Warm duftend stieg der Kaffeegeruch in seine Nase, während er sich in seinen Email-Account einloggte. Fünfzehn neue Nachrichten wurden auf dem Display seines Apple-Laptops angezeigt, über die Hälfte von ihnen war verirrte Werbung, die es geschafft hatte, seine Spamfilter zu umgehen. Der Rest bestand aus Mitteilungen aller Art im Zufallsprinzip. Schnell klickte er durch, ob er eine davon noch heute dringend beantworten musste und als dies auf keine zutraf, schloss er seine Emails wieder.
Im Hintergrund des neuen Starbucks-Cafés klirrten die leisen, wohlklingenden Tassen im ewigen Tausch mit amüsierten Stimmen, die sich etwa über das neuste Kinoprogramm unterhielten. Mark lehnte sich zurück, zog seinen Laptop ein Stück an sich heran und öffnete Facebook. Ein Freund hatte ihn angeschrieben: „Hausparty bei Schmidt! Treffen uns da, bring die Süße von letztes Mal mit.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. 'Wenn ich noch wüsste, wie ihr Name wäre…', dachte er und las sich die anderen Mitteilungen durch.
Sarah war umgezogen, Melanie fühlte sich traurig, David spielte jetzt CandyCrush… Es war interessant zu sehen, was jeder so auf Facebook mit dem Rest der Welt teilte. Er updatete seinen Status mit einem simplen „feeling relaxed and drinking coffee“. Der letzte Schluck aus der Tasse verschwand in seinem Mund, dann klappte er den Laptop zu und packte ihn ein.
Der Himmel außerhalb des Cafés war bewölkt, aber im Wetterbericht war nur von einer schmalen Wolkenbank die Rede gewesen, kein Regen. 'Ein wenig Sonnenschein wäre trotzdem angenehmer', dachte er und zog sein Handy wie gewohnt aus seiner Jackentasche. Während er versunken sein Display betrachte und überlegte den Hintergrund seines iPhones erneut zu ändern, schlug ihm plötzlich etwas schmerzhaft gegen seinen Arm.
„Was zur Höl…“ wollte er sich grade lauthals beschweren, als ihn eine leise, brüchige Stimme unterbrach: „‘tschuldigung… hab‘ Sie nich‘ gesehen“, sagte eine um einen halben Kopf kleinere Blondine, die sich ihrerseits den Arm rieb. Bevor Mark irgendetwas über seine Lippen bringen konnte, stürzte sie bereits weiter.
Während diese Stimme und der Tonfall in ihm nach klangen, schaute er ihren leicht unsicheren, stolpernden Schritten einen Moment hinterher, sich fragend, was wohl mir ihr geschehen war. Dann ging er weiter. Es war eines der Dinge, die er an der Stadt liebte: Überall Menschen, flüchtige und wechselnde Begegnungen, buntes Durcheinander und trotz allem, genug Freiheit, um zu tun, was immer man wollte.
In seiner WG war es still, als er den Flur betrat und seine Laptoptasche zu Boden gleiten ließ. Jon und Arno saßen sicherlich noch in der Vorlesung. Er schloss seinen Laptop an das Stromnetz an und während er seine Notizen der letzten Vorlesung lud, schob er zwei Scheiben Toast in den kleinen Ofen.
Nachdem er seine Notizen zu einem einigermaßen verständlichen Text abgerundet hatte und die Toasts in seinem Magen verschwunden waren, machte er sich für die Party fertig. Duschen, ein bisschen Gel in die Haare, das blaue Hollisterhemd, die dunkelblaue Jeans und die Nikeschuhe. Fertig. Ein paar Heineken-Bierdosen aus seinem Lagervorrat schob er in einen Beutel und schwang diesen über seine Schulter.
Gerade rechtzeitig kam Arno zurück und schloss sich gleich seinem Vorhaben an. Zu zweit liefen sie zum Treffpunkt, an dem der Rest seiner Gang wartete. Mit den Jungs hatte er schon einige wilde und verrückte Nächte erlebt.
Der Abend war noch relativ jung, als er das Familienhaus von Schmidt betrat und auf die mit Gläsern und Flaschen beladenen Tische starrte. Die bunten Lichterketten, die überall hingen, spiegelten sich auf deren Oberflächen wieder und erinnerten ihn schwach an die glänzende Farbenstreuung von Diskokugeln. Die neusten Charts klangen aus der Anlage im Wohnzimmer. Schmidt stand in einer Ecke mit der Sonnenbrille auf dem Kopf und einer Bierdose in der Hand, bei ihm standen zwei Mädels und ein Freund, den Mark zuvor schon mal flüchtig gesehen hatte.
Als Schmidt Mark und seine Jungs erkannte, kam er mit einem lauten „Hey, hey, hey! Wen haben wir hier?“ aus der Ecke gepoltert. Von seiner Bewegungsart ausgehend, konnte man mit Sicherheit sagen, dass dies nicht sein erstes Bier war. Er begrüßte sie alle mit einem Handschlag und drückte ihnen gleich darauf einige Getränke in die Hand. Dann kamen auch schon weitere Gäste und Schmidt torkelte wieder davon.
Mark mischte sich unter die Leute, sprach hier und da mit den Jungs über Ergebnisse der nun beendeten Fußballsession, begrüßte lang nicht mehr gesehene Freunde und verstrickte sich in Smalltalk mit den Mädels. Die Musik verwandelte sich nach einiger Zeit in ein beständiges Dröhnen, Unterhaltungen, Stimmen und Lacher wurden lauter, durchdringender und aggressiver und die Lichter funkelten intensiver und bunter, je dunkler die Nacht wurde.
Ein vorbeihuschender Schimmer blonder Haare erregte Marks Aufmerksamkeit. Er entschuldigte sich bei seiner momentanen Gesprächspartnerin und folgte dem Blondschopf ins Wohnzimmer, das als Tanzfläche diente. Die Blonde kam ihm bekannt vor, doch ganz zuordnen konnte er sie nicht. Ihre Freunde hielten ihr einige Schnäpse entgegen, die sie lachend kurz hintereinander in sich hinein kippte, nur um gleich darauf auf den Wohnzimmertisch zu springen und wild zur Musik zu tanzen.
Es dauerte nicht lang, bis sich eine kleine Menge um den Tisch versammelt hatte, die sie anfeuerte. Mark zog sich rückwärtsgehend und langsam zurück, er verließ in Gedanken versunken das Zimmer und als er um sich blickte, stand er vor Schmidts Familienhaus und schaute auf den von Straßenlaternen beleuchteten Asphalt. Er zitterte leicht unter der aufkommenden Kälte der Nacht.
Er erinnerte sich, heute Nachmittag hatte die junge Frau ihn angerempelt, er erinnerte sich an ihre brüchige, hilflos klingende Stimme, die kauernde, verletzte Haltung und die unsicheren Schritte. Doch das schwache Wesen vom Nachmittag hatte sich in eine wildtanzende Partytigerin verwandelt. Eigentlich war das Ganze keinen weiteren Gedanken wert, aber die unterschiedlichen Bilder der Blondine liefen wie in einer Filmschleife immer wieder und immer schneller vor seinem geistigen Auge ab und je greller sie wurden, desto unwohler fühlte er sich.
Mark führte seine Bierdose zurück an seinen Mund und nahm einen großen Schluck. Das Bier lief bitter seinen Rachen herunter. 'War sie schon so verzweifelt, dass sie sich betrinken musste, um zu feiern?' Hinter ihm dröhnte der Bass der Technomusik. Wieder wollte er seine Bierdose anheben, doch diesmal stockte seine Hand auf halbem Weg.
Ohne Begründung schüttete er mechanisch das restliche Bier auf den Boden, zerbeulte die Bierdose systematisch und feuerte sie in eine angrenzende Hecke. Mit einem Blick auf die Uhr registrierte er, dass er bereits nach Mitternacht war. Das letzte Mal, dass er vor zwei Uhr ins Bett gekommen war, lag schon lange zurück. „Zeit nach Hause zu gehen…“ flüsterte er sich zu und schritt durch die kühle, ernüchternde Nachtluft, Fuß um Fuß weiter weg von der brummend wilden Party.
April 2015
Es … ist schon eine ganze Weile, dass ich das letzte Mal so früh aufgestanden bin. Nicht einmal für die Schule stehe ich so früh auf.
Auf vier Uhr hab ich meinen Wecker gestellt und bin aufgestanden. Seltsam, denn meistens höre ich nicht auf meinen Wecker. In den letzten Tagen habe ich mich immer nach dem Klingelton wieder herum gedreht und habe weiter geschlafen. Was sich verändert hat, weiß ich nicht.
Ich habe mir meine Jacke angezogen und bin nach draußen gestapft. Das habe ich auch noch nie getan.
