nicht an Moritz herangelassen, der irgendwo vor mir war und ahnungslos seinem Verderben entgegenfuhr.
Verzweifelt hatte ich zusehen müssen, wie er mit seinen schmalen Reifen wegrutschte, hatte Bremsen kreischen hören und war hochgeschreckt.
Der gleiche Traum war immer wieder gekommen, jedesmal in leicht veränderter Form, aber immer mit dem gleichen Ausgang und als es endlich Zeit war aufzustehen, war ich schweißgebadet und tappte kraftlos in die Dusche.
Ich zwang mich, einen Toast mit Marmelade zu essen, doch er schien in meinem Mund nicht weniger zu werden und wie Sägemehl zu schmecken.
Zu allem Überfluss regnete es noch immer in Strömen und ich besaß weder einen Schirm, noch eine richtige Regenjacke, sodass ich bereits nach der kurzen Wegstrecke von meiner Wohnung zur Haltestelle gut eingeweicht war. Wie am vorherigen Tag fuhr ich mit dem Bus zur Arbeit wobei meine Nase zu laufen begann und mein Schädel brummte.
Ich schleppte mich durch den Arbeitstag, während meine Nase anfing, für den IronMan zu trainieren und zu dem Brummen im Kopf auch noch ein heftiges Kratzen im Hals dazukam.
Jedesmal, wenn ich nieste, sah Bente, mit der ich auch an diesem Tag wieder zusammenarbeitete, mitleidig zu mir herüber und gegen Mittag meinte sie:“Das Spielen im Schnee war wohl doch keine so gute Idee, wie? Da hast du dir ja eine eklige Erkältung eingefangen! Willst du nicht besser nach Hause gehen und dich hinlegen?“
Ich schüttelte den Kopf und erwiderte:“Nein. Ich muss nach Feierabend noch mein neues Fahrrad abholen. Und wenn ich gesund genug bin, mit dem Fahrrad zu fahren, bin ich doch wohl auch gesund genug, um zu arbeiten?“
Sie zog die Brauen zusammen und legte mir die Hand auf die Stirn.
„Was ist denn das für eine bescheuerte Logik? Du hast zumindest erhöhte Temperatur und gehörst ins Bett, Andreas! Ausserdem steckst du mir noch sämtliche Kinder an, wenn du hierbleibst - von mir ganz zu schweigen! Und das kann ja wohl nicht dein Ernst sein, dass du mit dem Rad nach Hause fahren willst? Ruf´ in dem Laden an und sag´ dass du es an einem anderen Tag holst!“
Ich nieste und sagte:“Das Rad steht in keinem Laden, sondern nebenan, bei Fichtners.“
„Nebenan?“ Bente zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Du meinst, wo der junge Mann im Rollstuhl sitzt?“
Ich nickte.
„Ja, aber den Rollstuhl braucht er jetzt nicht mehr. Er hat gestern eine Prothese bekommen und wird bald sogar ganz ohne jede Gehhilfe laufen können.“
„Das klingt, als würdest du ihn besser kennen.“
Bildete ich mir das ein, oder war da ein missmutiger Unterton in Bentes Stimme? Ich schob es auf meine Erkältung und antwortete:“Naja, wir haben uns seit ich an meinem ersten Tag draußen umgekippt bin, ein paar Mal über den Zaun hinweg unterhalten. Dabei hat er mir sein Rennrad zum Kauf angeboten, weil er gesehen hat, in welchem Zustand mein eigenes Rad ist. Das ist eigentlich alles.“
„Aha.“ Sie nickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und meinte dann:“Wie auch immer – du bist krank und deshalb gehst du jetzt heim! Keine Widerrede! Morgen Abend ist Laternenfest, da wird jede Hand gebraucht!
Also sieh zu, dass du bis dahin wieder auf dem Damm bist!“
Sie schob mich zur Tür.
„Los, los! Mit Frau Hellmann rede ich schon! Und jetzt ab mit dir!“
Derart genötigt wollte ich nicht mehr widersprechen, zumal ich mich wirklich nicht gut fühlte, zog meine immer noch feuchte Jacke über und verließ den Kindergarten.
Auf der Straße hielt ich kurz inne und überlegte, dann wandte ich mich dem Fichtner´schen Haus zu und klingelte.
Etwas beklommen und mit flattrigem Magen wartete ich, dass man mir öffnete und war mir nicht sicher, was ich mir mehr wünschte: Dass Moritz derjenige war, der das tat, oder eben nicht.
Gleich darauf sah ich in seine blauen Augen und sofort stand mir wieder die Szene vom Vorabend vor Augen.
