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Es war ein schöner, sonniger Sommertag.
Ein Tag, um ins Schwimmbad zu gehen, Eis zu essen und das Leben zu genießen.
Nicht, um auf einem Fahrrad zu sitzen und die ganze Strecke bis nach Hause so sehr zu weinen, dass man kaum sah, wohin man fuhr.
Hanna versuchte die Tränen weg zu blinzeln und wischte sich übers Gesicht, als ihr Heimatort, ein verschlafenes, kleines Dorf, in Sicht kam.
So verweint wollte sie nicht zuhause ankommen. Ihre Mutter hätte bestimmt Fragen gestellt, aber die Antworten die Hanna ihr geben konnte, wollte sie sowieso nicht hören. Sie liebte ihre Mutter, aber es gab Dinge, die konnte sie einfach nicht verstehen.
Dabei war es in der Schule heute nicht anders gewesen als sonst auch. Wie eigentlich jeden Tag war sie in den Pausen von der angesagten Mädchenclique der Klasse wegen ihrer Kleidung aufgezogen worden. Das kannte sie nun schon seit Jahren, hatte sich fast daran gewöhnt, genauso wie daran, die Sticheleien und Beleidigungen zu ignorieren, auch wenn es manchmal schwer war, sich nichts anmerken zu lassen.
Da ihre Mutter sich beharrlich weigerte, ihr modischere Kleidung zu kaufen und ihr auch nicht gestattete, sich zu schminken, passte sie nicht so recht zu den anderen Mädchen ihres Alters, und die ließen sie das spüren, genau wie Hennen auf einem Hühnerhof, welche ebenfalls mit untrüglichem Gespür immer auf der schwächsten Artgenossin herumhacken.
Nicht dass sie unansehnlich gewesen wäre, beileibe nicht, aber es machte sich ja kaum jemand die Mühe, ein zweites Mal hinzuschauen, wenn der erste Blick achtlos über sie hinweg glitt, weil er von den vielen herausgeputzten Püppchen vereinnahmt worden war
Hanna war groß für ihre 16 Jahre, kräftig, ohne dick zu sein, und wer sich die Mühe gemacht hätte, sie genau anzusehen, hätte entdeckt, dass ihre großen Augen nicht einfach nur von gewöhnlicher braun-grüner Farbe waren, sondern je nach ihrer Stimmung in hellem Oliv leuchten, oder aber die dunkle Tönung von grundlosen Moorteichen annehmen konnten.
Ihre glatten, dunklen Haare fielen in einem dicken Zopf über ihren Rücken, und im Sommer, wenn sie viel in der Sonne war, fanden sich Strähnen von warmem Gold darin.
Aber kaum jemand bemerkte diese Dinge, viel zu subtil waren diese kleinen Eigenheiten im Vergleich zur auffälligen, künstlichen Attraktivität der meisten ihrer Altersgenossinnen.
Und heute war Susanne, die ohnehin immer am meisten an ihr herum stichelte, zu absoluter Höchstform aufgelaufen. Vor der ganzen Klasse hatte sie sich Hanna in den Weg gestellt und mit einem falschen Lächeln gefragt: „Sag´ mal, wo hast du bloß diese schicken Klamotten her? Da muss ich unbedingt auch mal hin!“
Dann hatte sie zuerst ihren Freundinnen verschwörerisch zugegrinst und anschließend weiter ihre Zunge gewetzt.
Zwar hatten die Jungs aus der Klasse sich nicht groß darum gekümmert, aber die Mädchen hatten allesamt schadenfroh gekichert. Susannes Mundwerk war berüchtigt und vermutlich waren alle froh, dass es diesmal nicht sie getroffen hatte, sondern Hanna.
Normalerweise hätte sie diesen Spott geschluckt und wäre zur Tagesordnung übergegangen, doch heute gab es da ein zusätzliches Element, das ihr zu schaffen machte, und dieses Element hieß Luca.
Luca war neu in ihrer Klasse, und alle Mädchen himmelten ihn an.
Er war groß, breitschultrig und wirkte weit älter als die übrigen Jungs.
Das mochte aber auch an der Tatsache liegen, dass er sich praktisch immer von Allen fernhielt, sich stets schwarz kleidete und nie lachte.
Sein schmales Gesicht mit den kräftigen Kieferknochen und den dunklen Augen hatte sie in den zwei Monaten, die er jetzt an der Schule war noch nie anders gesehen, als ernst und verschlossen. Während des Unterrichts sagte er nicht viel, und auch sonst schien er einsames Schweigen der Gesellschaft seiner Klassenkameraden vorzuziehen.
Zwar hatte Hanna ein paar Mal das Gefühl gehabt, als beobachte er sie, aber das war vermutlich reines Wunschdenken, denn auch sie hatte sich der Faszination, die Luca scheinbar auf alle Schülerinnen ausübte, nicht ganz entziehen können.
Allerdings versuchte sie nicht, wie Susanne und ihre Freundinnen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie war sich nur zu deutlich bewusst, welchen Rang sie in der ungeschriebenen Hackordnung der Mädchenriege einnahm und begnügte sich damit, Luca aus der Ferne zu betrachten und dabei ein bisschen zu träumen.
Aber als Susanne heute ihren Spott und ihre Häme über sie ausgegossen hatte, stand er ganz in der Nähe und sah zu.
Seinem Gesicht war nicht anzumerken, was er dachte, aber Hanna hätte sich nicht mehr schämen können, wenn sie nackt vor der ganzen Klasse gestanden hätte.
Irgendwie hatte sie den restlichen Schultag hinter sich gebracht, auch im Bus ließ sie sich noch nichts anmerken, doch als sie dann auf ihrem Fahrrad saß und sich auf den Weg nach Hause machte, brach der Damm und ihre Augen liefen über.

Weil von ihrem Wohnort aus keine Busanbindung in die Stadt existierte, in der sie zur Schule ging, musste Hanna vom Nachbardorf aus fahren, wo es eine solche Verbindung gab.
Das bedeutete jeden Morgen und jeden Nachmittag eine Fahrradfahrt von rund drei Kilometern, da ihre Mutter kein Auto hatte, aber meistens machte ihr das nichts aus. Die Strecke führte, nachdem sie den Ort verlassen hatte, zwischen Feldern und Wiesen hindurch und über einen kleinen Fluss, an dem sie auf dem Heimweg manchmal anhielt.
Dann setzte sie sich ans Ufer, sah in die munter dahinfließenden Wellen und träumte sich weit weg. Meistens tat sie das an Tagen wie heute, und auch jetzt bremste sie und stieg ab, als sie das Flüsschen erreichte.
Sie schob ihr Rad vom Weg herunter, lehnte es an einen Baum und ging zu ihrem Lieblingsplatz unter einer alten Weide, die dicht am Ufer stand und ihre Zweige bis ins Wasser senkte.
Mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt, saß Hanna da und ließ die Ruhe und den Frieden dieses Ortes in ihre aufgewühlte Seele sickern. Wie immer wenn sie hierher kam, wurde sie ruhiger. Sie schloss die Augen und lauschte dem leisen Gurgeln der Wellen, dem Summen der Insekten und dem Quaken der Enten, die in Ufernähe herum paddelten.
Doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass etwas nicht stimmte.
Sie öffnete die Augen und sah sich um, während das Gefühl einer nicht fassbaren Bedrohung in ihr immer stärker wurde. Nichts war zu sehen, doch die Angst griff mit kalter Faust nach ihrem Herzen und schien es zu zerdrücken. Die Luft, die sie umgab hatte mit einem Mal die Konsistenz von zähem Sirup und wollte sich kaum noch atmen lassen.
Schließlich sprang sie auf und rannte regelrecht zu ihrem Fahrrad, sprang darauf und radelte davon, so schnell sie es vermochte. Das Gefühl der Gefahr blieb, bis sie die ersten Ausläufer des Dorfes erreichte, und als sie zehn Minuten später ihr Rad zuhause in den Gartenschuppen stellte, war sie schweißgebadet und völlig außer Atem.
Was war das nur gewesen?
Sie konnte sich nicht erinnern, schon jemals so etwas gefühlt zu haben.
Hatte sie etwa eine Panikattacke gehabt?
So etwas sollte es ja geben, auch wenn sie bisher nur darüber gelesen, es aber noch nie selbst erlebt hatte.
Hanna atmete tief durch und verließ den Schuppen. Durch die Hintertür betrat sie das kleine Haus, in dem sie allein mit ihrer Mutter lebte und ging durch die Diele zur Küche.
„Ich bin wieder da, Mama.“ rief sie und streckte die Hand nach der geschlossenen Tür aus.
Wenn sie später an diesen Moment zurückdachte, fragte sie sich manchmal, was passiert wäre, wenn sie die Türklinke nicht berührt hätte. Ob dann alles anders gekommen wäre?
Sie bezweifelte es zwar, doch in gewisser Weise endete ihr Leben an diesem Punkt und begann einen Sekundenbruchteil später als das einer völlig Fremden neu.
Sie fasste die Türklinke und drückte sie nieder, öffnete die Tür und fand sich in einem Alptraum wieder.
Die Küche sah aus, als wäre ein Wirbelsturm hindurch gefahren, die gläserne Lampe baumelte zerbrochen an ihrem Kabel von der Decke, in den Wänden klafften faustgroße Löcher und kein Schrank stand oder hing mehr an seinem Platz. Kochtöpfe, zerbrochenes Porzellan und Glas, Besteck und die Trümmer der Essecke lagen überall im Raum verstreut und knirschten unter ihren Schuhen, als sie fassungslos ein paar Schritte nach vorn machte.
Außerdem war es so kalt, dass die Szenerie der Zerstörung von einem glitzernden Eishauch überzogen war und ihr Atem, der in Form angsterfüllten Keuchens zwischen ihren Lippen hervordrang, als kleine weiße Wölkchen in der eisigen Luft stand.
Von ihrer Mutter war nichts zu sehen, und sie rief noch einmal nach ihr.
„Mama?“
Dünn und verloren klang der Ruf selbst in ihren eigenen Ohren, und niemand antwortete.
Was war hier passiert? Ein Überfall?
Das erklärte nicht das Eis.
Aber was dann?
Sie berührte mit einem zitternden Finger die weiße Schicht auf der Arbeitsfläche und zuckte erschrocken vor der durchdringenden Kälte zurück.
Sie konnte sich keinen Reim darauf machen und wandte sich ab, um nach ihrer Mutter zu suchen.
Zögernd pirschte sie sich mit kleinen, langsamen Schritten durch die Diele, die ihr plötzlich riesengroß und fremd erschien.
Nur ganz allmählich schob sich in ihrem vom Schock vernebelten Verstand ein einzelner Gedanke nach vorn: Die Polizei! Du musst die

Polizei rufen!


Mit zitternden Händen griff sie in ihre Hosentasche und nestelte das Mobiltelefon heraus. Gerade wollte sie die erste Ziffer eintippen, da erlebte sie das Gleiche wie vorhin am Fluss.
Eine Bedrohung, die sich näherte und ihr dabei die Luft abschnürte. Plötzlich schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Das Telefon entglitt ihren gefühllos gewordenen Fingern und fiel unendlich langsam dem Boden entgegen.
In ihrer Brust schien sich unter dem rasenden Schlag ihres Herzens ein Knoten zu bilden, der immer mehr anschwoll und zu explodieren drohte.
Auf ihren Trommelfellen lastete gewaltiger Druck, und sie hörte ein Summen wie von einem wütenden Bienenschwarm. Sie drehte sich hin und her, denn die Gefahr schien von überall gleichzeitig zu kommen, und da sah sie eine dunkle Gestalt von der Rückseite des Hauses her in die Diele treten.
Ihr eigener Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, und ohne darüber nachzudenken, wandte sie sich dem Fremden zu und ließ den Knoten in ihrer Brust platzen.
Erstaunt sah sie, wie wabernde Feuerzungen sich dem Dunklen entgegenreckten und ihn einzuhüllen drohten. Doch mit einer einzigen Handbewegung wischte er sie mühelos weg und machte ein paar weitere Schritte auf sie zu.
Als die Flammen verschwanden, war sie plötzlich zu Tode erschöpft und begann zu schwanken.
Rasch überwand der Fremde die restliche Distanz zwischen ihnen, und als sie zu Boden sackte, erkannte sie in der Sekunde, bevor er sie auffing, Lucas Gesicht.
Dann schwanden ihr die Sinne, und sie nahm es mit sich in die Dunkelheit.


Sie öffnete langsam die Augen und wusste weder wo, noch wer sie war, geschweige denn, wie sie hierher gekommen war. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, irgendwo im Nichts zu schweben, bis die verschwommenen Konturen die sie sah, sich verfestigten.
Da erst erkannte sie einen zweckmäßig eingerichteten Raum, mit schäbigen, weiß gestrichenen Wänden, und zerschlissenen Möbeln. Ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl, dazu das breite Bett, auf dem sie lag, mehr gab es nicht zu sehen.
Gegenüber vom Bett befand sich ein Fenster, vor dem die Dämmerung heraufzog und dessen nackte, schmutzige Scheibe von keinem Vorhang verdeckt wurde. Die Wände waren ebenso kahl und nichts in diesem Raum ließ auf einen möglichen Besitzer schließen, oder darauf, wo sie sich befand.
Sich mit einer Hand über das Gesicht reibend, richtete sie sich langsam auf und musste sekundenlang gegen eine heftige Übelkeit ankämpfen.
Als die Umgebung endlich aufhörte zu schwanken, fiel ihr mit einem Schlag ein, was geschehen war, und mit einem erstickten Aufschrei fuhr sie vollends in die Höhe. Sie sprang aus dem Bett und wollte zur Tür laufen, doch kaum verlagerte sie das Gewicht auf die Füße, gaben die Knie unter ihr nach, und sie sank in sich zusammen.
Mit vernehmlichem Poltern schlug sie auf dem glatten Boden auf. Keine zwei Sekunden später öffnete sich die Tür, und eine dunkle Gestalt kam herein, in der sie auf Anhieb Luca erkannte.
Hoch ragte er über ihr auf, und sie fragte sich, wie sie ihn je für einen Altersgenossen hatte halten können.
Sein Gesicht wirkte nicht besorgt oder bestürzt, als er auf sie hinunterblickte, sondern vielmehr unwillig oder sogar - wütend?
Wieso das denn? Was hatte sie ihm getan?
„Luca!“ flehte sie. „Hilf mir, bitte! Ich muss die Polizei anrufen! Meine Mutter …!“
Wortlos bückte er sich zu ihr hinab, fasste unter ihre Arme und half ihr auf. Dann führte er sie trotz ihres Widerstrebens zurück zum Bett, und sie ließ sich auf die Kante sinken.
„Luca, bitte! Die Polizei!“ setzte sie nochmals an, doch als er sich aufrichtete, schüttelte er den Kopf und sagte:
„Die Polizei kann dir nicht helfen. Und deiner Mutter auch nicht.“
Sein Tonfall war kühl und entschieden, trotzdem wollte sie nicht klein beigeben.
„Was soll denn das heißen? Die müssen nach ihr suchen! Ihr ist bestimmt was Schlimmes passiert, so wie es in unserer Küche ausgesehen hat! Hast du das nicht gesehen? Du warst doch auch da ….!“
Sie stutzte, mit einem Mal misstrauisch.
„Wieso warst du überhaupt dort?“
Sie musterte den schweigenden Mann vor sich und riss plötzlich angsterfüllt die Augen auf.
„Hast du etwa was damit zu tun?“
Luca erwiderte ihren ängstlichen Blick mit finster zusammengezogenen Brauen und schüttelte mit einem verächtlichen Grunzen den Kopf.
„Du weißt echt gar nichts, was?“ Hanna blinzelte.
„Wissen? Was weiß ich nicht?“
Aber Luca winkte nur ab und erwiderte mürrisch:“Das soll dir der Meister selber sagen, wenn er kommt. Ich hab´ keine Lust dir was zu erklären, es reicht mir schon, dass ich hier den Aufpasser spielen muss.“
Hanna wollte aufspringen, aber ihre Beine waren immer noch wacklig und sie wäre wieder gestürzt, wenn er nicht rasch zugefasst hätte.
„Verdammt! Bleib´ doch endlich mal sitzen, oder leg´ dich hin, bis du wieder fit bist!“ grollte er. „Du hättest dein Feuer nicht einsetzen sollen, du hast es eh´ noch nicht im Griff und jetzt wird es Stunden dauern, bis du wieder allein stehen oder laufen kannst!“
Bei seinen Worten durchzuckte eine verschwommene Erinnerung Hannas Geist.
Sie sah Feuerzungen, die aus ihrem eigenen Körper zu kommen schienen und von Luca mit einer einzigen Handbewegung weggewischt wurden. Sie runzelte die Stirn, bei dem Versuch, sich auf die Bilder zu konzentrieren.
War das wirklich passiert?
Doch wohl kaum. Wie sollte so etwas möglich sein? Sie konnte doch kein Feuer spucken, oder?
Aber hatte Luca nicht gerade von "ihrem Feuer"

