Schon wieder leuchtete die Klingelanzeige.
Elke trank rasch einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und ging dann, um nachzusehen, in welchem Zimmer diesmal eine Schwester gebraucht wurde.
Die Station war überbelegt und unterbesetzt und obwohl das allmählich zum Dauerzustand wurde, war es nichts, woran man sich wirklich gewöhnen konnte.
Die meisten Patienten hatten irgendeine Operation hinter sich, und auch wenn einige von ihnen bereits ein oder zwei Tage danach schon wieder recht gut beieinander waren, gab es dafür immer etliche, die infolge der Grösse des Eingriffs, ihres Alters oder ihrer Erkrankung fast bis zur Entlassung oder Verlegung auf Hilfe und Pflege angewiesen waren.
Eigentlich machte es Elke nichts aus, hart zu arbeiten.
Sie hatte sich mit Absicht auf eine Stelle in der Chirurgie beworben. Der Umgang mit Menschen lag ihr und es war ihr ein inneres Bedürfnis zu helfen. Mit den Patienten und den Kollegen kam sie gleichermassen gut aus und auch die Ärzte schätzten ihre Kompetenz.
Sie wünschte nur manchmal, sie hätte mehr Zeit für die Bedürfnisse der ihr anvertrauten Menschen.
Wundversorgung, Körperpflege, das Ausführen von Verordnungen und der unvermeidliche Papierkram waren zwar wichtig, aber eben nicht alles.
In der Ausbildung hatten sie das eingetrichtert bekommen, aber die Realität sah leider meistens anders aus.
Nur selten ergab sich die Gelegenheit, sich um Ängste, Sorgen und Nöte der Patienten zu kümmern, da hiess es zu funktionieren und den Stationsbetrieb am Laufen zu halten.
Zwar knappste sie sich hier und da ein Stückchen der knapp bemessenen Zeit ab, um zuzuhören, zu trösten oder auch einfach mal ein Gespräch zu führen, aber es war nie genug.
Wenn sie nach Dienstende nach Hause kam, war sie müde, körperlich und seelisch erschöpft, und immer öfter vermisste sie das Gefühl der Zufriedenheit, dass sie zu Anfang ihrer Tätigkeit noch verspürt hatte.
Immer häufiger hatte sie das Gefühl, nur noch mit hängender Zunge hinter ihren einstigen Idealen her zu rennen, ohne sie jemals einholen zu können.
Heute war auch wieder so ein Tag.
Nicht weniger als fünf Patienten waren operiert worden und mussten nun überwacht und versorgt werden.
Dazu kam der übliche Stationsbetrieb, mit Neuaufnahmen, Visiten, dem Wechseln von Verbänden, und, und, und...
25 Patienten waren es, die sie zusammen mit zwei Kolleginnen und zwei Auszubildenden an diesem Nachmittag zu betreuen hatte und in fast allen Zimmern schellte es im Minutentakt.
Das einzige Zimmer, in dem es nicht ein einziges Mal läutete, war ein Einzelzimmer. Es lag direkt neben dem Schwesternzimmer und man konnte von dort aus durch eine Glasscheibe direkt hineinsehen.
Eine alte Frau lag hier im künstlichen Dämmerschlaf.
Krebs hatte ihr Inneres zerfressen, sie lag im Sterben und man verabreichte ihr eine Dauerinfusion mit Morphium, um ihr die letzten Tage erträglicher zu machen.
Das Fenster zu ihrem Zimmer hatte eine Jalousie, die man bei Bedarf herunter lassen konnte, doch jetzt, wo die sterbende Frau dort lag, war sie Tag und Nacht geöffnet, damit das Personal im Vorbeigehen einen Blick ins Zimmer werfen konnte.
Elke fragte sich manchmal, welchen Sinn das hatte, wo sich die Patientin doch nie von allein rührte.
Und ob sie noch lebte, würden sie aus dieser Entfernung nicht sehen können.
Es versetzte ihr jedesmal einen Stich, wenn sie durch die Scheibe blickte und daran dachte, dass die alte Frau diesen letzten Weg ihres Lebens ganz allein gehen musste. Sie hätte gern an ihrer Seite gesessen und ihre Hand gehalten, einfach nur, um sie spüren zu lassen, dass jemand da war, aber für eine solche Betreuung gab es hier in der Klinik keine Planstellen.
Die alte Frau hatte keine Familie und Elke konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals Besuch gehabt hätte.
Ihr Zimmer war eine Insel der Stille in dem hektischen Krankenhausbetrieb, und immer wenn sie den ausgemergelten Körper wusch oder mit einer Kollegin zusammen umbettete, damit sie sich nicht wundlag, zog sich ihr das Herz zusammen, bei der Vorstellung womöglich eines Tages selbst so allein und verlassen auf den Tod warten zu müssen.
Jeden Tag nahm sie sich vor, mehr Zeit bei der Sterbenden zu verbringen und jeden Tag ging sie nach Hause, ohne ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt zu haben.
Als sie jetzt von dem letzten Patientenruf zurückkam, bog sie spontan in das Zimmer der sterbenden Frau ab.
Leise schloss sie die Tür und trat ans Bett.
Sofort merkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Die Atemzüge der Patientin waren mühsam geworden, mit grossen Abständen und es wirkte eher wie ein Nach-Luft-Schnappen.
Elke fühlte den Puls. Er war flach und unregelmässig.
Es sah also ganz danach aus, als wäre das Ende dieses Lebens in greifbare Nähe gerückt.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. In einer halben Stunde kam die Nachtwache.
