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Grafioso


der Mann, der seine Chance nutzte

Eine Satire





Auf einer Toilette im neuen Leipziger Messegelände fand ich an einem Papierspender von 40 cm Durchmesser erstmals die folgende Firmenwerbung:

Firma ISSA
Tel. 0621 / 23 354


Ich frage mich, wen es interessiert oder nützt, an diesem 0rt diese Telefonnummer zu erfahren.





Die Geschichte beginnt mit einem genüßlichen Stöhnen, dem Bericht an die Umwelt über eine unaussprechliche Erleichterung.
Herr Grafioso sitzt irgendwo im Gelände der Leipziger Messe auf irgendeiner Toilette. Es ist kurz vor 19.3o Uhr. In wenigen Minuten werden die Hallen geschlossen. Durch die Lautsprecher war bereits die dritte Aufforderung zum Verlassen der Ausstellung verklungen. 'Da ist ja noch einmal alles gut gegangen' denkt er. Immerhin hat er wenigstens noch rechtzeitig vor der langen Heimfahrt ein recht ordentliches Geschäft abgeschlossen und wird jetzt zum Papier greifen, um die letzten unangenehmen Spuren zu beseitigen, die scheinbar immer mit derartigen Tätigkeiten verbunden sind.

Doch der Papierspender ist leer. Er unterbricht sein Sinnen über die Notwendigkeit der Schmutzbeseitigung bei jeder Art von Geschäften und denkt, er träumt. Kein Papier da! Wo ist das Papier? Nachdem er vergeblich nervös alle Ecken der kleinen Örtlichkeit nach einem Ersatzpaket abgesucht hat, widmet er sich noch einmal intensiv der fast 40 cm großen Blechtrommel, die in der Lage ist, den Wochenbedarf für die Besucher eines mittleren Fußballstadions zu deponieren und doch scheinbar kein einziges Blatt mehr für ihn bereithält. Das ist ihm seit DDR-Zeiten nicht mehr passiert. Damals hatte er stets eine Reserverolle einstecken. Und die reichte meist so lange, bis er auf einer Toilette wieder eine mitnehmen konnte. Aber in diesem Staat ist wirklich auf nichts Verlaß! Erst verspricht man den 0ssis alles mögliche und wenn man sich darauf verläßt, ist man der Angeschmierte. Buchstäblich. Natürlich wird das immer so hingedreht, daß man selbst schuld ist. Auch er hat sich schließlich selbst angeschmiert.
"Hallo, ist hier jemand?" Es ist zwar ganz still in den Toilettenräumen, aber vielleicht gibt es doch eine Hilfe für ihn. Der Messefunk ist inzwischen auch abgeschaltet und kein beruhigendes Klavierkonzert kann seinen Streß etwas abbauen. Wahrscheinlich werden jetzt die Tore geschlossen! Nein, vorher wird man erst noch prüfen, ob alle Besucher das Gelände verlassen haben. Einige Minuten geduldet sich Grafioso und dann denkt er, daß ihn wahrscheinlich erst um Mitternacht der Werkschutz bei seinem Rundgang finden wird.
Nun prüft er seine Taschen. Kein Papiertaschentuch! Die sind in seiner Aktentasche im Auto. 'Im Auto!!' stöhnt er laut.
Er findet nur die Einlaßkarte und einen Parkschein. Die EDV-Tageskarte ist ungeeignet. Aber der Parkschein müßte gehen. Nur zu klein. Zu klein. Zu klein. Während er weitersucht, sagt er diesen Satz mehrfach halblaut vor sich hin. Doch er findet nur noch einen 100-Mark-Schein. Sollte er den nehmen? Dann lieber den Parkschein.
Der nächste Satz, den er von sich gibt, besteht aus einem Wort und hat einen Zusammenhang zu seiner mißglückten Tätigkeit. Sein Bemühen hatte keinen Erfolg. Jetzt darf er sich auch noch die Finger reinigen. Und kann nichts mehr anfassen, wenn er die Ausweitung des Schmiereffekts nicht fortsetzen möchte.
Da sieht er auf der leeren Papierspenderrolle den Firmennamen 'ISSA' und die Telefonnummer '0621/23354'.
'Toll' denkt er. Einfach Wahnsinn! Die Wessis haben doch für jedes Problem eine Lösung. Wahre Teufelskerle!'
Nicht zu denken, was ihm vor der Wende passiert wäre. Kein Mensch hätte sich in dem Land, wo es bei allem um das Wohl des Volkes ging, bei so einer Gelegenheit um ihn gekümmert. Das steht fest. Aber die Kapitalisten! Dieser Firmenname suggeriert ihm jetzt in seiner Situation den vertrauensvollen Slogen - 'dafür stehe ich mit meinem Namen-'.
Also selbst ein Toilettenpapierhersteller hat ein Kundentelefon geschaltet, um Tag und Nacht für seine Kunden dazusein! Überwältigend. Ich kann wirklich glücklich sein, daß ich den Niedergang des Sozialismus noch miterleben durfte.' Auf was wir alles verzichten mußten.' Das war sein Standardsatz der letzten Jahre, der ihm auch bei dieser Gelegenheit sofort wieder durch den Kopf schoß.
Was würde jetzt nur ein Mensch machen, der kein Telefon bei sich hat? Doch er muß nicht lange über diesen Fall nachdenken. Bloß gut, daß die Wende kam. Ich hätte jetzt niemals ein Handy. Ich könnte jetzt niemals diese Hilfe in Anspruch nehmen. In seiner Not müßte Herr Grafioso eigentlich nervös und betrübt, verärgert und ungeduldig sein. Nichts von alledem. Herr Grafioso ist ein politisch denkender Mensch und er verarbeitet solche Prozesse rationeller als sein Westkollege es je fertigbringen würde. Fast frohgemut, in jedem Fall dankbar über sein Glück, jetzt in diesem Augenblick in diesem Land leben und über die modernste Technik verfügen zu dürfen, beginnt er ein kleines Kunststück. Er muß mit der linken Hand sein Handy aus der linken Jackentasche herausangeln, ohne sich mit der rechten Hand in irgendeiner Weise zu beschmieren. So, das war geschafft. Jetzt mit der linken Hand die Nummer wählen. Auch geschafft. Es dauerte fast eine Minute und Herr Grafioso will schon glauben, daß das Telefon nicht besetzt sei, da meldet sich eine hochdeutsch sprechende, überaus freundliche weibliche Stimme. 'Immer wieder mein Pessimismus', eilt es ihm durch den Schädel, 'wann wirst du dir das endlich abgewöhnen'.
"Wir begrüßen Sie sehr herzlich bei ISSA. Wenn Ihr Anliegen etwas Zeit hat, so bitten wir sie morgen wieder um Ihren Anruf. Wir sind von 6 bis 18 Uhr für Sie bereit. Sollten Sie in dringender geschäftlicher Angelegenheit heute noch einen Kontakt zu uns benötigen, so melden Sie sich bitte unter der Nummer 01212345637283754. Der diensthabende Geschäftsführer wird sich dann Ihrer Probleme annehmen."
Wahnsinn! Der Geschäftsführer selbst!
Nur die Nummer hat er sich nicht gemerkt. Also ruft er gleich nochmals an und nach drei Minuten hat er die ersten vier Zahlen. Nach seinem zwölften Anruf schleicht ihn die Angst an, daß er sich die Telefonnummer nicht merken könnte - denn er kann sich hier nichts notieren - oder daß inzwischen die Batterien ihren Dienst aufgeben. Schließlich ritzt er sich die Handynummer mit einem Geldstück auf den Fußboden.
Es ist fast 20 Uhr, als er endlich den diensthabenden Geschäftsführer am Apparat hat.
"Hier ist Herr Grafioso. Ist dort der diensthabende Geschäftsführer der Firma ISSA? Ja? Um was es geht? Kurz gesagt, ich will sie nicht weiter belästigen. Ich benötige dringend Ihren Servicedienst. Wo ich sitze? Im Messegelände Leipzig. Wie soll ich Ihnen das beschreiben."
Die kleine Pause, die Grafioso macht, um sich an den genauen Standort seiner Toilette zu erinnern, nutzt der Gesprächspartner, um eine weitere wichtige Frage zu stellen: Um was für einen Service es ginge.
"Ich brauche dringend eine Rolle Papier."
"Ich verstehe Papier. Was für Papier?"
"Egal, die Hauptsache Sie schicken sofort Jemanden vorbei."
"Hören Sie mal. Ich bin hier zu einem Empfang im Bundeskanzleramt und ich kann mich nicht um dergleichen Dinge kümmern. Entschuldigen Sie bitte, aber ich muß jetzt auflegen."
Sagts und tats, sosehr Grafioso auch dazwischen rief "und wer kann mir dann helfen?"

