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Schichtende, endlich!
Andrea eilte in die Umkleidekabine. Sie wollte mit niemandem reden, wollte nur so schnell wie möglich weg.
Ihre Hand tastete in der Tasche ihres Kittels nach der kleinen Schachtel, die sie in einem unbeobachteten Moment aus der Schublade genommen hatte, wo die Schlaf- und Beruhigungsmittel aufbewahrt wurden.
Obwohl ihr bei der Berührung ein Kloss in die Kehle stieg, hatte es doch etwas Tröstliches, sie zu spüren, wie eine Verheissung von baldiger Ruhe und Frieden.
Es war nicht die erste Schachtel, die sie mitgenommen hatte, aber da die wirklich starken Medikamente unter Verschluss und damit unerreichbar waren, wollte sie lieber auf Nummer Sicher gehen und mehr als eine Packung zur Verfügung haben.
Im Umkleideraum angekommen, liess sie die Tabletten rasch in ihre Schultertasche gleiten, bevor ihre Kolleginnen ebenfalls hereinkamen. Dann streifte sie den Kittel aus und zog sich ihre Jeans und die Bluse an, mit denen sie früh um halb sechs die Klinik betreten hatte. Sie hängte den Kittel auf einen Bügel, verstaute ihn und die weissen Schuhe im Spind und schloss ihn ab.
Als sie in den Waschraum ging, um sich die Haare zu kämmen, öffnete sich die Tür zum Gang und die anderen Schwestern kamen hereingeschnattert. Ihre Stimmen und ihr Lachen erfüllten den Raum und Andrea konnte es kaum ertragen.
Sie huschte aus der Tür, bevor die Anderen sie sehen konnten, fuhr mit dem Lift ins Foyer und verliess das Krankenhaus. Kurz darauf sass sie im Bus und hing ihren Gedanken nach.
Wie hatte sie an diesen Punkt kommen können? Sie war doch eigentlich nicht dumm, warum hatte sie dann so etwas Dummes gemacht?
Fast vier Wochen war es jetzt her, dass sie Mirko kennengelernt hatte.
Er machte wie sie eine Ausbildung in der Krankenpflege, war aber ein Jahr weiter. Zwar entsprach er äusserlich nicht unbedingt ihrem Typ, aber er war witzig, schlagfertig und schien sich ernsthaft dafür zu interessieren, was sie dachte.
Sie arbeiteten auf benachbarten Bettenstationen und liefen sich täglich über den Weg. Ausserdem gewöhnte er sich nach einer Weile an, in seiner Pause bei ihr vorbei zu kommen.
Bisher war ihr von männlicher Seite noch nie so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht worden und es schmeichelte ihr.
Im Nachhinein betrachtet schimpfte sie sich natürlich selbst eine blöde Gans, dass sie nicht hellhörig geworden war, als er für die erste Verabredung gleich ihr Zimmer im Wohnheim vorschlug.
Am frühen Abend wollte er auf einen Tee vorbeikommen und sie hatte sich darauf eingelassen, im festen Glauben sich und die ganze Situation im Griff zu haben.
Als Mirko dann kam, hatte er anstatt Tee eine Flasche Wein dabei und zwei Stunden später war die Flasche leer und sie lag mit Mirko im Bett.
Benebelt vom Wein und Mirkos Zärtlichkeiten, beides ebenso köstlich wie ungewohnt, waren ihre guten Vorsätze ebenso beim Teufel wie ihre Intelligenz und so wurde Mirko der erste Mann, mit dem sie Sex hatte. Er fragte nicht nach Verhütung und sie dachte nicht daran, aufgeregt wie sie war.
Natürlich war sie viel zu nervös und unerfahren, als dass sie es wirklich hätte geniessen können, aber ihm schien es durchaus zu gefallen.
Anschliessend lagen sie nebeneinander und sie schämte sich plötzlich ihrer Nacktheit.