gesprochen?
Sie hielt ihren Kopf mit beiden Händen.
In was für einen Alptraum war sie hier bloß geraten? Das hatte doch mit der Realität rein gar nichts mehr zu tun! Bestimmt war sie auf dem Nachhauseweg an ihrem Lieblingsplatz am Fluss eingeschlafen und träumte jetzt diesen ganzen Unsinn.
„Wach´ auf, Hanna! Los, wach´ auf!“ sagte sie halblaut, und Luca, der inzwischen auf dem Stuhl Platz genommen hatte, schnaubte spöttisch.
„Hoffst du, dass du alles nur träumst?“ Er verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen.
„Tja, da muss ich dich enttäuschen, Prinzessin. Es ist alles wahr.“
Sie starrte ihn an, und er beugte sich vor.
„Scheißgefühl, was?“ zischte er wütend, stand auf und verließ den Raum.
Hanna starrte ihm hinterher und verstand gar nichts mehr.
Was hatte er denn bloß gegen sie?
Was war überhaupt los?
Wo war sie hier?
Wer war dieser mysteriöse Meister, von dem Luca gesprochen hatte?
Warum versagten ihre Beine ihr den Dienst?
Und wieso erzählte ihr Luca nicht, was er wusste?
Aber vor allem – was war mit ihrer Mutter?
Lauter Fragen, auf die sie keine Antwort hatte.
Irgendwo wurde an eine Tür geklopft, und gleich darauf hörte sie Stimmen, die leise und ernst miteinander redeten. Sie lauschte, verstand aber kein Wort.
Dann wurde es still, und sie hörte Schritte von mindestens zwei Personen, die sich der angelehnten Tür näherten, hinter der sie auf dem Bett kauerte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Richtung, aus der die Schritte kamen.
Langsam schwang die Tür nach innen, und auf der Schwelle stand ein großer, schlanker Mann in einem grauen, gut geschnittenen Anzug. Genau wie Luca trug er einen Pferdeschwanz, jedoch war sein Haar von einem leuchtenden Blond, genauso wie der kurze, sorgfältig gestutzte Bart, der sein Gesicht und seinen Mund einrahmte.
Graue, intelligente Augen hinter einer randlosen Brille musterten das Mädchen auf dem Bett ernst, aber nicht unfreundlich, und in einer Hand hielt er eine Art schwarzen Gehstock mit einem goldenen Knauf.
Er war mit Sicherheit älter als Luca, Hanna schätzte ihn auf Mitte Dreißig, und er wirkte außerordentlich respekteinflößend.
Hinter ihm drängten sich zwei weitere Gesichter im Türrahmen.
Ein junges Mädchen, zierlich, rothaarig, mit großen dunklen Augen und ein Junge, mit braunen Locken und Sommersprossen, schoben sich an dem Blonden vorbei ins Zimmer und kamen zögernd auf Hanna zu.
Der Junge blieb stehen, wagte sich offenbar nicht weiter vor, doch das Mädchen lächelte sie herzlich an und streckte ihr die Hand hin.
„Hi! Du bist Hanna, nicht wahr? Wir haben schon viel von dir gehört! Mein Name ist Diana! Freut mich sehr, dich kennen zu lernen!“ Hanna ergriff überrumpelt die dargebotene Hand und schüttelte sie, während Diana auf den Jungen deutete und weiterredete.
„Das ist Jan. Er ist ein bisschen schüchtern, aber wenn du ihn erst etwas besser kennst, wirst du sehen, dass er ein toller Kumpel ist, nicht wahr, Jan?“
Der Angesprochene wirkte etwas verlegen, nickte aber lächelnd.
„Luca kennst du ja bereits,“ fuhr Diana fort, „und das ist Meister Christian. Im normalen Leben Baron Christian von Berching.“
Mit einer respektvollen Geste wies sie auf den Blonden, der noch immer in der Tür stand und bisher kein einziges Wort gesagt hatte.
„Es fehlen noch Alexander, Noah und Theresa. Die wirst du aber in den nächsten Tagen auch kennenlernen.“
Hanna wusste nicht, was sie erwidern sollte. Wer waren diese Leute?
Ihre Frage stand ihr vermutlich ins Gesicht geschrieben, denn jetzt trat der Baron vor und ergriff das erste Mal das Wort: „Guten Abend, Hanna. Ich nehme an, du verstehst nicht ganz, wer wir sind und was hier vorgeht?“
Seine kultivierte Sprechweise in Verbindung mit seiner angenehmen, warmen Stimme wirkte beruhigend auf Hanna und sie nickte.
Diana drehte sich ärgerlich zu Luca um, der lässig an der Wand lehnte, stemmte die Hände in die Seiten und fuhr ihn an:“Sag´ bloß, du hast ihr noch überhaupt nichts erzählt!?“
Der Angesprochene verschränkte seine Arme und zuckte unwirsch die Achseln.
„Reicht doch wohl, dass ich hier den Babysitter für sie spielen musste, oder? Ich bin nicht dafür zuständig, ihr zu erzählen, wie toll sie ist. Das überlasse ich gerne euch!“
Der Baron runzelte bei diesen Worten die Stirn und wies ihn zurecht:“Luca! Hanna gehört genauso zu uns wie alle anderen. Ich kann dir nicht befehlen, sie zu mögen, aber du bist für ihre Sicherheit verantwortlich. Es ist dein Job, für ihre Sicherheit zu sorgen, ob du es nun gern tust, oder nicht! Du bist unser bester Krieger, also enttäusche mich nicht.“
Luca sagte nichts darauf, aber Hanna konnte sehen, dass er die Zähne aufeinanderbiss. Einen Moment lang erwiderte er den Blick des Älteren, dann stieß er sich von der Wand ab, rammte die geballten Fäuste in die Taschen und verließ den Raum.
Der Blonde wandte sich nun wieder Hanna zu. Mit dem Gehstock wies er auf den Stuhl und fragte:“Macht es dir etwas aus, wenn ich mich setze?“ Sie schüttelte etwas benommen den Kopf, und er ging hinüber und setzte sich. Dann schlug er die Beine übereinander und stellte ihr als Erstes eine seltsame Frage: „Glaubst du an Gott und den Himmel, Hanna?“
Überrascht stutzte sie kurz und antwortete dann:“Ja, eigentlich schon. Meiner Mutter hat mich ziemlich religiös erzogen. Aber manchmal frage ich mich schon, ob das alles so stimmt, was in der Bibel steht oder von der Kanzel gepredigt wird. “
Baron von Berching nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
„Da geht es dir, wie vielen anderen jungen Leuten auch. Und die allermeisten von ihnen verbleiben ihr ganzes Leben lang in diesem Zustand bis sie alt werden und sterben. Aber bei dir ist die Lage etwas anders, denn du, Hanna, bist ein lebender Beweis für die Existenz Gottes.“
Er machte eine Pause, fixierte sie mit seinen grauen Augen und Hanna schluckte.
Sollte das ein Scherz sein?
Aber er ließ ihr keine Zeit zu überlegen oder Fragen zu stellen, sondern redete rasch weiter.
„Du trägst eine gewaltige Macht in dir, schon seit dem Tag, an dem du gezeugt wurdest. Bis jetzt hat diese Macht geschlummert, aber heute hat sie sich zum ersten Mal gezeigt. Wir nennen diese Kraft "das Göttliche Feuer"