Wieder einmal kam er sich betrogen vor. So ging es ihm nach der Wende so oft. Zuerst war er begeistert und angenehm überrascht. Dann verwundert und nachdenklich, ob er irgend etwas falsch gemacht oder schlecht verstanden hatte. Und schließlich war er enttäuscht. Abgrundtief enttäuscht. Um bei nächstbester Gelegenheit gleich wieder in große Hoffnung zu verfallen. Es konnte doch nicht wahr sein, daß alles nur Betrug und Vorsatz gewesen war. Es wird eine Verwechslung sein. Er wird etwas falsch aufgefaßt haben. Es wird an ihm liegen. Und diese Naivität hatte ihn wiederholt vor der Verzweiflung bewahrt. Inzwischen weiß er, daß es Gott ist, der sich um ihn kümmert und das gibt ihm die immer wieder notwendige Zuversicht.
Er weiß aber auch bereits so viel über die Religion, daß Gott nicht direkt eingreifen kann. Er muß etwas tun und Gott wird es segnen. Aber was soll er jetzt tun?
Zu DDR-Zeiten hätte er jetzt die Kreisleitung der SED angerufen und sich über die Firma ISSA beschwert. Irgendein Diensthabender hätte sich der Sache angenommen. Ja, das hätte er. Aber es hätte gedauert! Nein, für so einen intimen Fall gab es damals und gibt es scheinbar auch heute keine schnelle Lösung.
Letztendlich entschließt sich Grafioso, doch den 100-Mark-Schein zu benutzen. Es geht leidlich, denn ein Großteil seiner Verunreinigungen ist bereits angetrocknet und braucht nun nur noch abgekrümelt zu werden. Die Zeit heilt eben alle Wunden, denkt er tiefsinnig, wie es seine Art ist. Verschmiert, wie er an den Händen ist, zieht er sich die Hosen nicht erst hoch, sondern verläßt in vorsichtigen Trippelschritten die kleine Kammer, um sich am Waschbecken des Vorraumes gründlich zu säubern.
In der Hand hält er den benutzten Geldschein.
Da geht die Tür auf und ein Sicherheitsmann will auf seinem Rundgang routinemäßig auch diesen Raum kontrollieren. Grafioso hatte zwar noch vor wenigen Minuten diesen Wachmann sehnlichst herbeigewünscht. Es ist ihm aber nun so unendlich peinlich, beim Waschen seines entblößten Hinterteils erwischt zu werden.
Der Uniformierte faßt sich zuerst. "Was machen Sie hier?", fragt er im Ton eines Zollbeamten, der soeben eine Fuhre Rauschgift entdeckt hat. Grafioso stottert völlig sinnwidrig, "Sie sehen doch, daß ich mein Geld wasche!" Und um nicht zu lügen, nimmt er den Hundertmarkschein und hält ihn unter den Wasserstrahl. Sein Hinterteil ist noch immer blank. Für ihn ist es wichtig, etwas Ernsthaftes, Unverfängliches zu tun. Sein einziges Denken ist darauf gerichtet, von dieser Peinlichkeit abzulenken.
"Sie geben also zu, daß Sie hier Geld waschen!?"
"Ja, Sie sehen es doch selbst."
Der Wachmann zieht sein Handy und fordert Verstärkung an.
Grafioso will die Hosen hochziehen. Aber das wird ihm, mit einem Pistolenlauf als Argument, verboten.
"Sie bleiben, wie Sie sind und rühren sich nicht!"
Grafioso kennt diesen Befehl aus dem Fernsehen und er bemerkt, wie sich in seinem Gehirn Blockaden bilden. Er sieht nicht mehr durch und er weiß auch nicht, was er als Nächstes tun sollte.
Ein Wachmann kommt hinzu. Er hat einen Hund bei sich und Grafioso ist sich lange Zeit im unklaren, ob es dem Herrchen gelingen wird, die Bestie so zurückzuhalten, daß sie nur seine Hose, nicht aber sein Gesäß und sein Zeugungsorgan zerfetzt.
Dann wundert er sich darüber, daß man "Zeugungsorgan" dazu sagt, obwohl doch das 0rgan in den seltensten Fällen zum Zeugen benutzt wird. Sofort ärgert er sich wieder, daß er jetzt, wo es darauf ankommt, Haltung zu bewahren, solche unnützen Gedanken hat.
Gott Lob, der Hund folgt endlich der Stimme seines Herrn und legt sich mit den Resten von Grafiosos Hose brav auf den kalten Fliesenboden. Endlich eine Pause in der verrückten Situation. Aber man läßt ihm keine Zeit zum Nachdenken. Der Wachmann, der ihn entdeckt hat, gibt jetzt folgenden Spruch durch sein Handy:
"Ich habe einen Geldwäscher bei der Ausübung seiner Tat gestellt. Der Täter ist geständig, 0ffenbar hat er das übrige Geld in seinen Hosen versteckt. - Jawohl, wir können ihn festhalten, bis Sie eintreffen. - Jawohl, keine Spuren verwischen. - Ende."
Grafioso begreift langsam, welche Verwechslung es jetzt bezüglich seiner Person gibt. 'Ich muß sofort den Sachverhalt klarstellen', denkt er. 'Wahrscheinlich ist Geldwäsche aus hygienischen Gründen verboten'. Bloß, was sollte er tun. Außerdem hat er nicht gewußt, daß so etwas im Westen verboten ist. Er wird davon ablenken und sich zur Wehr setzen.
"Hören Sie mal, was geht hier eigentlich vor? Man wird wohl mal Ihre Toilette benutzen dürfen, ohne gleich verdächtigt zu werden, ein Krimineller zu sein."
Die zwei Bewacher schweigen. Man darf ihnen niemals den Vorwurf machen, daß sie den Festgehaltenen zu einer Falschaussage genötigt hätten. Also schweigen sie. Sie haben ihre Pflicht getan und es gibt keinen Grund, mit dem Delinquenten eine Diskussion anzufangen. Daß dieser Mensch schuldig ist, kann jeder Gehirnamputierte feststellen, wenn er dem sein Gequatsche hört. Grafioso hat Pech, daß es sich hier um zwei gutgeschulte Sicherheitsfachleute handelte. Je mehr sie aus dem mutmaßlichen Verbrecher noch herausholen konnten, um so besser war es für die spätere Beweisaufnahme. Wenn die Polizei kam, würden sie dem Festgenommenen seine Rechte verlesen. Dann war es mit dem Redeschwall vorbei. Also hören sie sich andächtig dem Grafioso seine Argumente an und registrieren alles.
Und davon gibt es viele. Sie merken sich besonders das Codewort 'ISSA', was in dem Fall eine besondere Bedeutung haben könnte und sie schreiben sich die hingekritzelte Telefonnummer vom Fußboden auf.


Endlich ist die Polizei eingetroffen. "Die Toilettenanlage ist großräumig umstellt", hört er.
Der Wachmann berichtet, er habe den Verdächtigen bei einer Geldwäsche überrascht. Der Polizist fragt, ob das stimmt. "Ja", sagte Grafioso , "aber mehr will ich hier nicht sagen." 'Bums, das hat gesessen,' denkt er. 'Jetzt merken die, daß sie mit mir kein leichtes Spiel haben.'
Grafioso schweigt neuerdings bei jeder Frage. Er erinnert sich, als die deutsche Einheit kam, hatte er gelesen und gehört, man darf in diesem Staat niemals seine Schuld zugeben. Auch nicht, wenn man zum Beispiel sein Auto ohne angezogene Handbremse an einer leicht abschüssigen Straße parkt und wenn dann das Auto später rückwärts auf eine Schnellstraße rollt und dort einen Massenauffahrunfall verursacht. Die Schuldfrage klärt immer das Gericht. Damit hat er nichts zu schaffen. Nur Anwälte und Versicherungen und solche Einrichtungen entscheiden über die Wahrheit, die in dem jeweiligen Fall zur Anwendung kommt. Es könnte doch sein, daß die Schnellstraße aus irgend einem Grund gesperrt war und die Fahrzeuge, die auf seines aufgefahren sind, dort um diese Zeit überhaupt nicht hätten fahren dürfen! Klug, was? Also in diesem Fall am besten überhaupt keine Aussagen machen, solange kein Rechtsschutz anwesend ist.

Als erstes untersucht der Beamte die zerrissene Hose und weil er keine weiteren Geldscheine findet, den noch nicht hinuntergespülten WC-Inhalt, fischt gar den Parkschein heraus und ruft schließlich die letzte Nummer an, die auf Grafiosos Handy noch gespeichert ist.

