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Thriller
Marcus Hünnebeck
Teil 1
Der Künstler
1
Ruben stieg aus dem Taxi, das ihn bis zum Pier gebracht hatte. Er lächelte beim Anblick der MS Goldenflower. Wie sehr er sich auf die nächsten vierzehn Tage freute. Die Goldenflower war sein Lieblingsschiff. Sie bot Platz für fünfhundert Passagiere, die Luxus schätzten. Das Schiff gehörte in die Kategorie Fünfstern-Superior. Jede der Kabinen trug und verdiente die Bezeichnung Suite, keine war kleiner als fünfundzwanzig Quadratmeter und alle verfügten über einen Balkon.
Bedeutsamer für Ruben war allerdings das Entertainmentprogramm. Die Goldenflower besaß ein luxuriös ausgestattetes Theater, in das dreihundert Personen passten und in dem jeden Abend ein Showprogramm außerordentlicher Qualität stattfand. Die Reederei buchte ihn seit Jahren in regelmäßigen Abständen als Performancekünstler, der aus unterschiedlichen Büchern unterhaltsame Lesungen konzipierte. Das letzte Mal war er vor vier Monaten gebucht worden. Er hatte das Engagement kurzfristig wegen einer Erkrankung absagen müssen und befürchtet, zur Strafe längere Zeit auf die nächste Reise verzichten zu müssen. Doch der Anruf seines Agenten vor fünf Wochen hatte ihm diese Furcht genommen.
Der Taxifahrer holte sein Gepäck aus dem Kofferraum.
»Wohin geht’s?«, fragte er zu Rubens Überraschung. Auf der Fahrt hatte der mürrisch wirkende Fahrer kein Wort gesprochen.
»Nach Skandinavien«, antwortete Ruben.
»Dann wünsche ich Ihnen einen tollen Urlaub!«
»Das ist für mich Arbeit, kein Urlaub«, erwiderte er. »Trotzdem danke ich Ihnen.«
Er nahm seinen Koffer und zog ihn zum Terminal. Auf halbem Weg kam ihm ein Mitarbeiter der Reederei entgegen.
»Herr Reus!«, begrüßte der ihn herzlich. »Schön, Sie wieder an Bord zu sehen.«
»Hallo, Marco! Wie geht’s Ihnen?«
Die beiden plauderten eine Weile, während Marco gleichzeitig den Koffer mit einem Aufkleber versah, damit er in der richtigen Suite landete.
Lediglich mit seinem Handgepäck betrat Ruben schließlich das Terminal. Auf dem Weg durch die verschiedenen Stationen des Eincheck-Prozesses begrüßte er zahlreiche Mitarbeiter, die er von früheren Reisen kannte. Der Steward Tom führte ihn zur Unterkunft. Unterwegs erfuhr Ruben, dass Tom derzeit mitten in seiner zweiten Scheidung steckte und jetzt sechs Kreuzfahrten am Stück absolvieren würde, um den Kopf freizubekommen.
Dann erreichte Ruben seine Suite. Er verabschiedete sich von Tom und versprach, in den nächsten Tagen etwas mit ihm zu trinken. Der Koffer stand bereits in dem begehbaren Kleiderschrank. Ruben zog seine Jacke aus und hängte sie an einen Bügel. Auf dem Bett lag ein Umschlag. Darin vermutete Ruben das Unterhaltungsprogramm und seine Auftrittszeit. Außerdem Hinweise für teilnehmende Künstler, wann das erste Arbeitstreffen stattfand. Er öffnete den Brief und zog das Programm heraus.
Cool!
Die Programmverantwortlichen hatten seinen Auftritt bereits für den morgigen Abend eingeplant. Diese frühe Platzierung bot ihm viele Vorteile. Die Passagiere waren der vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten noch nicht überdrüssig und er hätte seine Pflicht rasch absolviert. Danach begänne der bezahlte Arbeitsurlaub für ihn so richtig.
Ruben legte sich auf die Tagesdecke und streckte alle viere von sich, rundum zufrieden.
»Was für ein Leben!«
Nach einem schmackhaften Frühstück, bei dem er mit einigen Mitarbeitern geplaudert hatte, stand das erste Meeting an. Ruben machte sich auf den Weg zu der obligatorischen Besprechung aller an Bord befindlichen Künstler beziehungsweise Experten. Die fürs Unterhaltungsprogramm Verantwortlichen hatten zu diesem Zweck eine Bar reserviert. Durch eine Glastür betrat Ruben den geräumigen Bereich, in dem sich ein gutes Dutzend Mitreisende versammelt hatten.
»Tag zusammen!«, begrüßte er die Anwesenden.
Er schaute sich um. Von früheren Reisen erkannte er den Sportexperten, der den Gästen während der Kreuzfahrt Yoga- und Qigong-Kurse anbot, außerdem Mitglieder einer Bigband und einen Lektor, der dafür verantwortlich war, den Passagieren Wissenswertes über die Zwischenziele auf ihrer Reise näherzubringen. Hinter ihm öffnete sich die Tür. Ruben schaute über die Schulter. Vier weitere Personen betraten die Bar, unter ihnen Sophia und Andreas, die an Bord so etwas wie seine Vorgesetzten waren, denn sie verantworteten das Unterhaltungsprogramm.
Andreas kam direkt zu ihm und schüttelte ihm mit strahlendem Lächeln die Hand. »Ruben, als ich deinen Namen gelesen habe, hab ich mich richtig gefreut. Hast du alles auskuriert?«
Ruben nickte. »Bin vollständig wiederhergestellt. Das war eine verdammt hartnäckige Mandelentzündung. Ich hatte wochenlang keine Stimme. Du kannst dir ja vorstellen, welche Horrorszenarien mir durch den Kopf gingen.«
Zumindest war das seine offizielle Erklärung für die Absage gewesen. Das Ausmaß seiner psychischen Probleme zu jener Zeit verschwieg er lieber. Mehr als die Andeutung der Horrorszenarien würde ihm nicht über die Lippen kommen. Auch Sophia trat zu ihm und begrüßte ihn mit Wangenküssen. »Deine Stimme klingt männlich und sexy wie eh und je«, sagte sie.
