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Ein kalter Wind pfiff durch die Strassen der kleinen Stadt, trieb Papierfetzen und trockene Blätter vor sich her und gelegentlich eine übrig gebliebene Luftschlange oder Konfetti. An einem Zaun hing eine rote Clownsnase und schaukelte in den Böen.
Miriam blieb kurz stehen, wickelte den Schal enger um den Hals und ging dann weiter.
In den letzten zwei Tagen war die Stadt erfüllt gewesen von trunkener Fröhlichkeit und Karnevalsseligkeit, aber heute, am Aschermittwoch war davon schon nichts mehr zu spüren.
Kalt und abweisend kauerten sich die grauen Häuser an den Strassenrändern. Über die Strassen, in denen sich gestern noch schunkelnde und feiernde Menschen gedrängt hatten, rollten heute wieder die blechernen Schlangen des Berufsverkehrs, als wäre nie etwas gewesen.
Miriam hatte sich nicht an der ausgelassenen Fröhlichkeit beteiligt, die rings um sie herum die Menschen befallen hatte, wie ein ansteckendes Virus. Sie war noch nie ein Faschingsfan gewesen und dieses Jahr hatte ihr der Sinn noch weniger danach gestanden, ein albernes Kostüm zu tragen, sich womöglich zu betrinken und über alberne Witze zu lachen.
Sie hatte sowieso schon eine ganze Weile nicht mehr gelacht. Nicht so richtig, aus vollem Hals und Herzen.
Schon seit Rainer aus ihrem Leben verschwunden war.
Nein, überlegte sie, eigentlich schon vorher nicht mehr. Seit ihre Probleme angefangen hatten, war ganz allmählich und schleichend das Lachen aus ihrem Leben verschwunden und von nächtlichen Grübeleien und Magenschmerzen ersetzt worden.
Die „Probleme“, das waren keine lautstarken Auseinandersetzungen gewesen, kein sich Anschreien, keine tränenreichen Vorwürfe oder theatralisches Türenknallen, nein, ihr war es eher erschienen, als hätte jemand ihrer Liebe den Stöpsel gezogen und sie hatte nur hilflos zusehen können, wie die Gefühle langsam aber sicher im gefühlsmässigen Ausguss versickerten.
Zwei Jahre hatten sie zusammen gehabt, eins davon in einer gemeinsamen Wohnung und in eben diesem einen Jahr zeigte sich die Kluft zwischen ihnen, die sich vorher noch so geschickt verborgen hatte.
Bei der Arbeit hatten sie sich kennengelernt. Sie war Krankenschwester, er studierte Medizin und verdiente sich durch Aushilfsjobs in der Pflege etwas dazu.
Es hatte ihr geschmeichelt, als er sie praktisch sofort heftig umwarb und schon als er sie nach der ersten Verabredung nach Hause brachte, sassen sie noch lange wild küssend in seinem Auto.
Die nächsten Monate hatten etwas Rauschhaftes gehabt. Sie umkreisten einander wie Sonne und Mond, wobei mal er die Sonne war und mal sie.
Miriam lernte seine Familie kennen und wurde herzlich aufgenommen, nach einer Weile sogar als „zukünftige Schwiegertochter“ vorgestellt.
Doch als sie zusammenzogen, neigte sich das Pendel kaum merklich jeden Tag etwas mehr in die andere Richtung.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er plötzlich von einer Kommilitonin zu schwärmen begann und als er eines Tages von dieser allein zum Abendessen eingeladen wurde, war sie das erste Mal wirklich verletzt.
Da half auch die Erklärung nicht, dass die Kommilitonin ebenfalls „in festen Händen“ und das Essen eine ganz harmlose Angelegenheit war.
Von da an vertiefte sich der Riss zwischen ihnen mit zunehmender Geschwindigkeit und ein knappes Jahr nachdem sie zusammengezogen waren, überraschte er sie damit, dass er sich in einem Studentenwohnheim ein Zimmer genommen hatte.
Angeblich, weil er auf sein Staatsexamen zusteuerte und mehr Ruhe zum Lernen brauchte. Aber eigentlich war ihnen beiden klar, dass dies der Anfang vom Ende war.
Sie sahen sich nur noch selten und sie litt unter dem Auf und Ab in ihren Gefühlen und ihrer Beziehung,
war aber nicht mutig genug, das Elend selbst zu beenden. Vier Wochen nach seinem Auszug beschloss sie, endlich reinen Tisch zu machen und ihm die Pistole auf die Brust zu setzen. Abends nach dem Dienst fuhr sie zu ihm und als sie in seiner neuen Behausung stand, fragte sie ihn:
„Was willst du wirklich? Willst du dass Schluss ist?“
Er druckste herum und wand sich, bemüht, eine klare Antwort zu vermeiden, doch als sie nicht lockerliess, gab er es schliesslich auf und nickte. Ja, er wollte Schluss machen.
Und so war sie wieder allein.
Einen Monat war das jetzt her und es schmerzte noch immer, wie am ersten Tag. Denn obwohl das Ende unausweichlich und mehr als überfällig gewesen war, war sie nicht erleichtert, als er das endgültige Wort aussprach.