In meinem Kopf habe ich die ganze Zeit die besorgte Stimme meiner Mutter gehört. Und ich habe mir Gedanken gemacht. Ich sollte nicht so weit gehen, nicht um diese Zeit, nicht alleine. Was, wenn mir etwas zustößt? Aber nein. Diese Dinge passieren, aber sie passieren nicht mir.
So habe ich mich dann nach draußen gestellt. Der Himmel war bewölkt, also scheint heute keine Sonne. Ich schaue auf die Wiesen, auf die Wälder, auf das Tal vor mir. In diesem Dämmerlicht sieht alles anders aus.
Ich bleibe nicht lange draußen. Nein. Ich gehe ziemlich schnell wieder hinein und setzte mich auf meinen Platz, an dem ich immer sitze. Meinen ganz gewöhnlichen Platz.
Ich schaue auf meine Hände und frage mich, wofür es sich lohnt zu leben.
Durch die Fenster sehe ich, wie es heller wird.
Jahre sind vergangen und ich sitze wieder hier, an meinem gewohnten Platz. Ich blicke auf meine leeren Hände. Wie lange sitze ich schon hier? Worauf habe ich gewartet?
Ich schaue nach draußen. Die Wolken haben sich verzogen, das Blau des Himmels schmerzt ungewohnt in meinen Augen. Aus der Dämmerung des Morgens erhebt sich die rotglühende, heiße Sonne.
Ein weiterer Morgen?
Langsam stehe ich auf, mit meinen Händen taste ich mich voran, näher an die glühende Morgensonne. Dann spüre ich, wie sich meine Rechte an einen Stift klammert, der nahe meinem Platz gelegen haben muss.
Noch einen Schritt nach vorne, noch einen.
Mit meiner Linken ergreife ich einen leeren Schreibblock.
„Füll mich…“ flüstern die raschelnden Seiten.
Ich durchbreche die Glasbarriere,
mit Buch und Stift voran und springe hinaus in die kalte Luft. Meine Füße finden sofort Halt auf dem steinigen Boden. Über mir entfaltet sich der blaue Himmel. Einladend winken mir die Wipfel der Bäume zu.
Mit einem Lächeln presse ich Buch und Stift an meine Brust und laufe der Sonne entgegen.
Mai 2015
Dort wo heute die Toten liegen, standen früher die Lebenden. So sagte mal ein alter Mann aus den Bergen. Jetzt wo Yamato auf das Grab seiner Schwester blickte, fiel im der Spruch wieder ein. Dort wo früher die Lebenden standen, liegen heute die Toten.
Er strich über den feinen Stoff seines schwarzen Anzugs. Die Zeremonie war beendet und die meisten Leute hatten den Friedhof bereits verlassen, doch Yamato stand wie angewurzelt vor dem Grab. Er hatte die Ausrichter gebeten, den Sarg ein wenig später abzusenken und zu begraben. Er wollte einige Augenblicke alleine mit seiner Schwester verbringen.
Es war kalt für einen Januarmorgen. Der Himmel war mit dicken grauen Wolken verhangen. Ab und zu schneite es ein paar dünne Flocken, aber viel war bisher nicht herunter gekommen. Es lag ein wenig Schnee an den Straßenrändern, durch das feuchte Wetter war allerdings mehr Schlamm als Weiß zu sehen.
Yamato blickte auf den schlichten grauschwarzen Felsen. In geschwungener Schrift war dort „Yamato Yasmine *21.4.1984 +6.1.2015“ eingemeißelt. Nur 31 Jahre war sie geworden. Ihr stressiger Job, das viele Hin und Her, ihr Unglück, sowohl in Karriere, Liebesleben und Familie, all das hatte letzten Endes einen hohen Preis bezahlt.
Es war falsch, wenn die jüngere Schwester zuerst starb, besonders wenn sie nur ein ungerechtes und kurzes Leben geführt hatte. Yasmine hatte noch so viele Pläne gehabt. Doch zuerst war es ihr nicht möglich gewesen ihren Traumjob zu erreichen, dann verliebte sie sich in einen Mann, den ihre Eltern missachteten und nachdem sie viel Kraft und Geld in diese Beziehung gesteckt hatte, hatte er sie mit einem gebrochenen Herzen zurückgelassen.
Am Ende war sie ein gebrochener Mensch gewesen. Die Herzattacke hatte alle überrascht. Sie hatte sich so sehr nach Frieden gesehnt. Nach einem ganz normalen Job mit festen Arbeitszeiten, einer kleinen Wohnung mit Park in der Nähe, einer glücklichen Beziehung. Mehr hätte es nicht gebraucht um sie vollkommen zufrieden zu stellen.
Einige Blätter von Blüten, die auf ihren Sarg geworfen worden, lösten sich in einer etwas stärkeren Windböe und wirbelten wie von einer unsichtbaren Kraft durch die Luft. Hilflose naive Blüten. Den Händen des Windes schutzlos ausgeliefert.
Das Knirschen von Steinen ließ Yamato erstarren. Vermutlich kam Jemand um ihn zu holen, die Trauergäste warteten bestimmt. Doch als er sich vom Grab abwandte, um zu schauen, wer dort gekommen war, traute er seinen Augen nicht. Vor ihm stand Berling, Nils Berling, der Mann, der seiner Schwester das Herz gebrochen hatte.
Obwohl Yamatos Eltern ihn verachteten hatte er Berling als einen Freund betrachtet. Sie hatten sich ziemlich gut verstanden, zur großen Freude seiner Schwester. Niemals würde er Berling vergeben, seine Schwester ohne Erklärung verlassen zu haben.
Nachdem der Schock abgeklungen war, fühlte Yamato das brenndende Gefühl der Wut und das schmerzende Ziehen der Trauer in sich aufsteigen. Seine Zähne knirschten als er seine Kiefer zusammenbiss und sich mit finsterer Miene von Berlings schuldigem Gesicht abwandte. Wie konnte er es wagen heute hier aufzutauchen? Hatte seine Familie und er nicht schon genug Schmerz erlitten? Eiskalt drehte er sich wieder zum Grab.
Yamato hoffte vergeblich, dass Berling seine Geste verstanden hatte und sich zurückziehen würde, doch dieser trat mit nur wenigen Schritten neben ihm vor das Grab und starrte auf die kalte Gruft. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Einer weitere Schneeschauer begann, zunächst mit vereinzelnten kleinen Flocken, dann wurden sie ein wenig stärker.
Der Friedhof war nun leer bis auf die Angestellten des Bestattungsinstituts, Berling und ihm selbst. Der frische Schnee versteckte Stück für Stück den Sarg aus dunklem Kirschholz und die Blumengestecke, die dessen Oberfläche zierten.
„Wieso seit Ihr gekommen?“ Entfuhr es Yamato plötzlich ohne dies bewusst gewollt zu haben. Innerlich schrie er nach einer Erklärung, einer Entschuldigung, die all die schlechten Umstände wieder gutmachen würde. Innerlich brüllte er Berling an, schlug ihn, packte ihm am Kragen und schüttelte ihn solange, bis er einsah wie viel Schaden er angerichtet hatte.
„Ich wollte sie ein letztes Mal sehen.“ Brummte Berling in seiner tiefen Stimme. Erst jetzt wurde Yamato sich wieder bewusst, dass Berling einen Kopf größer war als er und wesentlich stärker. In seiner Stimme schwang Trauer und Provokation mit.
Als Berling das erste Mal auf Yamato zugetreten war, hatte dieser sich gehörig erschreckt, denn durch Berlings große Statur, sein selbstbewusstes Auftreten und die harten Konturen in seinem Gesicht wurde er stehts von einer Wolke der Bedrohlichkeit umgeben. Yamato wusste, dass es besser war, jegliche Provokation zu ignorieren, vor allem bei einem Mann wie Berling.
„Schwachsinn.“ Sprudelte es auf Yamatos Mund bevor er dessen Herr werden konnte. „Wolltet Ihr nur bestätigen, dass sie tot ist? Oder erhofft Ihr allen ernstes Symphatie und ein Trostgeschenk meinerseits? “ -
„Weder noch.“ Knurrte Berling ohne zu zögern. Yamato spürte wie sein Zorn seine Trauer langsam überwältigte und ballte die Hände zu Fäusten. Das Verlangen diese in Berlings Gesicht zu schlagen übermannte ihn beinahe, so dass er sich nur kurz verneigte und mit zusammengebissenen Zähnen zischte: „Entschuldige mich bitte.“
Steif trat er am Grab vorbei zurück auf den Hauptweg. „Yamato!“ Rief ihm Berling hinterher. „Es war das Beste so!“ Yamato ignorierte ihn. Er wollte nichts von dem höhren. Egal, was Berling sagte, nichts konnte all das wieder gut machen. Seine Schwester war tot. Tot!