So wie es aussah, würde die heute Nacht eine Tote für den Transport in die Leichenhalle vorbereiten müssen.
Elke blickte durch das Fenster ins Dienstzimmer.
Am liebsten hätte sie sich zu der Sterbenden gesetzt, aber es gab noch so viel zu tun.
Die übrigen Patienten hatte ein ebensolches Anrecht auf ihre Aufmerksamkeit, wie die Frau hier in dem stillen Zimmer.
Elke sah noch einmal auf das eingefallene Gesicht. Der nahende Tod hatte bereits seine wächserne Farbe darüber gegossen und liess die Nase unnatürlich spitz wirken.
„Du warst auch mal so alt wie ich.“ dachte Elke. „Du hast Träume gehabt, vielleicht hast du auch geliebt. Und jetzt liegst du hier ganz allein, wartest auf den Tod und nimmst all das mit dir fort, wenn du endgültig gehst.“
Sie riss sich aus ihren Gedanken und schlüpfte aus dem Raum.
Die nächste halbe Stunde verbrachte sie damit, noch die letzten Verordnungen auszuführen und die Patientenkurven auf den aktuellsten Stand zu bringen.
Dann kam die Nachtschwester und sie erstattete Bericht, was bei jedem einzelnen Patienten am Tage gewesen war, was sie während der Nacht zu tun hatte und worauf sie besonders achten sollte.
Dabei erwähnte sie auch ihre Einschätzung, dass die Krebspatientin aus dem Nebenzimmer wohl in den nächsten Stunden sterben würde und die Nachtschwester verzog das Gesicht. Eine Tote während der Nacht bedeutete zusätzliche Arbeit.
Danach hatte Elke Feierabend, sie verabschiedete sich von den Kollegen und blieb auf dem Weg zur Tür noch einmal vor der Glasscheibe stehen.
Jetzt war bereits aus dieser Entfernung zu erkennen, dass die sogenannte Schnappatmung eingesetzt hatte, die für gewöhnlich das letzte Stadium vor dem endgültigen Atemstillstand begleitete.
Nachdenklich beobachtete sie das ruckartige Heben und Senken des Brustkorbs der alten Frau.
Dann fasste sie einen Entschluss und packte ihre Tasche zurück in das Schrankfach, aus dem sie sie gerade erst genommen hatte. Die Nachtwache sah sie erstaunt an.
„Was hast du denn jetzt vor? Willst du mir noch Gesellschaft leisten?“
Elke schüttelte den Kopf. „Nein, dir nicht, aber ihr.“ Sie deutete auf die Wand zum benachbarten Raum.
„Aha. Na, wenn du meinst.“
Doch Elke war schon aus dem Dienstzimmer gegangen und betrat das Zimmer der Sterbenden.
Als Erstes liess sie die Jalousie herunter und zog sich dann einen Stuhl neben das Bett.
Behutsam nahm sie die faltige Hand der alten Frau in ihre und strich mit den Fingern der Anderen darüber.
Obwohl sie keine Ahnung hatte, ob die Patientin das überhaupt noch merkte, war es ihr ein Bedürfnis es zu tun, selbst wenn sie damit vielleicht nur sich selbst tröstete.
Im Zimmer brannte keine Deckenbeleuchtung, nur die Nachttischlampe erhellte den Raum mit ihrem trüben Schein, während eine Stunde nach der anderen verging und Elke zusah, wie der Lebensfunke immer schwächer wurde.
Um kurz vor Mitternacht entwich den Lippen der Sterbenden ein letzter Seufzer und dann wurde es still.
Elke blieb noch einen Moment sitzen und betrachtete das Gesicht der Toten. Danach legte sie die Hand der alten Frau vorsichtig auf die Matratze und stand auf.
Sie wusste, was zu tun war, telefonierte mit dem Arzt und informierte die Nachtschwester.
Die war froh, als sie hörte, dass ihre Kollegin sich um alles Notwendige kümmern würde, denn sie selbst hatte genug mit den Lebenden zu tun.
Nachdem der Arzt die Verstorbene untersucht und den Totenschein ausgeschrieben hatte, machte Elke sich daran, den Leichnam zu waschen und herzurichten.
Erst als das alles geschehen war, holte sie ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg.
Da es so spät war, herrschte auf den Strassen nicht viel Verkehr und sie war rasch zuhause.
In ihrer Wohnung stellte sie sich unter die Dusche und anschliessend ass sie noch etwas.
Als sie dann endlich im Bett lag und im Dunkeln an die Zimmerdecke starrte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Sie weinte, weil ein Leben zu Ende gegangen war und weil sie als Einzige dabei gewesen war, als eine Seele die Welt verliess.
Aber es waren gute Tränen, sie schmerzten nicht, sondern nahmen einen grossen Teil ihrer Unzufriedenheit und Rastlosigkeit mit.
Was sie getan hatte, war gut und richtig gewesen, auch wenn einige ihrer Kollegen es nicht verstehen würden.
Und das zu wissen, gab ihr Kraft.
Kraft genug, auch am nächsten Tag wieder an ihren Arbeitsplatz zurück zu kehren und zu tun, was getan werden musste.
Sie lächelte unter Tränen, schloss die Augen und schlief ein.
Texte: coverbild:
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Tag der Veröffentlichung: 04.03.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet den Männern und Frauen, die den Dienst am Menschen nicht als Job verstehen, sondern als Berufung.