Prolog
Herbst. Der Herbst war schon immer eine merkwürdige Jahreszeit gewesen. Schon immer.
Viele alte Leute aus der Broadwaystreet sind um diese Jahreszeit gestorben, selbst die Blätter der Bäume fingen an ihrem Ende in die Augen zu sehen.
Nächstes Jahr würden neue Blätter wachsen, und den Platz der alten einnehmen.
Wie Soldaten. Soldaten.
Der Herbst war die Jahreszeit, in der sich eine Jahreszeit in eine andere verwandelt. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben.
Im Herbst passierte unmögliches, oder was für unmöglich gehalten wird.
Der Herbst - er steht zwischen dem Sommer und dem Winter. Der Jahreszeitenwechsel ist wie ein Kampf, zwischen Sommer und Winter.
Kapitel 1
Inzwischen versteckte sie sich unter ihrer Decke in ihrem Zimmer. Sie konnte das nicht mehr anhören, diesen Streit zwischen ihren Eltern. "Aufhören! Aufhören!", meinte sie immer. Doch keine Reaktion. Nur Schritte, die näher kamen, ein polterndes Geräusch, der Klang von Glas auf dem Fliesenboden und Schritte, die sich wieder entfernten.
Doch auch jetzt wollte sie nicht hervor kriechen. Lauschend hingen ihre Augen an der Tür, doch es war nichts zu hören, außer ein leises Schluchtzen.
Wieso musste das immer passieren? fragte sie sich. Alles was sie wollte war ein normales Leben mit Teenie-Problemen und Schule.
Sie fasste einen Entschluss.
Sie wollte nicht mehr.
Sie konnte nicht mehr.
Sie hasste ihr Leben.
Leise schlich sie durch ihr Zimmer und packte einige Sachen zusammen.
Einen Stoff-Teddibär aus Polen, Schreibmaterial, Karamellbonbons von ihrer Oma und die Wolldecke, die immernoch nach Frieden roch.
Sie wollte nicht, aber sie musste. Vorsichtig öffnete sie die Holztür, sah nach links und rechts.
Als sie keinen entdeckte, schnappte sie sich ihren Mantel und ihren Schal - da es anfing draußen kühl zu werden - zog ihre Stiefel an und atmete einen kurzen Moment durch.
Sie wusste, dass es schiefgehen könnte, aber sie musste es wagen, und es gibt kein Zurück mehr. Sie musste es durchziehen.
Vollbeladen mit ihren Sachen zog sie die schwere, ebenfalls aus Holz gebaute, Eingangstür auf, und ging einen Schritt vor.
Leise schloss sie die Tür, und sah sich um.
Freiheit.
Es war Herbst und sie war frei.
Endlich.
Nach so langer Zeit.
Aber wo war sie?
Schnell hastete sie die schmale Treppe hinunter und lief über die Straße.
Ein kleiner Weg führte durch zwei Häusern entlang zu einem Fluss. Hinter ihm standen Bäume - Eichen, Tannen, Fichten... so viele Bäume.
Über den Fluss führte eine Brücke aus Stein, sie sah kurz ins verdreckte Wasser. Die Welt wird zugrunde gehen, dachte sie einen Augenblick lang.
Doch sie musste weiter.
Erst als sie im Park ankam, fühlte sie sich sicher uns setzte sich auf eine Bank neben zwei Tannen.
Einen kurzen Moment verharrte sie so, sah ihn das zarte Blau des Himmels.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, bei dem Gedanken, immer umher zu wandern. Doch was sollte sie tun? War ihr dieses Leben alles wert? War es ihr wert, ihr altes, nutzloses Leben aufzugeben und ein neues, besseres anzufangen? -Ja, war es.
Auch wenn sie nicht wusste, ob es besser werden würde, sie musste es probieren.
Schlimmer kann es nicht werden, dachte sie sich.
Nachdem sie drei Stunden im Park gesessen hatte, traf sie Johnny. Johnny war der Junge, oder der Mann, dem sie voll und ganz vertraute. Obwohl sie ihn an dem kalten Herbsttag zum Ersten Mal traf wusste sie - er ist derjenige, dem ich alles anvertrauen kann.