. Um dir zu erklären, was es damit auf sich hat, muss ich ein wenig ausholen. Wir,“ er machte eine Geste mit der Hand, die Jan, Diana und vermutlich auch Luca einschloss, „sind Mitglieder des Ordens der Armoritaner. Das ist ein sehr alter Orden, der im Geheimen arbeitet und dessen Aufgabe die Bekämpfung und Vernichtung von Dämonen ist. Ich weiß, das klingt unglaublich.“ sagte er lächelnd, als Hannas Miene von Überraschung über Skepsis, hin zu purem Unglauben wechselte. „Aber ich kann dir versichern, es gibt sie tatsächlich, überall um uns herum. Sie sind Meister der Tarnung und der Verstellung und deshalb oft schwer zu erkennen. Natürlich kann ein Mörder oder Vergewaltiger dazugehören, aber genauso gut auch der nette Nachbar von nebenan, oder das süße, kleine Mädchen auf der Straße.“ Er sah sie ernst an.
„Dazu musst du wissen, dass die gewöhnlichen Dämonen, mit denen wir es normalerweise zu tun haben, einen Menschen als Wirt benötigen. Menschliche Schwächen sind es, die ihnen einen Zugang ermöglichen. Sie nutzen diese Schwächen, verführen die Menschen und vergrößern auf diese Weise die kleinen Risse in der menschlichen Seele, bis sie hineinschlüpfen und das Opfer übernehmen können. Leider gelingt es uns nicht immer, den befallenen Menschen zu retten.“
Er sah bekümmert drein, und Hanna fragte sich, ob er wirklich an all das glaubte, was er da erzählte. Aber er fuhr bereits fort.
„Deshalb ist der Sucher für uns auch von enormer Wichtigkeit. Er hat die Fähigkeit, die Energieströme, die uns umgeben aufzuspüren, ihre Kraft in sich aufzunehmen und für sich zu nutzen. Jeder Mensch ist Teil dieser Ströme, er gibt Energie ab und bekommt auch gleichzeitig welche zurück. Es ist eine Art lebendiger Kreislauf. Wurde ein Mensch aber von einem Dämon übernommen, nimmt er nur noch und gibt nichts mehr ab. Er ist wie eine Art schwarzes Loch, in dem die Energie versickert. Und der Sucher kann das fühlen. DU kannst das fühlen! Wann immer einer von ihnen in deiner Nähe ist, wirst du es wissen. In Zukunft wird es deine Aufgabe sein, die Mitglieder des Ordens bei der Jagd auf Dämonen zu unterstützen. Dein Feuer kann die Dämonen austreiben, ohne dass der Mensch Schaden nimmt. Denn du bist die neue Sucherin, Hanna.“
Die grauen Augen musterten sie eindringlich, und er wartete offenbar auf eine Reaktion von ihr.
Hanna schwirrte der Kopf. Das war doch alles gar nicht möglich! So etwas gab es doch gar nicht! Er musste verrückt sein, oder? Andererseits wirkte er nicht verrückt.
Aber das war ja kein Maßstab, nicht wahr? Selbst komplett durchgeknallte Serienmörder hatten schon völlig unauffällig unter ihren Mitmenschen gelebt.
Und überhaupt - was hatte sie mit diesem seltsamen Orden zu schaffen? Da lag sicher eine Verwechslung vor. Außerdem hatte sie gar keine Zeit sich mit diesem Unsinn auseinander zu setzen, sie musste endlich die Polizei benachrichtigen, damit die nach ihrer Mutter suchten!
„Es tut mir leid,“ sagte sie so ruhig wie möglich, „aber ich weiß wirklich nicht, wovon Sie da reden. Ich kann mir das jetzt nicht weiter anhören, ich muss unbedingt die Polizei anrufen! Meine Mutter ist verschwunden und unsere Küche war total verwüstet, vielleicht ist ihr was zugestoßen, also ...“
Weiter kam sie nicht, denn Baron von Berching war aufgestanden und zu ihr getreten. Als er vor ihr stand, ließ er sich in die Hocke nieder und nahm ihre Hand.
„Hanna!“ sagte er. „Deine Mutter wurde von einem Dämon übernommen. Wir haben ihre menschlichen Schwächen unterschätzt und zu lange darauf vertraut, dass dein Aufenthaltsort geheim ist. Da sich bei dir bisher noch keinerlei besondere Fähigkeiten gezeigt hatten, waren wir uns nicht sicher, ob du die Richtige bist und ließen dich mit Luca als einzigem Schutz zurück. Außerdem wollten wir nicht zu viel Präsenz zeigen, um sie nicht erst recht auf dich aufmerksam zu machen. Das war wohl ein Fehler. Wie es scheint, war sich die Gegenseite deiner Identität ziemlich sicher. Und nachdem sie dich heute Nachmittag nicht erwischen konnten, haben sie sich deine Mutter geholt.“
Hanna riss die Augen auf und zog ihre Hand aus seiner.
„Was? Meine Mutter soll von einem Dämon übernommen worden sein? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht! Was reden Sie hier überhaupt für einen Unsinn? Glauben Sie das alles etwa echt? Dann sollten Sie sich mal den Kopf untersuchen lassen! Und die da?“ Sie deutete auf Diana und Jan. „Haben Sie die mit ihrem Quatsch angesteckt? Ist das hier ´ne Art Sekte oder so?“
Sie krabbelte rückwärts über das Bett und wollte auf der anderen Seite aufstehen, um zur Tür zu flüchten.
Weg! Nur weg von hier!
„Hanna!“ Baron von Berching erhob sich und sie schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und stakste unbeholfen Richtung Tür. Noch immer waren ihre Beine schwach und trugen sie kaum, aber sie biss die Zähne zusammen, um den Anwesenden kein Schauspiel zu bieten.
Diana kam langsam mit erhobenen Händen auf sie zu, doch sie wich ihr aus.
„Hanna, bitte! Hör´ mir zu!“ bat das rothaarige Mädchen, doch Hanna wollte nichts hören und strebte weiter auf die Tür zu. Aber kurz bevor sie sie erreichte, wurde sie aufgestoßen, und wie ein Zerberus stand plötzlich Luca groß, dunkel und feindselig im Türrahmen und blockierte den einzigen Weg nach draußen.
Was nun?
Sie wich zurück und streckte die Hände in einer abwehrenden Geste vor sich aus.
„Lasst mich in Ruhe! Ich hab´ zwar keine Ahnung, was hier läuft, aber Ihr erwartet doch wohl nicht, dass ich Euch diesen ganzen Quatsch abkaufe? Dämonen? Energieströme? Ich bin doch nicht blöd! Ihr verarscht mich!“
Im Bestreben sowohl Luca als auch den Anderen auszuweichen, war sie immer weiter rückwärts gegangen und stieß jetzt an die Wand des Zimmers.
Luca hatte zwar einen Schritt in den Raum hinein gemacht, war dann aber auf einen Wink des Barons stehen geblieben. Auch die Anderen hielten Abstand, und der Blonde ergriff erneut das Wort.
„Hanna!“ Seine Stimme war sanft, aber eindringlich. „Ich weiß, das ist alles ein bisschen viel auf einmal. Ich hätte dir das gern schonender beigebracht, aber die Zeit drängt! Etwas Großes steht bevor, und wir brauchen die Macht der Sucherin auf unserer Seite!“
Hanna hob die Hände an die Ohren und schüttelte heftig den Kopf. „Hören Sie auf mit diesem Unsinn! Ich will das nicht hören! Das ist doch alles Blödsinn! Meine Mutter ...“
Weiter kam sie nicht, denn plötzlich fiel ihr Luca ins Wort: „Sie war nicht deine Mutter! Sie hatte lediglich den Auftrag, dich aufzuziehen und auf ein Leben im Orden vorzubereiten! Mehr nicht! Deine echte Mutter war eine Dienerin des Ordens und dein Vater...“
„Luca!!!“ donnerte der Baron, und der Schwarzhaarige verstummte. Trotzig warf er von Berching einen finsteren Blick zu und knurrte: „Was? Erst beschwert Ihr Euch, dass ich ihr nichts erzählt habe und jetzt ist es so auch nicht richtig? Entscheidet Euch mal, was ihr wollt!“
Erneut verschränkte er die Arme vor der Brust und sah mürrisch von Einem zum Anderen, bevor er zurücktrat und die Bühne wieder den Anderen überließ.
Hanna stand mit weit aufgerissenen Augen an der Wand und sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Ihr Blick ging in die Ferne, und es war offensichtlich, dass Lucas Eröffnung ihr einen Schock versetzt hatte. Baron von Berching trat langsam und vorsichtig auf sie zu, als wäre sie ein verschrecktes Tier und redete beruhigend und mit leiser Stimme auf sie ein.
„Es wird alles gut, Hanna, glaub´ mir! Alles wird gut!“ Schließlich hatte er sie erreicht und legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern. Wie in Trance ließ sie sich zum Bett zurück führen und sank mit seltsam hölzernen Bewegungen darauf. Da drängte sich Diana vor.
„Männer!“ sagte sie verächtlich. „Lassen Sie mich das machen, Meister! Bitte! Gehen Sie von mir aus so lange nach nebenan! Sie sehen doch, dass sie total geschockt ist, oder? Du auch, Du Grobklotz!“ fuhr sie Luca wütend an und scheuchte dann die drei Männer ins Nebenzimmer.
Anschließend schloss sie die Tür und kam zurück zu Hanna, die sich noch nicht gerührt hatte. Sie kniete sich auf den Boden neben das Bett, fasste sanft nach der Hand des dunkelhaarigen Mädchens und sah zu ihr auf.
„Hanna!“ sagte sie leise, aber nachdrücklich und wiederholte es noch einmal, bis die Andere den Kopf drehte und ihren Blick erwiderte.
„Wie der Baron schon gesagt hat, ich weiß, das ist eine Wahnsinnsgeschichte und schwer zu akzeptieren, aber bitte – glaub´ mir! Es ist wirklich alles wahr! Wir haben nicht sehr viel Zeit, aber ich werde dir deine Fragen beantworten, wenn du das möchtest. Zumindest werde ich dir alles sagen, was ich weiß! Ich werde dich nicht anlügen! Das verspreche ich Dir! Okay?“
Hanna nickte, während ihr eine einzelne Träne über die Wange rollte. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sie fort und fragte: „Das mit meiner Mutter, stimmt das?“
„Das sie zum Orden gehörte? Ja. Die Frau, die du für Deine Mutter gehalten hast, steht dem Orden nahe, war aber kein Mitglied. Das musste sein, damit die Gegenseite nicht erfuhr, wer du bist. Hätte man Dich im Orden aufwachsen lassen, wärst du ständig in Gefahr gewesen. Dein Vorgänger ist im Orden groß geworden und mit 17 einem der Anschläge der Gegenseite zum Opfer gefallen. Auch wenn es bis heute nur eine Möglichkeit war, dass du die Sucherin bist, wäre die Gefahr zu groß gewesen. Es gibt noch zwei andere Kandidaten, auch sie leben bei Pflegeeltern, aber auch bei ihnen gab es bisher keine Anzeichen für außergewöhnliche Fähigkeiten. Jetzt jedoch, wo Du aus eigenem Antrieb heraus göttliches Feuer produziert hast, ist kein Zweifel mehr möglich: Du bist die neue Sucherin!“
„Noch zwei Kandidaten? Was soll das bedeuten?“ Hanna runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht.“
Diana seufzte leise und sagte: „Vielleicht ist es am besten, wenn ich dir zuerst alles erzähle, was ich weiß, und dann stellst du deine Fragen? Sonst ist es wohl doch zu verwirrend. Also, pass auf – was der Sucher ist, hat dir der Baron ja schon gesagt. Seine Macht wird immer in der gleichen Blutlinie weitergegeben. Wenn ein Sucher stirbt, wird seine Seele innerhalb eines Jahres wiedergeboren. Und zwar immer in der gleichen Familie.“
Sie machte eine Pause und sah Hanna in die Augen. „In der Familie der von Berchings. Der Sucher oder die Sucherin entstammt immer ihrem Geschlecht. Als der letzte Sucher starb, wurden innerhalb der nächsten zwölf Monate drei Kinder geboren, die in Frage kamen. Um ihre Identität zu schützen übergab man sie vertrauenswürdigen Leuten, die sie als ihre eigenen Kinder ausgaben und großzogen. Für gewöhnlich zeigen sich die Fähigkeiten des Suchers erstmalig in der Pubertät. Du bist jetzt 16, oder?“
Hanna nickte mit blassem Gesicht. „Du sagst, der Sucher entstammt immer der Familie des Barons? Heißt das, auch ich...?“
Diana lächelte und bestätigte: „Ja, Hanna. Ich weiß nicht, ob er mir dafür den Kopf abreißt, wenn ich dir das jetzt schon sage, aber du bist eine Halbschwester unseres Großmeisters. Sein Vater war der Damenwelt nicht abgeneigt und zeugte einige uneheliche Kinder, selbst noch in fortgeschrittenem Alter, und du bist eines davon. Das ist auch einer der Gründe, warum er nie Großmeister wurde, sondern der Titel direkt vom Großvater auf den Enkel überging.“ fügte sie murmelnd hinzu.
Hanna schwirrte der Kopf, sie sah auf und sagte: „Und – ich träume das wirklich nicht?“
Diana schüttelte den Kopf und tätschelte ihr beruhigend die Hand. „Nein, Süße. Du bist wach und alles passiert wirklich! Glaub´ mir, ich kann dir gut nachfühlen, wie du dich jetzt fühlst. Ich bin selbst nicht im Orden geboren worden, sondern wurde wegen meiner Fähigkeiten vor drei Jahren rekrutiert. Ich dachte auch zuerst, ich hätte Halluzinationen, als diese Typen auf mich zu kamen und mir was von Dämonen und so weiter erzählten.“ Sie lachte, und über Hannas Gesicht zog zum ersten Mal ein schwaches Lächeln. Diana strich ihr über den Rücken und meinte: „Na, siehst du, so gefällst du mir gleich viel besser!“ Daraufhin wurde Hanna rot und sah in ihren Schoß, doch dann fiel ihr noch eine Frage ein. „Warum ist Luca eigentlich so … ich weiß nicht, aber - hat er was gegen mich?“
Diana hob die Augenbrauen. „Luca? Keine Ahnung, was mit dem los ist! Das hat nichts mit dir zu tun, Süße! So ist er immer! Man könnte glatt meinen, er isst Reißnägel zum Frühstück, und dann liegen sie ihm quer im Magen!“ schnaubte sie. „Ernsthaft! Solange ich ihn kenne, habe ich ihn noch nicht anders erlebt als so. Im Orden laufen schon Wetten darüber, ob er überhaupt lachen kann. Aber wie auch immer - nimm es dir nicht zu Herzen. Von seiner Laune abgesehen ist er der fähigste Krieger, den der Orden hat, obwohl er noch so jung ist. Also – egal, wie er sich aufführt, ich würde ihm jedenfalls bedingungslos mein Leben anvertrauen, und du kannst das auch! Er war übrigens in den letzten Wochen immer in Deiner Nähe, auch wenn Du ihn nicht bemerkt hast. Ihm wurde die Aufgabe übertragen, dich zu beschützen und nimmt das sehr ernst.“
Luca hatte sie beschützt?
Er war die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen?
„Was – immer? Tag und Nacht? Wie das denn?“
Diana lachte und erwiderte: „Du darfst nicht vergessen, dass er ein ausgebildeter Krieger ist. Man sieht ihn nur, wenn er es will.“ Hanna errötete, denn sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte, wenn Diana sagte Luca sei IMMER in ihrer Nähe gewesen. Hieß das, er hatte sie gesehen, wenn sie schlief, oder - noch schlimmer – wenn sie sich auszog?
„Nun, ich nehme an, er hat in deinem Zimmer geschlafen, aber keine Angst, er wirkt zwar nicht so, aber er ist zumindest in diesen Dingen ganz Gentleman!“
Verwirrt runzelte Hanna die Stirn, als Diana das sagte. Hatte sie gerade laut gedacht?
Gleich darauf erinnerte sie sich an den Moment, als Luca am Nachmittag in die Diele ihres Elternhauses gekommen war, wie ein bedrohlicher schwarzer Schatten.
Sie sah wieder die merkwürdigen Flammenzungen vor sich und fragte weiter: „Als er heute in meinem Zuhause auf mich zukam, da habe ich ...etwas gemacht ... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll... da war Feuer und es schien aus mir zu kommen. War das dieses göttliche Feuer

?“
Diana nickte und Hanna fuhr fort. „Ich habe Luca irgendwie damit angegriffen, glaube ich. Aber ihm ist nichts passiert, er hat es einfach... weggewischt? Wenn dieses Feuer so eine mächtige Waffe ist, wieso hat es ihn nicht verletzt?“
Die Rothaarige stand vom Boden auf und setzte sich neben Hanna, bevor sie antwortete: „Luca gehört zum Orden. Er ist geläutert, also macht ihm das Feuer nichts aus. Es schadet nur Dämonen und treibt sie aus. Das wird unsere mächtigste Waffe sein in der nächsten Zeit!“ Sie legte Hanna eine Hand auf den Arm, und ihre Augen leuchteten, doch die sah sie zweifelnd an und überlegte weiter.
„Könnte ich damit also auch den Dämon aus meiner Mutter austreiben?“
„Vermutlich.“ Diana zog leicht die Augenbrauen zusammen. „Aber bei allem Verständnis, Süße, das ist nicht deine Hauptaufgabe! Wenn du die Gelegenheit bekommst, deiner Mutter zu helfen, dann tu´ es ruhig, aber das darf nicht dein einziger Antrieb sein! Deine Mutter wurde entführt, weil sie dein Schwachpunkt ist. Sie werden versuchen, dich irgendwie mit ihr zu erpressen, aber du darfst dich nicht davon beeindrucken lassen! Wie Meister Christian schon gesagt hat – etwas Großes steht bevor! Wir wissen nicht, worum es geht, aber es tauchen in letzter Zeit immer mehr Dämonen in immer kürzerer Zeit auf. Sie haben irgendetwas vor, und wir müssen herausfinden, was es ist. Dafür brauchen wir Dich und Deine Macht! Ehrlich gesagt, hat sich der Sucher in Dir gerade zur rechten Zeit gezeigt.“
Hanna sah ihr in die Augen und fühlte einen Knoten der Angst in ihrem Magen. Diese Leute setzten ihre gesamte Hoffnung in sie, und dabei hatte sie doch gar nichts getan, um das zu rechtfertigen. Das Ganze erschien ihr genau genommen immer noch wie ein böser Traum.
„Diana, ich ...“ begann sie zögernd. „Ich weiß doch gar nicht, wie ich das gemacht habe mit dem Feuer. Es war einfach plötzlich da! Ich fürchte, ich werde Euch keine große Hilfe sein! Ich bin auch nicht mutig oder so, ich bin … ich bin einfach nur … Hanna!“ Mit einer resignierten Geste warf sie die Hände in die Luft. Das andere Mädchen lächelte und stützte sich auf einen Arm, während sie die Dunkelhaarige musterte.
„Einfach nur Hanna? Das ist in Ordnung, glaub´ mir. Und was Dein Feuer angeht – keine Sorge, das lernst Du schnell, davon bin ich überzeugt. Du wirst noch heute Nacht mit uns ins Haus des Ordens gehen und dort wird man Dir beibringen, das Feuer zu beherrschen! Dann wird es Dich auch nicht mehr unnötige Kraft kosten!“
Plötzlich drehte sie den Kopf, als hätte sie etwas gehört, obwohl kein Laut aus dem Nebenzimmer drang. Dann stand sie auf und machte eine Geste mit dem Kopf in Richtung Tür. „Es wird Zeit, wir müssen gehen. Komm´! Alles Weitere erfährst du im Ordenshaus!“