*



Inzwischen ist es 22 Uhr und 10 Minuten. Der Geschäftsführer befindet sich in einem sehr wichtigen Gespräch mit einem vielleicht zukünftigen Partner. 0bwohl er bereits seine Tagesdosis an Alkohol in sich hat, stehen die Verhandlungen noch auf der Kippe. Da erhält er über sein Handy einen Anruf der Polizei.
"ISSA"
erklingt es mehrmals im Hörer und der Geschäftsführer sagt:
"Jaaaa, um was geht es denn, bitt-schön?"
"Hier ist Polizeikommissar Huber. Haben Sie heute einen Anruf von Herrn Grafioso erhalten?"
"Ich kenne keinen Herrn Mafioso."
"Ging es bei diesem Anruf um Papier?"
"Hören Sie mal, ich sagte soeben, daß ich keinen ... Moment mal. Sagten Sie, Papier?"
"Ja, Papier"
"Da hatte mich so ein Verrückter angerufen, der wollte ... aber ich habe gleich aufgelegt. Ehe ich überhaupt wußte, um was es ging. Wissen Sie, ich war auf einem Empfang..."
"Sie halten sich ab sofort zur Verfügung der Polizei und verlassen nicht den Raum!"
Klick. Das Gespräch ist beendet.
"Ich glaube, ich bin bereits betrunken. Stellen Sie sich vor, was mir soeben passiert ist." Der Geschätsführer berichtet dem neugierig lauschenden, mutmaßlich-zukünftigen Geschäftsfreund kurz von dem Anruf, worauf dieser die weitere Verhandlung schroff abbricht und sich beglückwünscht, rechtzeitig einer Verbindung zu kriminellen Machenschaften ausgewichen zu sein.
Daraus leitet der Geschäftsführer später vor Gericht einen Schadenersatz wegen eines entgangenen Gewinns ab.

*



Auf der Polizeistation war wie immer Hektik. Herr Grafioso , dem man eine Decke um den Unterleib gewickelt hatte, saß in der 'Aufnahme', und mußte zum wiederholten Male seine Geschichte zum Besten geben, die man ihm natürlich noch immer nicht glauben wollte. Und zu allem, was mit der ekligen Geldwäscherei zu tun hatte, lehnte er jegliche Auskunft ab.
"Ein Beamter hat den Tatort nochmals untersucht und dabei festgestellt, daß in allen Papierspendern ausreichend Papier vorhanden war."
"Das kann nicht sein! Da irrt sich der Mann. Das gibt es doch nicht!" Grafioso ist verzweifelt.
Bald kommt er zu der Erkenntnis, daß sich im Papierspender wahrscheinlich doch genügend Vorrat befand, aber aus irgendwelchen Gründen nicht aus dem Schlitz des Behälters herausragte und damit für ihn nicht zugänglich war. Was wären ihm für Unannehmlichkeiten erspart geblieben, wenn er den Behälter gründlicher untersucht hätte. Hätte ... hätte ... hätte.

Die Untersuchungsbehörde sieht sich jedoch in ihrem Verdacht durch die Falschangabe bestärkt und ordnet eine Magen und Darmsonden-Untersuchung an. Grafioso ist einer 0hnmacht nahe. Warum auch das noch?
"Wir haben den Verdacht, daß Sie Geldscheine in Ihrem Magen-Darmbereich nach Deutschland geschmuggelt haben. Aus welchen Gründen auch immer. Die Tatsache, daß sie auf der Toilette Hundertmarkscheine gewaschen haben ..."
Grafioso unterbricht heftig: "Nur einen! Einen einzigen Schein habe ich..." Er bemerkte wieder nicht, wie er sich weiter verdächtig machte.
"Das tut nichts zur Sache. Vorläufig haben wir zwar nur einen Schein sicherstellen können. Aber wir sind davon überzeugt, daß wir bei Ihnen noch mehr davon finden. Und der Herr von ISSO wird auch zur Zeit verhört." In der Stimme des Vernehmers ist abgrundtiefe Verachtung für sein Gegenüber, als er hinzufügt: "Wir kommen Euren dreckigen Geldgeschäften schon noch auf die Spur."

Die Aufregung legt sich bei Grafioso auf den Darm. "Ich muß mal, Herr Amtsvorstand", sagt er.
"Aber nur unter Kontrolle und auf ein gesondertes Gefäß. Das ist in Ihrem Fall Vorschrift."
Grafioso ziert sich noch drei Stunden unter furchtbaren Qualen, dann setzt er sich unter Bewachung von zwei Beamten auf eine Waschschüssel und entleert sich mit den unvermeidlichen Geräuschen und Gerüchen, so daß er sich fast zu Tode schämt. Nachdem er fertig ist, stürzt man sich auf die Schüssel und rührt eifrig darin herum. Aber ohne Erfolg. Um so gerissener wirkt Grafioso auf die Untersuchungsbeamten. 'Der macht es uns wirklich nicht leicht', denken sie und verstärken ihre Anstrengungen, etwas mehr Klarheit in die Angelegenheit zu bekommen.

*



Frau Grafioso wartet inzwischen auf ihren Ehemann und macht sich große Sorgen. Es ist bereits 2 Uhr des nächsten Tages. Da läutet es an der Tür. Ein Polizeibeamter bittet um Einlaß. Frau Grafioso fürchtet das Schlimmste.
"Frau Grafioso, wir müssen Ihnen die betrübliche Mitteilung machen, daß Ihr Ehemann dem Staatsanwalt vorgeführt wird. Er wird beschuldigt, in unsittliche Geschäfte verwickelt zu sein und wurde auf frischer Tat gestellt.
"Ich wußte, daß es soweit kommen würde. Immer wenn er in Leipzig ist, habe ich ein so ungutes Gefühl." Sie dachte, er hatte sich wieder in irgend einem Bordell herumgetrieben und sie hatte genug von seiner Triebhaftigkeit.
"Sie brauchen als Ehefrau nicht gegen Ihren Mann auszusagen, wenn Sie es nicht möchten. Ich muß Sie da belehren. Möchten Sie?"
"Was soll ich möchten?"
"Möchten Sie gegen Ihren Mann aussagen?"
"Was soll ich aussagen?"
"Sagt Ihnen das Geheimwort ISSO etwas?"
"Nein, nie gehört."
"Was wissen Sie über die Geldwäschegeschäfte Ihres Mannes?"
"Was, Geldwäschegeschäfte macht er auch noch?"
"Was dachten Sie denn, um was es bei Ihrem Mann geht?"

*



Früh um drei Uhr schafft man ihn unter Polizeiaufsicht in das Kreiskrankenhaus. Er bekommt schnell wirkende Abführmittel, drei Klistiere und zwei Beruhigungspritzen. Ein Krimologe kümmert sich um seine Entleerungen und ist dabei, als man ihn den Schlauch zuerst über den After in den Dickdarm und gleich anschließend durch den Mund in den Magen und Darmbereich einführt. Als alles durchwühlt und durchleuchtet ist, steht fest: Alles in Ordnung.
„Was soll das heißen ‚alles in Ordnung’? Wir haben doch gesehen, wie er den ersten 100 Markschein abwaschen wollte, weil er ihn völlig mit Kot bedeckt offensichtlich soeben aus seinem Mastdarm gezogen hatte. So etwas macht man doch nicht wegen lappiger 100 DM. Wo sind denn die anderen Scheinchen geblieben?“
„Sie haben es selbst am Monitor mit verfolgen können,“ beruhigt der Arzt den Krimologen, „da war nichts mehr im Darm außer den üblichen Verdauungsresten.“
„Ich verlange, dass sie das noch einmal wiederholen, aber gründlicher, als eben. Das Geld kann nur hier drinnen stecken!“
Doch das lehnt der untersuchende Arzt konsequent ab. Er habe da doch mehr Erfahrung und einen geübteren Blick als der Herr Kommissar und das war hier seine 23. Arbeitsstunde und deshalb werde er jetzt seinen verdienten Feierabend machen. Daran gehe kein Weg vorbei.
Die Untersuchungsbehörde zieht lange Gesichter. Grafioso, der noch immer seinen Hintern zeigt, liegt mit hervorgequollenen Augäpfeln auf dem OP-ähnlichen Tisch und verfolgt ängstlich den Streit um die Besichtigung seiner Eingeweide. Wäre da nicht sein argonieähnlicher Zustand, er würde auch unter dieser würdelosen Behandlung seiner Person sehr leiden. Aber so denkt sein nicht so leicht zu beleidigendes Gemüt hämisch: ‚Na, sehen sie, das hätten sie sich alles ersparen können. Ich hatte nämlich recht.’

Um es kurz zu machen. Die Verhöre der Ehefrau und auch des Geschäftsführers der Firma ISSA bringen auch nicht die gewünschte Klarheit in die Angelegenheit. Im Gegenteil. Es entstehen neue Verdachte, aber der Staatsanwalt kann einer Verhaftung nicht zustimmen und so kommt Herr Grafioso nach 23 Stunden Untersuchung frei. Er darf jedoch bis auf weiteres seine Wohnung nicht verlassen.