Zudem fing Mirko an zu reden wie ein Wasserfall, über alle möglichen Nebensächlichkeiten und landete schliesslich dabei, dass einmaliger Sex für ihn nicht gleichbedeutend war mit einer Beziehung.
Wie betäubt lag sie da und liess seinen Redefluss über sich ergehen, war froh, als er sich endlich anzog und ging. Danach stand sie eine lange Zeit unter der Dusche.
Innerlich fühlte sie sich hohl und leer, aber ihre Augen blieben trocken.
Wenige Tage später wechselte sie turnusmässig den Arbeitsplatz und war froh, Mirko nicht mehr jeden Tag sehen zu müssen.
Seit dem gemeinsamen Abend hatte er sich nicht mehr blicken lassen und rief auch nicht an, kam auch nicht mehr wie vorher täglich vorbei.
Andrea bemühte sich zu vergessen, was passiert war, denn ihr Zwischenexamen stand vor der Tür und sie hatte viel zu lernen. Da brauchte sie einen klaren Kopf. Doch als das Examen vorüber war und sie einen Blick in den Kalender warf, erwartete sie der nächste Schock.
Bisher war ihr Monatszyklus so regelmässig gewesen wie ein Uhrwerk, doch jetzt war sie drei Tage über die Zeit.
Sollte sie etwa schwanger sein?
Sie rechnete nach und kam zu dem Ergebnis, dass die unglückliche Episode genau in die gefährlichen Tage

gefallen war, wie ihre Mutter es immer nannte.
Der Himmel schien einzustürzen.
Sie war mitten in der Ausbildung, hatte kein Geld und ihre Mutter würde sie vermutlich halbtot schlagen, wenn sie mit gerade einmal 18 Jahren ein Kind bekam. Selbst in einer ganz anderen Zeit gross geworden und mit mehr als antiquierten Moralvorstellungen, würde sie ihrer Tochter ganz sicher nicht den Rücken stärken.
Andrea war beunruhigt, beschloss aber, zunächst abzuwarten.
Zwei ängstliche Tage später, als sich noch immer nichts getan hatte, fing sie an, in der Klinik Schlaftabletten zu stehlen.
Da auch öfters von den benachbarten Stationen Medikamente geborgt wurden und ausserdem die Nachtwache alle paar Tage wechselte, wusste sie, dass es nicht auffallen würde.
Inzwischen hatte sie drei volle Schachteln in ihrem Kleiderschrank versteckt. Heute wollte sie in der Apotheke einen Schwangerschaftstest besorgen und danach tun, was nötig war. Wenn sich ihr Verdacht bestätigte, so hatte sie beschlossen, würde sie sich eine Flasche Sekt kaufen und die Tabletten damit runterspülen.
Welche Alternative hatte sie sonst?
Mit einem Baby konnte sie nicht arbeiten und zuhause würde ihre verwitwete Mutter sie nicht aufnehmen, das war ihr klar. Mit einem unehelichen Kind brauchte sie nicht anzukommen, dass hatte sie ihr oft genug eingetrichtert. Und sonst hatte sie niemanden.
Was nützten ihr die ganzen Beratungsstellen und was es da so alles gab. Eine Abtreibung kam für sie nicht in Frage, aber das Kind bekommen und grossziehen ging ebensowenig. Da war es schon besser, wenn sie und das Kind verschwanden.
Sie fühlte sich einsam und allein gelassen und wusste nicht, wem sie sich anvertrauen sollte.
Dabei war es ihre eigene Dummheit gewesen, ungeschützten Verkehr mit einem Jungen zu haben, den sie kaum kannte.
Als sie mit dem verpackten Teststäbchen in der Tasche zum Wohnheim kam, sah sie von weitem jemanden vor der Tür stehen.
Aus der Nähe erkannte sie Mirko.
Er hatte die Hände in die Tasche gesteckt und schien auf jemanden zu warten.
Sie tat, als sähe sie ihn nicht und ging an ihm vorbei ins Haus. Drinnen öffnete sie als Erstes den Briefkasten und entnahm die wenige Post, wobei sie sich ärgerte, das ihre Hände zitterten.