Eine feste Hand auf seiner Schulter hinderte ihn daran weiterzugehen. Schon hatte Berling sich vor ihn geschoben und hielt ihn an beiden Schultern fest. „Warte bis ich ausgeredet habe.“ Forderte er. Sein Atem kondensierte in der Luft vor Yamatos Stirn. „Lass mich los!“ Fauchte Yamato und versuchte sich Berlings Griff zu entwenden.
„Nein. Nicht bis ich dir alles gesagt habe, was es zu sagen gibt.“ Yamato versuchte sich unter Berlings Armen weg zu drehen, doch dieser fing ihn stattdessen an seinen Oberarmen. „Ich habe deine Schwester geliebt, wie du sie liebtest. Sie war eine wundervolle Frau, die Jemanden verdient hatte, der sie vollkommen und aufrichtig liebte. Und das konnte ich nicht.“ Sprach Berling ungeachtet Yamatos Fluchtversuche weiter.
Es war schier unmöglich sich aus Berlings Griff zu wenden ohne sich selbst dabei erheblichen Schaden zuzufügen. Yamato versuchte sich krampfhaft an seine Judostunden zu erinnern, denen er als Kind beigewohnt hatte, doch ihm fiel nichts zu seiner momentanen Stellung ein.
„Ich habe Yasmine verlassen, weil ich mich in Jemand anderen verliebt hatte.“ Yamato nahm einen sicheren Stand ein, dann packte er Berlings Daumen und drehte sie nach außen. Dieser ächzte und lockerte seinen Griff überrascht, so dass Yamato die Gunst des Moments nutzte und floh.
Allerdings kam er nicht weit, denn nach schon zwei Schritten rutschte er unter einer halbgefrohrenen Pfütze weg und fiel zu Boden. Er schaffte es noch sich rechtzeitig mit seinen Händen abzufangen, die augenblicklich anfingen zu brennen, als sie über den betonierten Weg schürften. Auch seine Knie schmerzten und er hoffte beständig, dass sein Anzug nicht allzusehr in Mitleidenschaft gezogen war.
Es war Berling, der ihm wieder auf die Beine half und sich seine Schürfwunden ansah. Yamato hasste ihn dafür. Nur wegen ihm war er überhaupt erst hingefallen. Das gab ihm keinen Grund sich für ihn verantwortlich zu fühlen, denn für seine Schwester hatte Berling sich schließlich auch nicht verantwortlich gefühlt.
„Yoshuar“ flüsterte Berling, als er sich die Wunden besah. Bei Yamato stellten sich alle Rückenhaare auf, als er seinen Vornamen hörte. „Nenn mich nicht so!“ Spuckte er zurück. Berling verstärkte seinen Griff um Yamatos Hände, dann blickte er ihm tief in die Augen. „Ich konnte nicht mit deiner Schwester zusammen sein, weil ich mich in dich verliebt hatte.“
Es brauchte einige Sekunden bis Yamato begriff was er grade gehört hatte. Berling war… was?! Der Schock machte es ihm unmöglich etwas zu erwiedern, so stand er einfach nur da und schaute verwirrt. Berling hatte sich in ihn verliebt? Aber… aber was war mit Yasmine? War Berling von Anfang an schwul gewesen? Hatte er die ganze Zeit etwas vorgespielt? Und warum hatte er sich dann auf eine Beziehung mit seiner Schwester eingelassen? Etwa wegen mir? Dieser Bastard!
Diesmal war der Impuls zu stark um ihn zu unterdrücken. Yamato entriss Berling seine Hände und schlug ihm mit seiner rechten Faust mitten ins Gesicht. Mit einem Schmerzschrei verlor Berling die Balance und fiel in den Schnee.
Yamato drehte sich so schnell wie möglich weg. Er wollte einfach nur noch fort. Fort von diesem kalten fürchterlichen Friedhof.
Juli 2015
All jene Wesen, die in einen Spiegel schauen und sich selbst erkennen können, beherrschen die Welt.
Seit ich klein bin, habe ich mich schon immer für Menschen interessiert und ich habe mich immer gefragt, warum sie das Eine oder das Andere getan haben. Ebenso habe ich mich selbst immer gefragt, warum ich etwas tat und je mehr ich über mich wusste, desto besser verstand ich die anderen.
Damals habe ich noch nicht verstanden, dass ich einfach in einen Spiegel schauen konnte und mehr sah, als die anderen Kinder. Es hat mich zu der Zeit auch noch gar nicht interessiert und Probleme gab es dadurch auch nicht. Klar, Streitereien hat es gegeben, aber das war normal. Die hat es zwischen allen Kindern gegeben.
Doch je älter ich wurde, desto mehr Unterschiede zeigten sich. Meine Großeltern haben mir immer viele Geschichten erzählt und aus Büchern vorgelesen und ich hörte begierig zu, denn sie beantworteten mir gerne meine Lieblingsfrage ‚Warum? ‘, ohne dass ich sie stellen musste. Vielleicht lag es daran, vielleicht liegen die Gründe noch viel tiefer, aber zu jener Zeit, die ich in der Grundschule war, schien ich mich mit jedem Jahr zu verändern. Die anderen Kinder veränderten sich auch, aber anders.
Immer öfter geschah es, dass sie plötzlich Dinge taten, die ich nicht verstand. Wenn ich nicht ihrer Meinung war, haben sie mir gesagt, dass ich dann nicht mehr zu ihnen gehören würde. Ich war traurig und wütend darüber, aber ich habe zugestimmt, in der Hoffnung, dass sich die Dinge schon regeln würden.
In meiner eigenen Reflektion suchte ich nach Gründen für eine Erpressung. Warum wollten sie mich ausschließen, wenn ich nicht ihrer Meinung war? Das machte keinen Sinn. Ich suchte und suchte und fand einfach nichts. Das machte mich nervös. Zum ersten Mal taten die Anderen Dinge, die ich selbst nicht tun würde und die ich nicht verstand.
So ging es eine ganze Zeit weiter, während ich immer nervöser und verwirrter wurde. Bis sie dann eines Tages etwas tun wollten, mit dem ich wirklich gar nicht einverstanden war, denn meine Großeltern hatten mich gelehrt, dass es falsch war. Ich sagte nein. Und im nächsten Moment war ich ausgestoßen.
Sie haben mir nicht gesagt, ich sei verstoßen. Sie sprachen gar nicht mehr mit mir. Sie sprachen jetzt eine andere Sprache, die ich nicht verstand.
Eine Zeit lang fühlte ich mich einsam, aber die Grundschulzeit neigte sich zu Ende und eh ich mich versah, ging ich auf eine andere Schule. Und da hatte ich Glück, denn da gab es plötzlich Kinder, die Großeltern wie die meine hatten, oder zumindest Menschen nahe standen, die so ähnlich waren. Diese Kinder sprachen meine Sprache. Wenn sie etwas Unbekanntes taten, dann sah ich in meinen Spiegel und erkannte, dass auch ich das tun würde.
Es war ein Wunder. Ich war glücklich. Mit ihnen war alles viel einfacher und ich nicht so einsam. Doch innerlich nagte immer noch die gleiche Frage an mir: Warum verstand ich die einen, aber nicht die anderen? Woher war dieser Bruch gekommen? Und warum wurde es immer Schlimmer?
Viele Jahre habe ich nach der Antwort gesucht. Ich habe nach dem Auslöser gesucht, der dafür verantwortlich war, dass meine Kindergartenfreunde nun so ganz anders waren und wir nicht mal ein verständliches Wort miteinander wechseln konnten.
Und heute habe ich die Lösung gefunden. Denn natürlich habe ich nicht immer verstanden, warum meine neuen Freunde bestimmte Dinge taten. Wenn das vorkam, habe ich nachgefragt und sie beschrieben mir, was sie in ihrem eigenen Spiegel sahen. So war es ab da an immer. Wir haben beschrieben was wir in unserer Reflektion sahen, wir haben zugehört, verglichen und so verstanden wir.
Heute fragte ich Eine, deren Sprache ich normalerweise nicht verstehe. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Aber ich habe sie einfach gefragt. Vermutlich war ich es so von meinen Freunden gewöhnt. Die Antwort jedoch war ungewöhnlich gewesen: Sie hat gesagt, sie wüsste nicht. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht weiß. Schließlich musste sie nur in den Spiegel sehen. Sie sagte: „Ich weiß es halt nicht.“
In diesem Moment ging mir auf, dass sie vielleicht gar nicht in ihren Spiegel sehen konnte. Vielleicht sah sie in ihrem Spiegelbild nur die Oberfläche und nicht das was drunter lag. Vielleicht hatte sie mal drunter geschaut und Angst bekommen. Oder sie hatte drunter geschaut und gesehen, dass etwas kaputt war, das sie nicht reparieren konnte. Kaputt oder hässlich. Und um das zu verstecken, schmückte sie ihre Oberfläche. Damit sie ganz und hübsch wirkte.