*



Wie unser bedauernswerter Held endlich nach Hause kommt, geht der Ärger für ihn erst richtig los. Denn seine Frau ist nicht die Polizei und nicht an bestimmte Regeln und Förmlichkeiten gebunden. Für sie steht die Schuld ihres Mannes fest, auch wenn sie sich im Augenblick über die Art der Schuld noch nicht so genau im Klaren ist. Ihre Ehekrise war lange schon herangereift und endlich hatte ihre gequälte Seele den Anlaß, den sie immer nur ahnte, aber bisher vergeblich gesucht hatte.
0hne weitere Begründung zeigt sie auf die schon bereitgestellten Gepäckstücke im Flur und ordnet mit einfallsreichen Schimpfworten an, daß er sofort die Wohnung zu verlassen habe. Er solle seine Sachen gleich mitnehmen und sie wolle ihn nie wieder sehen.

Grafioso geht wie befohlen von dannen. Er hat heute jegliche Initiative verloren und keine Kraft mehr für logisches Denken, geschweige denn für Worte. Wie in einem bösen Traum fühlt er sich von einem Elend in das andere geschubst. Seine Reaktion kommt einer Flucht gleich. Und tatsächlich will Grafioso dieser Welt entfliehen, allein sein und endlich einmal nachdenken können.

Zuerst muß er sich jedoch eine Hose anziehen, denn er hat immer noch die Erste-Hilfe-Decke um seine Hüften geschlungen, mit der die Polizei seine Scham bedeckt hat. Also öffnet er ein Gepäckstück nach dem anderen und im vierten findet er tatsächlich eine Hose.
Wie er die Decke abgelegt hat und im Begriff ist, eine Hose anzuziehen, kommt ausgerechnet die 15-jährige Liv nach Hause und staunt nicht schlecht über ihren Nachbarn, als der ihr im Treppenhaus seinen Allerwertesten zeigt.
Liv wird bereits von ihrer Mutter erwartet, denn es ist kurz vor Mitternacht. Deshalb öffnet die besorgte Mama die Wohnungstür, um ihrer Tochter ein gehöriges Salute zu geben. Da sieht sie ihren entblößten Nachbarn vor ihrem unmündigen Kind. Das paßt genau zu dem Bild, was sie sich von ihrem Nachbarn gemacht hat, nachdem seine Frau ihr vor kurzem Dinge anvertraut hat, die sie nie für möglich gehalten hätte. Wortlos übersieht sie es, denn ihre Tochter ist ihr erst einmal wichtiger.

Es gelingt Grafioso, mitten in der Nacht in einem kleinen Hotel eine erste Zufluchtsstätte zu finden.

*



Endlich kommt die ersehnte Ruhe auf. Aber er spürt sie nicht, denn in dem Maße, wie er zu sich selbst findet, steigt eine unaussprechliche Wut in ihm auf. Er verdammt die unglücklichen Zufälle und er ärgert sich - wenn auch mehr im Unterbewußtsein - über seine Reaktionen.
'Das hätten sie mit mir nicht machen dürfen. Das hätte ich mir nicht gefallen lassen müssen. Da hätte ich sagen sollen:
"Ihr Arschlöcher, seht Ihr nicht, daß...".
Ja, ich hätte die auf mich gerichtete Pistole einfach wegdrehen und nach Hause gehen sollen. Die war doch sowieso nicht geladen. Und wenn, ich hätte sie ihm auch wegnehmen und damit den Hund erschießen können. Das wäre das einzig Richtige gewesen.’
So in dieser Art geht er die letzten 30 Stunden durch und dabei immer im Zimmer auf und ab. Diese Aktivität tut ihm gut. Aber er ahnt nicht, wie das die Gäste im Haus stört. Zur Ruhe kommt er erst, als es bereits Morgen wird und er beim Vorbeigehen einen Blick aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Gebäude werfen kann. Die Architektur eines öffentlichen Gebäudes gibt ihm für den Bruchteil einer Sekunde Ruhe und Zuversicht. Da geht er nochmals an das Fenster zurück und erkennt in dem Bauwerk das Kreisgericht. Gerechtigkeit, Gerechtigkeit... schreit es in seiner wunden Seele und er begreift, daß er etwas dafür tun muß.

Sofort setzt er sich an seinen Nachttisch und schreibt auf die Rückseite des Zimmer-Inventarblattes den Entwurf einer Schadenersatzklage gegenüber der Firma ISSO. Denn diese Firma hat ja eigentlich das ganze Unglück ausgelöst. Und gegen die Untersuchungsbehörde und vor allem gegen die Sicherheitsfirma. Er steigert sich so hinein, daß er noch zwei Monate braucht, bis er seine Forderungen wirklich abschicken kann.

Am Tag, nachdem ihn seine Frau vor die Tür gesetzt hatte, wird er im Hotel verhaftet und dem Staatsanwalt vorgeführt. Weil er sich unerlaubt aus seiner Wohnung entfernte. Man läßt ihn zwar am gleichen Tag wieder frei, aber eine furchtbare Unruhe bleibt bei ihm zurück. Was er auch anfängt, scheint schief zu gehen.

*



Drei Monate nach dem Vorfall erhält er eine Vorladung bei Gericht. Aber nicht wegen seiner Eingabe, sondern weil von der Staatsanwaltschaft folgende Forderungen gegen ihn eingegangen sind:

• Forderung der öffentlichen Verwaltung auf Schadenersatz wegen Einsatz eines Streifenfahrzeugs, Spurensicherung und Beweisaufnahme, einen Tag Untersuchungshaftkosten, Untersuchungskosten im Kreiskrankenhaus, Bereitstellung einer Schutzdecke und ähnliche Dinge, aufgelistet mit 7.560,30 DM

• Forderung der Sicherheitsfirma auf Schadenersatz wegen des Verlustes eines Wachhundes (welcher in Ausübung seines Dienstes einen Darmverschluß durch unverdauliche Stoffreste und Unterkühlung durch seine Bauchlage auf den kalten Fliesen während der Beweisaufnahme bekommen hatte und nach sechs qualvollen Tagen daran verstorben ist) über 1.200,00 DM

• Forderung der Firma ISSA auf Schadenersatz wegen entgangenem Gewinn in Höhe von 2.500.000 DM

• Anzeige der Nachbarin und Forderung auf Schmerzensgeld wegen Verführung Minderjähriger in Höhe von 20.000.- DM

• Forderung des Hotels auf Schadenersatz wegen nächtlicher Ruhestörung durch sein unablässiges Hin- und Herlaufens, in Höhe von 500 DM

Insgesamt ein Streitwert über 2.529.260,30 DM

Gleichzeitig liegen zwei Schreiben des Gerichts bei. Im ersten wird mitgeteilt, daß seine Frau die Scheidung eingereicht hat. Im zweiten wird bestätigt, daß man das Verfahren der ‚Geldwäsche’ 'mangels Beweisen gegen ihn einstelle. Das Gericht habe am soundsovielten nur noch über die oben genannten Schadensersatzansprüche zu entscheiden. Ein Schaden, für den er sich zu verantworten habe, sei dadurch eingetreten, daß er zur Wahrheitsfindung nur ungenügend beigetragen habe.


*



Grafioso, der immer noch in dem Hotel am Kreisgericht wohnt, mag an diesem Tag noch nicht in sein einsames Zimmerchen gehen. Er braucht eine Ablenkung, etwas Abstand, er muß sich mal irgendwie, irgendwem mitteilen und er sehnt sich nach einer kleinen alkoholischen Betäubung.
Die Männerkneipe, in der er zufällig landet, wird von einem Stammtisch dominiert, an dem sich täglich Politiker, Funktionäre, Abgeordnete und Beamte aus dem Lager der Regierungspartei zum Informationsaustausch treffen. Es gibt tatsächlich Landstriche in Deutschland, da hat sich an derartigen Idyllen seit Jahrhunderten, außer der Kleidung, die diese Leute tragen, nichts geändert. Mit dem Eintreten des Fremdlings verringern sich die Gespräche in dem kleinen Raum schlagartig bzw. werden nur noch im Flüsterton fortgesetzt. Man beäugt Grafioso misstrauisch und weil auch er seinen Zugang zu dieser Gemeinschaft als Störung empfindet, fragt er vorsichtig, ob es gestattet sei, ein Bier und ein Schnäpsle zu erhalten. Wahrscheinlich wird man diesen biederen, gedrungenen, halslosen Typ, das Synonym für einen braven CDU-Wähler und folgsamen Staatsbürger hier dulden. Der Wirt kann zwar den Umsatz gut gebrauchen, aber er versichert sich zuvor bei der Stammtischrunde. Von da kommt ein allgemeines Nicken und jetzt darf der Wirt seinem neuen Gast einen Tisch zuweisen. An diesem sitzt bereits ein Mann um die 70 und stiert in ein halbvolles Bierglas. Grafioso spürt in seinem Unterbewusstsein, dass dieser Mensch zuhören kann. Die übrigen Tische kamen ohnehin nicht in Betracht, denn sie sind ohne Stühle; man hat selbige mit an den Stammtisch herangezogen. Ist es doch eine Ehre, dem Kreis der Erlauchten nahe zu stehen. Und sei es nur für diese kurze Zeit heute hier.