Ihre Kollegen und Freunde versuchten sie aufzumuntern.
„Für jede Tür, die sich schliesst, geht eine andere auf.“ war einer der klugen Sprüche, die sie sich anhören musste. Aber das half ihr kein bisschen.
Genausowenig wie das zögernde Geständnis einer Kollegin, dass Rainer bereits vor einiger Zeit versucht hatte, sich mit ihr zu verabreden, was sie aber abgelehnt hatte.
Nach und nach kam dann ans Licht, dass diese Kollegin nicht die Einzige gewesen war und Miriam war, als würde ihr noch nachträglich ein Dolch in den Rücken gestossen.
Ausserhalb der Arbeit verkroch sie sich zuhause, ging praktisch gar nicht mehr aus, liess sich von ihrem Schmerz überrollen und hüllte sich hinein wie in ein Kleidungsstück, obwohl sie manchmal das Gefühl hatte, darin zu ersticken.
Doch heute hatte sie plötzlich das Bedürfnis nach frischer Luft gehabt. Ohne lange zu überlegen, hatte sie ihren Mantel und ihren Schal genommen und war nach draussen gegangen.
Sie achtete nicht darauf, wohin sie lief und fand sich plötzlich auf der breiten Fussgängerbrücke wieder, die am Ende einer Einkaufsmeile den kleinen Fluss überspannte, der das Städtchen in zwei Hälften teilte.
Sie lief weiter bis zur Mitte, lehnte sich auf das Geländer und sah hinunter auf das schmutziggraue Wasser, auf dem Enten und Blesshühner herumpaddelten. Wegen des vielen Regens der letzten Tage war die Strömung schnell und kleine Schaumkronen tanzten auf den Wellen.
Am liebsten hätte sie all den Schmerz und die Enttäuschung aus ihrem Herzen gerissen und ins Wasser geworfen, damit der Fluss sie mit sich fort nahm. Und obwohl das nicht möglich war, fühlte sie sich merkwürdig getröstet, wie sie da stand und dem Verlauf der Wellenmuster mit den Augen folgte.
Nachdem sie einige Zeit ihren Gedanken nachgespürt hatte, fühlte sie sich plötzlich beobachtet.
Sie richtete sich auf und sah sich um.
Ein Stück entfernt von ihr, auf der anderen Seite der Brücke stand ein schlanker, junger Mann in einer dick gefütterten Jacke und mit Handschuhen an den Händen.
Er hatte kurze, blonde Locken, ein freundliches Gesicht und als sich ihre Blicke trafen, lächelte er verlegen und kam zu ihr herüber.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte Miriam.
„Eigentlich nicht. Ich hatte eher das Gefühl, Sie bräuchten vielleicht Hilfe? Sie sahen so traurig aus, wie sie da ins Wasser gestarrt haben.“ Er legte den Kopf ein bisschen schief und hob die Schultern. „ Ehrlich gesagt hatte ich ein bisschen Bedenken, Sie wollten vielleicht ...“ er stockte und liess den Blick hinunter zum Wasser schweifen.
Miriam brauchte einen Moment, dann begriff sie.
„Sie dachten, ich würde vielleicht ins Wasser springen?“ beendete sie den Satz für ihn.
Er nickte und sie musste angesichts seines Gesichtsausdrucks lächeln.
„Nein, nein, keine Angst. Das würde auch sowieso nichts bringen, ich kann ziemlich gut schwimmen.“ beruhigte sie ihn.
Verlegen fuhr er sich durchs Haar. „Ach so, gut! Ich dachte nur, so wie sie da standen ...“
Sie schaute in sein Gesicht und sah, dass seine Augen die gleiche Farbe hatten, wie der wolkenverhangene Februarhimmel.
„Nichts für ungut.“ sagte er jetzt und wandte sich zum Gehen. Sie nickte ihm zu und sah ihm nach, als er davonschritt. Er machte grosse Schritte und beinah bedauerte sie, dass er schon ging. Sie hätte gerne noch länger in diese grauen Augen gesehen.
Sie drehte sich um und wollte ebenfalls gehen, da hörte sie schnelle Schritte hinter sich und im nächsten Moment war er neben ihr. Sie blieb stehen und sah fragend zu ihm auf.
„Tut mir leid, wenn ich aufdringlich bin,“ sagte er, „aber wenn ich jetzt gehe, werde ich mich später ärgern, dass ich Sie nicht gebeten habe, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen. Von mir aus auch einen Tee, wenn Sie keinen Kaffee mögen.“ Er lächelte und sah sie bittend an.
Miriam überlegte kurz.
Versprach sie sich etwas davon, wenn sie Ja sagte?
Nein, entschied sie. Sie versprach sich nichts davon, aber sie würde trotzdem mitgehen, denn vielleicht, nur vielleicht war ja doch was dran, an dem Spruch mit der Tür.
Sie nickte also lächelnd und zusammen verliessen sie die Brücke.

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Tag der Veröffentlichung: 25.02.2011

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