»Und du bist nach wie vor meine Lieblingschefin«, erwiderte Ruben.
Ein Kellner ging mit einem Tablett umher, auf dem Gläser mit Wasser, Orangensaft und Cola standen. Ruben schnappte sich einen Saft.
Fünf weitere Mitreisende traten kurz hintereinander ein. Andreas zählte die Anwesenden durch. »Jetzt sind alle da«, sagte er. »Willkommen auf unserer Skandinavien-Fahrt! Ich freue mich, jeden von euch zu sehen. Tatsächlich kann ich sogar von einem Wiedersehen sprechen, denn ihr wart ja alle schon einmal mit der Goldenflower unterwegs. Daher lassen sich die Formalitäten schnell klären.«
Ruben hörte nur mit halbem Ohr zu. Er wusste, welche Ansprache Andreas und Sophia nun halten würden. Als mitreisender Künstler oder Experte war es die oberste Pflicht, sich freundlich den Passagieren gegenüber zu verhalten. Ihnen ein Lächeln zu schenken und jederzeit für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Außerdem sollte man es vermeiden, sich vorzudrängeln. In den Restaurants hatten die zahlenden Gäste genauso wie am Pool oder auch bei den Landausflügen stets Vortritt. Ruben erinnerte sich an die abgesagte Reise zurück. Zwar hatte ihn tatsächlich eine Mandelentzündung auf die Bretter geschickt, doch im Vergleich zu den daraus resultierenden psychischen Problemen war die Entzündung rasch abgeklungen. Die schwarzen Gedanken hatten sich erst verzogen, als er wichtige Entscheidungen getroffen hatte.
»Ruben, passt dir sechzehn Uhr als Zeit für deine Probe?«, erkundigte sich Sophia.
»Ja, klar«, antwortete er – froh darüber, dass sie ihn mit Namen angesprochen hatte. Niemand sollte ihm anmerken, wie geistesabwesend er manchmal war.
Pünktlich betrat Ruben das Theater. Auf der Bühne warteten vier Personen: drei Techniker, die sich um Licht, Ton und Effekte kümmern würden; außerdem Sophia, die ihn am Abend anmoderieren würde.
Ruben reichte dem Effekteverantwortlichen einen USB-Stick. »Ich habe einen Film für die LED-Leinwand zusammengestellt. Düstere Bilder, die zur Lesung passen.«
Der Techniker nickte. »Du hast an unsere Formatvorgaben gedacht?«
»Wie immer«, bestätigte Ruben. »Und der Stick ist neu gewesen, bevor ich ihn in meinen Mac geschoben habe.«
»Okay, ich prüfe das Ganze oben im Regieraum.« Der Endzwanziger entfernte sich von ihnen.
»Du liest aus einem Thriller?«, fragte Sophia. »Eine Weltpremiere?«
»Ja. Mein Agent hat das organisiert. Das Buch erscheint erst in wenigen Tagen. Ihr müsstet im Bordshop signierte Verkaufsexemplare vorrätig haben.«
»Das prüfe ich lieber noch einmal. Hast du Informationen für mich, die dir bei der Moderation wichtig sind?«
»Nur das Übliche«, bat Ruben. »Du stellst mich vor, ich das Buch. Einverstanden?«
»Gerne. Dann lasse ich euch jetzt mal alleine«, sagte sie.
»Ich freue mich auf die Lesung.«
»Nicht so sehr wie ich«, erwiderte Ruben.
»Headset oder Mikrofon?«, fragte der Tontechniker. Hinter ihnen erwachte die LED-Leinwand zum Leben.
Die ersten Sekunden des von Ruben erstellten Films zeigten ein abbruchreifes Haus, auf das die Kamera zoomte. Der Himmel war wolkenverhangen. Im Hintergrund blitzte es.
»Wird das eine düstere Lesung?«, fragte der Lichttechniker.
»Sehr düster«, bestätigte Ruben. »Ich nehme ein Headset. Außerdem brauche ich ein Lesepult am linken Rand der Bühne, einen Sessel rechts und in der Mitte einen Barhocker. Das wäre perfekt.«
»Überhaupt kein Problem.«
Auf der LED-Leinwand öffnete eine behandschuhte Hand die Haustür. Fledermäuse flogen aus dem Gebäude dem Zuschauer entgegen. Ruben lächelte. Er würde den Passagieren eine beeindruckende Show bieten.
In seiner Suite überflog Ruben am frühen Abend das letzte Mal die Karteikarten, von denen er die Informationen über den Verfasser des Thrillers ablesen würde. Schließlich steckte er sie in das Buch, das ihm sein Agent zugeschickt hatte. Ruben hatte nur die ersten hundert Seiten gelesen. Seine Lesungen wurden umso besser, je weniger er vom Gesamtinhalt des Werks kannte. Ihm fiel es leichter, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, wenn er kaum Hintergrundwissen über den Fortgang der Geschichte besaß, da dieses ihn beeinflusst hätte.
Ruben wandte sich dem Spiegel zu. Er war stattliche einen Meter siebenundachtzig groß und für sein Alter von zweiundvierzig mit fünfundachtzig Kilo noch immer schlank. Wenn er nicht auf Reisen unterwegs war, joggte er dreimal wöchentlich und ging zusätzlich zweimal ins Fitnessstudio. Diese eiserne Disziplin zahlte sich aus. In seinem dunklen Haar zeigten sich seit dem letzten Jahr vermehrt graue Sprenkel – eine Veränderung, die ihm gefiel. Manche sagten, er hätte Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Mark Ruffalo. Ein Kompliment, das ihm sehr schmeichelte. Für die Veranstaltung hatte er sich ein schwarzes Outfit zurechtgelegt: halbhohe Stiefel, eine enganliegende Jeans, außerdem ein entsprechend passendes Hemd. Die einzige farbliche Abweichung war die rote Weste, die er darüber trug.