Aber auch er schien ein wenig verlegen zu sein und eine leichte Röte zog kurz über seine Wangen.
„Andreas!?“ Er war überrascht. „Was gibt’s?“
„Nichts Besonderes!“ Ich lachte nervös.
„Ich bin nur gerade auf dem Weg nach Hause und wollte mein Rad mitnehmen. Das heißt, wenn es dir recht ist?“
„Ja, natürlich. Komm´ doch rein.“ Er zog die Tür ganz auf und machte einen Schritt zur Seite, damit ich an ihm vorbeigehen und das Haus betreten konnte.
Dabei war ich ihm für einen Moment wieder fast so nah, wie am Abend vorher und mein Herz schlug einen Salto.
Er warf mir einen Seitenblick zu und grinste.
„Wieso bist du denn schon auf dem Weg nach Hause? Es ist doch gerade mal Mittag! Oder haben sie dich endlich rausgeworfen?“
„Nein.“ Ich war bemüht, meine Nervosität zu überspielen.
„Ich hab´ mir nur eine fette Erkältung eingefangen und deshalb Hausverbot bekommen, damit ich nicht alle anstecke.“
„Ach so – und da meinst du, du lädst deine Keime mal kurz bei mir ab, oder wie?“
Wir lachten beide und ich entspannte mich etwas. Unauffällig scannte ich die Umgebung, aber von Sariel war nichts zu sehen, weshalb ich noch etwas ruhiger wurde.
Der finster-feindselige Schutzengel war ja nun nicht gerade mein grösster Fan und in seiner Nähe fühlte ich mich stets unwohl.
„Wenn du das Fahrrad jetzt mitnehmen willst, müssen wir aber in den Keller runter. Meine Eltern sind nicht da, deshalb wirst du es allein hochtragen müssen. Schwer ist es ja nicht unbedingt, aber ein bißchen sperrig. Ist das okay?“ Moritz sah mich fragend an.
„Ja, klar. Das kriege ich schon hin. Kein Problem!“
Ich steckte die Hände betont lässig in die Taschen meiner Jeans und folgte ihm zu einer Tür am anderen Ende der Diele. Er öffnete sie und drückte auf einen Schalter an der Wand, woraufhin einige Lampen unten im Keller und über einer abwärts führenden Treppe aufflammten.
Er nahm seine Krücke in die rechte Hand und hielt sich mit der Linken am Geländer fest, während er langsam und vorsichtig die Stufen herunterstieg. Unten angelangt stützte er sich wieder auf die Gehhilfe und steuerte eine weitere Tür an. Dahinter befand sich ein gräumiger Kelleraum, der offenbar als eine Art Lager für die unterschiedlichsten Dinge genutzt wurde.
Auch hier schaltete er das Licht ein und an einer Wand des Raumes stand, neben einer Menge anderer Sport- und Freizeitutensilien, das blauweiße Rennrad.
Er wies darauf und machte lächelnd eine einladende Geste. Ich schob mich an ihm vorbei, packte das Rad und wollte damit aus dem Raum gehen, doch mit dem vorderen Reifen stieß ich unglücklich gegen ein paar Kisten, die an einer Wand aufgestapelt standen und die dadurch gefährlich ins Schwanken gerieten. Fast wie in Zeitlupe neigte sich der Stapel zur Seite und drohte umzufallen.
Moritz riss die Augen auf und streckte die Arme danach aus und ich stellte schnell das Rad ab und tat das Gleiche.
Im nächsten Moment lagen meine Finger auf denen von Moritz und gemeinsam hielten wir den Kistenstapel fest.
Die Berührung seiner Hand war wie ein Stromstoss und heiß schoss mir das Blut ins Gesicht.
Nachdem die Kisten wieder ins Gleichgewicht gerückt worden waren, standen wir nebeneinander, wagten nicht, uns anzusehen und keiner sagte ein Wort.
Ich spürte, dass es Moritz ähnlich ging wie mir selbst, aber ich wusste auch, dass ich jetzt besser gehen sollte.
Es war viel zu gefährlich - für uns beide - wenn wir noch länger allein hier unten blieben!
Obwohl mir das nur zu bewusst war, konnte ich meine Beine nicht dazu bringen, sich vom Fleck zu bewegen.
Plötzlich tastete Moritz´ Hand nach meiner und ich schloss die Augen, als sich seine Finger mit meinen verflochten.
Ich brauchte ihn nicht zu sehen, um zu wissen, dass er näher rückte, und dann fühlte ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht.