Zehn Minuten später saß Hanna mit dem Baron und Luca auf dem Rücksitz einer dunklen Limousine, die trotz der hohen Geschwindigkeit beinahe lautlos durch die Dunkelheit glitt.
Am Steuer saß Jan und neben ihm Diana. Alle schienen angespannt und diese Anspannung legte sich nicht, bis sie nach einer Fahrt von etwa einer Stunde Dauer durch ein schmiedeeisernes Tor in eine kiesbestreute Auffahrt einbogen. Trotz der Finsternis konnte Hanna sehen, dass sie auf ein großes und offenbar sehr altes Schloss zufuhren. In der Dunkelheit war nicht viel mehr zu erkennen, als eine düstere Silhouette vor dem schwarzblauen Nachthimmel, dennoch war so schon zu erahnen, dass das Bauwerk riesig war. Zwei mächtige, zinnenbewehrte Türme hoben sich über dem gedrungenen, von einer hohen Mauer umgebenen Hauptgebäude empor und weckten in Hanna Erinnerungen an die Märchen ihrer Kindheit. Inzwischen war sie mehr als müde, und nachdem der Wagen hielt und alle ausstiegen, war sie vor Erschöpfung ganz wacklig auf den Beinen. Diana hakte sie unter und führte sie eine imposante Freitreppe hinauf, an deren oberem Ende eine breite Doppeltür einladend offen stand. Altmodische Laternen brannten links und rechts neben dem Portal, und sie fühlte sich beinahe in einen Mantel- und Degenfilm versetzt, als sie eine gigantische Halle betrat, deren Wände mit dunklem Holz getäfelt und mit unzähligen Gemälden bestückt waren. Die hohe Decke verschwand über ihr in der Finsternis, und am Fußende der Treppe wurden sie von einem livrierten Diener erwartet, der eine ehrerbietige Verbeugung machte, als der kleine Trupp sich näherte.
Der Baron drückte ihm seinen Stock in die Hand und sagte: „Ludwig, darf ich dir Fräulein Hanna vorstellen? Sie ist das neue Mitglied, das wir abholen wollten. Ich nehme an, ihre Räumlichkeiten sind vorbereitet?“
Sein Tonfall war freundlich, doch man merkte, dass er gewohnt war zu befehlen und auch daran, dass seine Befehle ausgeführt wurden.
Der Diener verbeugte sich ein weiteres Mal und erwiderte: „Sehr wohl, Euer Gnaden. Ich habe mir erlaubt, einen kleinen Imbiss für die junge Dame auf ihr Zimmer bringen zu lassen.“
„Sehr gut, Ludwig! Vorrausschauend wie immer!“ meinte von Berching und wandte sich dann an seine Begleiter.
„Diana, vielleicht möchten Sie Hanna noch kurz auf ihr Zimmer begleiten? Wie ich annehme, ist sie sehr müde und möchte sich gewiss gern zurückziehen. Ich erwarte Sie dann anschließend im Salon!“
Tatsächlich war Hanna froh, dass das rothaarige Mädchen ihr aufmunternd zulächelte und dann gemeinsam mit ihr hinter dem Diener die breite Treppe hinaufstieg.
Der Weg, den sie nahmen, nachdem sie die Galerie hinter sich gelassen hatten und in die Flure des Schlosses eintauchten, war zu verwirrend, als dass sie ihn sich hätte merken können. Allein würde sie vermutlich nie wieder nach unten finden!
Doch endlich öffnete der Diener mit einer leichten Verbeugung eine Tür, und dahinter lag ein riesiges Schlafzimmer mit heller Täfelung und einem gigantischen Himmelbett, dessen Anblick ihr zunächst die Sprache verschlug.
Das Möbelstück war derart mit Vorhängen, Rüschen und Spitzen in Pastellfarben behängt, dass man mehr das Gefühl hatte, ein historisches Schiff unter vollen Segeln vor sich zu sehen, als ein Bett.
„Da drin soll ich schlafen?“ Hanna stand der Mund ungläubig offen. Diana grinste angesichts ihrer Miene. „Sieht ganz so aus. Aber vielleicht solltest du vorher noch was essen?“ Sie wies hinüber zu einem kleinen Tischchen vor einem zierlichen Sofa, auf dem ein abgedecktes Tablett stand, ging hin und zog das Leinentuch weg. Darunter kam ein Teller mit kaltem Braten, Käse und ein paar Scheiben Brot zum Vorschein. Dazu eine kleine Schüssel mit Salat, eine Karaffe mit Saft und das benötigte Geschirr und Besteck.
„Hmm, sieht lecker aus.“ meinte Diana, griff sich mit spitzen Fingern eine hauchdünn geschnittene Scheibe Fleisch und stopfte sie sich in den Mund. Hannas Magen knurrte vernehmlich, als der Duft des kalten Bratens in ihre Nase stieg. Sie kam herüber und setzte sich, um zu essen.
„Tut mir leid, es roch so gut!“ entschuldigte sich die Rothaarige, während sie sich die Finger ableckte.
„Wenn der Baron mich jetzt sehen könnte, würde er wieder über meine Manieren schimpfen!“ kicherte sie und Hanna stimmte ein.
Sie hatte inzwischen Zutrauen zu Diana gefasst und war bereit, so etwas wie eine Vertraute in ihr zu sehen. Vielleicht konnten sie ja sogar Freundinnen werden?
Ihre gesamte Welt war an diesem Tag in sich zusammengebrochen, die Grundfesten ihrer Existenz waren bis ins Mark erschüttert worden, und sie sehnte sich nach Halt.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, setzte sich Diana neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
„Keine Bange, Hanna! Du bist nicht allein! Wir sind alle für Dich da! Jetzt ist noch alles neu und fremd für Dich, aber in ein paar Tagen sieht das schon anders aus, glaub´ mir!“ Sie drückte ihr bekräftigend den Arm und erhob sich. „Ich muss nach unten. Sie rufen mich schon.“ sagte sie und Hanna stutzte. Rufen? Wer rief hier?
Sie hörte nichts, doch Diana war schon an der Tür und drehte sich gerade noch einmal um. „Schlaf gut, Süße! Soll ich dich morgen früh zum Frühstück abholen?“ Hanna nickte, und schon war sie zur Tür hinaus.
Seufzend machte sie sich über das Essen her, und weil es tatsächlich fantastisch schmeckte, hörte sie erst auf zu essen, als sie alles bis zum letzten Krümel verputzt hatte. Während sie ihr Saftglas leerte, blickte sie sich mit müden Augen im Raum um und betrachtete die breite Kommode, die auf zierlich gedrechselten Füßen stehend eine halbe Wand einnahm, den schmalen Frisiertisch mit dem zugeklappten Spiegel gleich daneben, den altmodischen Schreibtisch mit den vielen kleinen Fächern und das Bücherregal, welches eine Menge großer und augenscheinlich alter Bücher enthielt. Eine Tür neben der Kommode erweckte ihre Aufmerksamkeit, und sie ging hinüber, um nachzuschauen, was sich dahinter verbarg. Wie sie beinahe erwartet hatte, handelte es sich um ein Badezimmer, komplett mit Dusche, Wanne und allem was das Herz begehrte.
Sollte sie noch duschen? Nein, entschied sie, sie war zu müde und verschob es daher auf den nächsten Tag. Nachdem sie ihr Glas abgestellt hatte, schritt sie über den weichen Teppich zum Bücherregal hinüber und versuchte die Titel auf einigen der ledernen Rücken zu entziffern.
Doch die verschnörkelten Buchstaben tanzten vor ihren Augen, und sie gab es auf. Stattdessen wandte sie sich dem Ungetüm von Bett zu. Hätte sie eine Wahl gehabt, hätte sie sich ganz sicher kein solches Bett ausgesucht. Sie hasste Rüschen und Spitzen, schon solange sie denken konnte. Doch jetzt gerade war sie so müde, dass sie beschloss, über ihren Schatten zu springen.
Da fiel ihr auf, dass sie keinen Schlafanzug hatte. Was sollte sie während der Nacht tragen?
Nackt mochte sie in dem fremden Haus nicht schlafen. Schließlich zuckte sie die Achseln, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und schlug die Decke zurück. Zu ihrer Überraschung fand sie darunter einen schlichten weißen Schlafanzug aus einem dünnen Stoff, der wie sie überrascht feststellte ziemlich genau ihre Größe hatte. Ohne weiter darüber nachzugrübeln, schlüpfte sie rasch hinein und kroch unter die Decke. Mit einer Hand löschte sie das Licht und war kurz darauf eingeschlafen.

Ein Stockwerk tiefer saßen unterdessen ihre vier Begleiter mit ernsten Mienen zusammen in einem heimeligen Salon, tranken Tee und besprachen die Lage. Genau genommen saßen drei von ihnen zusammen, und Luca stand wie üblich mit finsterem Gesicht und überkreuzten Armen an die Wand gelehnt und schwieg, während er zuhörte, was die Anderen sagten.
Baron von Berching rührte in seinem Tee und sagte mit besorgter Stimme: „Ich bin mir nicht sicher, ob wir richtig gehandelt haben. Hanna ist noch sehr jung, und sie war bis heute komplett ahnungslos. Wenn wir sie überfordern, ist weder ihr noch uns damit gedient. Andererseits haben wir nicht wirklich eine Wahl. Die Anzahl der Dämonen steigt ständig, und wir werden allein nicht mehr damit fertig, selbst wenn wir alle Kräfte mobilisieren, die wir haben. Wir brauchen ihre Fähigkeiten und zwar bald. Wenn wir nur wüssten, was die Anderen planen! Außerdem hat der Angriff auf sie, von dem Luca uns eben erzählt hat und die Entführung ihrer Mutter deutlich gezeigt, dass sie dort draußen nicht mehr länger sicher war.“
Diana hob den roten Schopf und meinte: „Naja, das war zwar alles ein bisschen heftig, das gebe ich ja zu, aber ich finde, sie hält sich ganz gut bis jetzt. Sie ist weder hysterisch geworden, noch hat sie den Kopf verloren. Das spricht doch für sie, oder nicht? Ich glaube, sie wird es schaffen!“
„So, glaubst du!“ meldete sich Luca sarkastisch zu Wort. „Wenn du mich fragst, sind wir komplett verrückt, wenn wir uns auf dieses … Mädchen

... verlassen! Aber das habe ich Euch ja schon von Anfang an gesagt. Sie hat die Tragweite des Ganzen doch noch gar nicht richtig begriffen nach nur einem Tag! Außerdem haben wir keine Zeit zu warten, bis sie gelernt hat, ihr Feuer zu kontrollieren! Wer weiß, wie lange das dauert!? Da draußen braut sich was zusammen, und wir sitzen hier herum und hätscheln eine verwöhnte Göre, die sich nicht die Bohne für unsere Sache interessiert!“
„Wir hätscheln Hanna keineswegs, Luca!“ entgegnete der Baron scharf. „Und du hast nicht das Recht, sie als verwöhnt zu bezeichnen, denn das ist sie nicht im Geringsten! Wie du sehr wohl weißt, wurde sie von Schwester Gabriela aufgezogen, als wäre sie ihre leibliche Mutter und sie hat gute Arbeit geleistet! Hanna ist eine kluge junge Frau, und ich sage das nicht nur, weil sie meine Halbschwester ist. Ich bin sicher, sie wird das Vertrauen, dass wir in sie setzen am Ende rechtfertigen! Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass sie heute ihr Zuhause und den Menschen verloren hat, der ihr am wichtigsten war! Gabriela war für sie die einzige Mutter, die sie gekannt hat. Es ist nur natürlich, dass sie ihr helfen möchte. Ich fände es wesentlich bedenklicher, wenn es nicht so wäre, meinst du nicht auch? Es ist nun an uns, sie zu unterrichten und ihr zu zeigen, wie sie ihre Gabe richtig einsetzt. Sie muss ihre Berufung anerkennen, muss begreifen was von ihr abhängt, aber wir können ihr das nicht einfach so überstülpen! Sie muss es aus freien Stücken tun, muss es wollen! Wir können sie nur anleiten und ihr den Weg zeigen. Gehen muss sie ihn selbst.“


Weit entfernt vom Ordenshaus, in einem heruntergekommenen Industriegebiet, fand ebenfalls eine Zusammenkunft statt. Allerdings war weder die Örtlichkeit ansprechend, noch wurde Tee getrunken.
In einer leerstehenden Fabrikhalle trafen sich sechs Menschen, die eigentlich keine mehr waren und scharten sich um einen Siebten, der sie um Haupteslänge überragte und ihre Demutsbezeugungen hinnahm, wie etwas, was ihm zustand, bevor er mit hochmütigen Blicken auf die Frau herabsah, die vor ihm stand und mit hündischer Ergebenheit zu ihm aufblickte.
„Was soll das? Was bringst du mir da? Du solltest das Mädchen übernehmen, nicht die Mutter!“ herrschte er sie an und versetzte ihr einen Schlag, dass sie stürzte und ein gutes Stück weit über den schmutzigen Boden rutschte.
Sofort rappelte die Frau sich wieder auf und kroch auf allen Vieren zurück zu dem Großen, duckte sich in den Staub und flehte: „Gnade, Meister! Ich habe es versucht, aber das Mädchen wurde von einem Krieger beschützt! Darum habe ich stattdessen die Mutter übernommen und dachte mir, dass ich vielleicht auf diese Weise mein Ziel erreiche, sobald das Mädchen nach Hause kommt. Aber dann ist der Krieger wieder aufgetaucht, und sie benutzte plötzlich das göttliche Feuer! Dagegen kann ich nichts ausrichten und deshalb bin ich geflohen! Aber nun besteht zumindest kein Zweifel mehr – sie ist die Richtige! Und wir könnten die Mutter doch benutzen, um sie ein bisschen unter Druck zu setzen, oder nicht? Was glaubt Ihr, Meister, würde sie tun, wenn ich diesen Körper vor ihren Augen zwinge, sich selbst zu verletzen? Ich meine, richtig verletzen! Ein ausgestochenes Auge oder ein abgeschnittener Finger können manchmal Wunder bewirken, meint Ihr nicht auch?“
Die Stimme der Frau wechselte von flehentlich zu verführerisch, und der Angesprochene sah nachdenklich zu ihr hinunter.
„Meinetwegen. Aber wie kommst du an sie heran? Sie ist im Ordenshaus und du glaubst doch nicht etwa, dass diese verfluchten Armoritaner dich dort einfach hinein marschieren lassen?“
„Oh,“ die Frau lächelte lasziv, „das ist alles nur eine Frage der Argumente.“ Sie rieb Daumen und Zeigefinger in einer beredten Geste aneinander. „Nicht alle im Orden sind loyal, wie Ihr wisst und das können wir für unsere Zwecke ausnutzen. Und - wie heißt es doch so schön? Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten kommen!“
Der Meister sah über die Köpfe seiner Untergebenen hinweg und überlegte.
„Gut!“ sagte er dann. „Versucht es. Aber denkt besser daran, dass ich einen weiteren Fehlschlag nicht tolerieren werde. Und beeilt euch lieber! Sie mag ihr Feuer jetzt noch nicht kontrollieren können, aber mit jedem Tag der vergeht, wird das Risiko größer, dass sie es lernt!“ Er warf der vor ihm Knieenden einen scharfen Blick zu, und für einen Moment schienen seine dunklen Augen Tore in eine Finsternis zu sein, die weit mehr war, als nur die Abwesenheit von Licht. Danach drehte er sich ruckartig um und schritt mit klackenden Absätzen aus der Halle.