Er lächelte seinem Spiegelbild zu. »Jetzt rockst du die Bühne!«
Mit dem Hardcoverbuch in der Hand verließ Ruben seine Suite und eilte auf kürzestem Weg zum Theater. Unterwegs kam er mehreren Passagieren entgegen, die entweder schon vom Essen zurückkehrten oder erst in die Restaurants gingen. Manchen von ihnen nickte er zu. Vor dem Zugang zum Theater stand eine junge Stewardess, die mit einem silbernen Klickgerät die Zuschauerzahlen messen würde.
»Hallo, Tamara!«, begrüßte er sie nach einem Blick auf ihr Namensschild.
»Herr Reus!«, antwortete sie. »Ich hoffe, ich bekomme hier draußen etwas von der Lesung mit. Das klingt sehr spannend.« Sie deutete zu einem Videobildschirm, auf dem die Veranstaltung angekündigt wurde. Diese Bildschirme waren an unterschiedlichen Stellen des Schiffs verteilt.
»Das wird es«, versprach er. »Ein unvergessliches Erlebnis.«
»Toi, toi, toi!«
Er lächelte ihr zu. Dann betrat er den Veranstaltungsort und eilte zur Bühne. Durch einen Seiteneingang erreichte er den Backstagebereich. Sophia und der Tontechniker warteten auf ihn.
»Gut siehst du aus«, sagte Sophia. »Ich bin im Laufe des Tages schon oft auf die heutige Veranstaltung angesprochen worden. Wahrscheinlich ist das Theater gleich restlos gefüllt.«
»Wundervoll.«
Der Tontechniker trat zu ihm und gab ihm das Headset. Um es vernünftig anlegen zu können, überließ er Sophia das Buch. Sein Herzschlag wurde schneller. Er litt zwar nie unter heftigem Lampenfieber, aber eine solche Lesung beschleunigte auch nach all den Jahren der Berufserfahrung noch immer seinen Puls.
Pünktlich um einundzwanzig Uhr ging Sophia auf die Bühne. Die Zuschauer spendeten ihr freundlich Applaus. Wenn sich Ruben nicht irrte, war der Saal wirklich gut gefüllt.
Sophia begrüßte zunächst die Gäste und bedankte sich für die Buchung der Reise, die mit zahlreichen Höhepunkten aufwarten würde. »Nicht nur, was unsere Reiseziele anbelangt, sondern auch hinsichtlich unseres abendlichen Veranstaltungsprogramms«, versprach sie den Passagieren. »Den Anfang macht ein hochgeschätzter Künstler, der uns schon häufig bei Reisen begleitet hat. Er ist etablierter Hörbuchsprecher, Schauspieler, viel gebuchter Performancekünstler und einfach ein sympathischer Zeitgenosse. Begrüßen Sie mit einem herzlichen Applaus Herrn Ruben Reus.«
Beifall schwoll an. Lächelnd trat Ruben auf die Bühne. Sofort erfasste ihn das Licht eines Scheinwerfers, das ihm die Sicht auf die Zuschauer nahm. Er verneigte sich.
»Hallo und herzlich willkommen! Schön, dass Sie da sind. Sophia, vielen Dank für deine warmen Worte. Ich hoffe, ich kann die Erwartungen, die du gerade geweckt hast, auch erfüllen.«
»Daran zweifle ich keine Sekunde«, sagte sie. »Verehrtes Publikum, viel Spaß!« Sie ging unter Applaus von der Bühne.
Ruben schaute ihr kurz hinterher. Dann seufzte er zufrieden. »Das ist meine mittlerweile vierzehnte Fahrt auf der MS Goldenflower und ich könnte mir vorstellen, mir ergeht es so wie Ihnen. Es gibt einfach kein besseres Schiff auf dieser Welt. Keine angenehmere Art zu verreisen. Vierzehnmal – und trotzdem ist das heute eine ganz besondere Premiere für mich.« Er hielt das Buch hoch. »Ich lese zum ersten Mal aus einem Roman, der noch gar nicht erschienen ist. Sie werden also Zeuge einer Weltpremiere. Der Thriller, aus dem ich Ihnen verschiedene Abschnitte vorlese, trägt den Titel Lange Tage in seiner Gewalt. Geschrieben wurde er von dem Star der deutschen Thriller-Riege: Florian Zauner. Sein Erstling schlug vor fünfeinhalb Jahren wie eine Bombe ein. Siebenstellige Verkaufszahlen, Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen und eine Verfilmung katapultierten ihn von null an die Spitze. Er ließ seine Fans zweieinhalb Jahre warten, bevor er an den Riesenerfolg mit einem zweiten Buch anknöpfte. Und nun, drei Jahre später, erscheint nächste Woche zeitgleich in sieben Sprachen sein drittes Werk. Lange Tage in seiner Gewalt dreht sich um eine 35-jährige Frau und Mutter, die von einem ihr Unbekannten entführt wird. Anfangs ist sie dem Täter hilflos ausgeliefert, der sie zu makabren Dingen zwingt. Je länger die Gefangenschaft allerdings andauert, desto mehr entwickelt sich zwischen Entführer und Opfer ein Katz-und-Maus-Spiel. Obwohl die Frau von dem Täter in einem Käfig gefangen gehalten wird, gewinnt sie langsam die Oberhand.« Ruben senkte seine Stimme um eine Nuance. »Seien Sie gespannt!«
Auf der LED-Leinwand startete der Film. Ruben trug die erste Szene vor. Er wechselte mehrfach seinen Standort und erzeugte mit seiner Stimme Spannung. Mal flüsterte er, mal schrie er. Manchmal schwieg er länger als nötig, um die Zuschauer auf die Folter zu spannen. Nach dem einleitenden Kapitel, das die Entführung beschrieb, sprang Ruben zwei Abschnitte nach vorn. Der Täter zwang sein Opfer, ein detailliertes Tagebuch von der Gefangenschaft zu führen.