Auch Mirko war stumm geblieben, als sie an ihm vorbei gegangen war, aber jetzt kam er ihr nach.
Während sie den Schlüssel für die Innentür aus der Tasche fummelte, stellte er sich neben sie und sagte:“Hi. Wie geht’s dir?“
Sie sah ihn nicht an, antwortete nur kurz angebunden:“Was glaubst du denn, wie´s mir geht?“
Er erwiderte nichts, schien aber bestürzt über ihren feindseligen Ton.
Sie liess ihn stehen, zog die Glastür hinter sich zu und fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock, wo sie ihr Zimmer hatte.
Drinnen angekommen setzte sie sich in einen Sessel ohne ihre Jacke oder ihre Schuhe auszuziehen und starrte lange Zeit aus dem Fenster in die Blätter der grossen, alten Weide, die dort draussen stand, bis ihr Herzschlag sich normalisiert hatte.
Dann streifte sie die Jacke ab, holte den Schwangerschaftstest aus der Umhängetasche und ging zur Toilette.
Nachdem sie sorgfältig die Gebrauchsanweisung durchgelesen hatte, setzte sie sich auf die Porzellanschüssel und hielt das saugfähige Ende in den Urinstrahl.
Mit klopfendem Herzen sass sie anschliessend da, den Blick fest auf die beiden kleinen Sichtfenster gerichtet.
Nach zehn Minuten gestattete sie sich ein erleichtertes Lächeln. Negativ. Sie war nicht schwanger.
Plötzlich war ihr Herz leicht wie eine Feder und gleichzeitig kochte eine unbeschreibliche Wut in ihr hoch.
Sie stand auf, zog sich an und verliess dann im Laufschritt ihr Zimmer. Der Fahrstuhl war ihr zu langsam, also rannte sie die Treppen bis zum Erdgeschoss hinunter.
Sie sah um die Ecke, ja, tatsächlich, Mirko stand noch draussen.
Er sah auf, als sie völlig ausser Atem mit gerötetem Gesicht aus der Tür geschossen kam, doch bevor er auch nur ein einziges Wort sagen konnte, holte sie aus und versetzte ihm die gewaltigste Ohrfeige, deren sie fähig war.
Wie eine Befreiung fühlte sich das an und sie spürte, dass sie jetzt endlich die ganze Sache hinter sich lassen konnte.
Mirko starrte sie entgeistert an und hielt sich die hochrote Wange, sagte aber nichts – womöglich fürchtete er, sie würde noch einmal zuschlagen.
Ohne sich bei ihm aufzuhalten, ging sie wieder ins Haus und zurück in ihr Zimmer. Sie öffnete den Schrank und nahm die gestohlenen Tabletten heraus. Dann nahm sie auch die Schachtel aus ihrer Tasche, steckte alle in eine Tüte und stopfte sie im Flur in den Müllschlucker.
Da hörte sie, wie sich die Fahrstuhltür öffnete und schaute den Flur entlang.
Mirko stieg aus dem Lift und kam zögerlich näher.
„Was willst du?“ fragte sie barsch.
„Mich entschuldigen.“ kam die leise Antwort.
„Okay. Das hast du ja jetzt getan. Also verpiss´ dich.“
Wie ein begossener Pudel stand er kläglich vor ihr und sie fragte sich, welcher Teufel sie geritten hatte, sich mit diesem Typen einzulassen.
Ohne ein weiteres Wort ging sie zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie durchmass den kleinen Raum mit energischen Schritten und öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon. Draussen setzte sie sich in den Holzstuhl, der dort stand und stützte die Füsse auf das Geländer. Mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf zurück und genoss die sommerliche Wärme. Dann sah sie den Vögeln zu, die durch die Zweige der alten Weide turnten und feierte ihren zweiten Geburtstag, ganz für sich.

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Texte: Cover: 820_R_by_Excursion_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2011

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