Hanna wälzte sich träge in dem gemütlichen, warmen Bett herum. Eine Hand hatte ihre Schulter berührt, doch es dauerte eine Weile, bis die schlaftrunkenen Nerven die Botschaft bis in ihr Hirn transportiert hatten.
Dann jedoch fuhr sie ruckartig im Bett hoch, denn es war nicht die liebevolle Berührung ihrer Mutter gewesen, die sie gespürt hatte. Die Hand, die jetzt rasch weggezogen wurde, war härter, kraftvoller und voller Ungeduld.
Als sie, die Bettdecke an sich pressend und mit jagendem Puls, die Augen aufschlug, blickte sie in Lucas mürrisches Gesicht und erschrak.
„Was willst du hier?“ rief sie. „Wie bist du hier reingekommen?“
Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
„Was denkst du denn, wie ich hier reingekommen bin? Durch die Tür natürlich! Und was ich will? Dich wecken! Es ist halb acht! Höchste Zeit aufzustehen! Oder willst du bis mittags schlafen? Die Anderen warten mit dem Frühstück auf dich, und danach fängt dein Training an!“ Sein Tonfall war feindselig und schroff wie immer, und er zog finster die Brauen zusammen. Dann verließ er das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Hanna atmete aus. Dieser Typ! Wie hatte sie ihn nur jemals attraktiv finden können? So was Ungehobeltes gab es doch kein zweites Mal! Mit welchem Recht behandelte er sie eigentlich wie ein lästiges Kind?
Wütend stieg sie aus dem Bett und stapfte barfuß ins Badezimmer um zu duschen.
Anschließend wickelte sie sich in eins der großen Badetücher, die auf einem Hocker bereit lagen und inspizierte ihre Kleidung vom Vortag.
Eigentlich widerstrebte es ihr, die Sachen noch einmal zu tragen, verschwitzt und schmuddelig, wie sie waren, aber sie hatte ja nichts anderes, oder?
Doch da kam ihr plötzlich ein Gedanke, und rasch öffnete sie die oberste Schublade der Kommode. Sie sah ihre vage Vermutung bestätigt, denn darin lag ordentlich verstaut nagelneue Unterwäsche, die ihr tatsächlich passte. Eine Lade tiefer fanden sich Jeans, T-Shirts und Blusen und in der untersten Schublade Strümpfe und Nachtwäsche. Offenbar wusste jemand ziemlich gut über sie Bescheid und hatte vorgesorgt. Hanna war nicht sicher, ob sie sich darüber freuen oder erschrecken sollte, beschloss aber, das Nachdenken darüber auf später zu verschieben.
Rasch stellte sie sich ein schlichtes Outfit zusammen und stand dann etwas ratlos vor der Tür.
Hatte Diana nicht gesagt, sie wollte sie abholen?
Doch da klopfte es auch schon, und im Türspalt tauchte ein roter Haarschopf auf.
„Guten Morgen!“ rief Diana fröhlich. „Können wir gehen?“
Hanna nickte dankbar und folgte ihr auf den Gang hinaus. Auf dem Weg nach unten sah sie sich um, in dem Bestreben, sich den Weg einzuprägen und ließ den Blick staunend über allerhand Kunstgegenstände wandern, die in den Fluren aufgestellt und an die Wände gehängt waren. Das Meiste davon waren historische Waffen und Gemälde, doch hier und da sah sie auch antike Vasen oder Marmorbüsten.
Durch deckenhohe Fenster fiel matte Helligkeit, und feine Stäubchen tanzten in der Luft, wirbelten durcheinander, wenn die Mädchen vorbeikamen und reflektierten die goldenen Sonnenstrahlen, die den Weg ins Treppenhaus gefunden hatten.
„Hast du gut geschlafen?“ fragte Diana, als sie am oberen Ende der großen Treppe anlangten und riss Hanna damit aus ihren Betrachtungen. „Was? Oh, ja – danke.“
„Schön!“ freute sich Diana, und sie liefen die Treppe hinunter, durch die Halle, wo ihre Schritte laut durch die ehrfurchtgebietende Stille hallten. Gleich darauf öffnete die Rothaarige eine Flügeltür, und sie standen in einem behaglichen Speisezimmer, mit einem großen Kamin und einem langen Tisch, der mit weißem Damast und erlesenem Porzellan gedeckt war. Die Wände waren mit beigefarbenen Seidentapeten bespannt, und vor den hohen, schmalen Fenstern zu beiden Seiten des Kamins standen auf niedrigen, weißen Marmorsäulen gigantische Farne in prunkvollen Töpfen. Natürlich hingen auch hier einige Gemälde an den Wänden, doch waren sie kleiner und wirkten schlichter als die, welche Hanna bisher gesehen hatte.
Auf dem Kaminsims tickten ein gutes halbes Dutzend aufwendig gearbeiteter Tischuhren um die Wette, und Hanna bemerkte erstaunt, dass jede eine andere Zeit anzeigte.
Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Tafel zu und errötete, als sie neben den bekannten Gesichtern zwei fremde erblickte, die ihr mit unverhohlener Neugier entgegensahen. Es handelte sich um zwei Jungen, unter deren Blicken sie sich sehnlichst ein Mauseloch herbeiwünschte, um darin zu verschwinden.
Der Baron, der am Kopfende gesessen hatte, erhob sich und begrüßte sie freundlich.
„Hanna! Guten Morgen! Ich hoffe, Du hattest eine angenehme Nacht?“
Sie nickte nervös und setzte sich rasch vor das letzte freie Gedeck, direkt neben einem der beiden unbekannten Jungen.
Von Berching nahm ebenfalls wieder Platz und gab Ludwig, der sich zusammen mit zwei Hausmädchen in schwarzen Kleidern und mit weißen Schürzen und Häubchen, diskret im Hintergrund gehalten hatte, ein Zeichen. Mit einem kaum merklichen Kopfnicken traten sie daraufhin näher, und alle Drei begannen, den Baron und seine Gäste zu bedienen. Jeder wurde einzeln nach seinen Wünschen gefragt und bekam seine Bestellung umgehend serviert.
Hanna war es peinlich, als eins der Hausmädchen zu ihr kam. Sie war es nicht gewöhnt, bedient zu werden und reckte etwas hilflos den Hals, um zu sehen, was alles auf dem Tisch am anderen Ende des Raumes stand, von dem die Bediensteten das Frühstück holten.
Da lehnte sich der Junge zu ihrer Rechten unauffällig zu ihr hinüber und sagte leise: „Falls du meinen Rat möchtest, versuch´ das Rührei und den Schinken. Damit kannst du nichts verkehrt machen.“ Er lächelte bei seinen Worten und Hanna sah schüchtern zu ihm auf.
Er war groß, selbst im Sitzen, und seine blonden Haare standen wild in alle Richtungen. Sein Gesicht war offen und freundlich und er musterte sie aus blitzenden, blauen Augen.
„Danke!“ flüsterte sie erleichtert, bat um Eier und Schinken, und das Hausmädchen brachte ihr einen Teller mit dem Gewünschten.
Der Blonde streckte ihr eine Hand hin und grinste.
„Ich bin Alexander.“ sagte er. Sie legte das Messer hin und ergriff die dargebotene Hand. „Hanna.“ sagte sie etwas verlegen.
„Du bist also die neue Sucherin, hm?“ Die Stimme kam von der anderen Seite des Tisches. Hanna blickte hinüber und schaute direkt in ein paar spöttische, graue Augen unter einer weißblonden Stachelfrisur. Ihr Besitzer war ein schlanker, feingliedriger Junge, mit einem zarten Gesicht, dessen gesamte äußere Erscheinung die Art von Vernachlässigung zur Schau stellte, die jeden Morgen mindestens eine Stunde sorgfältige Planung und gezieltes Zurechtmachen verlangte. Er musterte sie kühl, und Hanna kam sich vor, als stünde sie wie eine Ware zum Verkauf und werde abgeschätzt. Das Blut stieg ihr ins Gesicht, und sie beugte sich über ihren Teller, um seinen Blicken auszuweichen.
„Entspann´ dich, Noah!“ ertönte da Dianas Stimme. Sie saß zwei Plätze weiter und hatte anscheinend mitbekommen, was sich abspielte. „Sobald Hanna gelernt hat, auf sich selbst aufzupassen, bekommst du Luca zurück!“ grinste sie. „Dann kannst du dich wieder ganz exklusiv mit seiner schlechten Laune herumschlagen! Ich bin sicher, Hanna tritt ihn dir gern wieder ab, oder?“ Sie richtete einen gut gelaunten Blick auf das dunkelhaarige Mädchen und meinte dann: „Wo wir jetzt alle so nett zusammen sitzen, wäre es doch eine gute Gelegenheit, alle vorzustellen, damit Hanna weiß, mit wem sie es zu tun hat und einen ersten Überblick über unsere Arbeit bekommt!“
Leises Gemurmel erklang rund um den Tisch und Hanna war sich nicht sicher, ob es zustimmend oder genervt klang, doch sie wagte nicht zu widersprechen.
Der Baron machte dem ein Ende, indem er Dianas Vorschlag zustimmte.
„Das ist eine sehr gute Idee, Diana. Dann können Sie ja auch direkt anfangen, nicht wahr, meine Liebe?“ Er rührte in seiner Tasse und lehnte sich entspannt zurück.
Die Angesprochene nickte und wandte sich Hanna wieder zu.
„Also, wie ich heiße, weißt du ja schon, nicht wahr? Ich bin ein Schild und er,“ sie deutete auf Jan, der ihr gegenüber saß, „ist mein Schwert.“
Hanna sah verdutzt drein. Was hieß denn das nun wieder? Doch die Erklärung folgte auf dem Fuße.
„Wenn wir Dämonen bekämpfen, tun wir das immer in festen aufeinander eingespielten Zweier-Einheiten. Einer ist ein Krieger und der Andere sein Schutzschild. Also ist Jan der Krieger, und ich beschütze ihn beim Kampf, schirme ihn gewissermaßen ab. Bei Noah und Alexander ist es dasselbe, Alex ist der Krieger und Noah der Schild. Allerdings ist Noah momentan ein bisschen angepisst, weil er normalerweise mit Luca zusammenarbeitet und der wurde dir jetzt als Beschützer zugeteilt. Also muss er mit Alexander vorlieb nehmen, der erst seit kurzem bei uns ist.“
Hanna sah hinüber zu Luca, der schweigend am Tisch saß und kaute, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Also war das der Grund, dass er sich ihr gegenüber so feindselig gab?
Sie hörte Diana lachen. „Nein, Süße! Ich habe dir doch gestern schon gesagt, dass er immer so ist!“
Moment – diesmal war sie sich sicher, dass sie den Gedanken nicht laut geäußert hatte. Erstaunt riss sie die Augen auf, und Diana fügte hinzu: „Ja, ich geb´s zu, ich lese deine Gedanken.“ Sie sagte das völlig ungerührt, als wäre es das normalste von der Welt, doch Hanna verschluckte sich prompt und bekam einen Hustenanfall.
„Du … du liest … meine Gedanken?“ krächzte sie und Diana nickte. „Und nicht nur deine!“
„Aber keine Angst, ich bringe dir noch bei, dich vor solchen Einblicken abzuschirmen.“
„Und … haben hier noch mehr Leute iregendwelche besonderen Fähigkeiten?“ hörte Hanna sich fragen und wunderte sich, woher sie die Courage nahm.
„Nein.“ antwortete Luca unerwarteterweise. „Nicht, wenn man von der Fähigkeit absieht, einen Schutzschild zu wirken. Aber wie war das eigentlich – wolltest du heute noch was lernen, oder lieber quatschen?“
Hanna spürte plötzlich, wie Ärger in ihr brodelte. Was bildete er sich eigentlich ein? Okay, er war älter als sie und nach dem, was Diana gesagt hatte, der beste Krieger des Ordens.
Aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, sich aufzuspielen, als hätte er allein die Weisheit mit Löffeln gefressen! Sie gab ihrem Ärger nach, ohne lange zu überlegen. „Fürs Erste werde ich mein Frühstück aufessen, danke der Nachfrage.“ erwiderte sie spitz. „Wenn dir das zu lange dauert, kannst du ja in der Zwischenzeit einen Crashkurs in gutem Benehmen und Höflichkeit machen. Allerdings wirst du in dieser Zeit wohl nicht über die ersten Grundlagen hinauskommen, selbst wenn ich bis zum Abendessen hier sitzen bleibe!“
Schlagartig war es still am Tisch, und alle Anwesenden sahen von ihr zu Luca und wieder zurück.
Da erst kam ihr richtig zu Bewusstsein, was sie gerade gesagt hatte, und hastig schaufelte sie ihr restliches Ei in sich hinein, während die Spannung buchstäblich mit den Händen greifbar war.
Auf einmal kam ein merkwürdiges Geräusch aus Dianas Richtung. Hanna blickte auf und sah, dass das rothaarige Mädchen seine Serviette vor das Gesicht gehoben hatte und sich krampfhaft bemühte, nicht laut los zu platzen. Als sie jedoch Hannas Blick bemerkte, war es um ihre Fassung endgültig geschehen, sie ließ das Tuch sinken und lachte schallend los. Nach einem Moment stimmte Jan ein, dann kicherte auch Alexander, und sogar der Baron musste schmunzeln. Einzig Noah und Luca blieben ernst und schließlich schob Luca seinen Stuhl zurück und stand auf. Schweigend legte er seine Serviette auf den Tisch und verließ das Speisezimmer.
„Musste das sein?“ fragte Noah mit düsterer Miene. „Das war ja auch nicht gerade höflich, oder?“ setzte er hinzu.
Hanna öffnete schon den Mund um zu antworten, doch Diana kam ihr zuvor. „Ach komm`! Du weißt selbst, dass Luca das verdient hat! Er hat sich Hanna gegenüber gestern schon unmöglich benommen! Überhaupt ist es ganz gut, wenn ihm mal jemand zeigt, wo der Hammer hängt! Wer austeilt, muss auch einstecken können! Ehrlich, Süße,“ wandte sie sich wieder an Hanna, „das war sensationell!“
„Findest du?“ Hanna lächelte unsicher und fühlte sich ganz und gar nicht sensationell. Hoffentlich bekam sie nicht bald Gelegenheit, diesen Ausrutscher zu bereuen!?
Nachdem alle ihr Frühstück beendet hatten, erhoben sie sich, und bis auf den Baron gingen alle schwatzend hinaus. Hanna wollte sich ihnen schon anschließen, doch von Berching hielt sie zurück und bat sie, ihn zu begleiten.
„Ich würde jetzt gern mit dem Unterricht beginnen, Hanna.“ sagte er. „Lass´ uns in die Bibliothek gehen.“
Sie nickte und folgte ihm aus dem Speisezimmer, quer durch die Halle und in einen düsteren Raum mit hohen Wänden, der sich hinter einer schweren Holztür verbarg. Deckenhohe Regale voller Bücher säumten sämtliche Wände, und Hanna sah staunend daran hinauf.
Ehrfürchtig trat sie an eins der Regale heran und strich mit den Fingerspitzen über die ledergebundenen Buchrücken. Anstelle eines Titels waren vierstellige Zahlen darauf geprägt, und sie fragte sich, ob es Jahreszahlen sein konnten, denn die Nummerierung war fortlaufend, und als sie den Zahlen mit den Augen folgte, entdeckte sie, dass sie bei der 2011 endeten. Daneben war das Regalfach leer.
Als sie sich weiter umschaute, bemerkte sie viele Bücher, die offenbar sehr alt waren, große, gewichtig aussehende Folianten und kleine, in Pergament eingehüllte Bändchen. Etliche davon befanden sich sogar hinter Glas.
An diesem Punkt ihrer Inspektionsreise durch die Bibliothek räusperte sich der Baron hinter ihr, und sie wandte sich um.
„Was du hier siehst, Hanna, ist viel mehr als nur die Bibliothek meiner Familie. Das hier,“ er machte eine ausholende Geste, „ist das Archiv des Ordens. Hier ist das Wissen gesammelt, das unsere Mitglieder im jahrhundertelangen Kampf gegen die Kreaturen des Bösen zusammengetragen haben und wann immer wir auf dieses Wissen angewiesen sind, greifen wir auf das Archiv zurück. Wie du sicher bemerkt hast, sind ein Teil dieser Bücher mit Jahreszahlen versehen. Seit unser Vorfahre Alric den Orden der Armoritaner im 15. Jahrhundert gegründet hat, werden alle Ereignisse, die den Orden betreffen, die Namen der Mitglieder, Einzelheiten zu Kämpfen, aber auch Eheschließungen, Geburten und Todesfälle dort eingetragen. Dafür ist immer ein Mitglied des Ordens zuständig, der Hüter der Bücher. Zur Zeit haben wir eine Hüterin, Theresa, sie ist momentan unterwegs, um nach einem bestimmten Buch zu suchen, wird aber in den nächsten Tagen zurückkehren. Du wirst sie noch kennenlernen und feststellen, dass es niemanden gibt, der sich in der Geschichte der Armoritaner besser auskennt. Als Erstes möchte ich dir heute erzählen, wie unser Orden entstand, und anschließend wird Luca dir eine erste Einführungsstunde geben. Seine Aufgabe wird es sein, dir zu zeigen, wie du dein Feuer kontrollieren kannst.“
Na, das war ja ganz toll!
Ausgerechnet Luca!
Hanna verzog das Gesicht, und der Baron schmunzelte, als er mit der Hand auf eine kleine, gemütliche Sitzgruppe wies, die sich vor einem Kamin an der Stirnseite des Raumes befand.
„Bitte, nimm´ Platz.“ sagte er, zog eins der nummerierten Bücher hervor und folgte ihr. Er setzte sich neben sie auf einen der beiden Zweisitzer und legte den augenscheinlich sehr alten Band vorsichtig auf den Tisch. Anschließend holte er ein Paar weiße Baumwollhandschuhe aus seiner Tasche und streifte sie über.
„Ein Großteil dieser Bücher ist sehr alt und Theresa würde es mir nie verzeihen, wenn ich ihnen weniger Sorgfalt zukommen ließe, als sie es tut.“ erklärte er und schlug das Buch auf.
Auf der ersten Seite erblickte Hanna kunstvoll verschnörkelte Buchstaben in einem Geflecht aus Blumen, Ranken und anderen Ornamenten, in Rot und Gold. Darunter befand sich ein Wappen, welches ein Schwert und ein Kreuz auf rotgoldenem Grund zeigte.
„Dies ist das Familienwappen der von Berchings. Es wird dir hier im Schloss öfters begegnen.“ erläuterte der Baron und blätterte um.
Auf der nächsten Seite war eine Art Stammbaum aufgezeichnet, doch den erklärte er nicht, sondern schlug rasch ein paar weitere Seiten um, bis sie zu einem alten Bild kamen. Der Bildunterschrift zufolge handelte es sich um einen Kupferstich aus dem 15. Jahrhundert.
Darauf war ein Wesen zu sehen, welches halb menschlich und halb tierisch zu sein schien. Auf den ersten Blick ähnelte es einer ägyptischen Sphinx, doch wenn man genauer hinsah, erkannte man einige subtile Unterschiede. Der Kopf hatte kurze, spitze Hörner, und die Hinterbeine wiesen Schuppen und lange Krallen auf, im Gegensatz zu den löwenähnlichen Vorderbeinen. Der Baron deutete darauf und sagte: „Das ist Aschmodäus, oder auch Asmodis. Ein Höllenfürst, der von Alric und einigen anderen unter erheblichen Mühen und Aufbietung all ihrer Kraft in eine Zwischenwelt verbannt wurde. Damit nahm der Orden seinen Anfang, und mein Vorfahre und seine Kampfgefährten waren die ersten Armoritaner. Nun darf man natürlich nicht denken, dass Alric sich aus heiterem Himmel dazu entschloss, Dämonen zu bekämpfen. Das Ganze hatte selbstverständlich eine Vorgeschichte. Asmodis suchte seine Familie heim, ergriff Besitz von Alrics Frau und brachte sie dazu, ihren eigenen Sohn zu töten und teilweise aufzuessen. Als der Ritter das entdeckte, floh sie in die Wälder und stellte ihm dort eine Falle, in die er auch prompt - halb wahnsinnig vor Kummer - hineintappte. Danach betörte sie die Männer, die ihn begleiteten und zwang Alric zuzusehen, wie sie mit allen intim wurde. Nun begriff Alric, dass ein Dämon dahintersteckte, und weil er ein sehr gläubiger Mann war, betete er um die Kraft, sich zu befreien und die Kreatur zu besiegen. Die Überlieferung sagt, sein Gebet wurde erhört, und er kam frei. In den darauffolgenden drei Jahren scharte er fähige Männer um sich und jagte den Dämon, bis er ihn schließlich austreiben und verbannen konnte. Seine Frau überlebte die Tortur zwar, verlor aber letzten Endes den Verstand, als sie begriff, was sie unter dem Einfluss des Dämons alles getan hatte. Eines Tages sprang sie daher aus dem Turm dieses Schlosses.“
„Was? Hier? Hier ist das passiert?“ Hanna zog erschrocken die Augenbrauen hoch, und der Baron nickte.
„Ja, dies ist das Stammschloss der von Berchings. Und es gibt Leute, die behaupten, der Geist der glücklosen Dame wandle noch immer in seinen Mauern. Aber, keine Angst,“ lächelte er beruhigend, „ich lebe seit meiner Kindheit hier und habe sie noch niemals gesehen. Also denke ich, das ist nur eine Legende.“
In der folgenden Stunde blätterte Baron von Berching mit Hanna zusammen noch mehrere der alten Bücher durch, und sie erfuhr viel über die weitere Geschichte des Ordens.
Zuerst hatte eine enge Bindung an den Heiligen Stuhl in Rom bestanden, diese riss jedoch ab, nachdem der Orden sich weigerte, in politische Auseinandersetzungen hinein gezogen und als Waffe gegen unliebsame Kritiker missbraucht zu werden. Daraufhin wurde der damalige Ordensführer mit dem Kirchenbann belegt und exkommuniziert. Der Orden tauchte unter und operierte lange Jahre im Verborgenen. Nachdem es den Armoritanern im 16. Jahrhundert jedoch gelang, die Pläne eines mächtigen Dämons zu durchkreuzen und damit gleichzeitig das Leben des amtierenden Papstes zu retten, wurden sie rehabilitiert, und die von Berchings bekamen Ansehen und Lehen zurück.
„Der erste Sucher taucht in unseren Annalen etwa zur gleichen Zeit auf. Er war ein Sohn des damaligen Barons von Berching, und es wird berichtet, dass der Orden damals herbe Verlust erlitt, weil die Dämonen sich immer besser tarnten und es ihnen immer wieder gelang, die Reihen der Ordensmitglieder zu infiltrieren. Diesem Buch zufolge,“ er tippte auf den Band, der gerade vor ihnen lag, „suchte der Baron in Begleitung seines halbwüchsigen Sohnes schließlich eine Kirche auf und warf sich vor dem Kruzifix zu Boden. Er flehte Gott an, ihnen eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie sie die Dämonen besser erkennen konnten und hielt ihm vor, dass sie doch schließlich SEIN Werk taten. Der Sage nach stürzte der Sohn daraufhin plötzlich leblos zu Boden, und man hielt ihn zunächst für tot. Dann aber setzte er sich auf und erklärte, er habe ein göttliches Geschenk erhalten, nämlich die Fähigkeit, Dämonen zu erkennen und sie mit Hilfe von Feuer auszutreiben. Klingt unglaublich, nicht wahr?“ wandte er sich an das Mädchen. „Aber du bist der lebende Beweis. Seit damals werden die göttlichen Gaben innerhalb der Familie weiter gegeben.“ Er lächelte, und Hanna fühlte sich unbehaglich. Noch immer beharrte ein Teil von ihr darauf, dass das alles völliger Blödsinn war, und halb erwartete sie, dass er plötzlich lachte und so etwas sagte wie: „Ätsch, reingefallen!“ Andererseits – was sie am Vortag erlebt hatte, war real gewesen, die Verwüstung in der Küche, das Verschwinden ihrer Mutter...
Sie hob den Kopf, als ihr etwas einfiel. „Herr Baron, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
Er nickte und sagte: „Ich bin dein Halbbruder, also bitte, nenn´ mich nicht "Herr Baron"