Er las die verzweifelten Worte der entführten Mutter vor, die sie an ihren Mann und ihre Tochter richten musste.
»Oh mein Gott!«, ertönte es plötzlich aus dem Publikum.
Ein Glas zerbrach klirrend. Kurz setzte Unruhe ein.
Da ihm das Scheinwerferlicht die Sicht auf die Zuschauer nahm, konnte er nicht einschätzen, was da vor sich ging. Mit leiser Stimme las er die nächste Passage vor. Er lieferte eine Meisterleistung ab – daran bestand kein Zweifel.
»Sie erhalten das Buch im Bordshop. Der Verlag hat einige vom Autor signierte Ausgaben zum Preis von vierundzwanzig Euro zur Verfügung gestellt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen hoffentlich albtraumfreie Träume und eine angenehme Reise!«
Ruben verbeugte sich und genoss den lautstarken Applaus. Er hatte das Publikum fast eine Stunde lang in den Bann gezogen und ihnen eine perfekte Show abgeliefert.
Das Scheinwerferlicht erlosch. Endlich konnte er sich im Saal umsehen. Viele Zuhörer saßen noch auf ihren Plätzen und applaudierten ihm ausdauernd. Sophia und Andreas wären garantiert zufrieden.
Ruben hob die Hand und winkte den Passagieren zu. Dann wandte er sich ab und ging zum Backstagebereich. Dort wartete Sophia auf ihn.
»Wow«, sagte sie anerkennend, »was für eine Geschichte! Gruselig. Wie geht sie aus?«
»Ich habe zur Vorbereitung nur die ersten hundert Seiten gelesen«, erwiderte Ruben. »Den Rest hole ich auf der Reise nach.« Er nahm das Headset ab.
»Du warst fantastisch!«, lobte sie.
»Danke. Es kam ganz gut an, oder?«
»Und wie! Du hast unser Publikum gefesselt. Einen besseren Auftakt hätten wir uns nicht wünschen können. Im Namen der Reederei bedanke ich mich herzlich. Du weißt ja, wie es läuft. In ein paar Tagen setzen wir uns mit Andreas zusammen und werten das Feedback aus. Ich kann mir nicht vorstellen, Negatives zu hören. Es schien mir bloß für den einen oder anderen Passagier zu spannend gewesen zu sein. Zwischendurch ist eine junge Frau rausgerannt. Für die war es definitiv zu aufregend.«
»Hat sie auf ihrer Flucht ein Glas umgeschmissen? War das der Lärm, der mich ganz kurz irritiert hat?«
»Ja«, sagte Sophia. »Aber das spricht eindeutig für deine Performance. Kommst du gleich in die Künstlerbar?«
Eine der insgesamt sechs Bars auf dem Schiff fungierte als Anlaufstelle für alle anwesenden Künstler und Experten. Dort gab es an den Auftrittsabenden freie Getränke.
»Das lasse ich mir nicht entgehen. Ich ziehe mich um und dann komme ich zu euch.«
»Wundervoll. Bis gleich.« Sophia verließ den Backstagebereich.
In seiner Suite schlüpfte Ruben aus dem Outfit. Gedanklich ging er die einzelnen Abschnitte durch, die er vorgetragen hatte. Er war absolut zufrieden. Von einigen wenigen Stellen abgesehen, an denen er sich verhaspelt hatte, war er ohne Hänger durch die Lesung gekommen. Die Reaktionen des Publikums und Sophias erstes Feedback sprachen ein deutliches Urteil. Er zog eine weiße Stoffhose an, die er mit braunen Slippern und einem legeren Pullover kombinierte.
»Jetzt beginnt der schöne Teil der Reise.«
Es klopfte an seiner Kabinentür. Ruben schaute auf seine Uhr. Holte ihn ein Crewmitglied ab oder war das jemand aus dem Serviceteam, der die Minibar auffüllen wollte?
»Moment!«, rief er.
Rasch fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare. Dann ging er zur Tür und öffnete sie.
Im Gang stand eine junge Frau, die er interessiert musterte. Sie war vermutlich Ende zwanzig, groß, attraktiv. Die Unbekannte trug ihre langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die gelbe Bluse und der knielange, dunkelblaue Rock betonten ihren schlanken Körper. Ein Groupie?
»Sie wünschen?« Er lächelte der Frau zu. Manchmal erzählten mitreisende Musiker von Besucherinnen, die nach dem Auftritt in den Kabinen vorbeisahen. Bislang hatte er so etwas immer für angeberisches Gerede gehalten. Sollte er sich geirrt haben?
»Woher wissen Sie, was meiner Mutter passiert ist?«, fragte die unbekannte Schönheit mit zittriger Stimme.
»Wer sind Sie?«, entgegnete Ruben.
»Wer sind Sie?«
2
18 Jahre zuvor
Kriminalhauptkommissar Johannes Schneider zuckte wegen eines schmerzhaften Stichs im Nacken kurz zusammen. Ohne den Blick vom Monitor zu nehmen, massierte er sich die verspannte Muskulatur. Mit dem Zeigefinger drückte er auf eine besonders harte Stelle an der Halswirbelsäule.
Seit Stunden suchte er in den schriftlich festgehaltenen Zeugenprotokollen nach Unstimmigkeiten. Er kam einfach keinen Schritt vorwärts. Jedes Mal wenn er glaubte, auf der richtigen Spur zu sein, erwies sich das als verfrühte Hoffnung.
Johannes rieb sich übers müde Gesicht und gähnte. Der Mord an dem Rentnerehepaar beschäftigte ihn seit zwei Wochen. Er war überzeugt davon, den Täter im sozialen Umfeld des wohlhabenden Ehepaars zu finden. Trotzdem kamen sein Partner und er einfach nicht vorwärts.