Nach und nach kommt ein Gespräch zustande und unser vom Unglück Heimgesuchter, kann seine Leidensgeschichte endlich, wenn auch zuerst nur bruchstückhaft, loswerden. Der Herr am Tisch entpuppt sich als ein pensionierter Polizist, der – oh Wunder des Lebens - von Anfang an Partei für die geschundene Kreatur – nämlich für ihn - ergreift. Er empört sich so laut, dass bald der Stammtisch hellhörig wird und schließlich muß Grafioso auch seinen Stuhl an die Alteingesessenen rücken und die ganze verfahrene Situation noch einmal der Reihe nach schildern. Dies geschieht so treuherzig und überzeugend, dass der Polizist a.D. die Tränen nicht mehr zurückhalten kann und mehrfach den Satz „wie weit muß es denn noch kommen…“ vor sich hin stammelt.
Bald hagelt es aus der Stammtischrunde Empörungen über den vertrottelten Sicherheitsdienst, den Polizistendienst nach Vorschrift, die Rohheit der Ärzte und selbst das Gericht, obwohl es ja noch zu keinem Urteil gekommen war, wurde mit den negativsten Vermutungen bedacht. Nur ein Beamter im höheren Dienst verteidigt diese kritisierte Welt, was ihm aber nur Ärger einbringt, weshalb er bald darauf als Erster das Lokal verläßt.
Und dann ist da ein ‚Fachmann’ – er ist Beamtenanwärter im Kreisgericht - der bemüht sich, Hoffnung zu verbreiten. Ständig wiederholt er den Satz eines Vaters am Krankenbett seines Kindes, den sich auch eine bekannte Fernsehredakteurin zum Leitspruch in dieser trostlosen Zeit auserkoren hat: „Alles wird gut.“
Und jedes Mal fragt ein Abgeordneter daraufhin „Aber musste es erst soweit kommen!?“

Das tat gut. Grafioso schöpfte wieder Mut und fühlte sich unter diesen Gleichgesinnten bestens aufgehoben.
Man ist sich bald einig, dass Grafioso kein Geldwäscher ist.
Das mit dem fehlenden Papier wurde schnell abgehandelt: Er hätte seine schmutzigen Finger zur Strafe an die Wände wischen können. Solche Zeichnungen sind schon des Öfteren gesehen worden und bestrafen den WC-Betreiber, ohne daß man erst eine Anzeige machen muß.
Doch der Alkohol in den Körpern der Stammtischrunde drängte zur Klärung eines offensichtlich sehr wichtigen Problems:
„Aber uns können sie es ja sagen, es bleibt unter uns: Sie haben doch ihre Frau wirklich betrogen; etwa mit der Nachbarstochter?“ Während alle neugierig den vermeintlichen Wüstling anstarren, spinnen einige die Gedankengänge weiter:
„Oh, so eine Entjungferung kann teuer werden!“.
„Gibt es denn Zeugen für ihre Sauereien oder haben sie etwa im Schlafe laut darüber gesprochen?“
„Meist riechen es die Frauen, weil man hinterher nicht geduscht hat!“

Doch aus Grafioso ist nichts herauszubringen. Man lacht sich über seine tollpatschigen Erwiderungen fast kaputt und lässt ihn schließlich in Ruhe, weil der Mann offenbar tatsächlich etwas einfallslos scheint.
Dann rät man ihm eindringlich, einen Anwalt zu nehmen.
„Der Rechtsprechung kann man schon trauen,“ heißt es, „aber der Wahrheitsfindung nicht. Ein Anwalt kann sehr, sehr wichtig sein, wenn es darum geht, unter mehreren vorliegenden Wahrheiten einer ganz bestimmten mehr Gewicht zu verleihen.“

Großes Kopfnicken zu diesem klugen Satz.
Dann werden Adressen ausgetauscht und ein auch eher zufälliger Gast dieser Stammtischrunde kann heute mit einem neuen Auftrag nach Hause gehen.

*



„Der Abend hat sich für mich verlohnt“, rief Herr Streitinger seiner Frau schon vom Flur aus ins Wohnzimmer zu, „ich habe einen Auftrag über einen Streitwert von über zweieinhalb Millionen DM!!!“
Die Frau schaltete sogleich den Fernseher leiser und wollte wissen, wie er das gemacht habe. Der Anwalt erzählte die Story und Frau Streitinger, von Beruf Journalistin, bekam lange Ohren.
„Mensch, das ist doch diiiie Überschrift ‚Der teuerste Schiss der Weltgeschichte’. Ich werde das an die Medien, nein zuerst an RTL geben, da kommt noch eine dicke Provision für uns heraus.“
„Halte dich erst einmal zurück. Das ist mein Klient, da geht das nicht. Und außerdem ist der Fall nicht so klar, wie es auf den ersten Blick aussieht. Der Streitwert wird schon nach kurzer Zeit wesentlich zurückgehen, weil die Kläger die Schuld des Beklagten und die Berechtigung der Forderungen nicht ernsthaft nachweisen können. Außerdem zerfällt das Verfahren in mehrere einzelne, womit sich der Streitwert automatisch verringert. Der größte Betrag scheint die Forderung von ISSO wegen Geschäftsausfall zu sein. Da dagegen die Klage des Beklagten steht, der behauptet, der Kläger sei der Hauptverursacher des Schadens überhaupt, wird es wohl alles auf einen Ausgleich hinauslaufen.“
„Und warum hast du den Fall da überhaupt angenommen?“, will die mitdenkende und stets für eine kleine Schweinerei begeisterbare Ehefrau wissen.
„Weil es eine Weile dauert, bis sich alles so entflechtet und weil dabei noch unvorhersehbare neue Prozesse entstehen können und weil ich mit jeder Stunde, die ich in diesem Wirrwar verbringe, mich dumm und dämlich verdienen kann.“
„Trotzdem, du musst ihm klar machen, dass er zur Refinanzierung der Anwaltskosten im Privatfernsehen in Talks auftreten und damit die öffentliche Meinung hinter sich bringen und die Gerichte für sich beeinflussen könnte.“
Und so geschah es auch. Nach kurzer Zeit war Grafioso durch die Medien bekannt gemacht und hat dabei, dank seines Anwaltes, sogar einige Tausender eingenommen.
Durch eine Verwechslung kam er allerdings zu einem anderen Namen. Am Telefon sollte er damals seinen Namen buchstabieren. „Graf wie Graf und I-O-S-O.“
„Also Graf Ioso?“ , fragte die Stimme am Apparat zu ihrer Sicherheit zurück.
Er sagte damals ja und wunderte sich nur, was die Betonung so ausmacht. Als er dann in der Zeitung als ‚Graf’ auftauchte, riet ihm sein Anwalt, es als Pseudonym dabei zu belassen.

Der Anwalt macht sich schon bald an Frau Grafioso heran und ihr klar, dass sie, solange sie noch ohne Ehevertrag verheiratet ist, auch für den Schaden ihres Mannes mit aufkommen muß. Die verängstigte Frau Grafioso bat daraufhin Herrn Streitinger, auch ihren Fall mit zu übernehmen. Und zwar einmal die Scheidungsklage und zum anderen die Abwehr der Forderungen an ihren Ehemann, soweit sie da mit hineingezogen wird.

Frau Streitinger hingegen beriet Frau Grafioso in gänzlich anderer Weise. Ob sie schon einmal über die Kosten des Verfahrens nachgedacht hätte und ob sie von der Untreue ihres Ehemannes wirklich überzeugt sei. Und schließlich fragte sie die so kurzentschlossen, getrennt lebende Ehefrau, ob sie dem Grafioso überhaupt so ein Verbrechen der Geldwäscherei zutrauen würde. Da Frau Grafioso nun doch in all den kritischen Fällen ihren Zweifel hatte, war es leicht, das Thema ‚Versöhnung’ anzusprechen. Bei SAT 1 laufen doch täglich die Talks, wo man sich in aller Öffentlichkeit ..
„Bloß das nicht“, unterbrach Frau Grafioso. „Meine privaten Dinge gehen keinen etwas an.“
„Aber bedenken sie doch, Frau Grafioso, was ihnen das für ein Sümmchen einbringen würde. Das könnten sie gut für die Anwaltskosten gebrauchen und da bleibt auch noch etwas übrig. Die paar Minuten und sooo viel Geld. Was geht sie die Öffentlichkeit an. Die geben ihnen nichts dazu und können ihnen auch nicht helfen. Die Öffentlichkeit ist anonym. Die Zuschauer sehen sie doch überhaupt nicht. Nur die Kameras. Und dagegen bekommen sie eine Beruhigungsspritze und los geht’s. Nach 20 Minuten ist alles überstanden.“
„Nun, wenn sie denken? - Das leuchtet mir schon ein. - Warum soll unsereins nicht auch einmal etwas profitieren. Mein Mann ist ein kleiner Versicherungsvertreter. Was kommt da schon rein? ‚Man muß das Glück am Schopfe packen, wenn man es erwischen kann’, sagt unsere Nachbarin immer. Und das Unglück jetzt ist wahrscheinlich unser Glück. Das sehe ich genau so.“


In ähnlicher Weise wird auch Herr Grafioso für einen Auftritt bei SAT 1 gewonnen.