Das war wie eine Erleuchtung gewesen. Denn jetzt kann ich sie verstehen. All die anderen. Ich kann noch immer nicht ganz ihre Sprache sprechen, aber ich kann sie verstehen.
Natürlich ist damit noch nicht alles geklärt. Die anderen müssen lernen richtig in den Spiegel zu schauen, um sich verändern zu können. Das fällt ihnen schwer. Aber ich werde ihnen helfen. Und ich werde ihnen zeigen, wie man sich schöner macht und sich selbst repariert.
Denn wenn ich eines gelernt hab, dann ist es, dass man sich selbst kennen muss, um etwas zu bewegen.
Oktober 2015
Das S-Schiff landete sachte auf dem sich wellenden Gras. Die leisen Motoren und Flammen, die es mit solcher Leichtigkeit in die Luft heben konnten, surrten, während sich die Klappe des Bugs öffnete und ein großgebauter dunkelhäutiger Mann mit schweren Schritten über das veredelte Metall stapfte.
Gerda erinnerte sich an eine Zeit, an dem die Schritte verzerrte metalerne Geräusche ausgelöst hätten, doch die Technologie und Materialschöpfung von heute war so weit entwickelt, dass nicht mehr als ein sachtes Trippeln zu hören war.
„Endlich! Unser Space-Schiff ist da!“ Rief Mario begeistert und hüpfte auf und ab. Seit Tagen freute er sich auf den Umzug. Die Bilder der neuen künstlichen Gärten und Seen auf dem Mars hatten den kleinen Jungen voll und ganz begeistert. Er hatte ausführlich berichtet wie er in ihnen schwimmen würde, wie er nach seltenen braunen Steinen suchen würde und wie er durch die Gärten springen würde.
Gerda konnte es sich nur zu gut vorstellen. Die herrlichen Springbrunnen, die glänzenden Kuppeln, die neuen wundervoll designten Städte. Dort oben erwartete ihre Familie und sie eine neue Welt, frei von allen Übeln, die es auf der Erde gab. Eine Bürgerschaft für den Mars zu erwerben war teuer und mit langen Wartezeiten verbunden. Vor 12 Jahren hatten sie den Antrag gestellt und nun würde er endlich wahr werden.
Laura nahm Mario auf ihren Arm, bevor er zu dem schweren Mann rennen konnte. Natürlich wehrte sich der Kleine, doch Laura drohte ihm die Kekse, die sie führ den Flug eingepackt hatte, ganz alleine zu essen. Ja, genau das hatte Gerda auch immer zu ihrer Tochter gesagt, wenn sie sich nicht benommen hatte. Laura war als Kind ebenso unermüdlich wie Mario gewesen, doch wenn Gerda heutzutage ihre Tochter betrachtete, dann fühlte sie nichts als Stolz und Liebe in ihrer Brust anschwellen.
Erik legte Laura seine Hand auf die Schulter. „Es wird Zeit“, flüsterte der Mann ihrer Tochter. Das Gepäck wurde verladen. Viel war es nicht. Die nötigste Technologie wurde auf dem Mars den neuen Einwohnern gratis gereicht. Auch das war einer der Gründe, warum die Bürgerschaft so teuer war.
Mario entwand sich aus dem Griff seiner Mutter und lief ungehalten die kleine Rampe des Bugs herauf. Laura seufzte nur, während Erik seinem Sohn nachlief, um ihn davon abzuhalten, die anderen Fluggäste zu belästigen. Sie warf einen Blick zurück und lächelte Gerda zu.
Sie hatten alle Tickets für Sektor Floria. Das Arial war so groß wie das alte Frankreich gewesen war. Die Kuppel, die das Klima und die Gasmischung erhielt, war die zurzeit Größte auf dem Mars. Floria, ihr neues Zuhause.
Gerda wurde bewusst, dass es Zeit war, auf Wiedersehen zu sagen zu der Erde. Wiederkommen würde sie vermutlich nicht mehr. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, nun musste sie gehen. Doch ihre Beine bewegten sich nicht. Die Trauer, die ihr Herz überfiel, übermannte sie mit einem Schlag. Unsicher und verwirrt blieb sie stehen.
Ihre Tochter drehte sich besorgt um, als sie merkte, dass Gerda ihr nicht folgte. Eine Brise hob die ersten gefallenen Blätter des frühen Herbstes auf und wiegte sie diffus durch die verbliebene saubere Luft. Die untergehende Sonne färbte Gerdas weißes Haar in flammendes Orange. So sah sie beinah aus wie vor 50 Jahren, als sie noch jung und energetisch durch die Welt gereist war. Laura konnte sich an jede einzelne Geschichte ihrer Mutter erinnern und die kleinen Videos und Fotos, die sie in ihrer Kindheit aufgenommen hatte, waren ein ewig bleibender Beweis für die Schönheit ihrer jungen Mutter.
Langsam ließ Gerda sich in das Gras hinab sinken, als ihr dämmerte, was grade passierte. Ihr ganzes Leben hatte sie auf der Erde verbracht und egal wie viele Jahre noch vor ihr lagen, sie konnte ihre geliebte Erde nicht verlassen. Die Tränen, die ihr in die Augen sprangen, lösten ihre falschen Vorsätze von einem neuen Leben in Luft auf.
„Was ist los?“ Fragte Laura und ließ sich ebenfalls in Gras sinken, um ihrer Mutter in die Augen schauen zu können. Zuerst wusste Gerda nicht, was sie sagen sollte. Solange haben alle auf diesen Tag gewartet und nichts lag weniger in ihrem Interesse, als die Freude ihrer Familie zu stören und zu trüben. Doch mit jeder weiteren Sekunde, die sie in dem Gras saß, wurde ihr bewusst, dass es falsch war zu gehen.
„Ich werde nicht mitkommen.“ Sagte sie leise, aber entschlossen. Laura zuckte zurück, als hätte ihre Mutter sie geohrfeigt. „Aber…“, stammelte sie, nun ebenfalls den Tränen nahe. „Aber warum? Wir haben doch bereits alles geplant. Du wirst dort endlich bei uns in einem schönen Haus wohnen und nicht mehr in dem kleinen Appartement.“
Es fiel Gerda nicht leicht, eine vernünftige Erklärung zu finden und so tat sie das, was sie immer tat, wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte: Sie sprach einfach.
„Ich weiß selbst nicht genau, warum ich nicht mitkommen will. Meine Reaktion hat mich selbst überrascht. Hier stand ich und habe gedacht, dass ich ein neues Leben und ein neues Zuhause willkommen heißen werde, aber wie es scheint, ist dem nicht so.
Mir war vorher nie bewusst, wie verbunden ich hier mit der Erde bin, verstehst du? Wie könnte ich sie einfach im Stich lassen?“ Laura schüttelte nur traurig den Kopf. „Wieso im Stich lassen? Wir helfen beim Aufbau einer neuen Erde. Ist das nicht wundervoll? Bald wird es zwei dieser lebenstauglichen Planeten geben und Mario wird sich frei aussuchen können auf welchem er wohnt.“
Gerdas Herz schmerzte nur noch mehr bei diesen Worten. „Mein Kind“, sagte sie. „Du weißt, ich sehe das nicht so. Ich bin ein Teil der Erde. Mein Fleisch, meine Knochen, mein Blut. All das existiert, weil die Erde uns ihre Mineralien und Früchte gegeben hat und wenn ich sterbe, werde ich sie zurückgeben, wie es alle Lebewesen seit Millionen von Jahren machen.
Aber nur weil ich nicht gehen will, bedeutet das nicht, dass ihr nicht gehen sollt. Die Menschheit ist erwachsen geworden, sie kann jetzt ohne ihre Mutter leben, aber ich… Ich bin ein Teil der alten Generation und ich bin schuld, dass es ihr so schlecht geht. Von dieser Schuld kann ich niemals wegrennen. Sie wird mich in mein neues Zuhause begleiten und dort innerlich auffressen und in den Wahnsinn treiben. In meiner verbliebenen Zeit werde ich sie pflegen, wie du dich um mich kümmern würdest. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“
Als die Worte Gerdas Mund verließen, fühlte sie sich glücklich. Sie wusste nun mit Sicherheit, dass sie die Wahrheit waren. Sie würde über diesen Planeten wachen, während ihre Kinder nach neuen Planeten suchten. Sie war verantwortlich an dem Schaden, den ihre große Mutter erlitten hatte und sie würde hier bleiben, bis er wieder repariert war.
Das war das Versprechen, welches Gerda Hamper machte, als sie ihrer Familie Leb wohl sagte. Und an jenem Herbstabend hatte die Erde eine ihrer Töchter zurückbekommen.
