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Das hämmernde Geräusch drang tief in sein Gehirn und nervte ihn. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber er wusste, dass er das nicht durfte.
Stattdessen lag er einfach stocksteif da, kniff die Augen ganz fest zu und versuchte, den Ton zu überhören.
Taktaktak ... als schlüge jemand mit einem kleinen Hammer auf eine Metallschüssel, ganz schnell, immer wieder. Er machte einfach keine Pause und hämmerte weiter, unverdrossen.
Lukas nickte im Geiste den Rhythmus mit. Es war dunkel, und das war ganz gut so. Zu Hause fürchtete er sich immer im Dunkeln, aber hier schützte ihn die Dunkelheit vor dem, was das Licht sonst gnadenlos offenbarte.
Er wollte gar nicht sehen, was um ihn herum war. Er fühlte sich hier nicht wohl - die vielen Menschen, die sich ständig um ihn kümmerten, waren keine Vertrauten, keine Freunde, auch wenn sie sich alle Mühe gaben, so zu tun.
Er war kein Kleinkind mehr, er hatte schon gelernt, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen. Die Bösen hatte er vor zwei Jahren in der ersten Klasse in der Schule kennengelernt. Sie waren älter als er, größer und stärker, und sie schubsten ihn im Bus und auf dem Pausenhof hin und her, weil er so klein, so dünn und so schrecklich blass war.
Kalkeimer, Bohnenstange - so riefen sie hinter ihm her. Ihr Gelächter hallte in seinem Kopf lauter nach als das stetige Hämmern, das seine Schläfen massierte.
Aufhören, hatte er gerufen, und dann hatte er geweint. Was wussten sie schon?
Auch hier gab es Böse, das hatte er schon am ersten Tag gemerkt. Sie belogen ihn und lächelten dabei, obwohl sie genau wussten, dass ihre Lügen auffliegen würden. Warum machten sie das? Hielten sie ihn für so dumm?
Seine Mutter flüsterte ständig, wenn sie mit den anderen sprach. Auch sie log ihn ständig an, das merkte er genau. Ihr Mund verzog sich dann zu einem Lächeln, das er früher nie an ihr gesehen hatte, aber ihre Augen folgten den Lippen nicht.
Mama! Was sie wohl gerade machte? Ob sie ihn auch so vermisste wie er sie? Wie schön wäre es jetzt, ihre warme Hand zu spüren, ganz fest. Oder neben ihr auf dem Sofa zu sitzen, Chips aus einer kleinen Schüssel, die sie auf ihren Schoß gestellt hatte, zu essen und sich unter die alte blaue Decke zu kuscheln, die voller Katzenhaare war.
Er atmete vorsichtig ein, nicht zu tief, damit sein Brustkorb sich nicht zu sehr hob. Sie sollten nicht merken, dass es ihm nicht gut ging gerade, die anderen. Er war doch stark, er war kein kleiner Junge mehr. Er konnte das aushalten, so wie er alles andere auch ausgehalten hatte.
Lukas biss sich vorsichtig auf die Wangen. Das Hämmern ging durch seinen ganzen Körper hindurch, zog in seine Füße und seine Zehen, sodass er sich anstrengen musste, nicht mit ihnen im Takt zu wackeln. Wie ein seltsames Lied, zu dem kein schöner Tanz möglich war. Er konnte keine Melodie erkennen in dem monotonen Geräusch, obwohl er sich Mühe gab.
Aber in seinem Kopf, da fand er sie. Die Melodien. Er summte geräuschlos, bis das Lied vom Nikolaus das Hämmern fast übertönte. Beinahe hätte er vor Freude gelacht, aber er presste die Lippen zusammen und hielt die Augen fest geschlossen. Er war stark und würde sich nichts anmerken lassen.
Letztes Jahr hatte er zu Weihnachten eine dicke Wollmütze bekommen. Sein Freund Jonas hatte gelacht über den seltsamen Wunsch, aber Lukas war so glücklich gewesen, dass er die Mütze den ganzen Tag über trug, auch in der Wohnung. Er ging sogar mit ihr ins Bett, und es war egal, dass sein Kopf darunter nass wurde vor Schweiß. Mama hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt, aber sie hatte es nicht verboten. Die Mütze hatte sie selbst gestrickt, aus ganz weicher Wolle, die gar nicht kratzte. Sie war bunt und hatte einen Wollpuschel oben drauf, und genauso hatte er sie sich gewünscht.
Sie hatten Plätzchen gebacken, und Mama hatte geweint, als sie seine Hand nahm und ihm half, den Teig auf dem Küchentisch auszurollen.
„Wein doch nicht, Mama“, hatte er geflüstert, und sie hatte ihre rote Nase in ein weißes Papiertaschentuch gesteckt und sich so laut geschnäuzt, dass er lachen musste.
Es war ihr erstes Weihnachten ohne Papa gewesen, aber es war Weihnachten.
Er konnte die warmen Zimtsterne noch riechen, sogar hier, in der Dunkelheit. Seine Nasenflügel zogen sich zusammen, und im Mund sammelte sich Speichel. Es waren die besten Zimtsterne der Welt gewesen, die sie zusammen gebacken hatten, das war sicher. Sonntags hatten sie Mandarinen gegessen, wenn sie zusammen in der Küche am Tisch gesessen und die dicken roten Kerzen beobachtet hatten, die immer kleiner wurden. Eine nach der anderen. Die Mandarinen waren süß und sauer zugleich, wenn man kräftig hineinbiss und die Haut zerteilte, spritzten sie Säure auf die Zunge, und wenn man sie dann in den Mund sog und mit den Backenzähnen darauf kaute, wurden sie plötzlich süß.
„Nur noch drei Tage“, hatte Mama gesagt, als die letzte Kerze brannte, die noch ganz groß war. Die erste Kerze war schon fast nicht mehr vorhanden, nur noch ein verwackelter Wachsstumpf mit einem viel zu langen, schwarzen Docht darin flackerte auf dem Kranz aus Tannenzweigen, den Mama selbst geflochten hatte. Der Waldduft der Zweige vermischte sich mit den Mandarinen, dem Russ der Kerzen und den Zimtsternen, und dieses Parfüm hatte ihn das ganze Jahr über begleitet. Es war das schönste Parfüm der Welt, und wenn er sich anstrengte, konnte er es jetzt riechen. Tröstend.
Mama hatte sich beim Kranzflechten die Finger aufgestochen, und er brachte ihr ein Pflaster und wickelte es sorgfältig um ihre Wunde, nachdem er zuvor tröstend darüber gepustet hatte.
Im letzten Jahr hatte Mama keine Weihnachtslieder mehr gesungen. Sie war auch nicht mit ihm in die Kirche gegangen. 