. Sag´ Christian, oder wenn du das nicht möchtest, Herr von Berching, ja?“
Wieder wurde sie rot. „Also gut, Ch... ristian.“ brachte sie zögernd heraus.
Ob sie sich jemals daran gewöhnen würde?
Der Gedanke plötzlich einen Halbbruder zu haben, war schon seltsam genug, und dann auch noch dieser respekteinflößende Mann, der um so vieles älter war, als sie?
Sie konzentrierte sich bewusst wieder auf die Frage, die sie ihm stellen wollte.
„Stehen meine Mutter, ich meine, meine leibliche Mutter und ich auch in einem dieser Bücher? Ich dachte nur, weil Sie, ...ich meine ...Du... gesagt hast, dass alle Mitglieder darin verzeichnet wären.“
Sein Blick war ernst, aber freundlich, als er sie aufmerksam musterte.
„Ja.“ antwortete er und fragte dann: „Bist du neugierig auf deine leibliche Mutter?“
Sie nickte, zuckte aber beinahe gleichzeitig die Achseln und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Es ist alles so verwirrend! 16 Jahre lang habe ich geglaubt, zu wissen, wer ich bin und jetzt? Irgendwie habe ich das Gefühl, gar nichts mehr zu wissen, nicht wer ich bin, was ich bin, oder wer meine Mutter ist. Gestern um diese Zeit habe ich noch in der Schule gesessen und war nur ein ganz gewöhnliches Mädchen. Und plötzlich soll ich eine Sucherin sein, die Halbschwester eines Barons und außerdem Dämonen jagen! Das klingt doch alles vollkommen verrückt!“
Sie stand auf und fing an vor dem Sofa hin und her zu laufen, während sie redete.
„Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment platzen, und eigentlich frage ich mich, was ich hier überhaupt mache. Meine Mutter ist verschwunden! Wäre es nicht meine Pflicht, nach ihr zu suchen, oder zumindest die Polizei einzuschalten? Stattdessen sitze ich hier und blättere mit dir in alten Büchern und höre mir Geschichten über einen seltsamen Orden an! Und das Schlimmste ist – es klingt zwar völlig idiotisch was du mir erzählst, aber ich glaube dir.“ Sie blieb stehen und ließ sich schwer wieder auf das Sofa fallen, erstaunt über sich selbst. „Kann sein, dass ich völlig bescheuert bin, aber ich glaube dir!“
Baron von Berching lächelte und legte ihr die Hand auf den Arm. „Keine Angst, du bist nicht bescheuert, und deine Reaktion ist vollkommen verständlich. Wie ich gestern schon sagte, ich hätte dir gern alles viel schonender beigebracht, aber nach dem Angriff auf dich, blieb uns keine Wahl.“
„Angriff?“ Sie sah erschrocken zu ihm auf und der Blonde nickte. „Ja, gestern Nachmittag, am Fluss. Luca war zum Glück in deiner Nähe und hat sie abgewehrt. Deshalb kam er erst so spät in Euer Haus. Und dort muss etwas Ähnliches passiert sein, oder? Er hat erzählt, dass er eine Präsenz wahrgenommen hat. Und du scheinst es auch gespürt zu haben, denn du warst in Verteidigungsbereitschaft, als er sich dir näherte. Diese Begegnung hat vermutlich das Feuer in dir geweckt.“
Hanna erinnerte sich an das undeutliche Gefühl der Bedrohung, welches sie sowohl an ihrem Lieblingsplatz am Fluss wie auch später zuhause in der Diele empfunden hatte.
„Also, das war ...“ sie beendete den Satz nicht, doch ein Blick in die ernsten, grauen Augen des Barons bestätigte ihr, was sie nicht auszusprechen wagte. „Und ich dachte zuerst, ich hätte eine Art Angstanfall gehabt oder so!“
Plötzlich wurde an die Tür geklopft und Luca schob seinen Kopf herein.
„Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich warte seit einer Viertelstunde in der Sporthalle. Soll ich mit Hanna noch trainieren, oder nicht? Sonst gehe ich und kümmere mich um andere Dinge.“
Der Baron stand auf, und Hanna tat es ihm gleich. Wieder stieg Ärger in ihr auf, und sie wunderte sich, dass ihr Halbbruder angesichts des schroffen Tonfalls so ruhig blieb.
„Entschuldige, Luca. Das war mein Fehler. Ich habe Hanna die Ursprünge des Ordens erklärt und darüber wohl die Zeit vergessen. Sie steht dir natürlich sofort zur Verfügung! Wir sehen uns heute Nachmittag wieder, meine Liebe! Dann machen wir weiter. Und was deine leibliche Mutter betrifft - denk´ in Ruhe darüber nach. Wenn du wirklich dazu bereit bist, sie zu treffen, werde ich alles Nötige in die Wege leiten.“
Er lächelte, und sie eilte mit brennenden Wangen zur Tür.
Schweigend folgte sie Luca, der mit solch langen Schritten durch die Halle eilte, dass sie beinahe rennen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Schon hatte er das Portal geöffnet, war nach draußen gestürmt, und ihr fiel das schwere Tor vor der Nase zu.
Grummelnd zerrte sie an der Klinke und stemmte die Türflügel wieder auf, um hinaus zu schlüpfen. Draußen blieb sie kurz stehen und blickte sich um, doch Luca war nicht mehr zu sehen.
Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften und murmelte vor sich hin. „Dieses Arschloch!“ knurrte sie. „Das macht der doch absichtlich!“
Unschlüssig ging sie die Freitreppe hinunter und sah weiterhin in alle Richtungen um sich. Dabei nutzte sie die Gelegenheit, das Gelände des Schlosses bei Tageslicht in Augenschein zu nehmen und ließ ihre Blicke schweifen.
Von ihrem Standpunkt am unteren Ende der Treppe aus, hatte sie das riesige Hauptgebäude im Rücken und vor sich die Auffahrt, über die sie am vergangenen Abend gekommen waren. Der Schlosshof selbst war eine riesige, sauber gekieste Fläche, in dessen Zentrum ein Springbrunnen lag, welcher von niedrigen Rosenbüschen umgeben war und dessen Fontäne im Sonnenschein glitzerte. Zur Linken lagen niedrige Gebäude, die in früheren Zeiten wohl am ehesten die Stallungen beherbergt hatten, und zur Rechten stand ein kleines Häuschen über dessen Bedeutung sie nur spekulieren konnte. Vielleicht wohnten dort ja die Dienstboten?
Zwischen dem Häuschen und dem eigentlichen Schloss setzte sich die gekieste Fläche fort bis zu einer niedrigen Ziegelmauer, hinter der sie Büsche und Bäume sehen konnte. Das war dann vermutlich der Schlossgarten, oder vielleicht sogar ein regelrechter Park. Das konnte sie so nicht entscheiden.
Umgeben war das ganze Gelände von einer massiven, rund zwanzig Meter hohen Mauer, zu deren Krone eine schmale Treppe hinaufführte und in der sie zwei Türme ausmachen konnte.
Sie erinnerte sich, dass die Limousine, vor ihrer Ankunft ein ganzes Stück bergauf gefahren war, bevor sie das Tor in der Mauer passiert hatten, deshalb hatte man von der Mauer aus sicher einen herrlichen Rundumblick über die gesamte Gegend und Hanna beschloss, möglichst bald einmal dort hinaufzusteigen und sich umzusehen.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte den Kopf und sah Luca vor den ehemaligen Stallungen stehen. Wie meistens mit verschränkten Armen und finsterem Blick.
Sie beeilte sich, zu ihm zu kommen und wurde mit der nächsten scharfen Bemerkung empfangen: „Nett von dir, dass du doch noch kommst!“
Sofort schwoll ihr der Kamm.
„Wenn du nicht vorweg gerannt wärst wie ein Stier, hätte ich dir vielleicht folgen können und dich nicht aus den Augen verloren!“
Er erwiderte nichts, sondern drehte sich wortlos um und betrat das Gebäude. Hanna folgte ihm grummelnd und sah sich drinnen staunend um.
Das war also die Sporthalle?
Der Raum war groß und wurde von unzähligen Neonröhren erhellt, die mit dem schwachen Tageslicht, das durch die rundumlaufenden Oberlichter sickerte, konkurrierten.
Der Boden war mit weichen Matten ausgelegt und sie sah Sprossenwände, Seile und Ähnliches, wie in der Turnhalle ihrer Schule, aber auch eine komplette, deckenhohe Kletterwand und mehrere, grob menschenähnliche Puppen auf Gestellen, deren Oberflächen vernarbt und schartig waren. Darauf konnte sie sich im ersten Moment keinen Reim machen und kam auch nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Lucas Stimme riss sie aus ihren Betrachtungen.
„Du bist hier, um die Kontrolle über dein Feuer zu lernen. Ich werde mein Bestes tun, aber das Wichtigste ist Konzentration. Du darfst dich nicht ablenken lassen und nur dein Ziel vor Augen haben. Meinst du, dass du das schaffst?“
Er klang mehr als ungläubig, und sie spürte schon wieder, wie der Ärger über seine Arroganz in ihr brodelte.
„Sag´ mir einfach, was ich machen soll.“ erwiderte sie frostig, und nach einem weiteren zweifelnden Blick, ließ er die Arme sinken und erteilte ihr Anweisungen.
„Also gut, schließ´ die Augen und erinnere dich an gestern, daran, was du gefühlt hast, als du bei dir zuhause warst. Taste nach diesem Gefühl und durchlebe es erneut.“
Hanna tat was er sagte, schloss die Augen und rief sich die Szene in ihrem Elternhaus ins Gedächtnis. Wieder sah sie die Zerstörung in der Küche vor sich, fühlte die Kälte und erinnerte sich an die Bedrohung, die sie empfunden hatte. „Lass´ dich tiefer hineinsinken.“ hörte sie Luca wie von weitem sagen, und als hätte seine Stimme die Fähigkeit, ihr seinen Willen aufzuzwingen, stand sie plötzlich wieder in der Diele ihres Elternhauses, wo sie sich gerade umwandte und eine dunkle Gestalt hereinkommen sah. Ihr Herz flatterte hektisch in der Brust, und sie spürte erneut diesen Knoten darin, der immer mehr anschwoll.
„Nein!“ flüsterte sie mit tauben Lippen. „Komm´ nicht näher!“
Wenn ihr Herz noch schneller wurde, würde es vermutlich ins Stolpern geraten und aussetzen. Sie wusste, dass es Luca war, der da auf sie zu kam, trotzdem schnürte die Angst ihr die Kehle zu und ließ sie hektisch nach Luft schnappen.
„Bleib´ weg!“ rief sie, hörte seine Anweisung, sie solle sich konzentrieren, konnte aber nichts tun und war ihrer Panik hilflos ausgeliefert. „Nein! Nicht!“ schrie sie, doch es war zu spät, der Knoten in ihrer Brust entwickelte wie am Vortag ein Eigenleben, und entsetzt sah sie, dass erneut die wabernden Feuerzungen aus ihrer Brust loderten, sich Luca entgegenreckten und von diesem mit einer ärgerlichen Handbewegung beiseite gewischt wurden.
Im nächsten Moment wich sämtliche Kraft aus ihrem Körper, ihre Beine gaben nach und sie fiel auf den weichen Mattenboden der Sporthalle.
Heftig atmend, als hätte sie gerade einen anstrengenden Dauerlauf absolviert, lag sie da und war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Ihr Körper war regelrecht taub, so wie sie es von Händen oder Füßen kannte, wenn sie sich in einer unbequemen Haltung die Durchblutung abgeschnürt hatte. Nur dass es dieses Mal der gesamte Körper war, der unangenehm kribbelte, als würden Millionen von Ameisen darüber krabbeln, sodass sie die Augen zukniff und zischend die Luft einsog.
Luca ging neben ihr in die Hocke, musterte sie kühl und meinte: „Wenn du nicht lernst, dich zu konzentrieren, wird das nie was. Du musst die Kontrolle behalten, sonst zieht das Feuer deine gesamte Energie ab. Kannst du aufstehen?“
Verbissen bemühte sie sich, ihren Armen und Beinen ihren Willen aufzuzwingen, schaffte es aber kaum, sich auf die Ellenbogen und Knie hoch zu stemmen und sackte schließlich wieder kraftlos zusammen. Wütend biss sie die Zähne zusammen. Musste sie sich ausgerechnet vor Luca eine derartige Blöße geben?
Er seufzte genervt, bückte sich und hob sie mühelos auf seine Arme. Dann verließ er mit ihr die Sporthalle und trug sie ins Schloss.
Hanna lag in seinen Armen und war hin und her gerissen zwischen Verlegenheit und Ärger. Ihr Gesicht glühte, und sobald sie sich im Inneren des Schlosses befanden, verlangte sie herunter gelassen zu werden.
„Setz´ mich einfach irgendwo ab!“ bat sie, doch er reagierte überhaupt nicht darauf, sondern trug sie ungeachtet ihres Gezeters die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Erst dort setzte er sie auf ihrem Bett ab, trat einen Schritt zurück und blickte ihr forschend ins Gesicht.
„Gestern bist du ohnmächtig geworden, heute nicht.“ stellte er fest. „Das ist gut, aber vielleicht sollte ich trotzdem noch ein bisschen hier bleiben, nur für alle Fälle.“
Hanna glaubte, sich verhört zu haben. Sorgte er sich etwa um sie? Darauf konnte sie gut verzichten.
„Deine Fürsorge ist wirklich rührend.“ blaffte sie. „Aber vielen Dank. Tu´ mir einen Gefallen und geh´ einfach! Du hast doch sicher wichtigere Dinge zu tun, oder?“
Zu ihrem Ärger machte er jedoch keine Anstalten, ihr Zimmer zu verlassen, sondern setzte sich wortlos auf das kleine Sofa, auf dem sie am Vorabend ihr Abendessen verzehrt hatte.
„Was soll denn das jetzt werden? Hast du mich nicht gehört? Du sollst verschwinden!“ rief sie, doch zu ihrer nicht unerheblichen Überraschung lächelte Luca plötzlich. Dieser Gesichtsausdruck war so ungewohnt, dass es Hanna die Sprache verschlug. Und dieses Lächeln war nicht nur ungewohnt, es veränderte sein Gesicht vollkommen und offenbarte einen neuen, unbekannten Luca. Einen Luca, der ihr hätte gefallen können...
„Nö. Ich bleibe noch. Sonst unterstellst du mir wieder, ich wüsste nicht, was sich gehört.“
Die Situation bereitete ihm offenbar Vergnügen, und Hanna begriff, dass dies seine kleine Rache war für ihren Spruch am Frühstückstisch.
„Schließlich kannst du dich ja kaum bewegen. Und was willst du ohne mich machen, wenn du mal zur Toilette musst?“
Ihr klappte die Kinnlade herab. Das war ja wohl die Höhe!
„Jedenfalls werde ich mich bestimmt nicht von dir aufs Klo setzen lassen, wie ein kleines Kind! Du … du...du arroganter Affe!“
Die Beschimpfung wischte das Lächeln aus seinem Gesicht, und fast war sie enttäuscht, als es verschwunden war.
„Du solltest versuchen zu schlafen.“ sagte er. „Wenn du eingeschlafen bist, gehe ich.“
Grummelnd drehte sie ihm den Rücken zu und schloss die Augen, obwohl sie sich fragte, wie sie in seiner Gegenwart schlafen sollte. Seine Anwesenheit machte sie nervös und ließ jeden Gedanken an Ruhe wie einen schlechten Witz erscheinen. Trotzdem verlangte ihr Körper nach Erholung und setzte sich schließlich gegen ihre überreizten Nerven durch. Schneller als erwartet glitt sie in einen tiefen Schlaf und merkte deshalb nicht, dass Luca aufstand und zu ihr ans Bett trat. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, setzte er sich an die Bettkante und strich behutsam über ihr Haar. Der finstere Ausdruck war gänzlich von seinem Gesicht verschwunden, und in seinen Augen lag ein warmer Glanz, der diejenigen, die ihn kannten in Erstaunen versetzt hätte.
Dann aber stand er auf, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür.