November 2015
Draußen war es weder kalt noch weiß. Dieses Jahr herrschte ein klarer, sternenübersäter Himmel über den Heiligabend in den Bergen. Eine Nacht wie viele zu vor. Es tat gut in der frischen Höhenluft zu stehen, den Blick einfach in die schwarzen Tiefen zwischen den Sternen entgleiten zu lassen und zu träumen.
„Ich wünsche euch allen ein gesegnetes Fest und frohe Weihnachten!“ Mit diesen Worten hatte der Pastor die Christmette innerhalb der Kleinstadt-Kirche beendet. Nun strömten auch die restlichen Einwohner aus dem festlich dekorierten Gotteshaus in die warme Wintersnacht.
Ein murmelndes Meer aus Weihnachtswünschen wog um sie herum, drang aus der vorhin noch üppig gefüllten Kirche in den Vorhof und schließlich in die Gassen der Stadt. Verzückte und aufgeregte Kinder zogen ihre Eltern zu ihrem Familienhaus, in den kleinen Augen leuchtete die Aufregung und die Freude auf die Bescherung.
Manche warteten gar nicht erst, bis sie zuhause waren, sondern tauschten kleine Geschenke jetzt und hier aus. Tief atmete sie die von Liebe und gutem Willen erfüllte Luft ein; ihre Augen immer noch in den Himmel gerichtet.
Sie hatte ihrer Familie gesagt, dass sie vorgehen sollten und sie gleich kommen wollte. Ihren Freunden hatte sie mit den herzlichsten Weihnachtswünschen zu deren Verwandten geschickt. Es fehlte nur noch Einer. Und hoffentlich hatte er sie bemerkt.
Über den ganzen Nachmittag hatte sie an ihrer Frisur gearbeitet, ihr Outfit abgestimmt, ihr Makeup so justiert, bis es stimmte. Sie hatte nicht viel aufgetragen oder eine auffälligere Frisur gemacht, aber es war eine Kunst für sich, den Eindruck von Natürlichkeit kombiniert mit Eleganz zu vermitteln.
Langsam leerte sich der Hof und sie stand immer noch am Rande des Platzes, ein wenig vor den Blicken geschützt durch die mit Lämpchen behangenen Büschen. Wenn der Wind an den gestutzten Ästchen rüttelte, funkelten und blinkten die kleinen leuchtenden Kugeln wie die Sterne am Himmelszelt.
„Marie…“ Seine tiefe Stimme klang in ihrem Ohr nach und sorgte dafür, dass ihr Herz einen Sprung in die Höhe machte, bevor es in nun doppeltem Tempo weiter in ihrer Brust pochte. Hatte sie Unsicherheit in seiner Stimme gehört? Hatte sie Staunen vernommen? Oder konnte es sein, dass ihn die gleiche Aufregung befiel wie sie?
Endlich löste sie den Blick vom Himmel und ihre grünen Augen fokussierten seine blauen. Er schluckte, sein Mund öffnete sich, aber ihm schienen die Worte zu fehlen. Maries Herz machte noch einen Sprung. Diesmal einen größeren. Bitte… lasst ihn wegen mir so verzückt sein. Bitte, dachte sie und wandte sich ihm nun ganz zu.
Eine Weile sahen sie sich einfach nur an. Er sah gut aus in dem schwarzen Wintermantel und dem dunkelblauen Schal, der seine Augen eine Spur blauer erschienen ließ. Fast einen Kopf größer war er, aber durch den Meter an Abstand musste sie ihren Kopf nicht allzu hoch heben, um ihm in die Augen zu sehen. Nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte ihren Kopf anzuheben. Sie blickte gerne gen Himmel.
Auf die anderen Einwohner der Kleinstadt, wie auf alle anderen Fremden, die vielleicht ihr Leben verfolgten, musste dieser Moment seltsam wirken. Tom und sie kannten sich nur flüchtig. Man wusste wie der Gegenüber hieß, man wusste wo er wohnte und man wusste, was über ihm in den Kleinstadtkreisen erzählt wurde.
Wirklich miteinander gesprochen hatte man nicht. Aber das hieß nicht, dass keine Kommunikation zwischen ihnen geherrscht hat. Wenn immer sie den Raum betrat, fand sie ihn sofort in der Menge und ihre Blicke trafen sich. Egal bei welcher Veranstaltung sie unterwegs waren, zu Beginn und zum Ende hin sagten sie sich Hallo und Tschüss nur durch ihre Augen. Den Rest der Zeit warteten sie.
Angangs waren es neugierige Blicke, die sie sich gegenseitig zuwarfen, aber nachdem sie ihn länger beobachtet hatte und er sie, wurden aus den neugierigen Blicken begierige. Bis jetzt hatte keiner den ersten Schritt gewagt. Marie war sich nicht sicher, ob ihre eignen Wünsche sie nur dazu brachten, sein Verhalten als interessiert zu deuten, oder ob er wirklich so empfand. Und ebenso erging es Tom.
Die Nächte, die sie alleine in ihrem Bett verbracht hatte, reichten ihr und als sie heute zur Christmette aufbrach, wohlwissend, dass er ebenso dort sein würde, hatte sie beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Und deswegen stand sie hier: An dem Ort, bei welchem sie sicher war, dass er ihn passieren würde.
Was hatte sie sagen wollen? In ihrem Kopf herrschte Funkstille, während sie ihm gegenüberstand. Sie hoffte nur, ihr Gesicht war nicht so rot wie es sich warm anfühlte. Seine Augen hatten sich in ihren verhakt; schienen sie nicht mehr loslassen zu wollen. Von nun an entschied allein ihr Herz was als nächstes geschehen solle.
„Du siehst gut aus.“ Die Worte schienen aus Tom Mund zu rutschen, ehe er ebenfalls Herr der Lage werden konnte. Aber es war dieses unbeabsichtigte Kompliment, welches ihre fragile Stille umkippte und Marie aus ihrer tranceartigen Starre riss. Endlich drang das Blut mitsamt Situation wieder in ihr Hirn und sie lächelte schüchtern, während ihre Wangen erneut aufflammten. Die Stunden vor dem Spiegel hatten also doch etwas gebracht.
Fast hätte sie ihre Freude in die Welt hinaus gejauchzt. Er fand sie sah gut aus. Das war das erste, was er ihr direkt gesagt hatte. Zum Glück konnte sie ihre Euphorie jedoch im Zaum halten und sagte lächelnd aber mit fester Stimme: „Danke.“
Tom schien der Moment peinlich zu sein. Auch seine Wangen flammten im Licht der leuchten Weihnachtsdekoration auf, während er sich verlegen durch die Haare fuhr. Diese Geste hatte Marie noch nicht oft bei ihm gesehen, vermutlich weil ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte, und grade das sandte einen weiteren Freudenstoß durch ihren Körper.
Bevor er die Flucht ergreifen konnte oder weiter in seiner Verlegenheit verweilte, überbrückte sie den Meter Abstand zwischen ihnen und hielt ihm ihre Hand hin. „Frohe Weihnachten“, sprang überglücklich über ihre Lippen, während ihr Blick wieder den seinen fixierte.
Bildete sie sich das nur ein oder intensivierte sich sein Blick wirklich? Grade hatte Marie noch Kontrolle über die Situation gehabt, nun war sie erneut verloren. Er nahm seine Hand aus seinen Haaren und umfasste ihre ausgestreckte. Die Wärme, die durch diese Berührung ihren Arm hinaufjagte, ließ sie erschaudern.
„Frohe Weihnachten“, flüsterte er und trat einen weiteren Schritt heran. Sein Aftershave drang in ihre Nase zusammen mit dem einmaligen Geruch seines Atems. Er war so betörend, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nein. Noch besser. Den dies war real und nicht einer ihrer weltfremden Träume. Tom stand vor ihr in Fleisch und Blut, sein Blick dunkel vor Verlangen.
So sehr Marie in seinen Augen hätte ertrinken können, so sehr sie die spiegelnden Lichtern in ihnen bewunderte, die sie an den Sternenhimmel erinnerte, so stark blühte in ihrem Herzen der Wunsch auf ihn zu küssen.
Ihr Blick löste sich von seinen Fenstern der Seele und blieb an den leichtgeöffneten Lippen hängen. Nur wenige Zentimeter trennten sie von den unglaublichen Empfindungen, die seine Lippen auf ihren auslösen würden. Und von da an geschah alles wie in Zeitlupe.
Sein Gesicht näherte sich ihrem. Oder sie näherte sich ihm. Sie konnte es nicht genau sagen. Aber das spielte auch keine Rolle mehr, denn als seine Lippen ihre berührten, jagte ein gewaltiger Hitzetornado durch ihren Körper, um dort alle bisherigen Gefühle über den Haufen zu werfen. Zeitgleich meldete ihr Gehirn Feierabend an und sie konnte beinah sehen, wie ihre grauen Zellen, eine nach der anderen den Kontrollraum verließen, um in der nächsten Brain-Bar ein Bier zu zischen.