„Ich glaube nicht mehr an Gott“, hatte sie gesagt und beleidigt ausgesehen, so wie früher, wenn Papa sie ärgerte und aus Spaß zu ihr sagte, dass sie nicht so viel Sahne in die Sauce machen sollte, wenn sie jemals wieder in ihre Kleider von früher passen wollte. Jetzt war Papa weg und ärgerte sie nicht mehr, aber trotzdem war sie traurig.
Lukas versuchte immer, sie zu trösten. Er bat sie, ihm Hefte mitzubringen vom Einkaufen, Hefte, in denen ganz viele Witze standen.
„Dafür bist du doch noch zu klein, Schatz“, hatte sie gesagt, aber er ließ nicht locker, bis sie endlich zustimmte und ihm die Hefte gab. Er las sie nicht. Er las nur die Witze, zehnmal, zwanzigmal, bis er sie auswendig konnte. Dann erzählte er sie ihr, mit Händen und Füßen, wie ein Theaterstück, und wenn ihr vor Lachen die Tränen über die Wangen liefen war er der glücklichste Junge der Welt.

„So, Lukas, das war‘s für heute. Du warst mal wieder sehr tapfer!“ Die nette blonde Schwester erlöste ihn. Das Hämmern hörte schlagartig auf, und er atmete erleichtert ein. Der beißende Geruch von Desinfektionsmittel und nach Essig riechendem Putzzeug kniff in seine Nase. Vorsichtig öffnete er die Augen, als er aus der dunklen Röhre gezogen wurde, dann richtete er sich langsam auf.
Sie strich über seinen haarlosen Kopf. „Weihnachten darfst du nach Hause“, sagte sie leise und lächelte traurig.
Er wusste, dass er nach Weihnachten nicht wieder hierher kommen würde. Er würde zu Hause bleiben, bei Mama, auf dem Sofa, unter der blauen Decke, wenn es so weit kam. Es war sein einziger Wunsch gewesen in diesem Jahr.

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Texte: Alle Rechte an diesem Text liegen beim Autor.
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2011

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