*



Am bewussten Tag, wo die Sache auf den Sender gehen soll, sind die Eheleute, einer Empfehlung ihres Anwaltes entsprechend, getrennt angereist. Es ist erst 8 Uhr und die Sendung ist für 13 Uhr angesetzt. Die Beiden müssen einen Vertrag unterschreiben mit vielem Kleingedruckten. Groß steht nur die Summe, die ihnen am Ende der Sendung überwiesen wird. Der Anwalt hatte vorher bereits grünes Licht zu dieser Vereinbarung signalisiert, weshalb beide Eheleute, ohne den Text zu lesen, die Dokumente unterschreiben.
Jetzt muß Herr Grafioso zum Lügendetektor-Test. Allein dafür soll er eineinhalb Tausend DM zusätzlich erhalten.
Er lässt es über sich ergehen und wundert sich nur, dass bei ihm immer ‚WAHR’ herauskommt, ganz gleich, was man fragt. Ein anwesender Psychologe erklärt sich den Fehler dadurch, dass die Reaktionszeit des Computers zu schnell und seine zu langsam ist. Ehe bei ihm auf der Handfläche der Schweiß ausbricht, ist bereits die Auswertung beendet. Nur einmal kam ‚UNWAHR’, weil sein Schweißausbruch auf die vorhergehende Frage erst bei der folgenden Frage vom Sensor registriert werden konnte. Aber in der allgemeinen Hektik an den Geräten nahm das niemand ernst.

Dann geht es in die Maske. Frau Grafioso denkt, man würde ihr hier ein Stück ihrer Jugend zurückgeben. Aber die Philosophie dieser Sendung ist eine andere. Der jeweilige Menschentyp, der hier vertreten ist, muß – eher etwas übertrieben – charakteristisch aussehen. Bei Frau Grafioso werden die Falten nicht vertuscht, sondern nachgezogen, die Augenränder ebenfalls. Ihr vollschlankes Gesicht und ihre modern zurechtgezupften Haare wirken nun leicht fettig, ihre Lippen schmal. Ja, so sieht eine Frau aus, die der Mann betrügt. Die Regisseurin kommt kurz herein, nimmt die ‚Maske’ ab und zupft an der Kleidung herum, bis diese besser zum aufgewühlten Haar passt.

Die verantwortliche Redakteurin bespricht nun das Auftreten mit jedem Partner einzeln. Sie schärft ein, dass hier nur die Einschaltquote zählt, sonst kann man die Gagen nicht in der vereinbarten Höhe zahlen. Für den Sender gilt: Sind die Einnahmen gering, bleiben auch die Ausgaben zurück.
„Seien sie sich stets bewusst: Sie können etwas für die Höhe ihrer Auftrittsentschädigung tun, vermeiden sie Harmonie. Und melden sie überall, wo es irgend möglich ist, ihren Widerspruch an. Gehen sie keinem Streit aus dem Weg. Es kann auch einmal gelogen werden, was das Zeug hergibt.
Aber, die Hauptsache ist, am Schluß ihres Auftritts müssen die Bemühungen der Moderatorin und des Senders auf eine erfolgreiche Vermittlung in ihrem Fall sichtbar werden.
Also erstens: keinen Streit vermeiden, verblüffende Aktionen und Reaktionen am laufenden Band. Lautes Diskutieren, Unhöflichkeiten und auch einmal ein hartes Anfassen sind erlaubt.
Und zweitens: ein glückliches Ende! Hier sind Umarmungen und Tränen sehr erwünscht.“

Herr Grafioso wurde drei Mal in dieser Weise zu einem hemmungslosen Spektakel animiert, ja regelrecht aufgeheizt.

Von der Regisseurin kamen ganz persönliche Regeln und Hinweise unter vier Augen hinzu.
Eine Krankenschwester kommt und bietet Mittel gegen Nervosität und Herzklopfen an. Auch Herr und Frau Grafioso lassen sich eine Spritze geben.

Endlich lässt sich auch die Moderatorin blicken. Kurze Vorstellung, Dann:
„Alles wird gut“. Schulterklopfen. „Ich werde sie nach ihrer Geschichte abfragen. Sie antworten bitte kurz. Nur wenn ich es ausdrücklich sage, antworten sie richtig schön ausführlich.“
Es folgt der bewährte fernsehbekannte Strahle-Blick und im Hinausgehen das obligatorische „Toi, toi, toi“.


Neue Hektik: Es ist kurz vor 12 Uhr 30 und Frau Grafioso darf in den Studioraum. Ihr Gatte soll später hinter der kleinen Bühne auf seinen Auftritt warten, jetzt aber zur Probe schon einmal mitkommen.

Das Aufnahmestudio 12 ist ein relativ kleiner Raum. Sehr, sehr hoch, etwa 6 Meter lang und 5 Meter breit. Vorn ist eine kleine Bühne mit den vorbereiteten Stühlen der Gäste. Links sind vier Stuhlreihen, auf denen bereits die Zuschauer sitzen. Sie haben offensichtlich ihre Probe bereits hinter sich. Man unterhält sich noch darüber und schaut auf die gegenüber liegende Wand. Auf dieser rechten Seite des Raumes liegen Tafeln, auf denen Anweisungen stehen wie ‚Applaus !’ , ‚Buhhhh’ , ‚Lachen!’, ‚Pfeifen’ und ‚Ruhe’. Und rechts sind auch die Kameraleute und Beleuchter, Tontechniker und Regieassistenten platziert.
So ein kleiner Raum, denkt Grafioso, man sieht im Fernsehen nur die eine Seite und denkt natürlich, der Raum geht ringsum so weiter; ist mehrfach größer.
Die Moderatorin kommt mit der Regisseurin herein. Man legt die Wege und Standorte der Talkgäste fest und die Techniker richten die Beleuchtung und den Ton aus. Alles in gebotener Ruhe und Hektik zugleich. Ruhe, weil Besonnenheit und Routine dominieren; Hektik, weil alles sehr schnell geht und es keine Möglichkeit zu Diskussionen gibt. Eine große Uhr zeigt an: in soundsoviel Minuten und Sekunden ist Sendung. Dann kommen Klingelzeichen und es wird ein Count down eingeblendet. Herr Grafioso muß schnellstens den Raum verlassen. In einem 3 Quadratmeter großen Gelaß darf er warten. Er nimmt einen Schluck aus einer kleinen Taschenpulle. Und noch einen. Und plötzlich ist sie leer.
Auf einem Monitor kann er die Talkshow mit erleben. Seine Frau ist als erste dran.
„Frau Gräfin“, beginnt die Moderatorin, doch Frau Grafioso unterbricht und bittet darum, sie mit Ingrid anzusprechen.
„Also Ingrid, sie haben die Scheidung eingereicht, als sie von der Polizei nachts um 2 Uhr informiert wurden, dass ihr Ehemann unter dem Verdacht einer kriminellen Tat steht und in eine größere Schweinerei verwickelt sein soll.“
„Ja, ich habe gleich seine Sachen gepackt und alles vor die Türe gestellt. Als er am nächsten Abend aus der Untersuchungshaft spät nach Hause kam, habe ich ihn zum Teufel geschickt.“
Das ‚Buhhh-Schild’ geht, für die Kameras unsichtbar, hoch und die Regisseurin dirigiert die Zuschauer zu einer leisen Geräuschkulisse.
„Er musste sich seitdem in einem Hotel einmieten. Und kurz darauf beantragten sie die Scheidung.“
Frau Grafioso senkt den Kopf und nickt, denn sie erinnert sich nur ungern daran und scheint es inzwischen zu bereuen.
„Sagen sie, Ingrid, warum haben sie die Scheidung eingereicht?“
„Weil ich schon längere Zeit den Verdacht hatte, dass mein Mann mich betrügt. Aber inzwischen –„
„Was ‚inzwischen’? Inzwischen denken sie anders darüber?“
„Ja, er tut mir so leid. Wenn ich gewusst hätte, daß die Polizei sich geirrt hat und was durch die Scheidung alles auf uns zukommt, hätte ich doch niemals so einen Schritt getan.“
„Darauf kommen wir noch zurück. Aber erst einmal zu ihrer Beziehung: Unter welchen Umständen würden sie denn zu ihrem Mann zurückkehren oder anders gefragt, ihm wieder bei sich aufnehmen?“
„Wenn ich genau wüsste, dass er mich nicht betrogen hat. Und daß er nicht kriminell ist. Und daß er sich nicht an Schweinereien beteiligt hat.“
„Und wie soll er ihnen das beweisen?“
„Ich möchte, dass er an einem Lügendetektor einen Wahrheitstest durchführt.“
„Ingrid, sie wissen, daß wir so etwas für sie vorbereitet haben und ich bitte jetzt Graf Ioso auf die Bühne.“