Nicht das sie grade auf die Arbeit ihres Verstandes angewiesen war, denn ihre ganze Aufmerksamkeit galt Toms Lippen, die sich gegen ihre bewegten. Seine linke Hand legte sich auf ihre Wange, als er sie mit der anderen Hand, die ihre immer noch festhielt, näher zu sich heranzog. Allein diese Bewegung reichte, damit ihr ein tiefer kehliger Seufzer entfloh, welcher keuchend von ihm beantwortet wurde.
Als sie seine Zunge an ihren Lippen spürte, gewährte sie ihm sofort Einlass. Zuerst ganz vorsichtig, doch immer bestimmter erkundeten sie einander und verloren sich in der Flut an Emotionen, die sie überwältigte. Alles in ihrer Umgebung war unbedeutend geworden. Es war ihnen egal, ob man sie beobachtete, egal ob ihre Familien auf sie warteten, egal dass eine Sternschnuppe direkt über ihren Köpfen den Himmel durchglitt.
Nur sie zählten. Sie und der endliche erfüllte Wunsch, den Beide schon seit einiger Zeit im Herzen getragen hatten. Erst nachdem sie alles erforscht hatten, was es in dem Mund des jeweils anderen zu erforschen gab, lösten sie sich voneinander.
Maries Herz pochte so wild ihr kochendes Blut durch ihre Ader, dass sie sofort ihre sonst kalten Hände an ihr Gesicht legte, um dieses abzukühlen. Doch von dem Kuss waren selbst ihre Hände wohlig warm geworden, so dass sie sie verlegen sinken ließ. Toms Augen schimmerten und auch seine Wangen hatten einen rosigen Farbton angenommen. Sein Atem ging schnell und in Stößen, während er sie angrinste, wie ein kleiner Junge mit einem neuen Geschenk.
Ihre eigenen Lippen formten sich zu einem breiten Lächeln, als sie ihn so sah. Was für ein wundervoller Anblick! Was würde sie dafür tun, um diesen Moment auf immer und ewig einfangen zu können! Doch sie wusste, dass dies nicht der letzte großartige Moment mit Tom sein würde, als er sie wieder heranzog und fragte: „Hast du am 2.Weihnachtstag eigentlich schon was vor?“
Dezember 2015
Einst saß ich in einem Café, als eine sehr bemerkenswerte Person das Lokal betrat und sich alleine an einen Tisch in meiner Nähe setzte. Diese Person war eine junge Frau, vielleicht Mitte 20, vielleicht auch ein wenig älter, aber auf jeden Fall noch zu jung um die Bürde zu tragen, die sie für jedermann sichtbar bei sich trug: Die freien Stellen ihres Körpers, die nicht durch ihre weite schwarze Kleidung verdeckt waren, zeigten ein faszinierendes Muster an geschmolzener Haut, die sich schmerzlich über ihre Knochen spannen musste. Es war an ihren Händen, Handgelenken, Beinen, Hals und sogar die Hälfte ihres Gesichts erkennbar.
Passend zu ihrem schwarzen Outfit trug sie eine große dunkle Sonnenbrille, die ihre Augen wie einen Großteil ihres Gesichtes verdeckte. Sie hatte dunkle Haare, fast schwarz, aber man erkannte einen braunen Schimmer, wenn Licht auf ihren schulterlangen Zopf fiel. Ihre feinen dünnen Lippen waren fest verschlossen, als ärgere sie sich über etwas. Mir ging auf, dass dieses Etwas wohl meine Persönlichkeit sein musste, denn alle anderen hatten schnell und höflich ihren Blick von der Frau abgewandt. Nur ich starrte sie unentwegt an und drang damit wohl unaufgefordert in ihre Privatsphäre ein.
Um mich nicht noch unbeliebter zu machen, versuchte ich meinen Blick zu senken und mich erneut auf den guten Kaffee wie auf das Sudoku zu konzentrieren, das ich nun schon seit mehr als einer halben Stunde versuchte zu lösen. Doch meine Ablenkung war nicht vor langer Dauer. Sobald sich die Frau in meinem Augenwinkel bewegte, schoss mein Blick zu ihr. Still beobachtete ich, wie die Kellnerin sie nach ihren Wünschen frug und anschließend ihr einen Cappuccino mit einem Stück Käsekuchen brachte.
Elegant begann die Frau den ersten Bissen Käsekuchen mit ihrer Gabel zu lösen. Doch sie führte das Stück nicht zum Mund, sondern legte das feine Gäbelchen zu Seite, stützte sich mit ihren Ellbogen am Tisch ab und sprach: „Wenn Sie mich so faszinierend finden, dann machen Sie einfach schnell ein Foto. Davon haben Sie länger was.“
Überrascht, dann peinlich berührt, ging mir auf, dass sie mit mir sprach und ich sie schon wieder anstarrte. Durch ihre Sonnenbrille ließ sich nicht genau erschließen, wen oder was sie grade betrachtete. Ich spürte das Blut in meinen Kopf schießen, rutschte ein wenig unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her und stammelte: „Es tut mir leid. Es ist nur so, dass ich mich ständig frage, woher Sie diese Verbrennungen haben.“
Für einige Sekunden rührte sich die unnahbare Frau nicht, doch dann atmete sie hörbar aus und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Sind Sie sicher, dass Sie diese Geschichte hören möchten?“ Der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert. Sie klang tiefer und bedrohlicher. Trotz der unterschwelligen Warnung nickte ich und betrachtete fasziniert wie die Frau scheinbar ungerührt in ihrem Cappuccino rührte.
„Es war an einem kalten Januarmorgen in den Rocky Mountains, USA. Ich arbeitete als Au pair in einem äußerst christlichen Haushalt und kümmerte mich um die drei jüngsten Kinder einer Großfamilie. Ich habe nie an Gott geglaubt und das habe ich der Familie auch sehr deutlich gemacht. Sie konnten ihren Gott so viel huldigen wie sie wollten, solange ich dabei nicht mitmachen musste. Das sprach sich schnell in der Gemeinde herum und so beschlossen ein paar Fanatiker an mir ein Exempel zu statuieren.“
Vorsichtig nippte die Frau an ihren Cappuccino und unterbrach so ihre Erzählung. Gespannt wartete ich darauf, dass sie mir mehr über diesen Januarmorgen verriet und zum Glück sprach sie, sogleich sie ihre Tasse gesenkt hatte: „Als ich an das Haus verließ um den Müll wegzubringen, wurde ich überfallen. Es waren vier Männer, die mir ein Tuch in den Mund stopften, meinen Kopf mit einem weißen Sack überzogen und mich von der Ranch forttrugen. Ich habe mich gewehrt und versucht die Männer zu verletzten, aber sie waren zu stark. Für jeden Kratzer, den ich ihnen zufügte, schlugen sie mich kräftig in den Bauch oder ins Gesicht, so dass ich mich bald dank der Schmerzen nicht mehr bewegen konnte.
Dann waren sie wohl weit genug von der Zivilisation entfernt, haben mich auf den verschneiten Waldboden gelegt und meine Kleider vom Leib gerissen. Ich dachte schon, sie wollten mich vergewaltigen, aber keiner von ihnen rührte mich an. Stattdessen haben sie mich mit Diesel übergossen.“ Wieder machte die Frau eine Pause und schob den Bissen Käsekuchen in ihren Mund. Mein Magen hatte sich in der Zwischenzeit zu einem mulmigen Knoten zusammengetan. Ich konnte mir denken, was nun folgen würde.
„Sie banden mich an ein Kreuz und stellten mich auf. Durch den Sack auf meinem Kopf konnte ich nicht sehen, wo ich war oder wer meine Peiniger waren. Ich habe gedacht, dass es nicht schlimmer kommen konnte, doch mir sollte das Gegenteil bewiesen werden. Einer der Männer sprach ein paar Sätze auf Latein, dann spürte ich die Hitze. Die Männer zündeten das Kreuz an. Flammen schmolzen meine Haut, bevor ich wusste wie mir geschah. Es war ein schrecklicher Schmerz. Es tat so weh, dass ich so laut schrie, wie der Lappen in meinem Mund es zuließ. Und mir ging auf, dass ich ganz alleine war. Es würde niemand kommen um mich zu retten. Nur diese Männer wussten wo ich war und sie wollten mich bei lebendigem Leibe verbrennen.