Ein Ort, der keiner war.
Düsteres Licht, welches von überall und nirgends zu kommen schien.
Schwarzer Sand, ständig in Bewegung, wie die Wellen eines uferlosen Ozeans.
Wo sie sich zurückzogen erschienen Wesen wie aus einem Alptraum, zuckten Tentakel durch die Luft, schnellten gigantische Gliedmaßen in die Höhe, durchschnitten schuppige Leiber die rieselnde Oberfläche.
Mitten darin eine Insel aus schwarzem Gestein, gerade groß genug, um dem einzigen Geschöpf Platz zu bieten, dass sich dort befand.
Kahl und glatt poliert von den Sandkörnern, die der ständige Wind darüber fegte.
Nur dort, wo scharfe Krallen seit Jahrhunderten in hilflosem Zorn darüber scharrten, fanden sich tiefe Rillen, Spuren eines dämonischen Zorns.
Und die unheilige Kreatur mitten darin, an den schwarzen Boden gefesselt mit glühenden Ketten, der Willkür des Windes ausgeliefert, doch von schrecklicher Schönheit.
Es ruhte, gezwungenermaßen, war aber voller Anspannung.
Hass strahlte von ihm ab, in heißen Wellen, außerdem Ungeduld und noch etwas anderes - Hunger?
Plötzlich waberte die Luft, eine Gestalt erschien, kniend und mit demütig gesenktem Kopf.
„WELCHE NEUIGKEITEN BRINGST DU MIR, MALUS?“ Die Stimme hallte, ohne dass das Geschöpf sein Maul geöffnet hätte.
Der Angesprochene verharrte in seiner demütigen Haltung und antwortete mit gesenktem Kopf.
„Großer Meister, wir werden das Mädchen bald in unserer Gewalt haben. Dann können wir das Ritual abhalten und dich befreien! Es wird nicht mehr lange dauern!“
„DAS HAST DU MIR SCHON DAS LETZTE MAL VERSPROCHEN, WIESO DAUERT DAS SO LANGE? ICH BIN DEINE VERSPRECHUNGEN LEID, MALUS. WENN DU EIN WÜRDIGER DIENER BIST, FINDE EINEN WEG!“
Noch tiefer beugte sich der Knieende und berührte mit der Stirn den glatten Fels.
„Ja, Meister. Ich schwöre dir, es ist fast vollbracht! Deine fast fast 600jährige Gefangenschaft ist bald zu Ende, dann wirst du wieder herrschen und Angst und Schrecken bringen wie einst! Und wir werden an deiner Seite sein, in treuer Gefolgschaft!“
Das Geschöpf rührte sich, Krallen kratzten über den schwarzen Stein, fügten ihm zusätzliche Wunden zu, mächtige Schwingen entfalteten sich und peitschten die Luft, erfüllten sie mit dem Modergeruch von Tod und Verwesung, welcher aus dem blutroten Federkleid drang und wurden wieder abgelegt.
„BEFREIE MICH UND MEIN DANK IST DIR SICHER. DU UND DIE DEINEN WERDET BEKOMMEN, WAS EUCH ZUSTEHT, MALUS!“
Wieder waberte die Luft, der Knieende wurde unscharf, seine Umrisse verschwammen und er verschwand lautlos, als wäre er nie dort gewesen.