„Graf Ioso, erzählen sie unseren Zuschauern erst einmal, weshalb sie in so eine fürchterliche Lage gekommen sind, wegen der sich ihre Frau von ihnen scheiden lassen wollte.“
„Also die Polizei hatte mich wegen Geldwäsche festgenommen …“
„Aber die Geschichte beginnt doch eigentlich schon etwas früher. Wir haben hier einige Szenen nachgestellt. Vielleicht erläutern sie einmal, was wir da sehen.“
Grafioso sehr verwundert. „Ach so, das haben sie alles aufgenommen? Die hatten da … da waren wohl Überwachungskameras?“
Der Film lief bereits und es war jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Man sah von oben in die WC-Kabinen. Jemand zog die Hosen herunter und setzte sich hin. Entspannende Geräusche. Dem Publikum wird eine Tafel hochgehalten und man dirigiert ein mehrstimmiges verhaltenes Lachen.
Nach kurzer Zeit sucht die Person auf der Toilette nach Papier. Das Lachen wird verstärkt gefordert. Eine Kameraeinstellung zeigt die leere Papierspenderdose und die vergebliche Suche nach Papier in der kleinen Zelle und in den Taschen der Person. Man fordert das Lachen etwas zurückzunehmen, weil die einsetzende Ruhe eine Spannung erzeugen soll. Denn schließlich entschließt sich die Person im Film, ein Papierschnipsel zu benutzen. Der Erfolg: Großaufnahme; eine beschmutzte rechte Hand. Und das vom Ekel verzerrte Gesicht des Schauspielers. Im Studio wird spontan eine kurze, harte Lachsalve erzeugt.
„Oh, das war schlimm. Dann habe ich die Telefonnummer gesehen und dachte, nun sei ich gerettet“, stöhnt Grafioso.
Die erste richtige Lachsalve kam, als er am Telefon mit dem Bundeskanzleramt verbunden, um Klopapier bittet. Totenstille herrschte, wie er den Hundertmarktschein benutze. Ohhh-Rufe ertönten mit Eintritt der Sicherheitsleute und eine erneute Lachsalve kam, wie der Hund dem Mann seine Hose zerfetzte.
Es folgten typische Aktionsbilder der Privatsender: Vor dem Haus haben inzwischen Hundertschaften von Polizisten und Scharfschützen Position bezogen. Diese Aufnahmen waren von irgendwelchen Straßenschlachten anderer Beiträge hier kurz, aber demonstrativ eingeflochten. Dann stürmen Spezialisten die Toilette, was wegen Unverhältnismäßigkeit der Mittel ungewollte Lachstürme verursachte, ohne daß diese erst angeordnet werden mußten.
Großer Schnitt. Es folgten Szenen, in denen man Grafiosos Stuhlgang erzwingt und durchsucht und schließlich die Szenen mit Darm- und Magenspiegelung.
Das Abschlussbild zeigt die geschundene, völlig apathische Person mit dem nackten Hintern der Kamera zugewandt. Ein trauriges Lachen war der Lohn.
Grafioso versucht, die aufkommende Erkenntnis, man produziere hier Einschaltquoten auf seine Kosten, man mache sich über ihn und seine Dussligkeit lustig, er sei mit der Vermarktung seiner Geschichte zu weit gegangen und ist nun natürlich nicht mehr in der Lage, die Ausweitung zum Lacher der Nation zu verhindern. Aber er wird sofort aus seinen Grübeleien auf die Bühne des Lebens zurück geholt.
„Graf Ioso, sie sind nach langwierigen Untersuchungen nach Hause geschickt und später von der Staatsanwaltschaft vollständig entlastet worden. Trotzdem wurden sie, als sie nach einem Martyrium von über 30 Stunden in ihre eigene Wohnung wollten, von ihrer Frau in die kalte Nacht geschickt. Wie haben sie sich da gefühlt?“
„Ich wollte nur meine Ruhe haben. Ich war fix und fertig und da ich den ganzen Tag über nicht dahinter kam, in was für eine furchtbare Situation ich überhaupt hineingeraten war, konnte ich mir auch in diesem Augenblick keinen Reim darauf machen, wie das mit meiner Wohnung und meiner Frau nun wieder zusammenhängen könnte.“
„Und sie hatten keine Schuldgefühle? „
„Worüber denn“, fauchte er, „ich war mir keiner Schuld bewusst!“
„Darauf kommen wir gleich zurück.
Und dann kam die Mitteilung, dass ihre Frau die Scheidung wünscht. Was haben sie da gedacht?“
„Ich hatte jeden Tag versucht, mit meiner Frau Verbindung aufzunehmen, aber vergebens. Es war furchtbar für mich. Ich war völlig hilflos, wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Als ich von der beabsichtigten Scheidung erfuhr, begann ich meine Frau zu hassen. Ich zerriss das Bild, was ich seit vierzig Jahren bei mir trage und trank eine Flasche Kognak aus. In dieser Zeit hatte ich keinen einzigen Abschluß in meinen Versicherungsgeschäften. Alles hatte sich gegen mich gewendet und ich war seelisch zerstört.“
„Und weiter haben sie nichts gedacht?“
„Oh, ich durchsuchte mein Gehirn nach heiklen Momenten.“
„Ja, erzählen sie.“
„Aber ich fand keine. Lediglich der Umstand, dass ich als Versicherungsagent täglich in den Haushalten der Stadt unterwegs bin und ich so einige Gelegenheiten gehabt hätte…“
„Graf, ein Beispiel bitte!“
„Das darf ich nicht. Das sind Geschäftsgeheimnisse.“
Frau Ingrid schrie „ach so nennst du das? Du Wüstling! Ich habe es immer geahnt. Als Frau merkt man das, wenn einem andere Frauen im Ort so seltsam ansehen.“
„Wie ‚seltsam’ ansehen?“ will der Graf von seiner Frau wissen.
„Nun, als wenn sie wüssten, wie mein Mann im Bett ist. Einfach so – so von unten herauf ein verbissenes Lächeln, als wüssten sie, dass es bei uns nicht mehr so klappt.“
„Mein Gott, merkst denn du nicht, wie die Frauen dich nur eifersüchtig machen wollen, aus Ärger darüber, weil es mit mir NICHT geklappt hat? Mußt du immer negativ von der Menschheit denken? In was für eine Lage bringst du mich damit. Bis hierher, vor allen Leuten, bringst du dein dämliches Misstrauen. Es langt doch vollkommen zu, wenn wir uns scheiden lassen. Muß denn da extra noch die ganze dreckige Wäsche gewaschen werden?“
„Wieso willst du dich scheiden lassen, wenn du unschuldig bist?“ schreit Ingrid, die immer aggressiv sein will, wie man es ihr vor der Sendung eingeschärft hat.
Die Moderatorin schaltet sich ein, denn sie vermutet, die Eheleute könnten sich soweit entfernen, dass ihr ganzer Lügendetektortest hier nicht mehr hinpasst.
„Ingrid, wir verstehen sie ja so gut. Jedoch ist das hier keine Gerichtsverhandlung, wo man über die Wahrheit oder Lüge streitet. Wir bedienen uns wissenschaftlicher Methoden zur Wahrheitsfindung und wenn sie einverstanden sind, gehen wir einmal die Fragen durch, die wir ihrem Mann in ihrem Auftrag gestellt haben und die er uns am Lügendetektor bereit war, zu beantworten.“
„Da bin ich ja gespannt, was dabei herauskommt. Als Frau hat man nämlich so seine Gefühle und danach sieht es schlecht aus. Aber wenn man über einen Computerausdruck schwarz auf weiß erfahren kann, wie es wirklich aussieht, dann würde ich mir die Sache mit der Scheidung noch einmal überlegen.“
„Das ist mir zu wenig“, bemerkt der Graf noch schnell, „dein ewiges Überlegen kenne ich zur Genüge. Entweder sagste heute hier, ob du glaubst, mir vertraust und weiter mein Essen kochst und so weiter, oder .. .“
„Was oder? Oder was?“
„Oder ich schick mich in mein Los und sorg zukünftig für mich selbst.“
„Dir geht es wohl bloß darum, VERSORGT ZU SEIN?“
„Nee, ich liebe dich – so, und nun isses raus.“
„Das ist schon mal ein guter Anfang“, fährt die Moderatorin dazwischen, ehe wieder neue Probleme auftauchen. Dann lässt sie sich die Rechnerausdrucke im verschlossenen Umschlag bringen und öffnet diesen theatralisch.
„So, die erste Frage war: ’Sind sie, Graf Ioso in kriminelle Machenschaften verwickelt.’ Ihre Antwort lautete ‚Ja’. Diese Antwort ist zu 99,98% WAHR.“
Großer Beifall, der aber sofort abbricht. Auch der Moderatorin fällt auf, dass hier irgend etwas nicht stimmt.
„Herr Graf, sie sind also doch kriminell aktiv gewesen?“
„Was heißt kriminell aktiv. Wenn sie meinen, ob ich straffällig geworden bin, so sage ich eindeutig NEIN. Das hat mir ja auch die Staatsanwaltschaft bestätigt. Sie fragten aber im Test, ob ich in ‚kriminelle Machenschaften VERWICKELT’ bin. Da sage ich eindeutig ja. Was das für welche sind, die mich als Verdächtigen des Devisenschmuggels in eine so ungeheuerliche Situation gebracht haben, weiß ich nicht. Wäre ich nicht darin verwickelt, hätte man mich wohl auch nicht festgenommen. Aber ich bin UNSCHULDIG. Danach hätten sie fragen müssen.“
Man sieht, wie sich die verunsicherte Moderatorin ärgert. Nach einer endlos lang erscheinenden Pause hört sie in ihrem kleinen Ohrstecker endlich die Regieanweisung: ‚weiter machen, nicht weiter darauf eingehen!’
Und ohne Übergang hält sie den Ausdruck hoch. „Die zweite Frage lautete ob sie, Graf Ioso, in ihrer Freizeit in Schweinereien verwickelt sind, so wie dies die Polizeibeamten in ihrer mitternächtlichen Benachrichtigung gegenüber der Gräfin Ioso behaupteten. Sie sagten eindeutig NEIN und das ist zu 94,72% WAHR!“
Der Beifall kam jetzt etwas zögerlich, weil nicht alle Zuschauer überblicken konnten, ob dies nun eine positive oder negative Aussage ist. Erst ein Blick auf die Regisseurin und das hochgehaltene Schild gab die gewohnte Sicherheit.
Nur Frau Ingrid war damit nicht zufrieden.
„Wieviel % waren das?“, fragt sie zurück und wie sie erfährt, dass es 94,72% waren, ruft sie empört „und was ist mit den restlichen 6 %?“
Dem Gatten werden die Knie weich. Doch die Moderatorin kann helfen:
„Der Rest, Ingrid, ist eine Rechnerungenauigkeit. So eine wissenschaftliche Aussage gibt es nie zu 100%. Da kann es sein, ein Sensor ist während der Messung etwas verrutscht oder eine kleine Stromschwankung im Netz und schon wird das Ergebnis etwas verfälscht.“
Ingrid ist verzweifelt. Man merkt es ihr an. Nichts ist hundertprozentig. Also muß sie am Schluss doch ihre eigenen Entscheidungen treffen. Doch da kommt schon die dritte und wichtigste Frage.
„Sind sie, Graf Ioso, ihrer Frau Ingrid Gräfin Ioso treu? Und die Antwortet lautete JA. Das ist zu 97,65% eine LÜGE!“
Betretenes Schweigen im Saal.
Der Graf meldet sich zu Wort:
„Halt, halt, das stimmt überhaupt nicht. An dieser Stelle hatte doch der Lügendetektor einen Fehler. Das wurde sofort von den Technikern festgestellt und ich verstehe nicht, wie ein derartiger Schwachsinn hier als Ausdruck zur Verlesung kommen kann.“
Dem Grafen schwoll der Kamm, wie man so sagt und er war nur mit Mühe zu besänftigen. Die arme Ingrid wurde in ihrer Gefühlswelt hin und her geworfen. Und während noch die Redaktion mit der Technik telefonierte und die Regisseurin der Moderatorin keinerlei Hilfestellung geben konnte, weil sie damit zu tun hatte, in die Livesendung schnell eine Werbung einzublenden, ging Ingrid auf ihren Mann zu und sagte laut und vernehmlich:
„Weißt du, dass ist mir hier alles zu albern. Ich vertrau dir und die mit ihren DDR-Wahlergebniswerten sollen uns mal den Buckel runter rutschen.“
Dabei drückt sie ihn und er sie sehr inniglich. Und das wird nun wieder auf Sender gegeben, auch wenn niemand weiß, woher diese plötzliche Wandlung.