Er gähnte erneut und warf einen Blick auf die Armbanduhr, die seine Frau Isabel ihm zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte.
»Oh Scheiße!«, murmelte er.
Wieder einmal hatte der Arbeitstag deutlich zu lang gedauert. Isabel hatte ihn am Vormittag an ihren Volkshochschulkurs erinnert und gebeten, nicht zu spät nach Hause zu kommen. Er hatte es ihr versprochen. Ihre 12-jährige Tochter Annika stellte zwar normalerweise keinen Unfug an, aber ihnen beiden war es lieber, das Mädchen nicht zu lange unbeaufsichtigt zu lassen.
Als er die Zeugenprotokolle schließen wollte, bemerkte Johannes eine Unstimmigkeit. Statt sofort Feierabend zu machen, benötigte er weitere fünf Minuten, ehe er einen logischen Grund für die Diskrepanz fand. Frustriert schaltete er den Computer aus.
Um acht Uhr abends fuhr Johannes den Wagen in die Garage ihres Einfamilienhauses in Berlin. Zumindest war er noch deutlich vor Isabel nach Hause gekommen, die frühestens in einer Stunde heimkehren würde. In der Diele stellte er seine Aktentasche auf den Fußboden und lauschte. Es war nichts zu hören. Ob Annika im Bett lag und in einem Buch schmökerte? Ein erneuter Stich fuhr ihm in den Nacken. Johannes stöhnte. Früher hatten ihm lange Arbeitstage zumindest körperlich nicht geschadet. Er würde noch eine Kleinigkeit essen und sich danach ein entspannendes Vollbad gönnen.
Johannes stellte sich vor die geschlossene Kinderzimmertür. Wieder lauschte er. Nach ein paar Sekunden vernahm er ein von der Tür gedämpftes Kichern. Mit einem Lächeln auf den Lippen klopfte er an die Tür.
»Komm rein, Papi!«, erklang Annikas Stimme.
Seine Tochter lag auf dem Bett. In der Hand hielt sie ein dickes Buch mit abgegriffenem Umschlag. Er setzte sich zu ihr an den Bettrand und gab ihr einen Kuss.
»Hallo, mein Schatz! Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.«
»Das macht mir nichts«, erwiderte sie gelassen.
»Ist Mama um halb sieben gefahren?«
»Ja. Ich soll dir sagen, dein Essen hat sie mit Alufolie verpackt in den Kühlschrank gestellt. Du sollst es nicht übersehen.«
»Willst du dich zu mir setzen und mir von deinem Tag erzählen?«
»Ist es schlimm, wenn ich lieber hierbleibe und lese? Ich bin gerade bei einer meiner absoluten Lieblingsstellen.«
»Natürlich nicht. Viel Spaß!«
Er gab seiner Tochter noch einen Kuss und verließ ihr Zimmer. Mit einem Umweg übers Bad ging er in die Küche. Isabel hatte ihm sechs Scheiben Roastbeef, feine Remoulade und drei Essiggurken vorbereitet. Sein Magen knurrte, als er sich an den Tisch setzte. Während er aß, massierte er seinen Nacken. Er dachte über den Doppelmord nach. Ihr Hauptverdächtiger war der 25-jährige Großneffe der Rentner, der wegen Hehlerei vorbestraft war. Aus dem Haus des Ehepaars waren Wertgegenstände verschwunden. Der Großneffe hatte nur ein schwaches Alibi. Angeblich hatte er den Mordabend allein im Kino verbracht. Johannes hatte ihn zusammen mit seinem Partner schon zweimal zum Gespräch gebeten. Bislang hatte sich der Student nicht in Widersprüche verwickelt. Es wurde Zeit, ihn ein drittes Mal vorzuladen.
Johannes ging erneut ins Bad und räumte vom Badewannenrand Isabels abgelegte Kleidungsstücke, die er auf den Toilettendeckel legte. Er öffnete den Wasserhahn und drehte den vollelektronischen Temperaturregler auf vierzig Grad. Danach füllte er einen schäumenden Badezusatz in die Wanne. Aus dem Schlafzimmerschrank holte er einen frischen Pyjama. Nach dem Bad würde er sich ein Beispiel an seiner Tochter nehmen und es sich mit einem Buch bequem machen. Bis Isabel zurückkehren würde. Seine Frau besaß auch nach dreizehn Ehejahren noch immer das unschätzbare Talent, ihn von Gedanken an die Arbeit ablenken zu können. Darin war sie besser, als es je ein Romancier sein könnte. Er freute sich auf ihre Rückkehr. Sobald sie ihren Kopf auf seine Brust legen würde, könnte er komplett abschalten.
Isabel Schneider schlug das Lehrbuch zu. Der Englischunterricht war für den heutigen Abend beendet. Sie unterdrückte ein Gähnen, da sich in diesem Moment ihr Sitznachbar zu ihr drehte.
»War Frau Green heute besonders unmotiviert?«, fragte Stefan sie leise.
»Kam mir auch so vor«, erwiderte sie. »Sie sehnt bestimmt die Ferien herbei.«
Isabel legte ihre Handtasche auf den Tisch und steckte das Buch, ihr Heft und den Kugelschreiber hinein.
»Stehst du auf dem Lehrerparkplatz?«, erkundigte sich Stefan.
»Ja. Du auch?«
»Hab den letzten freien Platz ergattert. Dann komm! Lass uns gehen.«
Auf dem Weg aus dem Klassenzimmer nickten sie einigen anderen Kursteilnehmern zu und verabschiedeten sich von der Dozentin. Frau Green saß an ihrem Pult und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Irgendetwas schien sie zu betrüben. Isabel war in Versuchung, sich bei ihr zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei, doch Stefan zog sie am Ellenbogen.