Als Hanna die Augen aufschlug, hatten die Sonnenstrahlen, die durch ihr Fenster fielen bereits einen leicht rosafarbenen Hauch angenommen. Sie setzte sich erschrocken auf und rieb sich die Augen. Wie lange hatte sie geschlafen? Hatte ihr Halbbruder sie nicht am Nachmittag erwartet? Was musste er jetzt von ihr denken?!
Der Vorfall in der Sporthalle fiel ihr wieder ein und sie schwang probeweise die Beine aus dem Bett. Sie bewegte die Zehen, und weil das taube Gefühl verschwunden war, stellte sie sich auf. Es ging problemlos, und sie eilte ins Bad, um sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Kaum war sie fertig, als es an der Tür klopfte.
Ob das wieder Luca war?
Sie öffnete und blickte in Alexanders freundliches Gesicht.
„Hallo! Geht’s dir besser? Der Baron schickt mich. Du sollst zu ihm kommen, denn er möchte dir etwas zeigen.“
Hanna war etwas überrumpelt, beeilte sich aber, ihre Schuhe anzuziehen.
„Um was geht’s denn?“ fragte sie dabei, aber der Blonde zuckte lächelnd die Schultern. „Keine Ahnung. Er hat nur gesagt, ich soll nachsehen, ob du endlich wach bist und dich zu ihm bringen.“
Plötzlich tauchte Diana hinter Alexander auf und war sichtlich erstaunt, ihn hier vorzufinden. „Hey, ihr Zwei! Es ist gleich Zeit zum Abendessen! Kommt ihr mit?“
Hanna schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich soll zu Christian kommen, sagt Alexander.“
Diana musterte ihn überrascht. „Zum Baron? Naja, das hat wohl eindeutig Vorrang. Ich nehme an, wir sehen uns dann später? Nach dem Abendessen? Ich warte auf dich. Ludwig wird euch sicher etwas aufheben!“
Hanna nickte und die Mädchen verabschiedeten sich lächelnd. Diana verschwand den Gang entlang, und Hanna folgte kurz darauf mit Alexander.
Er führte sie nach unten, aus dem Schloss heraus und schlug dann die Richtung zum Tor ein. Das kam Hanna komisch vor, und sie fragte sich, was ihr Halbbruder ihr dort wohl so Wichtiges zeigen wollte.
„Wo gehen wir denn hin?“ fragte sie, doch Alexander gab keine Antwort. Plötzlich klingelten in ihrem Kopf die Alarmglocken, und sie blieb stehen.
Vom Schlosstor trennten sie vielleicht noch zehn Meter, und als sie hinüberschaute, sah sie ein paar Gestalten draußen stehen und in einiger Entfernung eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben und weit offenen Türen.
„Wer sind diese Leute? Und wo ist der Baron?“ wollte sie wissen, doch sie bekam keine Antwort. Stattdessen drehte der blonde Junge sich um und packte sie mit einer blitzschnellen Bewegung am Handgelenk.
„Was...?“ Weiter kam sie nicht, denn die wütende Fratze, in die sich Alexanders Gesicht verwandelt hatte, ließ ihr jedes Wort im Hals stecken bleiben.
„Komm´ her, du blöde Kuh! Jetzt sind wir schon so weit gekommen, da wirst du auf den letzten Metern gefälligst auch keine Mätzchen mehr machen!“ Er zog sie vorwärts, und zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass er mehr als stark war. Verzweifelt stemmte sie die Absätze in den Kies, doch es half ihr nichts, unaufhaltsam wurde sie zum Tor gezerrt.
Und je näher sie kam, desto deutlicher wurde ein Gefühl, das sie kannte. Mit eiskalten Fingern griff es nach ihr, genau wie gestern. Eine Aura der Bedrohung, die ihr den Atem stocken ließ, lähmend und massiv wie eine Mauer.
„Hilfe!“ schrie sie und fühlte, wie sich in ihrer Brust der nun schon bekannte Knoten zusammenballte.
Sie wehrte sich gegen den Griff ihres Begleiters, doch er presste die Knochen ihres Handgelenks so hart zusammen, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Aus den Augenwinkeln sah sie die dunklen Gestalten unruhig werden und wusste plötzlich, dass es Dämonen waren. Äußerlich Menschen, beherbergte jeder von ihnen eine der unheiligen Kreaturen, und sie sahen aus, als warteten sie auf etwas. Ihre ganze Haltung drückte gespannte Erregung aus, und sie begriff mit einem Mal, dass sie ihretwegen hier waren. Aus irgendeinem Grund wollten sie sie entführen. Wenn es darum gegangen wäre, sie zu töten, hätte Alexander das längst tun können, denn es war ja offensichtlich, dass er mit ihnen zusammenarbeitete.
Immer näher kam das Tor, und sie konnte sogar schon die Gesichter der Wartenden erkennen. Sie waren zu viert, drei Männer und eine Frau, und alle Vier sahen ihr begierig entgegen.
Warum kamen sie nicht näher?
Man sah ihnen an, dass sie nichts lieber getan hätten, die Frau hatte bereits die Hände gehoben und die Finger zu Klauen gekrümmt. Doch etwas schien sie davon abzuhalten, eine unsichtbare Barriere, die sie nicht zu überwinden vermochten.
„HILFE!!“ Noch einmal brüllte sie mit aller Kraft, da es nur noch wenige Meter waren, die sie von den dämonischen Gestalten trennte.
Was sollte sie tun? Ihr Feuer einsetzen?
Aber wie?
Zweimal war es bis jetzt aus ihr hervorgebrochen und jedesmal ohne ihr Zutun, spontan und unkontrolliert!
Sie spürte es in sich, aber es machte keine Anstalten sich zu entfalten, und sie hatte keine Ahnung, wie sie es kontrollieren sollte.
Plötzlich rauschte es in der Luft, und eine schwarze Gestalt wirbelte an ihr vorbei, eine Klinge blitzte auf, und Luca stand zwischen Alexander und dem Tor. Er hielt ein schlankes, silbern glänzendes Schwert in der Rechten und streckte es seitlich von sich weg, während er Alexander mit zusammengezogenen Brauen musterte.
„Lass´ sie los!“ knurrte er, und einen Moment lang schien der Blonde verunsichert. Sein Blick huschte zum Tor, wo die vier Wartenden sich wütend duckten und frustrierte Laute von sich gaben.
Der Vorderste hob eine Faust, schüttelte sie und rief: „Nun mach´ schon! Der Meister wartet nicht gern! Mach´ ihn fertig und bring´ uns das Mädchen!“
Daraufhin straffte sich Alexanders breitschultrige Gestalt, er hob die Hände, führte sie zusammen und schien sich zu konzentrieren. Als er sie langsam wieder voneinander entfernte, erfüllte ein bläuliches Gleißen den Raum zwischen ihnen, und als es verschwand, hielt er ein ähnliches Schwert wie Luca in der Hand.
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, fasste er den Griff mit beiden Händen und stürmte auf seinen Gegner los. Hanna sah Funken fliegen, als die Klingen aufeinander prallten, die Hiebe prasselten so schnell nieder, dass sie den Bewegungen der Kämpfer nicht mit den Augen folgen konnte. Eine Weile sah es so aus, als wären beide gleich stark, doch dann landete Luca einen Treffer an Alexanders rechtem Arm, dass dieser zurücktaumelte und einen Moment lang seine Hand über die Wunde presste. Währenddessen wandte sich Luca zu Hanna und schrie sie an: „Lauf´ zurück zum Schloss, los!!“ Doch ihre Füße gehorchten ihr nicht, sie war wie gelähmt und starrte nur mit großen Augen auf das Kampfgeschehen.
Mit einem wütenden Aufschrei griff Alexander erneut an und drosch in wilder Raserei auf seinen Gegner ein, dass Luca Mühe hatte, sich seiner zu erwehren.
„Verdammt, Hanna!“ schrie er. „Verschwinde endlich!“
Doch sie blieb.
Wie in Trance setzte sie sich in Bewegung, denn sie sah, dass Alexander ihn mit seinen wüsten Attacken zwar nicht verletzen konnte, ihn aber immer näher Richtung Tor trieb, und sie zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass das Absicht war.
Dort draußen standen die Dämonen, und wenn Luca auch vielleicht wirklich der beste Krieger des Ordens war, so waren sie immerhin zu viert. Das konnte er unmöglich schaffen, zumal wenn er sich auch noch gegen Alexander wehren musste!
Sie überwand die Distanz, die sie vom Tor trennte und sah, wie die Vier ihre Aufmerksamkeit ihr zuwandten.
Wachsam, doch sichtlich erfreut blickten sie ihr entgegen.
Und plötzlich war es so einfach, sie wusste, was sie zu tun hatte, tastete mit den Fingern des Geistes nach dem Knoten in ihrer Brust, schloss die Augen und fühlte wie er unter ihrer Berührung pulsierte.
Hinter ihr klirrten die Schwerter und Luca rief ein weiteres Mal nach ihr, aber sie blendete alles aus, sammelte sich und machte einen Schritt nach vorn, überwand die wie auch immer geartete Barriere, und sofort stürzten sich die Dämonen auf sie.
Sie hörte Lucas entsetzten Aufschrei, und mit einem Gefühl der Befreiung ließ sie den Knoten in ihrer Brust bersten, sah wie die Flammen aus ihr hervorbrachen und ihre Angreifer einhüllten.
Sie verbrannten nicht, schienen jedoch furchtbare Schmerzen zu erleiden. Zuckend wanden sie sich auf dem Boden, schrien wie von Sinnen und blieben schließlich still liegen. Aus ihren Körpern schien eine Art dunkler Rauch aufzusteigen, der sich zusammenballte und vier groteske Gestalten bildete, welche mit einem wütenden Heulen verschwanden.
Ein Scheppern hinter ihr ließ sie sich umwenden.
Alexander hatte sein Schwert fallen lassen und war auf die Knie gesunken. Luca stand über ihm und die Spitze seiner Klinge zeigte auf Alexanders Kehle. Doch seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Hanna, die langsam und erschöpft zurück auf den Schlossgrund taumelte. „Alles in Ordnung?“ fragte er und sie nickte schwach.
Im Hintergrund hörte man jetzt rasche Schritte auf dem Kiesweg, und schon kamen der Baron, Diana und Noah angerannt. Der Großmeister hielt selbst ein Schwert kampfbereit in der Hand, und allen war ihr Entsetzen anzusehen.
„Was war hier los?“ verlangte der Baron Auskunft und sah von Luca zu Hanna und wieder zurück.
„Alexander ist ein Maulwurf. Er wollte Hanna an eine Gruppe von vier Dämonen übergeben.“ Damit wies er auf die vier Körper die vor dem Tor lagen.
„Und weiter?“
„Er hat mich angegriffen und versucht, mich über die Grenze zu treiben. Fast wäre es ihm gelungen. Doch dann hat Hanna ihr Feuer eingesetzt und die Dämonen ausgetrieben.“
Alle Blicke wandten sich Hanna zu, und sie wurde rot. Jetzt, wo sie es aus Lucas Mund hörte, schien er von jemand anderem zu sprechen, nicht von ihr.
„Ist das wahr?“ fragte von Berching und sie nickte. Zu einer ausführlichen Antwort fühlte sie sich nicht imstande, so erschöpft wie sie war.
„Das war gute Arbeit, meine Liebe!“ sagte er und trat auf sie zu.
Da erklang ein merkwürdiges Geräusch von dort, wo Alexander noch immer auf dem Boden kniete. Alle drehten erstaunt die Köpfe zu ihm, denn es wirkte in diesem Augenblick so unpassend und fehl am Platze, wie Schnee im Sommer.
Er lachte, schien sich gar nicht beruhigen zu können und hielt sich mit einer Hand den Bauch, während er zu den Armoritanern aufsah.
„Was ist daran so lustig?“ grollte Luca und ließ die Schwertspitze näher zu ihm hinzucken.
„Glaubt ihr, ihr habt gewonnen?“ kicherte Alexander. Dann wurde er schlagartig ernst. „Dann darf ich eure Aufmerksamkeit auf unseren Überraschungsgast lenken?“ Er wies zu der Limousine, die noch immer mit weit geöffneten Türen vor dem Schlosstor stand.
Aus einer der hinteren Türen stieg eine Frau, deren Anwesenheit bisher von niemandem bemerkt worden war.
Es handelte sich um eine Frau mittleren Alters, mit kurzen, dunkelblonden Haaren, die von aschgrauen Strähnen durchzogen waren. Sie trug eine helle Hose und dazu einen cremefarbenen Pullover mit kurzen Ärmeln, und als sie neben dem Auto stand lächelte sie und streckte in einer sehnsüchtigen Geste die Arme aus.
„Komm´ her zu mir, Hanna, mein Schatz!“ rief sie und dem Mädchen blieb fast das Herz stehen.
„Mama!“ rief sie und setzte sich in Bewegung, um zu ihr zu laufen. Der Baron war jedoch schneller und hielt sie fest. „Hanna!“ sagte er eindringlich. „Denk´ daran, was ich dir erzählt habe! Das ist sie nicht! Das ist nur ihr Körper! Kannst du es nicht spüren? Ein Dämon steckt in ihr und versucht dich zu betrügen!“
Doch Hanna weinte und wehrte sich gegen seinen Griff. Kein vernünftiges Argument erreichte sie mehr, sie wollte nur noch zu ihrer Mutter, und da stand sie doch, rief nach ihr und streckte ihr die Arme entgegen. Sie wollte nur zu ihr laufen, sich in ihre Arme flüchten und das Gesicht an ihrer Schulter vergraben, wie sie es früher so oft getan hatte.
„Mama!“ schluchzte sie und versuchte verzweifelt, sich zu befreien.
Keiner achtete mehr auf Alexander, und plötzlich schnellte er hoch, griff nach seinem Schwert und setzte es Hanna an die Kehle. Die blitzartige Aktion hatte alle überrascht und nun forderte er: „Lass´ sie los! Du hörst doch, wie das arme Kind nach seiner Mutter verlangt!“
Der Baron zögerte, und auch Luca machte einen Schritt auf ihn zu. Doch Alexander bewies, wie ernst er es meinte, indem er die zarte Haut ihres Halses leicht mit seiner Klinge anritzte. Der Anblick des dünnen Blutfadens ließ alle zurückweichen, und Alexander bewegte sich rückwärts auf das Tor zu, Hanna mit sich ziehend.
Tatenlos mussten die Ordensmitglieder mitansehen, wie das Mädchen zu der Limousine gezerrt und hinein gestoßen wurde. Alexander kletterte zu ihr auf den Rücksitz und die Dämonin sprang hinter das Steuer.
Dann schlugen die Türen zu und der Motor heulte auf. Der Wagen setzte ein Stück zurück, wendete und verschwand in der Düsternis zwischen den Bäumen.


...wird fortgesetzt mit Teil 2

Impressum

Texte: Cover: 108132_R_by_rotmabe_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2011

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