Die Moderatorin befasst sich nun einfach mit den nächsten Gästen.

Da verlässt das gräfliche Paar Hand in Hand die Talkrunde. Sie lassen sich noch kluger Weise an der Kasse ihr Honorar in bar auszahlen. Es wäre ja möglich, der Sender überlegt es sich noch einmal, denn allzu günstig war das heute wirklich nicht gelaufen.

*



Epilog


Die von RTL werteten natürlich auch diese Sendung ihres Konkurrenten aus und kamen zu dem Entschluss, das kann man besser machen; aus dem Grafen ist viel mehr herauszuholen.
„Aus dem Grafen nicht. Das ist ein Einfaltspinsel. Aber aus der Scheiße, die andere daraus gemacht haben“, fügte der Intendant hinzu.

Man kaufte Grafioso die Rechte für seine Story ab und gestaltete drei Gerichts-Nachmittagssendungen davon.

Natürlich berichteten auch die Printmedien sofort und immer wieder einmal von dem Ereignis. Aber die größten Breitenwirksamkeit hatten schon die Fernsehsender. Relativ seriös ging es noch bei Beckmann und Schmidt und Kerner und wie sie alle hießen, zu. Die Dritten wiederholten die Beiträge fleißig. Aber die Privatsender nahmen kein Blatt vor den Mund und Raab auf Pro 7 krönte das ganze noch mit einem frechen Lied, was 9 Monate die Nummer 2 in Deutschland war!
Anwalt Streitinger hatte voll zu tun, die Rechte seines Klienten Grafioso überall anzumelden und in bare Münze zu verwandeln.

*



Nach zwei Jahren hatten die Anwälte und Gerichte eine Arbeit geleistet, die ohne Anwälte gar nicht notwendig gewesen wäre – meinten die Leute von der Opposition. Was selbst die Marktfrau im Ort schon lange vorhergesehen hatte, trat ein: Grafioso musste keine von den über zweieinhalb Millionen-DM-Forderungen erfüllen. Diese wurden entweder auf Staatskosten oder durch Vergleiche beglichen. DIE WELT schrieb in einer Art Abschlusskommentar: ‚der Fall Grafioso ist nur durch die Dussligkeit der hiesigen Verantwortlichen und durch die Geldgier der Anwälte und Medien zu einem Fall geworden.’

Auch der Rechtsanwalt Streitinger und seine rührige Frau kamen auf ihre Kosten. Grafioso war inzwischen ständiger Gast des Stammtisches. Dort musste er für neu Hinzugekommene immer wieder einmal seine Geschichte erzählen. Dabei bekam er noch viele Hinweise, aus denen er seinen Nutzen ziehen konnte.
So kaufte er aus der Insolvenzmasse eines Unternehmens eine kleine, bis dahin unrentable Papierfabrik. Dank seines kleinen in der letzten Zeit gewachsenen Vermögens und mit Hilfe vieler Freunde, die dem Mann der Öffentlichkeit - der Grafioso jetzt war - für einige Zeit zur Verfügung standen, modernisierte er die Werksanlage und spezialisierte sich auf die Herstellung von Klosettpapier. Seine originelle Geschäftsidee war der Aufdruck eines 100 DM-Scheins. Das hielt seine Story noch einige Jahre am Leben und sicherte einen gewinnbringenden Absatz. Bis seine Geschichte aus den Medien und damit aus den Gehirnen der Menschen verschwand.

Doch inzwischen sitzt Grafioso mit seiner Frau am Kamin im kleinen Eigenheim, daß sie sich für ihren Lebensabend neben einer Aufbesserung ihrer Rente aus dem Erlös der ISSO-Geschichte leisten können.
„Der Kapitalismus ist schon eine gute Sache“, philosophiert der ehemals kleine, erfolglose Versicherungsvertreter, der sich zum Vorortlebemann emporgearbeitet hat. „Im Sozialismus wären wir nie so weit gekommen!“
„Aber Glück gehört schon auch dazu!“, gibt Ingrid Grafioso zu bedenken.
„Ja, aber selbst mit Glück hätten wir im Sozialismus nichts erreicht.“


Als Grafioso wieder einmal auf der Leipziger Messe ist, besucht er auch ‚seine Schicksalstoilette’. Er staunt nicht schlecht, als er dort einen auffällig angebrachten Anschlag entdeckt, auf dem steht:
„Ich war die Gebäudereinigerin der Leipziger Messeleitung, die am soundsovielten die Klosettpapiervorräte nicht aufgefüllt hatte, wodurch Graf Ioso in große Not geriet und durch Gottes Fügung später durch einen angemessenen Reichtum dafür entschädigt wurde.
Auf Vergebung hofft:
Unterschift: (unleserlich)
seitdem arbeitslos“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.09.2009

Alle Rechte vorbehalten

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