„Nicht!“ flüsterte ich verzweifelt, doch da lagen seine Lippen bereits auf meinen und kosteten mich mit solcher Zartheit, dass ich nicht anders konnte, als den Kuss zu erwidern. Behutsam tastend, voller Zärtlichkeit und beinahe keusch erkundete er meinen Mund und seine Arme schlossen sich um meinen Nacken.
Wie von selbst legten sich meine Hände um sein Gesicht und meine Lippen öffneten sich unter dem zärtlichen Drängen dieser Liebkosung. Seine Zunge suchte schüchtern nach meiner und ich kam ihr entgegen, ohne zu überlegen. Dieser Kuss war so herrlich süß, dass wir beide nicht genug davon bekamen.
Je länger es dauerte, desto gieriger wurden wir, unser Atem ging heftig und wir drängten uns aneinander, bis ich mich mit ungeheurer Willensanstrengung losriss und ihn ein Stückchen von mir wegschob.
Seine Augen waren weit aufgerissen und der Mund noch feucht von unserem Kuss, als er mich ansah und ich konnte in seinem Gesicht lesen, wie in einem offenen Buch.
Auch er war hin und her gerissen, zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns.
Seufzend senkte ich den Kopf.
„Das dürfen wir nicht, Moritz!“ sagte ich leise und er sog überrascht die Luft ein.
„Was? Wieso nicht?“ fragte er und dann – kaum hörbar: „Magst du mich nicht?“
„Doch, sogar sehr.“ sagte ich widerwillig und bereute es sofort.
Ich machte einen Schritt von ihm weg und fuhr mir mit der Hand durch die Haare.
„Es geht eben nicht. Für uns gibt es keine Zukunft, verstehst du?“
„Habe ich denn irgendwas von einer Zukunft gesagt?“ fuhr er auf, doch ich sah ihm an, dass er verletzt war.
Mist! Ihm weh zu tun, war doch das Letzte was ich wollte.
„Moritz,...“ setzte ich zu einer verzweifelten Erklärung an, doch er hob die Hand und brachte mich zum Schweigen.
„Ist schon gut, Andreas. Nimm´ einfach das Bike und hau´ ab.“
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schnappte er sich seine Krücke und hinkte aus dem Kellerraum.
Mir schien die Luft knapp zu werden, alles in mir drängte danach, ihm nachzulaufen, ihn in die Arme zu schliessen und ihm unter Küssen zu sagen, dass es mir leid tat, aber ich zwang mich dazu, einfach nur das Rennrad zu nehmen und den Keller zu verlassen.
Als ich oben im Gang ankam, war von Moritz nichts mehr zu sehen. Resigniert schaltete ich das Kellerlicht aus und schloss die Tür hinter mir.
Fröstelnd trat ich gleich darauf aus der Haustür und das Geräusch, mit dem sie hinter mir ins Schloss fiel, hatte etwas Endgültiges.
Ich schob das Rad bis zur Straße und schwang mich darauf, ohne einen Blick zurück zu werfen.
Es regnete noch immer und das passte zu meiner Stimmung.
Die Stadt, die gestern noch so winterfröhlich gewirkt hatte unter der ersten weißen Pracht des Jahres, lag heute wieder stumpfgrau und lethargisch vor meinen Augen, wie ein schmutziger, alter Hund, der sich unter dem Ansturm der Kälte duckte.
Meine Zähne klapperten, während ich nach Hause strampelte, der Regen lief mir aus den Haaren und übers Gesicht und mischte sich mit den Tränen, die ich nicht länger unterdrücken konnte.
Frostschauer rieselten mir über den gesamten Körper, aber ich achtete nicht darauf, weil ich ständig nur an Moritz denken konnte, an unseren Kuss und daran, dass ich nun nie wieder so etwas Wundervolles erleben würde.
Zuhause angekommen trug ich das Fahrrad buchstäblich mit letzter Kraft in den Keller und schleppte mich dann als eine weitaus größere Last in meine Wohnung.
Wie ein nasser Sack fiel ich auf meine Bettcouch, mein Kopf dröhnte, der Hals brannte und ich zitterte in schmerzhaften Muskelkrämpfen.
Aber das alles war nichts gegen den Schmerz und die Leere in meinem Herzen, die mich wünschen ließen, ich könnte einfach nur einschlafen und nie wieder aufwachen.
Ohne die feuchten Kleider auszuziehen, zog ich die Bettdecke über mich und zitterte mich in einen fiebrigen Schlaf.


Ende des ersten Teils

Impressum

Texte: Cover found via Google.de (myspacecdn.com)
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte asjohn, die sich erneut die Mühe gemacht hat, sie vorab zu lesen und die eine Schwäche für ans Herz gehende Stories hat!

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