Nun saßen sie zu Zweit auf der Bank, zwischen zwei Tannen. Ja, die Tannen lauschten ihnen wohl möglich heimlich, diesem sinnlichen Gespräch, und zuckten zusammen, als Johnny dem Mädchen anbot, für eine Weile bei ihm zu Wohnen.
Das Mädchen war Blind vor Vertrauen und willigte natürlich ein.
Melissa, das Mädchen, folgte Johnny bis zu seiner Wohnung. Sie schien in Ordnung, dachte sie sich. Aber wovor hatten Mutter und Vater sie immer gewarnt? "Gehe nie mit einem Fremden mit.", meinte Daddy immer, als ihre Familie noch heile war.
Aber würde sie nicht zerbrochen sein, würde Melissa auch nicht mit dem Unbekannten mitgehen.
Die Wohnung war nicht schlecht. Voll ausgestattet. Mit den modernsten Sachen.
"Ich habe zufällig ein Zimmer frei. Wenn du willst, kannst du da einziehen.", meinte Johnny, und sie nickte, während er ihr das Zimmer zeigte.
Ja, das Zimmer hatte ein weiches Bett, einen Tisch mit einer Lampe und einem Stuhl. Ein Schrank. Auf der anderen Seite ein Bild von einem Lamm. War er Vegetarier?
Abendbrot. Er konnte lecker kochen, es gab Nudelsuppe mit Brot. Mehr hatte sie auch nicht verlangt, obwohl es schon komisch war, hier zu essen, bei einem halb fremden Mann.
Bettgehzeit. Sie lag in dem Bett, eingekuschelt, als die Tür auf ging. Johnny stand dort. "Johnny, ist irgendwas passiert?"
Johnny antwortete nicht.
"Johnny?", fragte sie noch einmal.
Doch er antwortete auch diesmal nicht. Er kam näher auf sie zu. Näher, noch näher. Am Nahesten.
"Johnny... Ich habe Angst.", meinte Melissa.
Dann spürte sie nur einen harten Schlag.
Sie wachte auf. Wo wusste sie nicht. Es war dunkel und sie lag auf einer Isomatte, die hart und kalt war.
Wo war ihre Tasche?
Sie hatte Angst. Was war mit Johnny los?
Erst jetzt realisierte sie, dass sie nackt war. Deswegen war es auch so kalt! Wieso hatte sie keine Sachen an?
Verzweifelt suchte sie eine Decke, um sich einzuwickeln.
Doch nirgendwo war eine Decke.
Augenblicke verstrichen und Minuten kamen ihr wie Stunden vor.
Johnny tauchte wieder auf.
"Johnny, wo bin ich?", Melissa sah ängstlich in Johnnys Augen. Er wich ihrem Blick nicht aus. Er kam auf sie zu.
Sie versuchte weg zu kriechen, aber ihr Versuch scheiterte.
"Du wirst nun für immer bei mir bleiben.", hauchte er in ihr Ohr.
Nun bekam sie noch mehr Angst. Würde sie wirklich für immer hier bleiben müssen?
Monate vergangen, und Melissas Bauch wurde runder. Sie wusste nun, was in der einen Nacht passiert war. Und sie fürchtete sich noch immer vor ihm.
Doch was war auf einmal los mit ihr?
Sie spürte eine Art Glücksgefühl, wenn Johnny bei ihr ist. Liebe? Unmöglich. Sie konnte sich nicht in ihn verliebt haben.
Er hatte sie missbraucht! Aber trotzdem? Das war alles ganz komisch.
Nicht lange danach und ein Baby kam zur Welt. Lekuko, taufte Melissa es. Lekuko bedeutete "Zeuge".
Zeuge dieses seltsamen, ungewöhnlichen und plötzlichen Ereignis.
Und sie waren lange glücklich miteinander.
Melissa fragte sich nie, was aus ihren Eltern wurde.
Einzig ihr Leben zählte.
Und das von Johnny.
Und Lekuko.
Man sah mal wieder, dass im Herbst die unmöglichsten Dinge passierten.
Ungewöhnlich, wie diese Geschichte, die Geschichte des Herbstmädchens.
Texte: Copyright by Acephalic
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2011
Alle Rechte vorbehalten