»Ich weiß genau, was du vorhast. Mach es nicht!«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»See you next week«, sagte Isabel zur Dozentin.
»Bis nächste Woche«, antwortete Frau Green gedankenverloren.
Im langsamen Tempo verließen sie den Raum und gingen den breiten Flur der Grundschule entlang.
»Hast du heute Abend noch Pläne?«, fragte Stefan.
»Ein bisschen mit meinem Mann quatschen und dann kuschle ich mich …«
»Stopp!«, rief er lachend. »Zu viel Informationen.«
»… mit einem guten Buch ins Bett«, beendete sie den Satz amüsiert.
»Was liest die Frau eines Kriminalhauptkommissars? Blutige Thriller?«
»Gott bewahre! Mir reicht schon, was Johannes von der Arbeit erzählt. Nein. Mich begeistern Romane, die mich in fremde Länder führen. Australien, Asien, Südamerika. Am liebsten mit historischem Bezug. Johannes verreist nicht gerne. Mehr als einmal im Jahr drei Wochen in den Sommerferien bekomme ich ihn nicht aus seinem geliebten Berlin. Da bleibt mir nur die Fantasie.«
Sie erreichten den Ausgang. Stefan hielt ihr die Tür auf.
»Oder ein anderer Mann«, schlug er augenzwinkernd vor.
»Dann lieber lebenslänglich Berlin.«
»Du unverbesserliche Romantikerin. Wir sehen uns nächste Woche.«
»Hab eine gute Zeit.« Aus einigen Metern Entfernung entriegelte Isabel mit der Fernbedienung ihren Wagen. Sie freute sich auf ihr Zuhause.
Johannes Schneider stellte den Wasserhahn ab. Dann ging er zum Kinderzimmer, klopfte an die Tür und öffnete sie. Annika schmökerte noch immer in ihrem Buch.
»Mein Schatz, ich gehe jetzt in die Badewanne und für dich ist Schlafenszeit. Wie viel Seiten hat dein Kapitel noch?«
»Drei«, sagte sie, ohne aufzuschauen.
»Danach legst du das Buch beiseite und machst das Licht aus. Deine Zähne sind geputzt?«
»Schon lange. Darf ich dafür ein Kapitel mehr lesen? Bitte!« Sie schaute ihn mit großen Augen an.
»Meinetwegen. Gute Nacht, mein Schatz! Hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Papi.«
Er schloss die Tür, kehrte ins Bad zurück und zog sich aus. Mit einem wohligen Seufzer stieg er in das angenehm heiße Wasser.
»Herrlich«, brummte er.
Johannes tauchte kurz mit dem Kopf unter. Als er wieder hochkam, strich er sich die nassen Haare nach hinten. Für ihn gab es nach einem langen, frustrierenden Arbeitstag nichts, was ihn mehr entspannte als ein Vollbad. Er spürte, wie sich die gesamte Muskulatur langsam löste. Wahrscheinlich sollte er mal wieder einen Massagetermin beim Physiotherapeut vereinbaren.
Ohne es zu wollen, richteten sich seine Gedanken auf den ungelösten Fall. Er dachte an die Spuren, denen sie zuletzt nachgegangen waren. Was übersah er? Und welche Verdächtige kamen außer dem Großneffen infrage?
Um die Badezeit zu verlängern, füllte Johannes eine Viertelstunde später heißes Wasser nach. Er erhöhte die Temperatur am Regler auf zweiundvierzig Grad. Fünf bis zehn Minuten könnte er noch in der Wanne bleiben.
Als er den Hahn wieder ausstellte, hörte er draußen Motorengeräusche. Isabel kam endlich nach Hause. Johannes lächelte.
Isabel zog die Handbremse und schaltete den Motor ab. Sie griff zu ihrer Handtasche.
Plötzlich öffnete jemand die hintere Beifahrertür. Ein junger Mann stieg ein und warf die Tür zu. Isabel drehte den Kopf. Sie sah die Pistole in seiner Hand und stieß einen erschreckten Schrei aus.
»Was wollen Sie?«
»Fahr los!«, antwortete der Mann.
Isabel hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Der Bewaffnete war höchstens fünfundzwanzig, trug einen flaumigen Kinnbart und schwarze Kleidung. Über seine Haare hatte er eine Kapuze gezogen.
»Sofort!«
»Nein!«, widersprach sie.
Er drückte die Pistole gegen ihre Seite. »Dann siehst du Annika nie wieder und stirbst hier im Auto.«
»Was wollen Sie?«, wiederholte sie.
»Von hier wegkommen. Das ist deine letzte Chance. Oder spürst du Todessehnsucht?«
Zu seiner Überraschung startete Isabel kurz nach dem Zuwerfen der Tür wieder den Motor. Hatte sie sich mit so weitem Abstand von der Bürgersteigkante entfernt hingestellt, dass sie ihre Position korrigieren musste? Es wäre nicht das erste Mal. Isabel fuhr zwar sicher Auto, erfüllte aber beim Einparken jedes Klischee.
Johannes hörte, wie sie davonfuhr und dabei den Motor hochjagte. Was hatte das zu bedeuten? Er hielt sich am verchromten Griff fest und zog sich aus dem Wasser. Rasch kletterte er aus der Wanne und trocknete sich hektisch ab. Inzwischen vernahm er keine Motorengeräusche mehr. Er schlüpfte in seinen Bademantel und lief barfuß aus dem Badezimmer. Wo fuhr Isabel jetzt noch hin? Hatte sie etwas in der Schule vergessen?
Johannes riss die Haustür auf. Von Isabels Wagen fehlte jede Spur.
Beunruhigt nahm er sein in der Diele liegendes Telefon zur Hand und wählte ihre Nummer.
In ihrer Handtasche erklang das Klingeln ihres Handys.
»Gib mir deine Tasche!«, befahl der Bewaffnete. »An der nächsten Ampel fährst du nach rechts.«
Zögerlich reichte sie ihm die rote Tasche nach hinten. Das Telefon klingelte noch immer. Der Mann nahm es heraus.