Wenn ich überleben wollte, dann musste ich mich selbst retten. Und das tat ich. Bis heute weiß ich nicht, woher ich die Kraft genommen habe die Seile um meinen Körper zu lösen. Vermutlich hatte das Feuer die Seile schon so angefressen, dass es nicht mehr viel Energie benötigte, sie zu zerreißen. Ich fiel fast am ganzen Körper brennend in den Schnee, der von dem letzten großen Schneesturm immer noch überall lag. Meine Kraft reichte um mich einmal komplett im Schnee zu drehen, dann verlor ich das Bewusstsein.
Ich weiß nicht, was mit den vier Männern geschah. Vermutlich sind sie weggerannt, als ich mich vom Kreuz befreite. Sie kamen auf jeden Fall zurück, sonst hätte ich in dem Schnee nicht lange überlebt. Irgendwer hat mich dann doch gerettet und in ein Krankenhaus gebracht, wo meine Wunden heilen konnten und meine Haut nachwuchs. Ich stelle mir gerne vor, dass es die vier Männer selbst waren, die mit ihrer Tat nicht leben konnten und mich deshalb ins Krankenhaus brachten, aber das ist nur Wunschdenken.“
Die Frau schob sich den nächsten Bissen Käsekuchen in den Mund, während ich schwer schluckte. „Was geschah dann?“, fragte ich nach, nicht sicher ob ich mehr wissen wollte. Doch die Frau zuckte nur mit ihren Schultern. „Nicht viel“, antwortete sie. „Ich habe Anzeige erstattet, aber die Täter sind nie überführt worden. Ich habe auch nicht gewartet, bis Gerechtigkeit walten würde. Direkt nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus habe ich die USA verlassen.“
Betrübt starrte ich auf meinen Kaffee. Das war eine schreckliche Geschichte. Ich hatte ganz vergessen, dass solche Dinge immer noch auf der Welt geschahen. „Danke“, sagte ich mit belegter Stimme. „Danke, dass sie mir davon erzählt haben.“ Die Frau nickte mir einmal zu und aß ihren Käsekuchen weiter, während ich den Kaffee trank. Den Rest der Zeit sprach keiner von uns. Sie beendete ihre Kaffeepause nach einer Weile und verließ das Café ebenso schweigend wie sie gekommen war.
Ich saß noch lange da und dachte über die Frau nach. Wie mutig sie gewesen war und wie viel Glück sie hatte, diese Geschichte überhaupt noch erzählen zu können. Und obwohl ich ein wenig neidisch auf ihre Stärke und Erfahrung war, wünschte ich mir, dass sowas niemals in meiner Nähe geschehen würde.
Januar 2016
Ich sitze hinter dem Glas des Fensters und schaue auf die Straße, tagein, tagaus. Schon oft hat die Sonne sich über die Ränder des Horizontes gehoben und sich wieder hinter ihnen gesenkt. Jeder Tag vergeht, ohne dass ich einen Unterschied sehe in meiner Suche.
In meiner Hand halte ich den Stift. Jenen Stift, den mir einst das Schicksaal gab und sagte: „Schreib.“ In meiner Erinnerung hallt das Echo des Moments, indem ich einfach in das Freie gesprungen bin. Der Moment, indem alles egal war und ich die Vorzüge ignoriert habe, die ein Dach über dem Kopf bringen.
Seit diesem Tag ist viel Zeit vergangen. Jahre um genau zu sein. Dutzende von ähnlichen Momenten, die sich in ihrer Vielzahl so in meiner Seele eingebrannt haben, dass sie nun einen festen Bestandteil bilden.
Das Gleichgewicht ist es. Und das Gleichgewicht kann ich wahren. Das Freie und das Sichere, beide sind ein Teil meiner selbst. Doch ich? Wessen Teil bin ich?
Ich starre auf die geteerte Straße außerhalb meines Fensters.
Es ist Nacht. Ich habe keine Angst mehr, herauszugehen, und trotzdem sitze ich hier drinnen und starre auf den grauen Teer, der von der Straßenlaterne angeleuchtet wird. Es regnet. Die Tropfen sind sicher warm, so sacht wie sie fallen. Ich wünschte für einen winzigen Augenblick, ich wäre draußen unter den schwarzen Wolken und könnte den warmen Regen schmecken.
Doch die Gedanken werden verdrängt wie jede anderen dieser Art und über mein Bewusstsein legt sich wieder die Trauer. Eine Trauer, die nur aus zerbrochener Hoffnung entsteht. Eine Trauer, die schon solange Teil von mir zu sein scheint, dass ich mich seltsam fühle, wenn ich sie ignoriere.
Ich warte. Ich warte erneut. Ich warte auf den Tag, an dem Jemand vor dieses Fenster treten wird und sagt: „Ich bin da. Ab jetzt sind wir nie wieder allein.“
Doch mit jedem Tag der vergeht, wird mir klar, dieser Jemand wird nicht kommen. Niemand wird sich vor mein Fenster stellen und verlangen es zu öffnen. Es wird einfach nur ein Fenster sein und all jede, die in ihrer Eile vorbeirennen, würden es nicht wagen, sich davor zu stellen.
Der Tag beginnt. Die Sonne senkt sich. Und eh ich mich versehe ist es erneut Nacht. Erschöpft schließe ich meine Augen. Erst im Reich der Träume ernte ich die Hoffnung, mit der ich den nächsten Tag überleben werde. Vielleicht wird dann alles anders. Vielleicht.
April 2016
Das Licht, das durch die grünen frischen Wipfel der Bäume fiel, tanzte nach dem Takt des Windes. Hin und wieder trafen sie einige dieser Sonnenstrahlen und brachen in alle Farben des Prismas an ihrer gläsernen Haut. Es gab ein Wort für dieses Licht im Japanischen: Komorebi. Sonnenlicht, das durch Blätter von Bäumen fällt. Für manche das letzte Sonnenlicht. Niemals aber für sie.
Sie lebte schon seit Hunderten Jahren und sie war die letzte ihrer Art. Die letzte, die bis heute überlebte. Es gab keinen Namen für ihre Art. Die Menschen hatten ihnen nie einen einheitlichen Namen gegeben. Man hatte sie Sirenen, Geister, Glasfrauen und die ersten Geishas genannt. Heute nannte man sie Todesengel.
Ihre Haare waren schwarz wie die dunkelste Erde und ihre Lippen rot wie reife Kirschen. Ihre Augen waren so dunkel, dass sie wie Löcher wirkten, die die Seele einfingen. Unter der gläsernen Schicht ihrer Haut war es so weiß wie frisch gefallender Schnee. Sie trug nichts. Kein Zentimeter Stoff verdeckte ihre feminine Gestalt. Wozu auch? Sie empfand weder Kälte noch Wärme. Sie empfand gar nichts. Nicht mal Trauer darüber, die Letzte zu sein.
Sie lebte im Aokigahara. Einem Wald um den Berg Fuji. Es war heute ein sehr trauriger und berüchtigter Wald, aber auch das war nicht immer so gewesen. Zuerst hatten sie hier alleine in Frieden und Ruhe gelebt. Dann kamen die Menschen und begannen den Berg zu verehren, auf dem der große Wald lebte. Religiöse Fanatiker hatten ihr zu Hause durchstreift und zum ersten Mal geschah dort, was den Untergang ihrer Art hervorgerufen hatte: Eine der ihren verliebte sich in einen Menschen.
Niemand hatte es kommen gesehen, doch sobald sie sich verliebt hatte, hatte sie gleichzeitig ihr Herz an ihn verloren. Die Erste, die starb, nahm sich selbst das Leben, nachdem ihr Mensch an Altersschwäche gestorben war und ihr Herz mitgenommen hatte. Unfähig ohne ihn und ihr Herz weiterzuleben, schmiss sie sich gegen die harten, scharfen Felsen und zersplitterte in Millionen kleine Stücke.
Daraufhin begann ihre Art, die anderen zu meiden. Doch die Menschen kamen immer weiter in den Wald. Manche suchten nach Rat, andere wollten die Kunst der Geishas erlernen, andere waren mutige Wanderer, die zum Gipfel des Fuji wollten. Und so geschah trotzdem, was alle fürchteten. Früher oder später fanden sie einen Menschen, in den sie sich unsterblich verliebten und ohne den sie nicht mehr leben konnten. Alle – bis auf sie.
Manchmal fragte sie sich, ob die Menschen um das Schicksaal ihrer Geschwister wussten. Die Leute, die heute noch in den Wald kamen, taten es um Abschied zu nehmen. Sie erhängten sich an den starken, geschwungenen Bäumen oder nahmen Pillen, die sie einschlafen und niemals wieder erwachen ließen. Sie kamen hierher um zu sterben. Vielleicht war es die seltsame Form einer Widergutmachung.