»Johannes«, sagte er amüsiert nach einem Blick aufs Display. »Ist dein Mann ein Kontrollfreak oder wieso ruft er an?« Ehe die Mailbox ansprang, drückte der Bewaffnete den grünen Hörer.
»Isabel? Wo fährst du hin?«
»Johannes!«, schrie sie. »Mich hat ein Mann entführt. Der ist jung. Höchstens …«
»Schnauze!«, brüllte der Bewaffnete. »Nach rechts!«
»Sie machen einen schweren Fehler!«, warnte ihn der Kommissar. »Lassen Sie sofort meine Frau frei!«
»Fünfundzwanzig. Ein Milchbubi!«, schrie Isabel.
»Du wirst demnächst viel von deiner Frau lesen«, sagte der Mann mit tief verstellter Stimme. Dann beendete er das Gespräch. Er kurbelte das Fenster hinunter und warf das Handy aus dem Fahrzeug. Erneut drückte er ihr die Pistole von hinten gegen die Seite. »Milchbubi? Das wirst du bereuen! An der nächsten Kreuzung nach links. Falls du Annika und Johannes jemals wiedersehen willst, solltest du anfangen, besser zu gehorchen.«
Fassungslos wählte Johannes noch einmal Isabels Nummer. Sofort sprang die Mailbox an.
»Scheiße!«, fluchte er.
Als Nächstes kontaktierte er den Polizeinotruf. Johannes gab einen Code durch, der ihn als Beamten in Notlage auswies. Er schilderte, was passiert war und in welchem Fahrzeug seine Frau entführt wurde. Der Polizist versprach ihm, sofort alle verfügbaren Streifenwagen zu alarmieren, damit sie Ausschau nach Isabels Auto hielten.
»Der Entführer ist bewaffnet. Sie müssen ihn finden und stoppen!«
Johannes beendete das Telefonat.
»Papa?«, erklang in seinem Rücken Annikas Stimme. »Was ist passiert? Ist Mama noch nicht zu Hause?«
Verzweifelt schloss Johannes die Augen. Wieso hatte er Annika nicht gehört? Langsam drehte er sich zu ihr um. Seine Tochter starrte ihn angsterfüllt an.
»Wo ist Mama?«
»Ich weiß es nicht, mein Schatz.«
»Ist ihr etwas passiert?«
Johannes kniete sich zu Annika und nahm sie in den Arm.
»Alles wird gut«, flüsterte er ohne große Hoffnung.
Seine Gedanken rasten. Ein 25-jähriger Milchbubi? Die Beschreibung passte perfekt auf den mordverdächtigen Großneffen.
»Ich muss mich anziehen und telefonieren. Gehst du bitte zurück ins Bett. Morgen früh ist alles wieder in Ordnung.«
»Versprichst du das?«
»Ja«, antwortete er leise.
3
»Sie besuchen meine Lesung, hören, was ich über das Buch vortrage, und tauchen anschließend an meiner Kabine auf«, fasste Ruben zusammen. »Haben Sie mich gerade heimlich verfolgt?«
»Ich bin Ihnen nach der Veranstaltung hinterhergegangen. Ja«, bekannte sie. »Weil ich wissen will, wer Sie sind. Und was Sie mit dem Schicksal meiner Mutter zu tun haben.«
»Ich bin Ruben Reus. Und Sie?«
»Mein Name lautet Annika Schneider.«
Ruben schaute an ihr vorbei nach links und rechts. Er fühlte sich unwohl.
»Ich verstehe kein Wort.«
»Meine Mutter ist vor achtzehn Jahren von einem Unbekannten entführt worden. Die Polizei hat den Täter nie verhaftet. Er hat Mama gezwungen, elf Tage lang Tagebuch zu führen. Jede ihrer Seiten hat der Mann uns zugeschickt, um meinen Vater und mich zu quälen. Die Passage, die Sie vorhin vorgelesen haben, stimmt wortwörtlich mit dem Inhalt des ersten Briefs überein, den meine Mutter schreiben musste. Also! Wer sind Sie?«
»Ich bezeichne mich als Performancekünstler. Bei Engagements wie diesem lese ich aus Büchern mir unbekannter Autoren. Manchmal engagieren mich Verlage für Hörbuchproduktionen. Ganz selten ergattere ich Fernsehrollen. Reicht Ihnen das als Antwort?«
»Nein. Das ist nicht einmal die Spitze des Eisbergs dessen, was ich wissen muss. Lassen Sie mich in Ihre Kabine, damit wir uns in Ruhe unterhalten können?«
»Unter keinen Umständen!«
»Was haben Sie zu verbergen?«
»Gar nichts! Merken Sie nicht selbst, wie ver…« Er bremste sich und überdachte seine Wortwahl. »… wie skurril Ihr Erscheinen auf mich wirken muss? Ich bin auf diese Engagements angewiesen. Wenn Sie behaupten, ich hätte Sie in meiner Suite vergewaltigt, habe ich …«
»Wieso sollte ich …« Annika atmete tief durch und trat einen Schritt zurück. »Ich verstehe Ihre Sorge. Aber wir müssen reden. Noch heute. Schlagen Sie einen geeigneten Ort vor.«
»Nehmen wir die Kaminzimmer-Bar auf Deck sieben. Die ist meist recht ruhig, trotzdem steht hinter dem Tresen die ganze Zeit ein Barkeeper, der uns im Auge behalten kann.«
»Kaminzimmer-Bar?«
»Sie werden den Namen verstehen, sobald Sie dort sind.«
»Einverstanden. In fünf Minuten?« Ruben stöhnte. »Meinetwegen.«
»Wenn Sie in zehn Minuten nicht da sind, komme ich hierher zurück. Auf einem Schiff können Sie mir nicht aus dem Weg gehen.«
Sie wandte sich ab und lief den Gang entlang. Ruben schloss die Tür.
»Wow!«, sagte er leise. Seine Gedanken rasten.
Mit nur knapper Verspätung betrat Ruben die Bar. Seine Verabredung hatte sich an einen Zweiertisch in der Nähe des elektrischen Kaminfeuers gesetzt. Ein Kellner nahm gerade ihre Bestellung auf.
»Hallo!«, sagte Ruben. »Ich hätte gern einen Gin Tonic.«
»Kommt sofort«, versprach der Kellner.
Ruben setzte sich hin und musterte die Frau erneut. Sie war ausgesprochen attraktiv. Wie besessen starrte sie auf das Buch, das er mitgebracht hatte.
»Reden wir, wenn wir unsere Getränke haben, einverstanden?«, schlug er vor.
»Meinetwegen. Geben Sie mir das Buch?«
»Später, wenn es sein muss. Nicht sofort. Ich will erst wissen …«
Annika winkte ab. »Sie müssen es mir nicht erklären. Ich hätte Sie in Ihrer Suite nicht so überfallen dürfen. Tut mir leid.«
»Ist das Ihre erste Kreuzfahrt?«, fragte er, um Small Talk zu betreiben.
Die Frau nickte.
»Mit wem reisen Sie? Ihrem Partner?«
»Das ist jetzt nicht unser Thema.«
Bevor er etwas erwidern konnte, brachte ihnen der Kellner ein Schalenset mit drei verschiedenen Knabbereien.
»Ihre Getränke dauern nicht mehr lange«, versprach er.
»Sie waren schon vierzehnmal engagiert?«, fragte Annika.
»Ja. Mir gefällt dieses Schiff. Die Reederei zahlt die komplette Reise und legt noch ein Honorar obendrauf. Wir Künstler landen zwar immer in den kleinsten Suiten, aber hey, die sind so fantastisch, das reicht mir völlig. Zu Hause habe ich kaum mehr Platz.«
»Dürfen Sie eine Begleitung mitnehmen?«
»Dürfte ich, wenn ich jemanden hätte.«
Erneut kam der Kellner zu ihnen. Diesmal brachte er ihnen die Getränke. Annika hatte einen fruchtigen Cocktail bestellt.
»Wohl bekomm’s!«
Ruben griff zu seinem Glas. Er prostete ihr zu, sie reagierte mit Stirnrunzeln.
»Sorry«, murmelte er. Rasch trank er einen Schluck.
»Schildern Sie mir, was Ihrer Mutter widerfahren ist.« Annika nahm ihr Glas in die Hand und zog an dem Strohhalm. Dann beugte sie sich leicht vorn. »Ich war zwölf«, sagte sie leise. »Mama hatte abends einen Englischkurs in der VHS, mein Vater kam spät von der Arbeit. Der Entführer hat meine Mutter vor der Haustür abgefangen und sie gezwungen, mit ihm wegzufahren. Papa war Kriminalhauptkommissar in Berlin. Er hat sofort Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um Mama zu finden. Erfolglos. Am Tag nach der Entführung gab es nicht ein Lebenszeichen von ihr. Am Folgetag hatten wir einen anonymen Brief im Briefkasten. Mama hatte von ihrem ersten Tag in Gefangenschaft berichten müssen. Der Entführer hat sie alles aufschreiben lassen. Sie dadurch gedemütigt. Von da an bekamen wir jeden Morgen Post. Elfmal hintereinander.«
»Die Passage, die ich vorgelesen habe …«
»… stimmte wortwörtlich mit dem ersten Brief überein.«
»Wow!«
Annika starrte zu dem Buch, das auf der Armlehne seines plüschigen Sessels lag.
»Was hat es mit diesem Werk auf sich? Wieso haben Sie ausgerechnet daraus vorgelesen?«
»Dazu muss ich Ihnen erklären, wie meine Engagements ablaufen. Nicht nur hier auf dem Schiff, sondern eigentlich überall.«
»Legen Sie los!« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
»Ich habe mir in der Branche einen guten Ruf erarbeitet.
Es gibt viele Schriftsteller, die nicht in der Lage sind, aus ihren eigenen Büchern vernünftige Lesungen zu gestalten. Obwohl das zum Erfolg einer Veröffentlichung stark beitragen kann. Dann komme ich ins Spiel. Wenn Verlage Bücher vermarkten wollen, schicken Sie mich auf Lesereisen. Meistens begleiten mich dabei die Autoren, um nach der Veranstaltung für Fragen zur Verfügung zu stehen. Oder ich lese für ausländische Autoren aus den ins Deutsche übersetzten Werken. Und manchmal engagieren mich Reedereien für solche Kreuzfahrten. Dann steht weniger die Vermarktung im Vordergrund, sondern die Unterhaltung der Passagiere.«
»Und Sie wählen das Buch, aus dem Sie lesen?«
»Nein. Ich werde von einem Agenten vertreten. Der organisiert solche Reisen, und sobald wir Zusagen haben, fragt er bei verschiedenen Verlagen nach. Er nennt den Zeitraum der Reise und die schauen, ob das zu einer Veröffentlichung gut passen würde. Die Verlage legen zur Gage der Reederei noch immer eine Kleinigkeit obendrauf. Meist ein paar Hundert Euro. Das summiert sich im Laufe eines Jahres.«
»Kann man davon leben?«
»Ich leiste mir in Hamburg nur eine kleine Wohnung und besitze kein Auto, aber davon abgesehen, funktioniert es schon seit Jahren recht gut.«
Ruben achtete auf Annikas Reaktion. Manche Frauen fanden das Eingeständnis seiner Wohnsituation und eines fehlenden Fahrzeugs so
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Marcus Hünnebeck
Cover: Buchcoverdesign.de / Chris Gilcher – http://buchcoverdesign.de
Lektorat: André Piotrowski
Satz: André Piotrowski
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2020
ISBN: 978-3-96714-113-9
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