Da sie niemanden mehr hatte und all ihre Geschwister zu Staub zerfallen waren, folgte sie in ihrer Einsamkeit den Menschen. Sobald sie einen sah, folgte sie ihm bis zu der Stelle, an der er sterben wollte. Sie begleitete die Menschen auf ihren letzten Schritten, ihren letzten Atemzügen, ihren letzten Gedanken.
Hin und wieder folgte sie auch den Rangern. Sie hatte die Namen von allen gelernt, denn für gewöhnlich sah sie sie eine Weile länger als die anderen Menschen. Doch auch sie wurden alt und grau und irgendwann kamen sie nicht mehr in den Wald. Sie starben in ihren Heimen und nicht hier auf ihrem Land.
Sie wusste, dass dieser Kontakt mit den Menschen eines Tages genauso ihr Ende bedeuten könnte. Doch sie fürchtete es nicht. Diese Menschen wie Fliegen sterben zu sehen, hatte sie nachdenklich gemacht. Sie hatte immer geglaubt, dass es einen Grund für ihre Existenz gab und dass sich dieser Grund ihr eines Tages offenbaren würde.
Wenn sie ihren nun toten Geschwistern glauben konnte, dann war dieser Grund die Liebe, doch nicht für sie. So viele Menschen hatte sie schon gesehen. Doch nie hatte sie ihr Herz an einen verloren. Diese Liebe war nicht für sie bestimmt. Wieso also war sie noch hier? Bis sie eine Antwort darauf fand, würde sie warten.
Als sie mit anmutigen und totenstillen Schritten durch den Wald glitt, traf sie auf einen alten Ranger, Yuri. Sie hatte ihn schon oft gesehen, aber er sie nur ein einziges Mal. Sie konnte sich aussuchen, ob sie sich den Menschen zeigte oder nicht. Meistens blieb sie im Schatten des Waldes. Wenn sie es tat, dann weil ihr langweilig war und sie die Reaktion des Menschen sehen wollte.
Mit dem alten Mann ging ein junger Bursche. Er hatte die bronzefarbene Haut eines Landmenschen und die typischen japanischen Züge, die ihr sagten, dass er von gar nicht so weitentfernt geboren worden war. Der Alte zeigte dem Jungen die Routen, die er häufig ging. Er zeigte ihm Orte und Stellen, an denen er schon häufiger Leichen gefunden hatte und wie er sie am besten abtransportiert hatte.
Wenn der Alte den Jungen anlernte, dann würde sich der Alte bald zum Sterben zur Ruhe setzen. So war es bisher immer gewesen. Sie folgte den Beiden und ging mit Yuri seine vermutlich letzte Route ab. Ein letzter gemeinsamer Spaziergang.
Am Ende seiner Route, einer Lichtung nahe dem Waldrand, hielt der alte Mann auf einmal inne und blickte sich aufmerksam um. „Weißt du, Daisuke, Leichen sind nicht alles, was man hier im Wald findet. Du solltest vorsichtig sein. Die Geisterwelt ist nah hier. Pass auf, dass du dein Herz nicht verlierst.“
Das ließ sie aufhorchen. Sein Herz an die Geisterwelt verlieren? Sie wusste, dass Menschen auch durch Liebeskummer sterben konnten. Aber noch nie hatte sie gehört, dass ein Mensch sein Herz an ihres gleichen verloren hatte. Der Junge, dessen Namen Daisuke war, stieß nur ungläubig die Luft aus.
Sie beschloss sich vom Alten zu verabschieden und dem Jungen Respekt einzuflößen. Deswegen trat sie aus den Schatten um den Stamm der großen Bäume und zeigte sich aus der Ferne. Mit Absicht ließ sie einen Ast unter ihrem Gewicht zerbrechen, damit die beiden Menschen in ihre Richtung schauten und tatsächlich.
Beide erstarrten. Der Junge riss voller Unglauben seine Augen auf. Der Alte lächelte, als er sie erblickte. Sekunden lang geschah gar nichts, während der Wind die Blätter der Bäume bewegte und das Licht in verschiedene Richtungen über ihre gläserne Haut und den schwarzen Vorhang ihrer Haare sandte. Dann verbeugte sich der Alte vor ihr und sie trat wieder in den Schatten, so dass die Menschen sie nicht mehr sahen.
Die beiden verließen den Wald. Wie sie es geahnte hatte, sah sie den alten Yuri seit diesem Tage nicht mehr. Stattdessen lief Daisuke die Runden des Mannes. Wie bei dem Ranger davor und dem Ranger davor, beobachtete sie ihn aus dem Schatten der Bäume.
Sie sah, wie er die Leichen von Bäumen abhing und sie aus dem Wald trug. Sie sah auch wie schwer es ihm fiel, je mehr Leichen er sah. Anfangs hatte Daisuke noch ein friedliches Gesicht gehabt, als hätte er im Schatten von Fuji seinen Frieden gefunden, doch im Laufe der Zeit zeigten sich Falten von Trauer auf den Zügen seines alternden Körpers.
Eines Tages fand er eine Leiche, mit der sie vor einigen Tagen bereits die letzten Schritte gegangen war. Es war ein junges Mädchen. Sie war hübsch und ihr Gesicht funkelte von Unschuld. Sie hatte sich durch einen Strick erhängt. Als sie den Ast losgelassen hatte, damit das Seil ihr die Luft abschnüren konnte, hatte sie den Namen eines Jungen gesagt. Das Mädchen hatte sie an ihre Geschwister erinnert.
Daisuke fand das Mädchen und zerbrach. Sie erkannte den Blick auf seinem Gesicht. Viele ihrer Art hatten genauso geschaut, bevor sie ihr Leben beendet hatten. So auch Daisuke. Er löste die Leiche vom Seil, lehnte sie sachte an den Baum, dessen Äste ihr den Tod ermöglicht hatten und schloss ihre Augen.
Nach einem Gebet kletterte er auf den Baum. Doch statt das festgemachte Ende des Seiles zu lösen, wie er es bereits oft getan hatte, zog er den Strick zu sich hoch und legte ihn um seinen Kopf. Zum ersten Mal spürte sie Schock. Seit vielen Jahren kamen und gingen die Ranger, doch noch nie hatte einer versucht sein Leben zu nehmen.
Als er mit dem Strick um seinen Hals von dem Ast glitt, schritt sie aus dem Schatten und löste den Knoten mit einer Bewegung, bevor die Wucht des Falls sein Genick brechen konnte. Er fiel auf den laubbedeckten Boden statt in die Arme des Todes.
Verwirrt und traurig schaute Daisuke sich um und erstarrte, als er sie erblickte. Wie ein Engel, perfekt und funkelnd, stand sie vor ihm. Vollkommene und unbefleckte Schönheit. Mit einer Reinheit in ihren Zügen, die nur eine sehr alte wertvolle Seele haben konnte.
Dann öffnete sich das Kirschenrot ihrer Lippen und aus der Dunkelheit dahinter drangen die Worte: „Geh.“ Es war ihm unmöglich sich zu bewegen, aber ihr nicht. Also trat sie mit einem eleganten, unhörbaren Schritt näher und sagte: „Geh und lebe. Hier stirbst du nicht.“
Sie wusste nicht, was sie dazu bewegt hatte. Vielleicht waren es die viele Erinnerungen an ihre Geschwister. Vielleicht war es der Schock, der sie befallen hatte, als sie sein Handeln sah. Doch als sich die Starre in Daisukes Gesicht löste, wusste sie, dass es Schicksaal war und dass sie endlich den Grund für ihre Existenz gefunden hatte.
Wie das Licht, das durch die Blätter des Waldes fiel, breitete sich zögernd Hoffnung auf seinen Zügen aus. Hoffnung. Es war das erste Mal, dass sie sie sah und trotzdem erkannte sie diese Hoffnung sofort. Sie verliebte sich an Ort und Stelle.
Sie verliebte sich nicht in den Menschen, sondern in die Hoffnung, die er zeigte. Sie verliebte sich in die neue Möglichkeit, den Lichtschimmer im Dunkel, in das Komorebi.
Daisuke kam seit jenem Tage nicht mehr in den Wald. Doch das störte sie nicht. Sie wusste, dass er irgendwo ein neues Leben begonnen hatte. Genau wie sie. Wenn sie nun den Menschen folgte, dann tat sie es nicht, um die letzten Schritte mit ihnen zu gehen. Sie tat es nicht, um diese seltsame Wiedergutmachung zu sehen, die sich das Universum ersonnen hatte. Sie tat es, um ihnen Hoffnung zu geben.
Wenn immer jemand bereit war aufzugeben, trat sie aus dem Schatten und sprach die Worte, die sie Daisuke gesagt hatte und die Menschen gingen wieder. Sie begannen ein neues Leben und trugen ihre Erfahrung in die Welt. So wurde aus dem Wald, der den Todesengeln gehörte, Schritt für Schritt, der Wald der Hoffnung.
Juli 2017
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2015
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